Jan Andersen

Vignetten von

Cathy Ionescu

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagbild: Bente Schlick, www.benteschlick.com

Umschlagfertigstellung:

init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

ck · Herstellung: BO

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25738-5
V001

www.cbj-verlag.de

Für Lotta, Abby, Spot, Carlos und Akira

Such, Dusty, such!«

Immer wieder streicht Paul ihm über den Kopf und versucht, ihn auf dem schmalen Waldweg weiterzulocken.

»Jetzt komm schon, du kannst das! Du hast die beste Nase von allen, du musst sie finden. Such, Dusty, such!«

Natürlich weiß er ganz genau, was Paul von ihm will. Aber er tut trotzdem so, als würde er Paul nicht verstehen. Es geht nicht anders, auch wenn Paul enttäuscht von ihm ist.

Also läuft er nur ein paarmal im Kreis und scharrt ein bisschen in dem trockenen Laub. Dann schnüffelt er lange an dem umgestürzten Baumstamm, der quer über dem Weg liegt.

»Hast du eine Spur?«, ruft Paul sofort. »Ist sie hier gewesen? Such weiter, du machst das gut!«

Er winselt leise, damit Paul auch wirklich auf ihn achtet. Gleich darauf springt er mit einem einzigen Satz über den Stamm hinweg, auf der anderen Seite wartet er mit schief gelegtem Kopf auf Paul.

Paul klettert auch sofort hinter ihm her und lobt ihn wieder.

»Du machst das gut, Dusty. Sehr gut! Zeig mir, wo wir jetzt hinmüssen!«

Ganz kurz hebt er noch sein Bein und pinkelt an den Stamm, dann drückt er die Nase auf den Boden und läuft los. So schnell, dass Paul kaum hinter ihm herkommt. Erst noch ein Stück auf dem Weg lang, bis zu dem Gestrüpp mit den fiesen Dornen. Da biegt er nach rechts ab, über trockene Äste und Wurzeln und Steine zwischen den Bäumen hindurch.

»Warte! So schnell kann ich nicht«, hört er Paul hinter sich rufen.

Ganz kurz überlegt er, ob er einfach weiterrennen soll, ohne sich um Paul zu kümmern. Aber dann würde Paul die Richtung kennen, in der er weggelaufen ist. Und das wäre zu gefährlich! Wenn Paul die anderen holt und sie alle zusammen den Wald absuchen, würden sie vielleicht tatsächlich irgendwelche Spuren finden. Und vielleicht sogar den richtigen Weg zu dem Versteck. Aber genau das dürfen sie nicht. Deshalb muss er Paul ablenken. Er muss so tun, als ob er überhaupt nichts kapiert hätte. Damit Paul wieder umdreht, um irgendwo anders zu suchen. Und er weiß auch schon, wie er das am besten hinkriegt!

Er läuft noch ein paar Meter weiter, bis er einen Stock gefunden hat, der genau richtig ist. Er nimmt den Stock in die Schnauze und läuft zurück zu Paul, der gerade keuchend zwischen den dunklen Tannen vor ihm auftaucht.

Schwanzwedelnd legt er Paul den Stock genau vor die Füße und setzt sich auf die Hinterbeine. Als würde er nur darauf warten, dass Paul den Stock aufhebt und für ihn wegwirft.

»Hä?«, macht Paul und starrt erst ihn an und dann den Stock. »Sag mal, spinnst du?«, ruft er empört. »Wir spielen doch jetzt nicht Stöckchen werfen! Mann, Dusty, du sollst die Spur suchen, keine Stöckchen.«

Jetzt klingt seine Stimme fast, als würde er vor Enttäuschung gleich weinen.

Er bellt kurz, dann nimmt er den Stock wieder zwischen die Zähne und wirft ihn selber ein Stück in die Höhe.

»Vergiss es«, sagt Paul und schiebt seine Hände in die Hosentaschen. »Echt, was ist los mit dir? Kriegst du gar nichts mehr auf die Reihe?«

Er sieht, wie Paul die Lippen zusammenpresst und verärgert den Kopf schüttelt. Ohne noch etwas zu sagen, dreht er sich um und läuft zurück zum Weg. Paul ist sauer auf ihn, so viel ist klar. Aber das wollte er ja. Nur so kann er es hinkriegen, dass Paul endlich aufgibt.

Er schnappt wieder nach dem Stock und trägt ihn hinter Paul her. Als Paul sich noch einmal umdreht und sieht, dass er immer noch den Stock durch die Gegend schleppt, tippt er sich nur an die Stirn.

»Mann, Mann«, nuschelt er vor sich hin. »Findest du das jetzt etwa witzig, oder was? Ich habe allen erzählt, dass du das hinkriegst und wir sie bestimmt finden. Und jetzt kommen wir mit einem Stöckchen nach Hause! Super, wirklich, bravo!«

Er folgt Paul noch bis zum Waldrand. Bis er sich sicher ist, dass Paul wirklich nach Hause läuft. Dann lässt er den Abstand immer größer werden. Und auf der Wiese kurz vor den Häusern schlägt er einen Bogen, als wollte er einfach nur noch ein bisschen durch das hohe Gras laufen und ein paar Halme ablecken.

Aber Paul blickt sich sowieso nicht mehr nach ihm um, sondern tut so, als gäbe es ihn gar nicht.

Er wartet, bis Paul auf den Weg zu ihrem Haus einbiegt. Dann dreht er sich um und rennt los. Zurück zum Wald.

1. Kapitel

»Das war nichts«, sagt Paul, als er bei sich zu Hause in die Küche kommt. »Dusty spinnt irgendwie. Ich glaube, er hat überhaupt nicht kapiert, was er machen soll.«

»Das ist ja merkwürdig«, sagt Pauls Vater. »Aber vielleicht hast du dich geirrt. Vielleicht ist sie gar nicht im Wald. Sie kann sich sonst wo verkrochen haben!«

»Genau!«, ruft Karlotta. »Und deshalb kann Dusty auch gar nichts dazu, dass er sie nicht gefunden hat.«

»Mann, Karlotta«, regt sich Paul auf und wirft seiner kleinen Schwester einen bösen Blick zu. »Er hat ja noch nicht mal gesucht. Sondern er wollte die ganze Zeit nur Stöckchen spielen, der Spinner!«

»He!«, mischt sich Pauls Mutter ein. »Jetzt reg dich mal wieder ab und hör auf, dich über Dusty zu ärgern. Wahrscheinlich hat Peter recht. Sie ist vielleicht wirklich nicht im Wald. Also setz dich erst mal hin und iss was. Dabei können wir weiter überlegen, was wir jetzt machen.«

Simone streicht Paul kurz über die Haare. Dann lädt sie ihm den Teller so voll, dass man meinen könnte, sie hätte Angst, er würde verhungern.

Es ist Sonntag Mittag. Und wie immer sonntags hat Simone gekocht. Was deutlich besser schmeckt, als wenn Peter am Herd stand. Heute gibt es Buletten aus schwarzen Bohnen und Nüssen und dazu Möhren aus dem Garten und Kartoffelbrei. Eigentlich fast Pauls Lieblingsessen, gleich nach Spaghetti mit scharfer Soße. Aber er hat trotzdem keinen Hunger. Lustlos stochert er in den Buletten herum.

»Frau Besenbinder hat sie gesehen«, beharrt er. »Auf dem Weg, der in den Wald führt. Sie ist sich absolut sicher!«

»Unsere Nachbarin ist kurzsichtig, falls du das vergessen hast«, erklärt Karlotta mit vollem Mund. »Neulich hat sie sogar ihren Kater nicht erkannt, als der draußen an der Gartentür auf dem Briefkasten gelegen und gepennt hat. Echt, ich war dabei! Sie hat gedacht, es wäre irgendeine fremde Katze, und wollte schon den Besen aus dem Schuppen holen, um ihren eigenen Kater zu vertreiben. Nur weil der vorher wieder mal am Goldfischteich gewesen war und reingefallen ist! Und deshalb war sein Fell ganz nass, und er war nur halb so groß wie sonst, und sie hat ihn nicht erkannt und …«

»Karlotta!«, ruft Peter dazwischen. »Es ist gut, wir haben es kapiert.«

Karlotta verzieht ihr Gesicht, als wäre sie beleidigt. Sie schiebt einen Bissen Kartoffelbrei auf ihre Gabel – aber dann lässt sie die Gabel plötzlich fallen und fängt an zu schluchzen.

»So böse hat Papa das doch gar nicht gemeint«, versucht Simone ihre Tochter zu beruhigen. »Deshalb musst du doch nicht gleich weinen …«

»Deshalb weine ich doch auch gar nicht«, schluchzt Karlotta.

»Und weshalb dann?«, fragt Peter.

»Wegen Bella! Jetzt ist sie irgendwo, und keiner weiß, wo, und vielleicht kommt sie nie wieder. Und dann sehen wir auch nie ihre Babys und überhaupt ist alles doof. Warum ist sie nur abgehauen? Das hätte sie nicht machen dürfen …«

»Du weißt doch, weshalb sie weg ist«, sagt Paul leise. »Ich habe dir doch erzählt, was Alex gesagt hat.«

»Wegen der blöden Handwerker, richtig?«, fragt Karlotta und wischt sich die Tränen aus den Augen. »Doofe Handwerker! Und die haben mit ihrer Bohrmaschine so viel Lärm in der Wohnung gemacht, dass Bella Angst bekommen hat. Und jetzt ist sie ganz alleine und …« Karlotta fängt wieder an zu schluchzen.

»Sie kommt bestimmt zurück«, sagt Peter hilflos. »Sie weiß ja, wo ihr Zuhause ist.«

»Und wenn sie den Weg nicht findet? Außerdem hat sie vielleicht schon ihre Babys und die sind blind und können noch nicht laufen! Wie soll Bella das denn alleine schaffen?«

Bella ist die kleine, schwarze Hündin, die Pauls beste Freundin Alex aus dem Tierheim hat. Und vor ein paar Wochen ist Bella immer dicker geworden. Bis klar war, dass sie Junge kriegt! Alex hat ihr mit einer alten Decke und einem Kissen einen schönen Platz bei sich in der Küche gebaut. Und sich von der Tierärztin genau erklären lassen, worauf sie achten muss, wenn es so weit ist.

Paul und Dusty waren auch ein paarmal da, um Bella zu besuchen. Dusty hat ihr immer wieder mit der Zunge über die Schnauze geleckt, als wollte er ihr versichern, dass er sich freut. Und Paul hat nur gestaunt, wie dick Bellas Bauch war.

Natürlich haben Paul und Alex auch überlegt, wer wohl der Vater von Bellas Baby sein könnte. Bella hat viel mit anderen Hunden gespielt, am liebsten jedoch mit Dusty. Weil Dusty und Bella auch so was wie beste Freunde sind. Genau wie Paul und Alex!

Aber Alex war sich sicher, dass sie genau aufgepasst hat, als Bella läufig war, sie nicht von der Leine gelassen hat! Na ja, bis auf das eine Mal, als Alex mit ihr in dem alten Garten ihrer Oma war … Da hat Bella ihren Kopf aus dem Halsband gezogen und ist weggelaufen. Nach ein paar Stunden ist sie wieder aufgetaucht. Der Garten ist nicht weit von Pauls Zuhause entfernt. Und Dusty springt manchmal hinten über den Zaun und strolcht ein bisschen in der Gegend rum. Es könnte also durchaus sein, dass Dusty …

»Wo ist Dusty überhaupt?«, fragt Simone mitten in Pauls Gedanken hinein.

»Hä?«, macht Paul. »Wieso …« Im selben Moment merkt er, wie ihm der Schweiß ausbricht.

»Ihr seid doch beide zusammen zurückgekommen, oder nicht?«, fragt Peter.

»Ja, klar, aber …«, stammelt Paul, ohne seinen Satz zu beenden.

»Aber was?«, will sein Vater wissen.

Paul schluckt heftig. Er war so sauer auf Dusty, dass er sich noch nicht mal nach ihm umgedreht hat, als er zurück nach Hause gelaufen ist.

»Ich habe gedacht, er ist hinter mir hergekommen und … im Garten oder so.«

Karlotta springt auf und rennt zur Terrassentür. »Dusty!«, ruft sie in den Garten. »Dusty, wo bist du? Komm her, es gibt was zu fressen. Lecker, lecker, komm!«

Aber Dusty kommt nicht wie sonst bellend angerannt. Und noch bevor sie alle nach draußen laufen, um den Garten abzusuchen, weiß Paul schon, dass sein Hund nicht da ist. Und es ist seine Schuld, weil er nicht auf Dusty geachtet hat.

Es dauert nicht lange, bis er die Spur wiedergefunden hat. Nur an der Wegkreuzung ist er unsicher, weil da noch so viele andere Spuren sind, die von allen Seiten kommen. Erst als er in einem großen Kreis alles abgesucht hat, nimmt er Bellas Geruch wieder auf.

Mit der Nase dicht über dem Boden läuft er weiter, bis er zur Straße kommt. Als er hinter dem Parkplatz das Tor zum Waldschwimmbad sieht, sträubt sich sein Nackenfell, und er trappelt unruhig auf den Vorderpfoten, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Er kennt das Schwimmbad ja – und es macht ihm Angst. Er weiß noch genau, was da passiert ist. Der Ort ist gefährlich!

Er zittert jetzt am ganzen Körper und würde am liebsten wegrennen. Aber das geht nicht. Er muss Bella finden. Er weiß ja, dass sie irgendwo im Wald ist und sich versteckt.

Er ist so nervös, dass er nur immer wieder die Nase auf den Boden drückt, ohne etwas anderes zu riechen als Reifengummi und Öl. Und irgendwelche Tiere aus dem Wald und … Fußspuren! Und die Fußspuren sind ganz frisch, irgendwo in der Nähe müssen Leute sein. Aber das Schwimmbad hat geschlossen und es stehen auch keine Autos auf dem Parkplatz.

Im nächsten Moment hört er laute Stimmen, die vom Schwimmbad herkommen und sich schnell nähern. Er springt über den Graben und duckt sich hinter das Gebüsch auf der anderen Seite. Vorsichtig schiebt er den Kopf zwischen den Zweigen hindurch, bis er die Straße überblicken kann.

Die Typen, die da gerade über den Zaun vom Schwimmbad klettern, hat er noch nie vorher gesehen. Sie sind zu dritt und sie sind alle älter als Paul. Einer von ihnen tritt noch mal mit voller Wucht gegen das Tor, das laut scheppert. Die anderen lachen und rufen irgendwas. Dann kicken sie eine leere Dose über den Parkplatz. Immer hin und her, bis die Dose in hohem Bogen durch die Luft fliegt und in dem Graben direkt vor ihm landet.

Im nächsten Augenblick haben sie ihn entdeckt.

»He, guckt mal, Leute«, ruft einer von ihnen. »Hier ist ein Hund oder so was! – Na los, komm, Kleiner«, versucht er, ihn an den Rand des Grabens zu locken. »Braver Hund! Komm schön her, ich hab was Feines für dich …«

Aber er ist vorsichtig. Er duckt sich und schiebt sich auf den Vorderpfoten ein bisschen näher, um zu sehen, ob der Typ wirklich etwas für ihn in der Hand hat. Ein Stöckchen vielleicht. Oder einen Tennisball! Oder vielleicht sogar etwas zu fressen …

Doch da springt der Typ plötzlich auf und wirft mit einem Stein nach ihm. Er kann nicht schnell genug ausweichen – und der Stein trifft ihn an der Schulter! Vor Schmerz heult er kurz auf und rennt mit eingeklemmtem Schwanz davon.

Hinter sich hört er noch, wie die Typen grölen. Bis es endlich still ist und die ersten Vögel sich wieder zu zwitschern trauen.

Er leckt sich über die schmerzende Stelle an der Schulter und dreht noch mal mit gespitzten Ohren den Kopf nach allen Seiten. Er will sicher sein, dass die Typen nicht hinter ihm herkommen. Erst dann fängt er erneut an, nach Bellas Spur zu suchen. Und er hat Glück. Nur ein paar Meter weiter kann er deutlich riechen, dass sie hier war.

Sie ist im Bogen hinter dem Schwimmbad entlanggelaufen. Und dann immer weiter in den Wald hinein, bis zu der Stelle bei den Felsen, wo der Sturm im Frühjahr die Bäume kreuz und quer durcheinander geworfen hat. Überall zwischen den großen Steinen liegen umgestürzte Baumstämme, Wurzelballen ragen in die Luft, dazwischen sind tiefe Löcher, in denen sich das Regenwasser gesammelt hat.

Er klettert auf einen der Stämme und spitzt die Ohren. Dann legt er den Kopf in den Nacken und bellt kurz. Als keine Antwort kommt, springt er wieder auf den Boden und quetscht sich zwischen den Zweigen hindurch.

Vorsichtig umrundet er ein Wurzelloch und kann gerade noch zurückweichen, als die Erde und die scharfkantigen Steine unter seinen Pfoten wegbröckeln. Gleich darauf hört er ein leises Fiepen.