Eine eigene Liga
Zeichnungen
von Timo Grubing
Träume und Training
Luong stand im Nationalstadion von Paris, das bis zum letzten Platz gefüllt war. Doch keinen der 289.366 Zuschauer hielt es auf seinem Sitz. Alle jubelten Luong zu, denn ihr Idol streckte gerade einen riesigen goldenen Pokal in den Himmel.
„Da ist das Ding!“, brüllte Luong glücklich in die Mikrofone, die die Reporter ihm hinhielten.
Donnernder Applaus brandete auf. Das Finale der Champions League war heiß umkämpft gewesen. Aber natürlich hatten sich die Favoriten durchgesetzt. Die Fußball-TORnados hatten den FC Barcelona am Ende deutlich mit 15:2 besiegt.
Luong hatte 14 Vorlagen gegeben und ein Tor selbst geschossen. Deshalb war er zum Man of the Match gewählt worden – und deshalb war er der Erste, der den Pokal berühren durfte. Sein Kapitän, Jonas, hatte es ihm mit einem Kopfnicken genehmigt.
Luong sog jede Millisekunde in sich auf. Er hatte es geschafft! Heute würde er feiern, aber morgen schon mit seinem knallharten Training weitermachen. Es gab noch so viele andere Titel, die er holen wollte: Europameister, Weltmeister, elf Mal hintereinander bester Spieler der Welt werden, Torrekorde aufstellen und, und, und …
Als sein Wecker klingelte, schnellte Luong hoch. Der Traum war herrlich gewesen, aber eben nur ein Traum. Oder war das ein Blick in die Zukunft? Hatte sein Unterbewusstsein ihm eine Nachricht schicken wollen?
Seine Großmutter glaubte an diese Dinge. Für sie waren Träume Botschaften aus der Zukunft, oder sie brachten Lösungen für aktuelle Probleme, auf die man im wachen Zustand nicht kam. Luong war sich nicht sicher, wie er darüber denken sollte. Aber er beschloss, den heutigen Traum ernst zu nehmen. Ja, er würde eines Tages die Champions League gewinnen. Und die anderen Fußball-TORnados würden mit ihm auf dem Platz stehen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg.
Luong stand auf und klatschte dreimal in die Hände, um sich endgültig zu wecken. Gut gelaunt machte er sich an seine morgendliche Trainingseinheit. Er begann mit zehn Kniebeugen.
Dann kippte Luong wie ein Turner elegant vorwärts auf den Boden. Nun folgten wie immer dreißig Liegestütze.
Nach dem letzten ließ Luong die Arme gestreckt und machte sich steif wie ein Brett. Die Planke war seine Lieblingsübung. Fast glaubte er zu spüren, wie seine Bauchmuskeln dabei wuchsen. Mittlerweile konnte er diese Position über zwei Minuten halten und dabei auch noch lächeln.
Ja, Luong war dabei trotz seiner jaulenden Muskeln sogar glücklich. Sein Leben hatte sich vollkommen verändert, seit es die TORnados gab.
Früher war Luong morgens nur schwer aus dem Bett gekommen. Es hatte für ihn einfach keinen guten Grund gegeben, um aufzustehen. Gründe, um im Bett zu bleiben, gab es dagegen viele. Die zweieinhalb Jahre seit seiner Einschulung waren eine echte Qual gewesen. Das lag nicht an Rechnen, Schreiben oder Lesen. All das konnte Luong gut, sehr gut sogar. Weil er außerdem noch ausgesprochen höflich und freundlich war, hatte seine Klassenlehrerin Frau Hülsmann Luong insgeheim schnell zu ihrem Lieblingsschüler erklärt. Gesagt hatte sie das natürlich nicht, aber es spürten trotzdem alle in der Klasse – und Luong bekam es in jeder Pause auf dem Schulhof zu spüren. Anfangs hatten ihn seine Mitschüler nur ignoriert, später auch immer häufiger angerempelt, sodass er sein Essen fallen ließ. Ab der zweiten Klasse hatten ihm Mustafa und Alexey sogar manchmal auf dem Heimweg aufgelauert und ihm Prügel versprochen. Weil Luong auf Vietnamesisch Bambusbaum bedeutete, hatten sie ihn immer Bambi genannt oder einfach nur Reisfresser.
Luong schlug mit den Beinen aus wie ein bockiges Pferd und kam wieder auf die Füße. Nun machte er mit einer Fünf-Kilo-Hantel noch auf jeder Seite zwanzig Bizeps-Curls.
Dann legte er die Gewichte wieder in seinen Schrank und verschwand unter die Dusche. Auch hier hatte Luong ein Ritual entwickelt, das ihn härter machen sollte: erst eine Minute eiskalt duschen, dann zwei Minuten so heiß wie möglich, dann noch einmal drei Minuten eiskalt.
Ja, die erste Zeit in der Schule war nicht gerade schön gewesen. Doch das hatte sich geändert, als Jonas und Kalil auf die Idee mit der Fußballmannschaft gekommen waren. Alles hatte sich geändert. Aus den zerstrittenen Grüppchen war eine echte Klassengemeinschaft geworden. Egal aus welchem Land die Eltern nach Berlin gekommen waren, egal welche Farbe die Haut hatte und egal wie groß oder klein jemand war, alle behandelten sich seitdem mit Respekt. Sie trafen sich nicht nur zwangsweise in der Schule. Seit sie ein Team waren, hingen die Fußball-TORnados fast jede freie Minute miteinander ab. Manchmal zu elft, manchmal nur zu fünft. Und immer häufiger waren auch die Mädchen der Klasse dabei, was früher undenkbar gewesen war.
Luong drehte das Wasser ab und schlüpfte in seinen Bademantel. Wie ein Boxer, der den Ring betrat, ging er in sein Zimmer zurück. Eine Minute später hockte er am Tisch in der Küche und schlürfte die Reste der Suppe vom Vortag.
Seine Mutter strich ihm durch die Haare. Luong zuckte mit dem Kopf zur Seite.
„Lass das, Mama“, bat er. „Ich bin kein Baby mehr.“
Seine Mutter lächelte. „Für mich wirst du immer mein Baby bleiben“, antwortete sie.
Luong rollte genervt mit den Augen.
„Dann tue mir bitte den Gefallen und behalte es für dich“, knurrte er. „Besonders, wenn meine Freunde in der Nähe sind.“
Luongs Mutter nickte. „Ich freue mich einfach nur, dass es dir gut geht“, gestand sie. „Wenn du strahlst, muss ich auch lächeln. Irgendetwas ist mit dir passiert, seit du in dieser Fußballmannschaft bist.“
„Ja“, antwortete er. „Die Fußball-TORnados sind die beste Sache, die je in meinem Leben passiert ist. Wir gehen zusammen durch dick und dünn, bis in alle Ewigkeit.“
Luong warf sich seinen Rucksack auf den Rücken und verließ pfeifend das Haus. Bis in alle Ewigkeit … Sein Traum hatte es doch wohl bewiesen. Oder?
Aus heiterem Himmel geriet Luong ins Grübeln …
Die Neue
Als Luong wenig später die Goethe-Schule betrat, verflogen seine düsteren Gedanken. So schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder.
Dafür sorgten seine Mitschüler. Demba klatschte ihn ab. „Alles klar? Ja? Bei mir auch!“, nuschelte er.
Luong grinste. Früher hatte ihm niemand High Five gegeben. Wenn eine Hand auf ihn zugesaust kam, war es gesünder gewesen, sich zu ducken.
Doch selbst Mustafa, mit dem Luong sich früher fast täglich gezofft hatte, grüßte fröhlich.
Alle lachten, besonders Luong. Freunde durften ihn so nennen, auch die Sticheleien wegen seiner geringen Körpergröße ließ er sich von ihnen gefallen. Sie waren ein Team. Jetzt und in Ewigkeit.
Kurz darauf läutete die Schulglocke und alle verschwanden in ihre Klassenräume. Luong stutzte. Neben Frau Hülsmann stand ein Mädchen mit schwarzen Zöpfen.
„Wer ist das?“, fragte er bei Jonas nach. Doch sein Kapitän zuckte nur mit den Schultern.
Als sich alle gesetzt hatten, stellte Anette Hülsmann das Mädchen vor.