Das Buch

Ein riesiges Gebäude, in dem sich endlos Räume aneinanderreihen, verbunden durch ein Labyrinth aus Korridoren und Treppen. An den Wänden stehen Tausende Statuen, das Erdgeschoss besteht aus einem Ozean, bei Flut donnern die Wellen die Treppenhäuser hinauf. Das Obergeschoss ist das Reich der Vögel und der Wolken.

In diesem Gebäude wohnt Piranesi. Er hat sein Leben der Erforschung dieser bizarren Welt gewidmet. Angeleitet von seinem einzigen Freund, einem Wissenschaftler, will er ein Geheimnis lösen, das vor langer Zeit verlorenging. Und je weiter sich Piranesi in die Zimmerfluchten des Hauses vorwagt, desto näher kommt er der Wahrheit – über das Gebäude und über sich selbst …

Die Autorin

Susanna Clarke wurde 1959 in Nottingham geboren und verbrachte ihre Kindheit in Nordengland und Schottland. 1981 machte sie ihren Abschluss in Philosophie in Oxford und arbeitete danach in der Verlagsbranche, ehe sie als Lehrerin nach Turin und Bilbao ging. 1992 kehrte sie nach England zurück und begann mit dem Schreiben. Ihr Debütroman Jonathan Strange & Mr. Norrell aus dem Jahr 2004 war ein weltweiter Bestseller und wurde für den Man Booker Prize nominiert. 2015 wurde das Buch als Fernsehserie adaptiert. Susanna Clarke lebt in Cambridge.

SUSANNA

CLARKE

PIRANESI

Roman

Aus dem Englischen von

Astrid Finke

BLESSING

Das Buch erscheint unter dem Titel Piranesi bei Bloomsbury, London.

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Copyright © 2020 by Susanna Clarke

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-26486-4
V001

www.blessing-verlag.de

Für Colin

Ich bin der große Gelehrte, der Zauberer, der Experte, der das Experiment durchführt. Natürlich brauche ich Versuchsobjekte, an denen ich es durchführe.

C. S. Lewis, Das Wunder von Narnia

Man nennt mich Philosoph oder Historiker oder Anthropologe, ich bin nichts davon, ich bin Anamnesiologe. Ich erforsche, was vergessen wurde. Ich erspüre, was ganz und gar verschwunden ist. Ich arbeite mit Abwesenheiten, mit Lautlosigkeiten, mit merkwürdigen Lücken zwischen Dingen. Eigentlich bin ich mehr Zauberer als alles andere.

Laurence Arne-Sayles, Interview in The Secret Garden, Mai 1976

Inhalt

Erster Teil – Piranesi

Zweiter Teil – Der Andere

Dritter Teil – Der Prophet

Vierter Teil – 16

Fünfter Teil – Valentine Ketterly

Sechster Teil – Welle

Siebter Teil – Matthew Rose Sorensen

Erster Teil

Piranesi

Als Der Mond im Dritten Nördlichen Saal aufging, lief ich in das Neunte Vestibül

Eintrag für den Ersten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Als Der Mond im Dritten Nördlichen Saal aufging, lief ich in das Neunte Vestibül, um die Vereinigung dreier Fluten zu erleben. Dies ist ein Ereignis, das nur alle acht Jahre stattfindet.

Das Neunte Vestibül ist außergewöhnlich wegen der drei großen Treppen, die es enthält. Seine Mauern sind von Marmorstatuen gesäumt, Hunderten und Aberhunderten, Reihe auf Reihe, aufragend in ferne Höhen.

Ich kletterte die Westliche Mauer hinauf bis zu der Statue einer Frau mit einem Bienenkorb, fünfzehn Meter über dem Pflaster. Die Frau ist zwei- oder dreimal so groß wie ich und der Bienenkorb übersät von Marmorbienen so dick wie mein Daumen. Eine Biene – das ruft bei mir immer leichte Übelkeit hervor – kriecht über ihr linkes Auge. Ich quetschte mich neben der Frau in die Nische und wartete, bis ich die Fluten in den Unteren Sälen hörte und die Mauern unter der Kraft des Bevorstehenden vibrieren spürte.

Zuerst kam die Flut aus den Fernen Östlichen Sälen. Diese Flut erklomm die Östlichste Treppe ohne Wucht. Sie hatte kaum Farbe, und ihr Wasser war nicht mehr als knöcheltief. Sie breitete einen grauen Spiegel über dem Pflaster aus, dessen Oberfläche mit Streifen von milchigem Schaum marmoriert war.

Als Nächstes kam die Flut aus den Westlichen Sälen. Diese Flut brandete die Westlichste Treppe empor und traf mit großem Donner, unter dem alle Statuen erzitterten, auf der Östlichen Mauer auf. Ihr Schaum hatte das Weiß alter Fischgräten, und ihre aufgewühlten Wogen waren zinngrau. Innerhalb von Sekunden stand das Wasser den Statuen der untersten Reihe bis zur Taille.

Als Letztes kam die Flut aus den Nördlichen Sälen. Sie warf sich die Mittlere Treppe hinauf und füllte das Vestibül mit einer Explosion glitzernden eisweißen Schaumes. Ich war durchnässt und geblendet. Als ich wieder sehen konnte, stürzte Wasser an den Statuen herab. In dem Moment erkannte ich, dass mir bei meiner Berechnung des Volumens der Zweiten und Dritten Flut ein Fehler unterlaufen war. Ein turmhoher Wassergipfel klatschte gegen die Stelle, an der ich kauerte. Eine riesige Wasserhand reckte sich, um mich von der Mauer zu reißen. Ich schlang meine Arme um die Beine der Frau mit einem Bienenkorb und betete zu Dem Haus, mich zu beschützen. Das Wasser bedeckte mich gänzlich, und einen Moment lang war ich von der eigenartigen Stille umgeben, die entsteht, wenn Das Meer einen überspült und die eigenen Geräusche erstickt. Ich dachte, dass ich sterbe, oder aber, dass ich in fremde Säle geschwemmt werde, weit fort vom Brausen und Rauschen vertrauter Gezeiten. Ich klammerte mich fest.

Dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, war es vorbei. Die vereinigten Fluten strömten weiter in die umliegenden Säle. Ich hörte das Dröhnen und Krachen, als sie gegen die Mauern schlugen. Das Wasser im Neunten Vestibül sank zügig ab, bis es gerade noch auf die Sockel der untersten Statuen reichte.

Ich bemerkte, dass ich etwas festhielt. Als ich meine Hand öffnete, fand ich den Marmorfinger irgendeiner fernen Statue, den die Fluten dort hineingelegt hatten.

Die Schönheit Des Hauses ist unermesslich, seine Güte grenzenlos.

*

Eine Beschreibung der Welt

Eintrag für den Siebten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Ich bin entschlossen, so viel von Der Welt zu erforschen wie mir zu meinen Lebzeiten möglich ist. Zu diesem Zweck wanderte ich schon bis in den Neunhundertsechzigsten Saal im Westen, den Achthundertneunzigsten Saal im Norden und den Siebenhundertachtundsechzigsten Saal im Süden. Ich stieg hinauf in die Oberen Säle, in denen Wolken langsam hintereinander herziehen und Statuen unvermittelt aus dem Dunst auftauchen. Ich erkundete die Versunkenen Säle, wo das dunkle Wasser von weißen Seerosen bedeckt ist. Ich besichtigte die Verfallenen Säle des Ostens, wo Decken, Fußböden – und manchmal sogar Mauern! – eingestürzt sind und die Düsternis von grauen Lichtstrahlen gespalten wird.

An all diesen Orten stand ich in Türrahmen und blickte nach vorn. Nie entdeckte ich irgendeinen Hinweis darauf, dass Die Welt ein Ende nahm, nur eine regelmäßige Abfolge von Sälen und Korridoren bis in weite Ferne.

Kein Saal, kein Vestibül, keine Treppe, kein Durchgang ist ohne Statuen. In den meisten Sälen nehmen sie den gesamten verfügbaren Raum ein, wobei man hier und dort einen leeren Sockel, eine leere Nische oder Apsis findet oder gar eine freie Fläche an einer ansonsten mit Statuen besetzten Mauer. Diese Abwesenheiten sind auf ihre Art so mysteriös wie die Statuen selbst.

Mir fiel auf, dass die Statuen jeweils eines Saales zwar mehr oder weniger einheitlich in der Größe sind, es allerdings zwischen den Sälen beträchtliche Unterschiede gibt. An manchen Stellen sind die Figuren zwei- oder dreimal so hoch wie ein Mensch, an anderen ungefähr lebensgroß und an wieder anderen reichen sie mir nur bis zur Schulter. Die Versunkenen Säle enthalten Statuen, die riesig sind – fünfzehn bis zwanzig Meter hoch –, aber das ist die Ausnahme.

Ich bin dabei, ein Verzeichnis zu erstellen, in dem ich Standort, Größe und Thema aller Statuen sowie jegliche weiteren Merkmale von Interesse festhalte. Bisher sind der Erste und Zweite Südwestliche Saal fertiggestellt, und ich bin mit dem Dritten beschäftigt. Angesichts des gewaltigen Umfangs dieser Aufgabe wird mir manchmal leicht schwindlig, aber als Wissenschaftler und Forscher ist es meine Pflicht, die Herrlichkeit Der Welt zu dokumentieren.

Von den Fenstern Des Hauses blickt man auf große Innenhöfe; karge, leere Flächen, die mit Steinen gepflastert sind. Die Innenhöfe sind in der Regel vierseitig, obwohl man hier und da auf einen mit sechs, acht oder sogar – diese sind recht seltsam und düster – nur drei Seiten trifft.

Außerhalb Des Hauses gibt es nur die Himmelskörper: Sonne, Mond und Sterne.

Das Haus besteht aus drei Ebenen. Die Unteren Säle sind das Reich Der Gezeiten; ihre Fenster – über einen Innenhof hinweg betrachtet – sind graugrün vom ruhelosen Wasser und weiß von Schaumspritzern. Die Unteren Säle stellen Nahrung in Form von Fischen, Schalentieren und Meerespflanzen zur Verfügung.

Die Oberen Säle sind, wie gesagt, das Reich der Wolken; ihre Fenster sind grauweiß und beschlagen. Manchmal wird eine ganze Fensterreihe plötzlich von einem Blitz erhellt. Die Oberen Säle sorgen für Süßwasser, das in den Vestibülen als Regen fällt und in Bächen an Mauern und über Treppen hinabfließt.

Zwischen diesen beiden (weitgehend unbewohnbaren) Ebenen befinden sich die Mittleren Säle, die das Reich der Vögel und Menschen sind. Die wunderschöne Geordnetheit Des Hauses ist es, die uns Leben schenkt.

Heute Morgen sah ich aus einem Fenster im Achtzehnten Südöstlichen Saal. Auf der anderen Seite des Innenhofs stand Der Andere an einem Fenster. Das Fenster war groß und dunkel; der edle Kopf Des Anderen mit der hohen Stirn und dem säuberlich gestutzten Bart wurde von einer Ecke eingerahmt. Der Andere war gedankenverloren, wie so häufig. Ich winkte ihm zu. Er sah mich nicht. Ich winkte überschwänglicher. Ich sprang mit großem Elan auf und ab. Aber die Fenster Des Hauses sind zahlreich, und er sah mich nicht.

*

Eine Liste aller Menschen, die je lebten, und was von ihnen bekannt ist

Eintrag für den Zehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Gesichert ist, dass es seit Anbeginn Der Welt fünfzehn Menschen gab. Möglicherweise waren es mehr, aber ich bin Wissenschaftler und muss mich auf die Beweise stützen. Von den fünfzehn Menschen, deren Existenz verifizierbar ist, sind nur Der Andere und ich jetzt am Leben.

Im Folgenden werde ich die fünfzehn Personen aufzählen und, falls relevant, ihren Aufenthaltsort nennen.

Erste Person: Ich

Ich glaube, dass ich zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt bin. Ich bin circa ein Meter dreiundachtzig groß und von schlanker Statur.

Zweite Person: Der Andere

Das Alter Des Anderen schätze ich auf fünfzig bis sechzig. Er ist circa ein Meter achtundachtzig groß und, wie ich, schlank. Für sein Alter ist er kräftig und fit. Seine Haut hat einen hellen Olivton. Das kurze Haar und der Schnurrbart sind dunkelbraun. Der Bart am Kinn wird allmählich grau, fast weiß; er ist ordentlich gestutzt und läuft leicht spitz zu. Der Schädel Des Anderen ist ganz besonders elegant, mit hohen, aristokratischen Wangenknochen und einer imposanten Stirn. Der Gesamteindruck, den er vermittelt, ist der eines freundlichen, aber etwas strengen, dem Leben eines Intellektuellen verschriebenen Mannes.

Wie ich ist er Wissenschaftler und das einzig andere lebende menschliche Wesen, weshalb ich seine Freundschaft selbstverständlich sehr wertschätze.

Der Andere glaubt, dass irgendwo auf Der Welt ein Großes und Geheimes Wissen versteckt ist, das uns immense Kräfte verleihen wird, wenn wir es erst gefunden haben. Woraus dieses Wissen besteht, weiß er nicht genau, deutete aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten an, dass es das Folgende beinhalten könnte:

1.   Den Tod bezwingen und unsterblich werden

2.   durch ein telepathisches Verfahren herausfinden, was andere denken

3.   uns in Adler verwandeln und durch Die Luft fliegen

4.   uns in Fische verwandeln und durch Die Gezeiten schwimmen

5.   Gegenstände allein durch unsere Gedanken bewegen

6.   Sonne und Sterne auslöschen und wieder anzünden

7.   schlichtere Gemüter dominieren und unserem Willen beugen.

Der Andere und ich suchen eifrig nach diesem Wissen. Zweimal die Woche (dienstags und freitags) treffen wir uns, um unsere Arbeit zu besprechen. Der Andere teilt sich seine Zeit akribisch ein und gestattet nie, dass unsere Treffen länger als eine Stunde dauern.

Wenn er meine Anwesenheit zu anderen Zeiten benötigt, ruft er so lange »Piranesi!«, bis ich komme.

Piranesi. So nennt er mich.

Was seltsam ist, denn soweit ich mich erinnere, ist das nicht mein Name.

Dritte Person: Der Keksdosenmann

Der Keksdosenmann ist ein Skelett, das in einer leeren Nische im Dritten Nordwestlichen Saal wohnt. Die Knochen wurden auf eine ganz bestimmte Art angeordnet: lange von ähnlicher Größe wurden mit aus Seetang gefertigter Schnur zusammengebunden. Rechts liegt der Schädel und links eine Keksdose mit all den kleinen Knochen wie Fingerknochen, Zehenknochen, Wirbel et cetera. Die Keksdose ist rot. Darauf zu sehen ist ein Bild von Gebäck und die Aufschrift »Huntley Palmers« und »Family Circle«.

Als ich den Keksdosenmann entdeckte, war die Seetangschnur vertrocknet und zerbröselt, und er sah ziemlich schlampig aus. Ich stellte eine neue Kordel aus Fischleder her und verschnürte seine Knochenbündel damit. Jetzt ist er wieder schön ordentlich.

Vierte Person: Der Verborgene

Eines Tages vor drei Jahren stieg ich die Treppe im Dreizehnten Vestibül hinauf. Da ich feststellte, dass die Wolken sich aus dieser Gegend der Oberen Säle verzogen hatten und sie hell, klar und voller Sonnenlicht waren, entschloss ich mich, sie näher zu erforschen. In einem der Säle (demjenigen, der unmittelbar über dem Achtzehnten Nordöstlichen Saal liegt) fand ich ein halb zerfallenes Skelett, eingeklemmt in einem schmalen Spalt zwischen einem Sockel und der Mauer. Der derzeitigen Anordnung der Knochen nach zu urteilen, befand es sich ursprünglich in einer sitzenden Haltung, die Knie ans Kinn angezogen. Es war mir nicht möglich, das Geschlecht zu ermitteln. Wenn ich die Knochen herausholen würde, um sie zu untersuchen, bekäme ich sie nie wieder hinein.

Person Fünf bis Vierzehn: Die Menschen aus dem Alkoven

Die Menschen aus dem Alkoven sind alle skelettiert. Ihre Knochen sind nebeneinander auf einem leeren Sockel im Nördlichsten Alkoven des Vierzehnten Südwestlichen Saales ausgelegt.

Drei Skelette identifizierte ich vorläufig als weiblich und drei als männlich, darüber hinaus gibt es vier, deren Geschlecht ich nicht mit ausreichender Gewissheit bestimmen kann. Eines davon taufte ich Fischledermensch. Das Skelett des Fischledermenschen ist unvollständig, und viele der Knochen sind von Den Gezeiten stark angegriffen. Manche sind kaum noch mehr als Kügelchen. In einige davon wurden kleine Löcher gebohrt, und zwischen ihnen fand ich Fragmente von Fischleder. Daraus ziehe ich mehrere Schlüsse:

1.   Das Skelett des Fischledermenschen ist älter als die anderen.

2.   Das Skelett des Fischledermenschen war früher anders gestaltet, die Knochen waren mit Riemen aus Fischleder zusammengebunden, die aber im Laufe der Zeit zerfielen.

3.   Diejenigen, die nach dem Fischledermenschen kamen (mutmaßlich die Menschen aus dem Alkoven), hatten solche Ehrfurcht vor menschlichem Leben, dass sie geduldig seine Knochen sammelten und ihn zu ihren eigenen Toten legten.

Frage: Wenn ich das Gefühl bekomme, bald zu sterben, sollte ich mich zu den Menschen aus dem Alkoven legen? Dort ist, schätze ich, Platz für vier weitere Erwachsene. Obwohl ich ein junger Mann bin und der Tag meines Todes (hoffe ich) noch in einiger Ferne liegt, befasse ich mich mit diesem Thema.

Bei den Menschen aus dem Alkoven liegt ein weiteres Skelett (wobei dieses nicht zu den Menschen zählt, die je lebten). Es sind die Überreste eines Geschöpfs von circa fünfzig Zentimeter Größe, mit einem Schwanz von der gleichen Länge wie der Körper. Ich verglich die Knochen mit den unterschiedlichen Arten von Geschöpfen, die in den Statuen dargestellt sind, und glaube, sie gehören zu einem Affen. Nie sah ich einen lebendigen Affen in Dem Haus.

Fünfzehnte Person: Das Zusammengefaltete Kind

Das Zusammengefaltete Kind ist ein Skelett. Ich glaube, es ist weiblich und hat ein Alter von etwa sieben Jahren. Es hockt auf einem Sockel im Sechsten Südöstlichen Saal. Seine Knie sind bis ans Kinn angezogen, die Arme umschlingen die Beine, der Kopf ist gesenkt. Um den Hals trägt es eine Kette aus Korallenperlen und Gräten.

Ich denke viel über das Verhältnis dieses Kindes zu mir nach. Es sind auf Der Welt momentan (wie ich bereits erklärte) nur Ich und Der Andere am Leben; und wir sind beide männlich. Wie wird Die Welt einen neuen Bewohner bekommen, wenn wir tot sind? Es ist meine Überzeugung, dass Die Welt (oder, wenn man so will, Das Haus, da die beiden ja de facto identisch sind) sich einen Bewohner wünscht, als Zeugen ihrer Schönheit und Empfänger ihrer Gnade. Meine These ist, dass Das Haus das Zusammengefaltete Kind als meine Frau vorgesehen hatte, nur geschah etwas, was das verhinderte. Seit mir dieser Gedanke kam, scheint es mir nur angemessen, mit ihr zu teilen, was ich habe.

Ich besuche alle Toten, vor allem aber das Zusammengefaltete Kind. Ich bringe ihnen Essen, Wasser und Seerosen aus den Versunkenen Sälen. Ich spreche mit ihnen, erzähle ihnen, was ich mache, und schildere ihnen sämtliche Wunder, die ich im Haus entdecke. Auf diese Weise wissen sie, dass sie nicht allein sind.

Nur ich mache das. Der Andere nicht. Soweit ich weiß, übt er keine religiösen Praktiken aus.

Sechzehnte Person

Und Du. Wer bist Du? Wer ist es, für den ich schreibe? Bist Du ein Reisender, der Gezeiten überlistete und eingestürzte Fußböden überquerte und verfallene Treppen überwand, um diese Säle zu erreichen? Oder bist Du vielleicht jemand, der meine eigenen Säle bewohnt, wenn ich schon lange tot bin?

*

Mein Tagebuch

Eintrag für den Siebzehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Was ich beobachte, schreibe ich in meine Hefte. Das mache ich aus zweierlei Gründen. Der erste Grund ist, dass Schreiben zu Präzision und Sorgfalt erzieht. Der zweite ist, das, was ich an Wissen besitze, für Dich, den Sechzehnten Menschen, zu erhalten. Ich bewahre meine Hefte in einer braunen Umhängetasche aus Leder auf; die Tasche ist normalerweise in einem Hohlraum hinter der Statue eines an einem Rosenstrauch hängen gebliebenen Engels in der Nordöstlichen Ecke des Zweiten Nördlichen Saales verstaut. Dort liegt auch meine Armbanduhr, die ich dienstags und freitags benötige, wenn ich mich um zehn Uhr mit Dem Anderen treffe. (An den übrigen Tagen nehme ich meine Uhr nicht mit, aus Angst, es könnte Meerwasser eindringen und das Uhrwerk beschädigen.)

Eines meiner Hefte enthält meine Gezeitentabelle. Darin notiere ich die Zeiten und Wasserstände von Ebbe und Flut und berechne künftige Gezeiten. Ein weiteres Heft ist mein Statuenverzeichnis. In den restlichen Heften führe ich mein Tagebuch, in dem ich meine Gedanken und Erinnerungen aufschreibe und mein Leben protokolliere. Bisher füllt mein Tagebuch neun Hefte; dieses ist das zehnte. Alle sind nummeriert und die meisten mit den Daten beschriftet, auf die sie sich beziehen.

Nr. 1 ist beschriftet »Dezember 2011 bis Juni 2012«.

Nr. 2 ist beschriftet »Juni 2012 bis November 2012«.

Nr. 3 war ursprünglich beschriftet »November 2012«, das wurde aber durchgestrichen und ersetzt durch »Dreißigster Tag im Zwölften Monat des Jahres des Heulens und Zähneklapperns bis zum Vierten Tag des Siebten Monats in dem Jahr, in dem ich die Korallensäle entdeckte«.

Sowohl Nr. 2 als auch Nr. 3 weisen Lücken auf, an denen Seiten gewaltsam entfernt wurden. Über den Grund dafür rätsele ich schon länger und grübele, wer das gewesen sein könnte, kam aber noch zu keinem Schluss.

Nr. 4 ist beschriftet »Zehnter Tag des Siebten Monats in dem Jahr, in dem ich die Korallensäle entdeckte, bis zum Neunten Tag des Vierten Monats in dem Jahr, in dem ich die Sternbilder benannte«.

Nr. 5 ist beschriftet »Fünfzehnter Tag des Vierten Monats in dem Jahr, in dem ich die Sternbilder benannte, bis zum Dreißigsten Tag des Neunten Monats in dem Jahr, in dem ich die Toten zählte und benannte«.

Nr. 6 ist beschriftet »Erster Tag des Zehnten Monats in dem Jahr, in dem ich die Toten zählte und benannte, bis zum Vierzehnten Tag des Zweiten Monats in dem Jahr, in dem die Decken im Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Nordöstlichen Saal einstürzten«.

Nr. 7 ist beschriftet »Siebzehnter Tag des Zweiten Monats in dem Jahr, in dem die Decken im Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Nordöstlichen Saal einstürzten, bis zum letzten Tag desselben Jahres«.

Nr. 8 ist beschriftet »Erster Tag des Jahres, in dem ich in den Neunhundertsechzigsten Westlichen Saal wanderte, bis zum fünfzehnten Tag des Zehnten Monats desselben Jahres«.

Nr. 9 ist beschriftet »Sechzehnter Tag des Zehnten Monats in dem Jahr, in dem ich in den Neunhundertsechzigsten Westlichen Saal wanderte, bis zum Vierten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam«.

Dieses Heft (Nr. 10) wurde begonnen am Fünften Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam.

Einer der Nachteile des Tagebuchführens ist die Schwierigkeit, wichtige Einträge wiederzufinden, und deshalb habe ich die Methode, ein Heft als Index für alle anderen zu verwenden. In diesem Heft ist jedem Buchstaben des Alphabets eine gewisse Anzahl an Seiten zugeordnet (mehr Seiten für häufige Buchstaben wie A und M; weniger für Buchstaben, die seltener vorkommen, zum Beispiel Q und X). Unter jedem Buchstaben führe ich Einträge nach Thema und Fundort in meinem Tagebuch auf.

Beim nochmaligen Lesen dessen, was ich gerade schrieb, wird mir etwas bewusst. Ich benutze zwei Systeme zur Nummerierung der Jahre. Wie konnte mir das bisher entgehen?

Ich bin schlechter Methodik schuldig. Nur ein Nummerierungssystem wird benötigt. Zwei Systeme stiften Verwirrung, Ungewissheit, Zweifel und Durcheinander. (Und sind ästhetisch unerfreulich.)

Dem ersten System gemäß nannte ich zwei Jahre 2011 und 2012. Das wirkt auf mich zutiefst prosaisch. Außerdem kann ich mich nicht erinnern, was vor zweitausend Jahren geschehen sein soll, das jenes Jahr in meinen Augen zu einem guten Anfangspunkt machte. Dem zweiten System entsprechend, gab ich den Jahren Namen wie »Das Jahr, in dem ich die Sternbilder benannte« und »Das Jahr, in dem ich die Toten zählte und benannte«. Das gefällt mir viel besser. Es verleiht jedem Jahr einen eigenen Charakter. Dieses System werde ich künftig verwenden.

*

Statuen

Eintrag für den Achtzehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Es gibt Statuen, die ich lieber mag als den Rest. Dazu gehört die Frau mit einem Bienenkorb.

Eine andere – vielleicht die Statue, die ich am allerliebsten mag – steht an einem Türeingang zwischen dem Fünften und dem Vierten Nordwestlichen Saal. Es ist die Statue eines Fauns, eines Wesens, das halb Mensch und halb Ziegenbock ist, mit einem üppigen Lockenkopf. Er lächelt zart und drückt sich den Zeigefinger an die Lippen. Ich hatte immer das Gefühl, er wollte mir etwas mitteilen oder mich vielleicht vor etwas warnen: »Still!«, scheint er zu sagen. »Sei vorsichtig!« Aber welche Gefahr es geben könnte, weiß ich nicht. Ich träumte einmal von ihm; er stand in einem verschneiten Wald und sprach mit einem weiblichen Kind.

Die Statue eines Gorillas, die im Fünften Nördlichen Saal steht, zieht meinen Blick immer an. Er hockt auf seinen hinteren Gliedmaßen, beugt sich vor und stützt sich mit seinen kraftvollen Armen auf die Fäuste auf. Sein Gesicht fasziniert mich. Die gewaltige Stirn überschattet die Augen, und bei einem Menschen würde man seine Miene als finster bezeichnen, bei dem Gorilla aber scheint sie mir das genaue Gegenteil zu bedeuten. Er steht für vieles, unter anderem Frieden, Gelassenheit, Stärke und Ausdauer.

Es gibt diverse andere, die ich sehr gern mag: den kleinen Jungen, der das Becken schlägt, den Elefanten mit einem Schloss auf dem Rücken, die zwei Könige beim Schachspiel. Die letzte, die ich erwähnen werde, ist nicht unbedingt einer meiner Lieblinge. Sondern es ist eine, beziehungsweise, genauer gesagt sind es zwei zusammengehörige Statuen, die mich in ihren Bann ziehen, wann immer ich sie sehe. Die beiden Statuen flankieren den Östlichen Eingang des Ersten Westlichen Saales. Sie sind circa sechs Meter hoch und besitzen zwei ungewöhnliche Merkmale: Erstens sind sie viel größer als die anderen Statuen im Ersten Westlichen Saal; zweitens sind sie unvollständig. Ihr Oberkörper ragt auf Bauchhöhe aus der Mauer, die Arme greifen nach hinten, um mit aller Kraft zu drücken, die Muskeln sind vor Anstrengung geschwollen und die Gesichter verzerrt. Sie scheinen Schmerzen zu haben, darum zu ringen, geboren zu werden; das Ringen mag vergeblich sein, und doch geben sie nicht auf. Auf dem Kopf tragen sie aufwendig gestaltete Hörner, daher taufte ich sie die Gehörnten Riesen. Sie symbolisieren Anstrengung und den Kampf gegen ein elendes Schicksal.

Ist es Dem Haus gegenüber respektlos, einige Statuen lieber zu mögen als andere? Manchmal stelle ich mir diese Frage. Meine Überzeugung ist, dass Das Haus selbst alles, was es schuf, in gleichem Maße liebt und segnet. Sollte ich dasselbe versuchen? Doch ich stelle auch fest, dass es in der Natur des Menschen liegt, eines einem anderen vorzuziehen, eines als bedeutungsvoller als ein anderes zu empfinden.

Gibt es Bäume?

Eintrag für den Neunzehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Vieles ist unbekannt. Einmal – vor ungefähr sechs oder sieben Monaten – sah ich einen leuchtend gelben Fleck auf sanften Wellen unter dem Vierten Westlichen Saal treiben. Da mir nicht begreiflich war, worum es sich handeln könnte, watete ich in das Wasser und fischte es heraus. Es war ein Blatt, sehr schön, mit zwei an beiden Enden zu einer Spitze zulaufenden Kanten. Natürlich ist es möglich, dass es zu einer Art von Meerespflanze gehört, die ich noch nie sah, aber ich bin skeptisch. Die Beschaffenheit wirkte falsch. Die Oberfläche war wasserabweisend, wie etwas, das zum Leben in Der Luft gedacht ist.

Zweiter Teil

Der Andere