Wer wissen will, wie wir bald leben und welche Technologien uns prägen werden, muss durch Shenzhen streifen. Die 20-Millionen-Metropole in Südchina gehört zu den innovativsten Städten der Welt. Inzwischen stellen die Shenzhener Techies gar das Silicon Valley in den Schatten. Nachhaltigkeit und neue Lebensqualität sind selbstverständlich, aber eben auch Gesichtserkennung und der gläserne Mensch. Die Cloud in der Stadt am Perlflussdelta weiß alles. Dennoch zieht Shenzhen immer mehr junge Talente aus aller Welt an, die nachts in eine ausgelassene Subkultur eintauchen. Ob E-Autos, Drohnen, 5G, Roboter oder Gaming, die Megacity ist in vielem heute führend. Shenzhen – eine Modellstadt voller Ambivalenzen. Frank Sieren zeigt, wie man dort lebt, wohnt und arbeitet, was wir von dort zu erwarten haben und warum Europa aufwachen muss.

Frank Sieren ist einer der führenden deutschen China-Experten. Der Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer lebt seit 1994 in Peking – länger als jeder andere westliche Wirtschaftsjournalist. Hautnah erlebt er den Aufstieg der neuen Weltmacht mit. Er hat im vergangenen Vierteljahrhundert als Korrespondent für die »Süddeutsche Zeitung«, die »Wirtschaftswoche«, die »Zeit«, das »Handelsblatt«, den »Tagesspiegel« und die Deutsche Welle gearbeitet. Nun auch für »China.Table«. Sieren hat bereits mehrere Bestseller veröffentlicht, zuletzt »Zukunft? China!«.

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FRANK SIEREN

SHENZHEN
ZUKUNFT MADE IN CHINA

Zwischen Kreativität und Kontrolle –
die junge Megacity, die unsere Welt verändert

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Copyright © 2021 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

ISBN 978-3-641-26381-2
V003


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Für Leo und Tim, die mit ihren neun Jahren
noch lieber Minecraft spielen, als dieses Buch zu lesen.


(Macht nix. Tencent managt Server von Minecraft.
Und Tencent ist aus Shenzhen.)

INHALT

VORWORT

1 WOHNEN

Von Menschen, die selbst entscheiden wollen, wo sie leben und arbeiten

2 BEWEGEN

Von Menschen, die anderen helfen voranzukommen

3 ÜBERWACHEN

Von Menschen, die Sicherheit und Freiheit austarieren

4 CHILLEN

Von Menschen in den Nischen der Subkultur

5 VERNETZEN

Von Menschen, die wissen wollen, wer die Spinne im Netz ist

6 ASSISTIEREN

Von Menschen, die Maschinen menschlich machen

7 HEILEN

Von Menschen, die sich für die Forschung auch gegen Peking stellen

8 ESSEN

Von Menschen, die genießen und nachhaltig handeln

AUSBLICK

DANK

VORWORT

»Man darf nicht aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre.«

Friedrich Dürrenmatt

Zum ersten Mal in den 27 Jahren, die ich nun schon in China lebe, beschleicht mich das Gefühl, ich müsste dringend umziehen. Aus der altehrwürdigen, manchmal schon etwas behäbigen und zuweilen auch strengen Hauptstadt Peking in die Stadt der Zukunft. Nach Shenzhen.

Nach wo?

Shenzhen, das ist die Nachbarstadt von Hongkong. Im Grunde ist Hongkong inzwischen jedoch die Vorstadt von Shenzhen – auch wenn Hongkong noch viel bekannter ist.

In Shenzhen leben rund 20 Millionen Menschen, in Hongkong nur 8,5 Millionen. Die Stadt hat nach Shanghai und Peking die drittgrößte Wirtschaftskraft in China. Noch vor Hongkong. Die Shenzhener Börse ist bereits wertvoller als die Londoner. Der Hafen vier Mal so groß wie der von Hamburg.

Zwei der vier wertvollsten Firmen Chinas haben ihren Sitz in Shenzhen: Tencent, der Social Media- und Gaming-Spezialist (WeChat, Fortnite), sowie die Versicherung Ping An, weltweit die zweitgrößte, aber die am stärksten digitalisierte. Das international erfolgreichste, wahrscheinlich innovativste, aber zugleich auch umstrittenste Unternehmen Chinas sitzt ebenfalls in der Boomtown: Huawei. Noch nie in der langen Geschichte Chinas war ein chinesisches Unternehmen weltweit erfolgreicher und einflussreicher – so einflussreich, dass es auf Platz 1 der Sanktionsliste Washingtons steht. Nirgends sonst wird der Machtkampf zwischen der aufsteigenden Weltmacht China und der absteigenden Weltmacht USA so plastisch wie im Fall von Huawei. Und keine andere Stadt symbolisiert das Ringen um die Spitze so sehr wie Shenzhen. Ein Machtkampf, der den Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus prägt. Ausgetragen auch anhand einer Metropole, die zum Inbegriff der Zukunft werden könnte.

Shenzhen ist nicht nur ein wichtiger Innovations-Hub, sondern auch das Mekka der neuen Mobilität. Die alltagstaugliche und bezahlbare Kombination aus E-Mobilität, autonomem Fahren und 5G-Vernetzung ist hier einmalig. Überhaupt ist Shenzhen für eine Megacity sehr umweltfreundlich. Alle Taxis und Busse zum Beispiel fahren mit Strom. Weltrekord. »Die erste stillere Megacity«, schreibt die US-Nachrichtenagentur Bloomberg. Die Geburtsstadt der globalen Drohnenindustrie ist Shenzhen ebenso, aber auch ein Zentrum der Sprach- und Gesichtserkennung. Die Metropole ist bereits heute so eng mit dem Thema Künstliche Intelligenz im Alltag verwoben wie keine andere weltweit. Inzwischen setzt Shenzhen aber auch globale Maßstäbe in Sachen Design und Architektur. Und es ist die Metropole mit der unbändigsten Subkultur in China.

Die Coronapandemie, die Ende 2019 erst China und dann die ganze Welt erfasste, hat dem Aufstieg Shenzhens noch einen weiteren, überraschenden Schub gegeben. Im Westen nennt man die Viruskrise gern einen »Brandbeschleuniger«. Und meint damit: dass alles, was gewohnt und über viele Jahre bewährt, aber eigentlich schon länger nicht mehr zeitgemäß war, nun schneller im Niedergang begriffen ist, als es ohnehin irgendwann der Fall gewesen wäre. Alles, was im Argen liegt, fliegt auf. In Asien dagegen gilt Corona als Crashtest für die Wettbewerbsfähigkeit von Nationen in den neuen Zeiten. China – und vor allem Shenzhen – hat diesen Crashtest mit fünf Sternen bestanden. Während im März 2021 in Europa und den USA noch kein Ende der Krise in Sicht ist, hat China das Virus längst besiegt. Während die USA das Jahr 2020 mit einem Wirtschaftseinbruch von 2,3 Prozent abschließen und die EU gar mit minus 6,4 Prozent, wächst die Wirtschaft Chinas um 2,3 Prozent. Und am besten unter den chinesischen Großstädten schneidet Shenzhen ab. Hier ist der Spuk schon Mitte März 2020 vorbei. Die Bilanz: 499 Fälle und drei Tote. Das Wirtschaftswachstum in der Stadt legt sogar um 3,2 Prozent zu. London, die größte und schillerndste Stadt Europas, verzeichnet hingegen ein Minus von 9,9 Prozent. Wenn man also zu Beginn des zweiten Coronajahres nach einem Zentrum der globalen Machtverschiebung sucht, dann ist man in Shenzhen gut aufgehoben.

Die Superlative gelten allerdings auch auf der anderen, der eher verstörenden Seite: Shenzhen ist die Stadt, die ihre Menschen am umfassendsten überwacht. Längst bewegt sich niemand mehr unbeobachtet, sobald er seine Wohnung verlässt. Beides, die unbändige Innovation und die rücksichtslose Überwachung, will die Partei, will Staats- und Parteichef Xi Jinping, obwohl es sich eigentlich widerspricht. Dass Shenzhen diese Gratwanderung nicht nur schafft, sondern in dieser Konstellation eine selbst für chinesische Verhältnisse nie da gewesene Dynamik entfaltet, macht sie zu einem Lehrbuchbeispiel für den Aufstieg Chinas, bei dem die Gleichzeitigkeit von Ultramodern und Totalitarismus gleichsam auf die Spitze getrieben wird. Die Frage ist, ob diese Gleichzeitigkeit von Dauer ist. Denn eines ist unbestritten: Innovation gedeiht am besten in Freiheit. Die Partei wird sich in diesem Dilemma positionieren müssen, sie wird entscheiden müssen, ob sich die Waagschale stärker in Richtung Kontrolle oder in Richtung Innovation neigt. Denn Shenzhens Wirtschaftskraft wächst und wächst, in den letzten vierzig Jahren durchschnittlich um unglaubliche 20 Prozent jährlich. Und es gibt noch immer viel Luft nach oben: Während die boomende Stadt 2020 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 429 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet hat, war es in Nordrhein-Westfalen, das mit knapp 18 Millionen ähnlich viel Einwohner hat, fast doppelt so hoch.

Die Bezeichnung Megacity erscheint dennoch angemessen. Denn während in Shenzhen rund 8000 Menschen auf einem Quadratkilometer leben, sind es in Nordrhein-Westfalen nur 526. So dicht gedrängt lebt man sonst nur noch im indischen Mumbai. Die Immobilienpreise gehören zu den höchsten der Welt: 20 000 Euro pro Quadratmeter. Das zeugt von der Attraktivität der Stadt und ist gleichzeitig ein großes Problem.

Shenzhen steht nicht allein. Es ist das dynamischste Zentrum der Greater Bay Area, mit über 70 Millionen Menschen einer der größten Ballungsräume der Welt und mit großem Abstand derjenige, der am schnellsten wächst. Hier, auf weniger als einem Prozent der Fläche Chinas, werden schon heute 12 Prozent der Wirtschaftskraft des Landes erarbeitet und knapp 40 Prozent der Exporte abgewickelt. China wiederum gilt als das Zentrum der größten Freihandelszone der Welt. Die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), zu der sich die asiatischen Länder zusammengeschlossen haben, wurde erst 2020 auf Initiative Chinas gegründet – als Gegengewicht zu den USA und Europa. Keine andere Freihandelszone weltweit ist so vielfältig, was die verschiedenen Religionen, die Größe der Länder, ihre unterschiedlichen politischen Systeme und ihren wirtschaftlichen Entwicklungsstand angeht. Wie groß die gegenseitige Toleranz in dieser Vielfalt ist, wird sich nun zeigen müssen.

Shenzhen, die Greater Bay Area, China und die RCEP greifen ineinander und stehen dafür, dass sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft allmählich in Richtung Asien verschiebt, angeführt von China. 500 Jahre westlicher Vorherrschaft neigen sich dem Ende zu. Man kann zugespitzt sagen: Die Vorherrschaft der weißen, westlichen Minderheit über die Mehrheit der Welt schwindet. Wenn man es am Anteil des BIP an der Weltwirtschaft misst, dann hat der Westen nach einem steilen Aufstieg um 1950 den Gipfel erreicht. Danach setzte eine allmähliche Abwärtsbewegung ein, die seit dem Jahr 2000 deutlich an Gefälle zunahm. Es sollte uns also längst nicht mehr überraschen.

2000 Jahre globaler Wirtschaftsgeschichte

Dieser Abstieg verläuft komplementär zum Aufstieg Chinas. Inzwischen trägt China knapp 40 Prozent zum Wachstum der Weltwirtschaft bei – in normalen Jahren. 2020 waren es fast 100 Prozent. Und für diese Phase ab 2000 steht Shenzhen wie keine andere Stadt.

Ihre Stärken sind in ihrer Mischung weltweit einmalig und machen die Metropole zum Innovationslabor der Welt, zum neuen Silicon Valley. Hier schlagen die jungen Wilden weite Pässe in die noch undefinierten Räume der Zukunft.

Trotz mancher Schwächen und Übertreibungen, die diese Stadt im Überschwang auch hervorbringt, ist offensichtlich: Wer wissen möchte, wie die Zukunft Chinas aussieht, vielleicht sogar die der Welt, sollte einen Blick nach Shenzhen werfen – auch wenn es hier Entwicklungen gibt, die wir kritisch sehen mögen.

Shenzhen ist in vielerlei Hinsicht jung und dynamisch. Die Stadt selbst wurde erst vor rund vierzig Jahren als Sonderwirtschaftszone gegründet. Seitdem ist sie so schnell gewachsen wie keine andere in der Weltgeschichte, haben Forscher der Vereinten Nationen herausgefunden. In einem Jahr entstehen in Shenzhen so viele Hochhäuser wie in den USA in zehn Jahren. Chinas Bauarbeiter schaffen, wenn es sein muss, eineinhalb Stockwerke pro Tag. Ein unfassbares Tempo. Doch ist das ein Tempo, in dem überhaupt etwas Sinnvolles entstehen kann?

Tatsächlich gilt Shenzhen als eine der nachhaltigsten Megametropolen. Die UN haben der Stadt schon vor Jahren einen Preis verliehen für »die beeindruckende Kombination aus Nachhaltigkeit und Wachstum«. Sie ist die Welthauptstadt der E-Mobilität, eine der grünsten Städte Chinas und die mit den nachhaltigsten Hochhäusern. Selbst Radfahrer finden hier, was in vielen anderen Städten fehlt: eine 14 Kilometer lange Fahrrad-Autobahn, die an der Küste entlang und durch weitläufige Parks führt. Ein »grünes Wahrzeichen«, schreibt das US-Magazin Forbes. Und für die New Yorker Unternehmensberatung McKinsey & Company ist Shenzhen »die nachhaltigste Stadt der Welt«.

Shenzhen ist auch in anderer Hinsicht jung. Zusammen mit Mumbai in Indien ist es die Megacity mit dem niedrigsten Durchschnittsalter weltweit: 29 Jahre. In London sind es 35, in New York 36, in Berlin und Hongkong 43 Jahre. In Shanghai 46. Und in Tokio gar 48. Immer mehr junge Leute strömen aus China und aus aller Welt in die Stadt. Von der Überalterung, die vor allem in Japan und den Ländern Europas, aber auch im übrigen China wie ein Damoklesschwert über der Wirtschaft und den Sozialsystemen hängt, ist in Shenzhen wenig zu sehen. Doch ist zu jung nicht auch riskant? Die Vernunft wächst ja bekanntlich mit dem Alter. Die Weisheit erst recht.

Interessant ist, dass die Schattenseiten von Shenzhen den Zuzug kaum bremsen. Hier wird die Überwachung auf fast unvorstellbare Weise perfektioniert. Shenzhen ist neben Chongqing im Westen Chinas die Stadt mit den meisten Kameras pro 100 000 Einwohnern weltweit. Nirgends ist die Gesichts- und die Stimmerkennung schon so weit in den Alltag integriert. Nirgends sind die Daten über 5G besser vernetzt. Big Brother an jeder Straßenecke. Mit dieser Überwachung kann man den Verkehr managen und Verbrechen verhindern, aber eben auch Minderheiten wie die Uiguren drangsalieren und politisch Andersdenkende verfolgen – so, wie es auch in Hongkong geschieht.

Die Innovationen im Bereich Überwachung und Sicherheit laufen in einem geplanten Social-Scoring-System zusammen, das Menschen automatisch nach den Maßgaben der Partei belohnen und bestrafen soll. Wie diese Datenkrake im zivilen und im polizeilich-militärischen Komplex funktioniert und was sie mit den Menschen macht, auch das lässt sich in Shenzhen erkennen.

Trotz der Überwachung ist Shenzhen eine Stadt, die offen für Neues ist. Mit der richtigen Geschäftsidee, dem richtigen Team steht dem Aufstieg kaum etwas im Weg. Den »American Dream« kann man schon seit ein paar Jahren auch hier leben, während er in seinem Ursprungsland und im Westen überhaupt immer schwerer umzusetzen ist, weil die Aufstiegskanäle in den USA eher enger werden und sich in manchen Bereichen und Regionen sogar komplett verschließen. Shenzhen lebt eben nicht von der Substanz, von der Erinnerung an glorreiche Zeiten, sondern von der Innovation, vom Blick in die Zukunft.

Über 260 000 Patente wurden 2019 in Shenzhen angemeldet. Ein Rekord in China. Und ein Wachstum von 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das hippe Hoverboard wurde ebenso hier entwickelt wie die faltbaren Smartphone-Bildschirme, 5G oder die Drohnenindustrie. Gegen die jungen Techies aus Shenzhen wirken die Gründer der Technologiemonopolisten aus dem Silicon Valley schon fast wie Stahlbarone – trotz Turnschuhen und T-Shirt. 47 sind sie im Schnitt, wenn sie den Exit für ihr Unternehmen finden, also an Investoren verkaufen oder an die Börse gehen. Da kann man in Shenzhen für die gleiche Phase leicht 15 Jahre abziehen. Diese Erkenntnis kommt langsam auch in Deutschland an: »Mehr Shenzhen auch in Schweinfurt wagen«, forderte 2020 selbst die Mainpost.

Nicht alle Innovationen mögen sinnvoll sein, nicht alle kommerziell überzeugend. Manche sogar abschreckend. In Shenzhen jedenfalls ist erst einmal keine Idee zu abseitig, kein Versuch zu waghalsig, kein Gedanke zu verwegen. Alles Open Source. Jeder darf überall mitmachen. Viele Entwickler haben den Patentwettbewerb sogar schon hinter sich gelassen. Lieber der Erste sein und sich auf gutes Marketing verlassen. Wenn die anderen einen kopieren, zeigt das nur, dass man richtigliegt. Und wenn sie einen überholen, dann war man selbst eben nicht gut genug. Scheitern ist also erlaubt, solange man herausfindet, woran es gelegen hat – und es dann noch einmal probiert.

Die Metropole ist nun ein Art Memphis/Tennessee der Techie-Szene. Sie ist für die globale Technologie, was der Rock ’n’ Roll für die Musik in den Fünfzigern und Sechzigern gewesen ist. Sie hat sich befreit von den Zwängen des Silicon Valley und von denen der europäischen Traditionalisten sowieso. Shenzhen ist Tech ’n’ Roll. Auch deshalb ist die Stadt zu einem Magnet geworden für eine Vielfalt unterschiedlicher Menschen vor allem aus China – im internationalen Vergleich ist es immer noch eine sehr chinesische Stadt – , aber zunehmend auch für den Rest der Welt. Eine Stadt, die inzwischen die nationale und die globale Elite anzieht. Sie ist ein Schmelztiegel innerchinesischer Migranten aus allen Teilen des Landes. Aus dem Norden Chinas dauert die Reise hierher fünf Flugstunden, das ist vergleichbar mit der Strecke London – Kairo. Bis 2010 gab es sogar noch einen Grenzzaun zwischen Shenzhen und dem Rest von China. So wie zwischen den USA und Mexiko.

Die Auslandschinesen erhöhen die Vielfalt noch: Diejenigen, die zurückkommen, heißen Haigui, weil sie wie die Meeresschildkröten zum »Eierlegen« an den Ort ihrer Geburt zurückkehren. Mit einem Unterschied: Die Menschen kommen freiwillig. Die Schildköten zwingt der Instinkt. Immer mehr Teams brechen aus dem Silicon Valley nach Südchina auf. Und ziehen Ausländer nach. Allein 94 000 ausländische Unternehmen wurden bisher in Shenzhen gegründet. Die Gründerszene gilt als unbändig, schnell und wendig, ihr Motto lautet: »Eine Woche in Shenzhen ist wie ein Monat sonst irgendwo.« Geschlafen wird im nächsten Leben. Der Begriff »Shenzhen Speed« ist inzwischen eine Art Markenzeichen in China.

Im Westen reagiert man mit Neugier und Unbehagen auf die Entwicklung und kann sich nicht darauf einigen, wie man der Herausforderung begegnen soll. Die USA sind noch gespaltener als Europa beim Thema Shenzhen, vor allem beim Thema Huawei. Während die Wähler von Donald Trump (die mit seiner Abwahl ja nicht verschwunden sind) den neuen Wettbewerber um jeden Preis stigmatisieren, zu einem »Feind« machen wollen, den sie für den dräuenden Abstieg verantwortlich machen können, sind andere begeistert. Shenzhen sei eine »unglaublich pulsierende Stadt«, staunte Apple-CEO Tim Cook schon 2016, als das Unternehmen sein erstes Forschungslab hier eröffnete. Selbst Google, das in China de facto verboten ist, hat seit 2018 ein Forschungszentrum in der Megastadt. »Shenzhen weiß, wie Zukunft geht«, meint Bloomberg, die amerikanische Nachrichtenagentur. »Shenzhen ist Inkubator für innovatives Design, ein Tech Hub, das sich an keine Regeln hält, ein Labor des Urbanismus der nächsten Generation und eine führende Kulturhauptstadt«, erkennt das US-Reisemagazin Travel + Leisure neidlos an. Und für das Magazin The New Yorker ist Shenzhen »ein Symbol von wundervoller Transformation und Exzessen schwindelerregender Entwicklungen«.

Aber sind das auch die Transformationen, die zu uns passen? Zu unserer Gesellschaft, zu unseren Werten und unseren Vorstellungen, wie die Welt in Zukunft aussehen soll? Tempo und Innovation als Selbstzweck sind uns in Europa jedenfalls nicht genug. Verraten die jungen Wilden nicht ihre (und unsere) Freiheit, nur um innovativ zu sein? Was an diesen Entwicklungen kann uns als Vorbild dienen, und was wollen wir auf keinen Fall? Wohin neigt sich die Balance zwischen Individualismus und Gemeinschaft? Zwischen Freiheit und Kontrolle? Und was können wir tun, um den Anschluss an die neue Zeit nicht komplett zu verpassen? Das sind die Fragen, um die es in diesem Buch geht.

Im Kapitel Wohnen beschäftigen wir uns unter anderem mit dem deutschen Stararchitekten Ole Scheeren. Die Zentrale eines von ihm entworfenen Tech-Unternehmens hat Geschosse so groß wie zwei Fußballfelder. Und wir treffen Zhang Bo, der das schmalste Café Shenzhens designt hat. Es ist gerade einmal 2,80 Meter breit. Wir lernen Xi Zhongxun kennen, den Vater des Staatspräsidenten Xi Jinping, der Shenzhen quasi mit erfunden hat. Und Nut Brother, eine Art chinesischer Joseph Beuys, der die Zerstörung der Altstadt kritisiert.

Im Kapitel Bewegen lauschen wir unter anderen Professor X, dem Erfinder der preiswertesten und am weitesten entwickelten Technologie zum autonomen Fahren. Und wir sprechen mit dem Deutschen Wolfgang Egger, Chefdesigner von BYD, einem der größten E-Auto-Hersteller der Welt, bei dem das Auto von der Batterie, dem Design und dem Vernetzen her neu gedacht wird.

Im Kapitel Überwachen beschäftigen wir uns mit Liu Ruopeng, dessen Unternehmen Tarnkappenschiffe beschichtet und vernetzte Überwachungshelme für die Polizei entwickelt. Wir verfolgen das Schicksal einer Gruppe von Hongkonger Aktivisten in einem Shenzhener Gefängnis und decken auf, was SenseNets-Gesichtserkennung mit den unterdrückten Uiguren macht und warum das Social-Scoring-System so tückisch werden kann.

Das Kapitel Chillen dreht sich um die holländische Modedesignerin Ursula Kay, ihren britischen Mann David, Musiker und DJ, der es in die Top 30 der britischen Charts geschafft hat, sowie deren Kinder. Die Familie, die aus Überzeugung in Shenzhen lebt, zeigt uns die überraschend vielfältige und durchaus auch kritische Subkultur Shenzhens.

Im Kapitel Vernetzen begegnen wir dem Gründer von Huawei, Ren Zhengfei, außerdem dem Vordenker der deutschen Industrie 4.0, Professor Detlef Zühlke. Und wir fragen uns, ob wir 5G wirklich brauchen und inwiefern es unsere Gesellschaft tatsächlich von innen aushöhlt.

Im Kapitel Assistieren beschäftigen wir uns mit Xiao Yi, einem Roboter mit weiblichen Formen, der die schwierige chinesische Ärzteprüfung bestanden hat. Aber auch mit Liu Qingfeng, dem Gründer des Spracherkennungs-Start-ups iFlytek. Er ist überzeugt, dass wir bald mit Maschinen so reden werden wie mit Menschen.

Im Kapitel Heilen lernen wir unter anderem Jasper Fuk-Woo Chan kennen. Der Forscher an einer Shenzhener Klinik hat mit seinem Team schon im Januar 2020 die Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Coronavirus nachgewiesen und seine Ergebnisse international veröffentlicht. Und wir werden sehen, dass die Metropole auch deshalb so gut durch die Krise kam, weil sie sich von Peking nicht bremsen ließ.

Im Kapitel Essen schließlich geht es unter anderem um Zhou Qiyu von Whole Perfect Food, der aus alten buddhistischen Tofu-Rezepten fleischlose Hightech-Produkte für den globalen Massenmarkt macht und damit die Welt den Klimazielen ein Stück näher bringt. Und wir besuchen ein Restaurant, in dem Roboter nicht nur bedienen, sondern auch aufwendige traditionelle chinesische Gerichte kochen – erstmals ohne menschliches Zutun.

In allen Kapiteln werden wir sehen, dass Innovation keine Einbahnstraße mehr von Westen nach Osten ist, sondern dass wir von nun an mit immer dichterem Gegenverkehr rechnen müssen. Wir müssen anerkennen, dass die Unternehmen aus Shenzhen auch Wettbewerber sind, die wir nicht länger ignorieren können, die wir ernst nehmen und auf die wir reagieren müssen. Wir müssen akzeptieren, dass wir uns nicht mehr einfach entkoppeln können, sondern wirtschaftlich, technologisch und politisch immer enger miteinander verbunden sind. Heute, in Zeiten der Digitalisierung, mehr denn je. Man kann durchaus auch von Abhängigkeit sprechen, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel Volkswagen 45 Prozent seiner Autos in China verkauft. Wir müssen also lernen, damit umzugehen, dass ein Land, mit dem wir wirtschaftlich verflochten sind, in einer Weise politisch handelt, die in vielen Bereichen unseren Vorstellungen nicht entspricht. Ein Land, das wir anders als früher nicht mehr zwingen können, so zu handeln, wie wir das wollen.

Antworten auf die Fragen, wie wir mit diesem Wettbewerber umgehen und uns neu aufstellen können, finden wir auch, wenn wir den Erfolgen Chinas mit Neugier und Offenheit begegnen. Wenn wir uns fragen, was wir von der Dynamik, die entstanden ist, lernen können und was davon geeignet ist, auch unsere Gesellschaft wieder zu stärken – ohne unsere Werte preiszugeben. Das ist wichtiger denn je, nachdem die Hoffnung des Westens, die Kooperation mit China würde alsbald in eine zunehmende Demokratisierung münden, in weitere Ferne gerückt ist. Es ist allerdings gleichermaßen wichtig, verstörende Entwicklungen wie in Xinjiang und Hongkong klar und deutlich zu benennen. Kritik ist angebracht, wann immer Menschen ihrer Grundrechte beraubt werden. Wann immer fehlende Transparenz vermuten lässt, dass es etwas zu verbergen gibt. Das ist nicht leicht, zumal, wenn man aus einer Position der Schwäche heraus agiert. Die USA und Europa müssen sich auf ihre Stärken besinnen und gleichzeitig Felder erschließen, auf denen sie Stärke zurückgewinnen können. Dazu hilft der offene Blick in die Zukunft – Stigmatisierung und Verteufelung werden uns da nicht weiterbringen. Sanktionen erst recht nicht.

Die Widersprüche und das Potenzial Chinas lassen sich wie unter einem Brennglas in Shenzhen betrachten. Shenzhen changiert zwischen totalitär und total cool. Keine Stadt ist so überwacht und so ungestüm. So tropisch grün und so hart wie Stahl. So dörflich und so futuristisch. So nachhaltig und so verschwenderisch. So kühl und so heiß. Shenzhen ist Kiez und Kapitalismus.

Kader und Kids.

Aber ist sie auch etwas für uns?

Frank Sieren, Shenzhen, April 2021

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