Nena Tramountani, geboren 1995, liebt Kunst, Koffein und das Schreiben. Am liebsten feilt sie in gemütlichen Cafés an ihren gefühlvollen Romanen und hat dabei ihre Lieblingsplaylist im Ohr. Nach ihrem Studium der Sprachwissenschaften arbeitete sie als freie Journalistin und zog anschließend nach Wien. Inzwischen lebt sie wieder in ihrer Heimat Stuttgart, wenn sie gerade nicht auf Inspirationsreisen ist.
Außerdem von Nena Tramountani lieferbar:
Fly & Forget
Try & Trust
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Nena Tramountani
Play & Pretend
Roman
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Copyright © 2021 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
Die Shakespeare-Zitate stammen aus folgender Ausgabe: William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum. Eine Komödie. Universal-Bibliothek Nr. 73. Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel. Reclam Verlag 1957.
Umschlag: bürosüd GmbH
Umschlagmotiv: www.buerosued.de
Redaktion: Melike Karamustafa
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25912-9
V001
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Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet sich hier eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Nena Tramountani und der Penguin Verlag
Für alle mit Monstern in ihren Köpfen.
Ihr seid nicht allein.
Erster Akt. Neuer Tag, neues Glück.
Erste Szene. Du schaffst das.
Ein WG-Wohnzimmer in London, Soho. Das schönste Wohnzimmer überhaupt: silberne Tapete, von der Decke hängende Pflanzen, Vintage-Möbelstücke, Lichterkette, roter Perserteppich.
Mein Wohnzimmer. Unseres. »Hab ich mich selbst übertroffen oder hab ich mich selbst übertroffen?«
Aus unserer kleinen Küchennische trat mein Mitbewohner, mit dem ich bis vor einigen Wochen noch kaum ein Wort gewechselt hatte, obwohl wir seit zwei Jahren zusammenwohnten. In einem fleckigen schwarzen Shirt und tief sitzender Jogginghose: Noah, 21, angehender Autor und überraschenderweise sehr begabt in der Küche, wie sich ebenfalls erst vor ein paar Wochen herausgestellt hatte. Außerdem der beste Freund von …
Nein. Streich das. Daran denkst du heute nicht. Sonst wird das nichts mit dem Neuanfang.
Ich zwang mich zu einem Lächeln.
Zwei Pancake-Türme. Einer mit Himbeeren und Vanilleeis, einer mit Bananen und Karamellsoße garniert. Daneben dampfendes Apfel-Porridge mit goldbrauner Zimtkruste. Hash Browns. Avocado auf Toast. Eggs Benedict. Frisch gepresster Orangensaft. Schwarztee mit Milch. Duftender Kaffee. Jeder Millimeter unseres Wohnzimmertischs war mit Frühstück bedeckt, dabei hatten wir weder Wochenende noch Semesterferien.
Mein Magen rebellierte, während ich mich aufs Sofa fallen ließ. »Das sieht grandios aus.«
Noah schenkte mir einen dankbaren Blick und gab Mitbewohnerin Nummer zwei einen Kuss auf die Nase. Sie war gerade gähnend aus seinem Schlafzimmer geschlurft gekommen und riss jetzt die dunklen Augen auf. Ihr Lächeln war echt, da war ich mir sicher.
Liv, 20, angehende Journalistin, eine echte Bereicherung für die WG und der Grund, aus dem Noah so aus sich herausgekommen war.
»Ich hab mich schon gefragt, wieso du nicht mehr im Bett liegst.« Sie schlang einen Arm um seine Mitte und stellte sich auf die Zehenspitzen, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.
Noah verwuschelte liebevoll ihren Pony und strahlte sie an. »Hab mein Manuskript beendet und dachte mir, das ist ein Grund zum Feiern.« Seine Augen waren rot gerändert und die Bartstoppeln länger als sonst, aber seine Züge spiegelten pure Glückseligkeit.
»O mein Gott, was?«, quietschte sie und schlang ihm beide Arme um den Hals. »Es ist fertig? Es ist wirklich, wirklich fertig? Das heißt, ich darf es endlich lesen?«
Für einen Moment schnürte es mir die Kehle zu. Es lag nicht an den beiden. Nicht direkt jedenfalls. Sie waren Kindheitsfreunde, nein, mehr noch, Seelenverwandte, und bis vor Livs Einzug hatte jahrelang Funkstille zwischen ihnen geherrscht. Nach einigem Hin und Her waren sie wieder ein Herz und eine Seele geworden. Es störte mich eigentlich kein bisschen, mit einem Paar zusammenzuwohnen. Der Stimmung tat es gut. Wir waren zum ersten Mal überhaupt eine richtige WG.
Doch meine Miene schien Bände zu sprechen. Als mich die beiden ansahen, wirkten sie auf einmal betreten.
Liv löste sich von Noah und setzte sich zu mir aufs Sofa. »Wie geht’s dir?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.
Oh, nein. Nein, nein, nein.
Befänden wir uns tatsächlich in einem Theaterstück, wäre die Rolle, die man mir zugeteilt hatte, klar umrissen: Briony, 21, angehende Schauspielerin, einziger Single in der WG, todunglücklich. Aber diese Gedanken würde ich nicht zulassen. Nicht heute. Heute war wichtig.
Mein Lächeln wurde breiter. »Bin etwas nervös wegen später.« Ich schaute wieder zu Noah. »Aber noch mal zu dir: Glückwunsch zum vollendeten Manuskript! Wie fühlt es sich an?«
Sein Blick war voller Mitgefühl.
Auf einen Schlag befanden sich Glassplitter in meinem Bauch, sie bewegten sich aufwärts, und ich musste wegsehen, um das Schlimmste zu verhindern.
Nach einer viel zu langen Pause antwortete er etwas, doch seine Worte gingen in der lauten Stimme unter, die aus dem Flur zu uns hinübertönte.
»Was riecht hier so geil?«
Wenige Sekunden später trat unsere schwarzhaarige WG-Schönheit ins Wohnzimmer und blinzelte verschlafen in die Runde. Ich war aufgewacht, als sie in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen war. Egal, wie viel Mühe sie sich gab, leise zu sein zählte nicht zu ihren Stärken. Mir war klar, wo sie die Nacht verbracht hatte und weshalb sie nach Hause gekommen war, anstatt dort zu schlafen.
Mitbewohnerin Nummer drei: Matilda, 21, Psychologiestudentin und … all das spielte keine Rolle. Es gab viel wichtigere Begriffe: Lieblingsmensch. Beste Freundin. Mein Ein und Alles.
Die Übelkeit in mir verstärkte sich trotzdem.
Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich innerhalb von Sekunden, als sie mich erblickte.
»Guten Morgen«, rief ich, so fröhlich ich konnte. Täuschen konnte ich sie auf Dauer nicht, dafür kannten wir uns zu gut, aber ich musste es zumindest versuchen. »Noah hat sein Manuskript beendet und uns dieses tolle Frühstück gezaubert!«
»Hast du gut geschlafen?« Liv griff nach der French Press und verteilte den duftenden Kaffee auf vier Tassen, nachdem sie Matilda ein Lächeln geschenkt hatte.
Ich blendete ihre Gespräche aus. Griff nach der Tasse, die sie mir hinhielt, trank, verbrannte mich prompt, trank weiter, lächelte, griff nach einem Teller, den Noah mir hinhielt, häufte Pancakes darauf und begann zu essen, obwohl jeder Bissen die Übelkeit verstärkte. Ich gab die passenden Geräusche von mir, während sie redeten, und jedes Mal, wenn Matildas Blick mich streifte, lächelte ich noch breiter.
Ein Neuanfang. Es ist ganz einfach.
Ich kaute und schluckte und erwiderte ihren Blick. Es war wichtig, dass ich sie dabei ansah. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Wenn ich wegschaute oder zu essen aufhörte, würde sie noch mehr Verdacht schöpfen. Nein, es gab keinen Grund zur Sorge. Himbeeren. Apfel-Porridge. Ein bisschen Obst war okay. Leider hatte Noah beides in Zucker getränkt.
Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen.
Noch war nicht entschieden, wie der Tag laufen würde. Ich hatte die Kontrolle darüber. Ich würde bestimmen, ob er zu einer Tragödie oder Komödie wurde.
Claires Assistentin streckte den Kopf aus einem der Proberäume. »Clifford! B25!«
Ich zuckte heftig zusammen. Erleichterung durchfuhr mich, dicht gefolgt von Panik. Seit zwei Stunden tigerte ich im ersten Stock vor den Proberäumen auf und ab und wartete darauf, dass mein Name aufgerufen wurde, während ich meinen Text wieder und wieder vor mich hin murmelte – und gleichzeitig versuchte, mich vor meinem Kommilitonen zu verstecken. Dem Kommilitonen, vor dem ich mich seit Katys Party versteckte. Bisher war meine Sorge unbegründet gewesen, doch jedes Mal, wenn jemand um die Ecke geschlurft kam, beschleunigte sich mein Puls. Und jedes Mal verfluchte ich mich dafür, dass ich so früh in die Uni gefahren war. Andererseits war die Stimmung in der WG so seltsam gewesen, dass ich es keine weitere Sekunde dort ausgehalten hätte. Alle drei hatten sie mich angesehen, als würde ich jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Das war vielleicht berechtigt, auch unabhängig von den Geschehnissen der letzten Tage war ich sehr nah am Wasser gebaut, aber Mitleid war da eher kontraproduktiv. Am liebsten hätte ich ganz normal weitergemacht, doch das schien keine Option zu sein.
Ich lief zum Ende des Flurs, vorbei an Werbeplakaten für die anstehenden Theateraufführungen und Flyer für die neuen Seminare des Trimesters – Voice & Movement, Acting Lab, Gesangstraining und viel mehr –, bis ich vor einer Tür zum Stehen kam, auf der ein schlichter weißer Zettel klebte. In großen Lettern war ein einziges Wort darauf gedruckt, das mein Inneres mit der gewohnten Mischung aus Nervosität und freudiger Erregung erfüllte: Casting.
Ich schlüpfte in den Raum und schloss die Tür hinter mir.
Das Studio war rechteckig geschnitten, hatte hohe runde Fenster, durch die wegen des Regengusses, der gerade draußen niederging, allerdings nur wenig Licht fiel, und eine komplett verspiegelte Wand, vor der Claire und Andy saßen. Beide zählten zu den angesehensten Gastprofessoren an der Royal Academy of Dramatic Art und hatten schon in riesigen Produktionen in London und international mitgewirkt. Außerdem waren sie dafür bekannt, nichts Geringeres als Bestleistungen gelten zu lassen.
Für einen Moment fiel mein Blick hinter sie auf mein Spiegelbild. Ich hatte meine langen hellblonden Haare zu einem seitlichen Fischgrätenzopf gebunden und mich dezent geschminkt. Zu einer cremefarbenen Seidenbluse, die ich in eine weite hellbraune Stoffhose gesteckt hatte, trug ich spitz zulaufende Budapester.
Alles okay. Ich sah normal aus. Alles okay.
Claire rückte ihre türkisfarbene Cateye-Brille zurecht und blinzelte mir über die Ränder hinweg zu, während Andy nach den Namenslisten vor sich griff und sich eine Notiz machte. Zwischen ihnen konnte ich eine ziemlich zerfledderte Ausgabe von Shakespeares Ein Sommernachtstraum erkennen.
»Hermia, richtig?«, fragte Claire.
Eine der wichtigsten weiblichen Rollen im Stück.
Ich nickte.
Nun schaute auch Andy auf und röntgte mich mit seinen eisblauen Augen von oben bis unten. »Der Text sitzt?«
Erneutes Nicken meinerseits.
»Gut.«
Claire und Andy tauschten einen Blick.
»Den kannst du heute vergessen«, sagte Claire dann und lächelte. »Wir wollen deine authentischen Emotionen.«
»Improvisation«, ergänzte Andy. »Und Spontanität.«
Ich runzelte die Stirn. In der Rundmail fürs Casting hatte es geheißen, dass wir den Text unserer Wunschrolle proben sollten. Aber gut, unsere Uni war für Last-Minute-Entscheidungen bekannt, um uns vom Standardweg auf ungeahnte Pfade zu führen, wie Claire zu sagen pflegte.
»Briony, beziehungsweise Hermia, du bist mit dem Kerl verlobt, in den deine beste Freundin Helena seit geraumer Zeit verschossen ist«, sagte Andy. »Aber die Verlobung wurde von deinem Vater in die Wege geleitet; du liebst nicht ihn, sondern einen anderen. Was deiner Freundin egal ist, sie ist trotzdem eifersüchtig auf dich, hält dich für schöner und besser. Wieso sonst sollten dir gleich zwei Männer verfallen sein, während sie von niemandem beachtet wird?«
»Dir ist die Beziehung zu deiner Freundin sehr wichtig«, klinkte Claire sich ein. »Und du möchtest ihr bewusst machen, dass sie ebenso schön ist wie du. Als sich allerdings später im Stück das Blatt wendet und du nicht mehr von deinem Angebeteten beachtet wirst, beginnst du ebenfalls Minderwertigkeitskomplexe wegen deines Äußeren zu entwickeln und dich mit Helena zu vergleichen.«
Minderwertigkeitskomplexe wegen meines Äußeren. Eifersucht auf die beste Freundin. Mit aller Macht wehrte ich mich gegen die Gedanken und Bilder, die sich in den Vordergrund drängen wollten.
Normalerweise fiel es mir kein bisschen schwer, in fremde Rollen zu schlüpfen. Je weiter entfernt die Figuren von meinem Leben waren, desto besser. Egal, was mich in meinem Alltag beschäftigte und runterzog, sobald ich spielte, konnte ich alles ausblenden. Leider war die Beziehung zwischen Hermia und Helena momentan alles andere als weit weg von meinem eigenen Leben.
Matilda und ich. Beste Freundinnen, seit wir uns in der Oberstufe der King’s College Privatschule kennengelernt hatten, auf die meine Eltern mich geschickt hatten, nachdem ich in meiner alten Schule mehrmals in Ohnmacht gefallen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tilda jede freie Sekunde mit Malen und Zeichnen verbracht. Ihr Vater war ein bekannter Galerist, und die beiden hatten dieselbe Leidenschaft für Kunst geteilt. Ich hatte sie so dafür bewundert. Sie hatte ganz genau gewusst, was sie im Leben wollte. Sie war schön, sie war selbstbewusst. Sie war das exakte Gegenteil von mir. Doch dann hatte ihr Dad eine Affäre mit einer seiner Künstlerinnen angefangen, und Tilda hatte nicht nur den Kontakt zu ihm abgebrochen, sondern sich auch die Kunst verboten, weil die damit verbundenen Erinnerungen zu schmerzhaft für sie gewesen waren. Bis sie einen Deal mit Anthony, ebenfalls Künstler, eingegangen war, um mich zu schützen. Anthony, der zu dem Zeitpunkt noch mich gedatet hatte. Anthony, der erste Mann, vor dem ich mich ausgezogen und mit dem ich geschlafen hatte. Anthony, in den ich mich so sehr reingesteigert hatte, obwohl er mir von Anfang an klargemacht hatte, dass er keine Beziehung wollte. Weil er kein Beziehungstyp sei. Tja, wie sich herausgestellt hatte, war er sehr wohl einer – nur nicht der Typ für eine Beziehung mit mir. Tilda hatte Aktmodell für ihn gesessen und sich Stück für Stück erst wieder in die Kunst und dann in ihn verliebt. So ähnlich hatte er es mir auf jeden Fall gebeichtet. Aus ihr bekam ich kaum Infos heraus.
»… wegen eines fehlgeleiteten Zaubers … Hermia … verletzt und wütend …« Die Wortfetzen drangen wie durch Watte an meine Ohren.
Ich atmete tief durch.
Konzentration!
Das Casting war unglaublich wichtig. Es war das letzte Stück vor meinem Bachelorabschluss, und bei den Aufführungen würden jede Menge Vertreter aus Film und Theater anwesend sein.
»Und … bitte!« Andy schenkte mir ein kühles Lächeln. »Wir sind bereit, sobald du es bist.«
Ich war kein bisschen bereit. Doch das war für gewöhnlich genau der Moment, in dem ich beginnen musste.
Ich dachte an alles, was ich über Hermia wusste. An alles, was ich mit felsenfester Überzeugung über Matilda wusste. Beide würden niemals freiwillig ihrer Freundin wehtun.
»Helena, du bist wunderschön«, wisperte ich. »Und ich liebe Demetrius nicht, das weißt du. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er mich liebt.«
War ich jemals wirklich in Anthony verliebt gewesen? Oder hatte ich es mir bloß gewünscht, weil es die perfekte Ablenkung von mir selbst gewesen wäre? Er war nie in mich verliebt gewesen, daran bestand kein Zweifel. Bevor ich mit ihm geschlafen hatte, hatte er mir das ganz deutlich zu verstehen gegeben. Mit Worten, die sich tief in mir eingenistet hatten und jeden Abend, wenn ich die Augen schloss, wieder an die Oberfläche kamen. Ich wusste, dass er es nicht böse gemeint hatte, trotzdem schien mich der Schmerz auseinanderzureißen. Ich war nicht wütend, immerhin war er von Anfang an ehrlich zu mir gewesen. Aber das Gefühl des Verletztseins wurde dadurch nicht kleiner. Wenn Anthony über Matilda sprach … Das war nicht nur Verliebtheit. Es war etwas weitaus Stärkeres. Etwas, das auch Liv und Noah teilten. Ich sah es deutlich in ihren Gesichtern. Es war etwas, das ich niemals mit jemandem teilen würde.
Im nächsten Moment spürte ich die Tränen. Ich schüttelte den Kopf. »Schönheit spielt keine Rolle. Darum geht es nicht. Sie ist vergänglich. Unsere Seele ist es nicht.«
Worte, die so viel Wahrheit enthielten. Worte, an die ich selbst nicht glaubte. Doch ich kämpfte weiter, versuchte, den Schmerz in meinem Inneren mit fremden Gefühlen zu übermalen. Ich war Hermia. Ich war das Mädchen, das mit dem falschen Mann verlobt war.
»Selbst wenn ich es mir wünschte …« Meine Stimme brach. »Selbst wenn ich nur für ein paar Sekunden in ihm sehen könnte, was du in ihm siehst, Helena, würde ich mich gegen ihn entscheiden. Ich würde niemals unsere Freundschaft aufs Spiel setzen. Und ich weiß, wie es sich anfühlen muss. Ich weiß, wie es sich anfühlen muss, wenn man diesen einen Menschen vor sich hat.«
Ich hatte keine Ahnung, wie es sich richtig anfühlen musste. So oft hatte ich geglaubt, es zu erleben, und nie hatte es sich als real herausgestellt.
»Ich werde heute Nacht mit Lysander fliehen«, rief ich. »Sobald alle schlafen, bin ich weg. Ich halte dieses Versteckspiel nicht mehr aus. Ich kann nicht atmen, wenn er nicht bei mir ist. Ich werde dich so vermissen, aber das gerade, das hier, das ist kein Leben für mich.«
Wieder drängte sich Matildas Gesicht in meine Gedanken, ohne dass ich es verhindern konnte. Ich hatte sie in den letzten Tagen schrecklich vermisst, obwohl unsere Zimmer in der WG direkt nebeneinanderlagen. Ich vermisste es, dass sie unangekündigt in mein Zimmer platzte, ich vermisste es, dass sie mir ungefiltert ihre Gedanken mitteilte. Und vor allem vermisste ich ihren Humor. Sie hatte immer einen blöden Spruch auf den Lippen, selbst wenn sie vollkommen verschlafen oder verkatert war, was beides oft genug vorkam. Jetzt fasste sie mich nur noch mit Samthandschuhen an.
Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich konzentrieren. Ich musste …
»Danke, das reicht«, erklang Andys kühle Stimme.
Mist, das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich hatte kaum angefangen.
Mein Herz zog sich zusammen. Ich gab mir alle Mühe, nicht allzu ängstlich dreinzublicken, doch gegen die Hitze, die in meine Wangen schoss, konnte ich nichts ausrichten.
Andy runzelte die Stirn, und Claire seufzte tief.
»Also?«, fragte sie, nachdem weitere Sekunden vergangen waren, in denen sich mein Herzschlag um ein ungesundes Maß beschleunigt hatte.
»Also?«, echote ich.
Sie rückte ihre Brille zurecht. »Was war das eben?«
Die Frage fühlte sich rhetorisch an. Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Das war mittelmäßig«, antwortete Andy an meiner Stelle und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch.
O Gott, ich würde sterben. Auf der Stelle im Boden versinken und sterben.
In seinem Blick lag kein Mitleid. Das, was sich in seinem und Claires Gesicht spiegelte, war viel schlimmer. Es war Enttäuschung.
»Du willst Hermia sein«, sagte Claire. »Und du willst uns davon überzeugen, dass du die einzige logische Wahl bist. Ich werde ehrlich zu dir sein: Spätestens nach deiner letzten Alice-Performance war ich bereit, dir jede deiner Wunschrollen hinzuwerfen. Dein Gespür dafür, welche Rollen sich für dich eignen, ist überragend. Du bist mit dir im Reinen und hast keine Angst, Gefühle zuzulassen beziehungsweise sie für dich zu nutzen. Das sind Qualitäten, die wir sehr schätzen. Nicht nur hier«, sie machte eine raumgreifende Geste, »sondern auf all den großen Bühnen der Welt. Deswegen hoffe ich sehr, dass du dich gerade nicht auf deinen vergangenen Erfolgen ausruhst.«
Im Reinen mit mir selbst. Ha.
Heftig schüttelte ich den Kopf.
»Gut.« Andy fuhr sich über die Lippen. »Stagnation aufgrund von Hochmut ist die schlimmste Art von Versagen.«
Das letzte Wort schien von allen Seiten auf mich einzuhämmern. Mir wurde schlecht.
Bitte nicht. Das überlebe ich nicht. Nicht in dem einzigen Bereich, in dem ich etwas anderes als mittelmäßig bin.
»Wir wissen, dass du nicht mittelmäßig bist«, lenkte Claire mit einem milden Lächeln ein, das meine Scham nur vergrößerte. »In dem Fall wärst du gar nicht hier. Also!« Sie klatschte in die Hände, schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. »Zweite Chance. Diesmal will ich, dass du es richtig machst. Ihr habt zehn Minuten Zeit, euch vorzubereiten.«
»Wir?«
»Vielleicht hilft es dir, wenn du nicht alleine bist«, erwiderte sie. »Ich schicke dir unseren Lysander. Gleiches Spiel wie gerade: kein Originaltext, sondern euren eigenen.«
Lysander war im Stück Hermias Liebhaber. Der Kerl, mit dem sie durchbrennen wollte, um der Verlobung mit Demetrius zu entkommen. Und anscheinend stand bereits fest, wer ihn spielen würde.
Andy stand ebenfalls auf und folgte Claire zur Tür, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
Wie angewurzelt stand ich da und starrte den beiden hinterher. Es war normal, nicht immer konzentriert zu sein. Es war okay, Fehler zu machen. Und in meinem Fall absolut verständlich, bei allem, was in den letzten Wochen vorgefallen war. Trotzdem … Mein ganzes Studium über hatte ich nie etwas durchblicken lassen. Ich schaffte es immer, mich nach draußen zu schleppen oder in die Uni-Toilette oder in die WG, in Matildas Arme, bis ich auseinanderbrach. Weder die Professoren noch die Dozenten, die dafür verantwortlich waren, mir die Branchenpforten zu öffnen, bekamen je etwas von meinen wahren Gefühlen mit. Hier war ich perfekt. Nicht, weil es mir leichtfiel oder es meine große Bestimmung war. Sondern weil ich kämpfte und alles gab. Seit ich zum Vor-Casting für das Studium an der renommierten Royal Academy of Dramatic Art eingeladen worden war. Seit ich zum ersten Mal diesen Rausch gespürt hatte, wenn die Menschen vor mir erst das unscheinbare Mädchen sahen und dann wie durch Magie diese Verwandlung. Alles, was ich sie sehen lassen wollte. Seit ich verstanden hatte, dass es einen Ausweg aus meinem Körper gab.
Es war keine Magie. Es war harte Arbeit. Und ich würde garantiert nicht kurz vor der Ziellinie aufgeben, nur weil ich mir einen Fehltritt geleistet hatte. Sie hatten mir eine zweite Chance gegeben. Und ich würde sie nutzen.
Ich atmete tief durch.
Alles wird gut.
Jetzt blieb nur zu hoffen, dass sie mir Hazem oder Raidon als Partner schickten. Die beiden waren nicht nur lieb und respektvoll, sondern auch sehr akkurat in ihrer Spielweise. Außerdem hatte man mit ihnen immer was zu lachen, was während intensiver Proben Gold wert war. Natürlich musste man unabhängig von seinem Partner sein Bestes geben und mit den unterschiedlichsten Menschen klarkommen, doch wenn ich überzeugend sein wollte, musste es mein Partner ebenfalls sein. Reuben oder Elijah wären auch noch in Ordnung, aber Mason wäre ziemlich problematisch. Er war talentiert, keine Frage, aber er hasste es, wenn er nicht im Mittelpunkt stand. Und er war dafür bekannt, seine Spielpartner absichtlich aus dem Konzept zu bringen, damit sie im Vergleich mit ihm schlechter dastanden. Tja, und dann gab es noch eine Option, an die ich nicht einmal denken wollte. Einen Spielpartner, der noch schlimmer als Mason wäre.
Mir war so unglaublich schlecht. Ich wünschte, ich hätte mir am Morgen einfach irgendeine Ausrede einfallen lassen, anstatt das süße Zeug in mich reinzuwürgen.
Nein. Nein, ganz ruhig.
Es war gut, dass ich gegessen hatte. Es war vernünftig. Die Übelkeit würde verschwinden.
Mein Blick blieb unwillkürlich an der Spiegelwand hängen. Ich zwang mich, hinzusehen. Mein Gehirn erfasste alle Details, bevor es eins nach dem anderen ausblendete.
Halb so schlimm, halb so schlimm, halb so schlimm.
Es war egal, was mein Spiegelbild mir zeigte. Wichtig war einzig und allein, was ich empfand.
»Hast du gedacht, ich reite jetzt drauf rum, wieso du noch nie Sex hattest, obwohl du so heiß und intelligent und interessant bist?«
Heiß. Vor Anthony hatte mich noch nie jemand als heiß bezeichnet. Süß, ja. Lieb. Still. Heiß bedeutete begehrenswert. Begehrenswert bedeutete besonders.
Aus meinem Zopf hatte sich eine widerspenstige Strähne gelöst. Ich spürte seine warmen Finger, die sie mir hinters Ohr strichen. Schatten lagen unter meinen blassblauen Augen, das war selbst aus der Entfernung zu erkennen. So wie am Morgen danach, als ich über seinem winzigen Waschbecken in den Spiegel mit Sprung geschaut hatte. Völlig übermüdet und so glücklich, dass ich zu platzen drohte.
Abrupt riss ich mich von meinem Anblick los. Meine Augen brannten. Ich blinzelte heftig. Nicht jetzt. Das war so was von nicht der richtige Zeitpunkt.
»Ich bitt Euch sehr … Um meinetwillen, Lieber«, murmelte ich Hermias Text zur Ablenkung, obwohl er mir fürs Casting heute nichts brachte. Es beruhigte mich, die auswendig gelernten Worte wie ein Mantra immer wieder auszusprechen. »Liegt nicht so nah! Liegt weiter dort hinüber …«
»O ärgert Euch an meiner Unschuld nicht«, erklang eine tiefe, dunkle Stimme.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Stimme war mir nicht fremd.