Buch

Aus dem Krankenhaus kehrt Johanna in die Wohnung der verstorbenen Mutter zurück. Dort leert sie den Plastiksack mit den letzten Habseligkeiten der Toten aus. Zwanghaft beginnt sie, die getragene Wäsche nach ihrer Temperaturverträglichkeit zu sortieren. Und während die Waschmaschine läuft, steigen Bilder einer unverstandenen Kindheit auf. Vor dem Hintergrund eines verlorenen »Zuhaus« im Sudetenland führt dieser provozierend leise Text in die Intimität einer Mutter-Tochter-Beziehung. Er handelt von der Sprachlosigkeit in traumatisierten Familien und von den Chancen, die im Erinnern, im Erzählen liegen.

Diese Neuauflage von »Nahe Tage«, dem Debütroman von Angelika Overath aus dem Jahr 2005, wird erweitert durch eine Reportage über eine Reise ins Sudetenland und einen Essay zum Schreiben zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Literatur.

Autorin

ANGELIKA OVERATH wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane »Nahe Tage«, »Flughafenfische«, »Sie dreht sich um« und »Ein Winter in Istanbul« geschrieben. »Flughafenfische« wurde u. a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.

Angelika Overath

Nahe Tage

Roman in einer Nacht

Erweiterte Neuauflage

»Nahe Tage« erschien erstmalig 2005 im Wallstein Verlag. Der Essay »Zuhaus. Spurensuche an der Zwittawa im böhmisch-mährischen Sudetenland« erschien in dem Band »Das halbe Brot der Vögel«, ebenfalls im Wallstein Verlag, 2004.


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Erweiterte Taschenbuchausgabe April 2021

Copyright © 2021 by btb Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Angelika Overath

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

cb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26590-8
V001

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Inhalt

Nahe Tage

Roman in einer Nacht

Zuhaus

Spurensuche an der Zwittawa im böhmisch-mährischen Sudetenland

Die tote Mutter atmen oder eine Reise ins Sudetenland

Schreiben zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Literatur

Nahe Tage

Roman in einer Nacht

Für Sibylle

If your pictures are not good enough,
you’re not close enough.

Robert Capa

I

Sie atmet doch. Sie erschrak. Ihre Mutter war zurechtgemacht, gekämmt und gewaschen und lag ruhig da.

Und sie hörte, wie sie atmete.

Sie atmet doch, wollte sie rufen, verbat es sich aber. Sie sah die abgestellte, frisch geputzte Dialysemaschine mit den aufgewickelten, durchsichtigen Schläuchen. Der Raum schimmerte hell in einem milden, von Kastanien gefilterten Sommerlicht. Gestern noch hatte sich das Blut der Mutter in kirschroten Schlaufen bewegt.

Aber sie atmet doch, dachte sie, ich höre es genau, wie sie atmet. Sie atmet aber nicht mehr, wußte sie, denn sie ist tot. Schon am Telefon hatte man ihr gesagt, daß ihre Mutter im Sterben liege, daß sie ihre Mutter nicht mehr lebend antreffen werde, auch wenn sie die hundert Kilometer jetzt sofort mit einem Taxi zurücklegte. Sie hatte diese Nachricht mit einem Nadelstich der Erleichterung aufgenommen – gefolgt von rasender Panik.

Als sie ins Taxi stieg, sah sie, wie die digitale Zeitanzeige auf 11 Uhr 03 sprang. Es war, wie sie später erfuhr, der Moment ihres Todes.

An ihrem Bett, in dem sie nun so still in grünem Licht lag – und sie hörte, wie sie atmete –, begriff sie, daß ihre Mutter sterblich gewesen war. Das Atmen mußte ein Spuk sein, eine Sinnestäuschung. Die Mutter war tot. Das ist also möglich, dachte sie. Natürlich hatte sie gewußt, daß es einmal so kommen konnte, daß die Mutter stirbt und die Tochter lebt, aber wirklich geglaubt hatte sie es nicht. Ihr Tod war gegen ihrer beider unausgesprochene Abmachung, war gegen das ganze selbstverständliche Lebensprinzip.

Ich müßte jetzt beten, dachte sie, betete aber nicht. Ich sollte sie zum Abschied küssen, dachte sie. Und sie küßte sie nicht. Sie horchte ihrem Atem nach, den sie nicht hörte.

Sie hielt den Atem an. Hier in diesem lindgrün gekachelten Raum hörte ein für allemal etwas auf.

Draußen vor dem Fenster schrieen sich Vögel in den Sommer.

Alles, was jetzt geschehen sollte, mußte sehr langsam geschehen. Sie kannte sich nicht mehr aus. Dieser gekachelte Raum, buchstabierte sie, ist ein gekachelter Raum. Hier atmet die Mutter, die nicht mehr atmet. Sie würde aufpassen müssen. Sie ging um das Bett herum, sah noch einmal auf den Brustkorb, der sich nicht hob und nicht senkte, und hörte das gleichmäßig schnaufende Brausen. Das Gesicht der Mutter war geschlossen, als gehöre es nicht mehr zu ihr.

Ich möchte nicht länger bleiben, dachte sie, und sie dachte an die Pietät, die es wohl gebot, daß sie bliebe. Sie lief auf das Lindgrün der Kacheln zu und wieder zurück, als wittere sie einen geheimen Ausgang. Sie sah auf die Mutter. Sie umkreiste das Bett wie eine unverstandene Provokation. Dann war es genug.

II

In der Straßenbahn war es heiß. Johanna hielt den prall gefüllten Krankenhausplastiksack zwischen den Knien. Das Ende waren neue Schlafanzüge gewesen, neue Unterhosen, ein neuer leichter Morgenmantel mit einem Palmenmotiv, die Kulturtasche mit Kamm, Zahnbürste, Zahnpasta, dem kleinen Spiegel, den Tabletten. Die Straßenhalbschuhe und die Hausschuhe, die zwei neuen Plüschkatzen mit dem Knopf im Ohr, eine schwarz, eine grau; die immer verlegten Brillen, die Taschentücher, die Beinwickel, die Stützstrümpfe, das Venen-Gel, der hellgeblümte, taftgefütterte Sommerrock, das gestrickte rosafarbene Baumwollblüschen, das weiße T-Shirt, das blaue Jäckchen, die cremefarbene Stretchhose, die beige Übergangsjacke. Der Umschlag mit dem Ehering. Das Döschen mit dem Gebiß. Der Geldbeutel mit dem kleinen Schein. Der Schlüsselbund.

Höllen müssen vertraute Orte sein. Jede Fremde wäre jetzt harmlos. Johanna hatte den mit Fugensteinen gepflasterten Hinterhof des Mietsblocks durchquert. Ihr Arm schmerzte von dem unförmigen Plastiksack, den sie hochhalten mußte, damit er nicht am Boden schleifte. Sie schloß die Haustür auf, ging an den Briefkästen vorbei und drückte auf den Aufzugsknopf. Sie hörte, wie sich die Kabine in Bewegung setzte und kurz darauf ruckend stoppte. Johanna schob die Falttür auf und stieg in den Kasten. Sie drückte auf den Knopf für den dritten und vierten Stock. Der Aufzug fuhr in das Zwischengeschoß. Im Treppenhaus war es fast kühl. Die gesprenkelten Steinstufen glänzten frischgeputzt. Johanna kannte die Wohnung ihrer Mutter, die einmal, obgleich nur für kurze Zeit, auch ihre Wohnung gewesen war. Falls man das so sagen kann. Der Schlüsselbund lag abgegriffen in ihrer Hand. Sie fühlte den Wohnungsschlüssel mit der alten grünen Gummikappe. Der Bart schloß beinahe selbständig auf in einer über zwanzig Jahre eingespielten Geläufigkeit.

Im Flur war es dunkel. Die Jalousien im Wohnzimmer und in der Küche waren heruntergelassen worden, wohl um die Hitze draußenzuhalten. Johanna kurbelte die schweren Vorrichtungen hoch, schob im Wohnzimmer die bodenlangen Gardinen zur Seite und öffnete ein Fenster. Die Hitze schlug ihr entgegen. Sie ging zurück und kippte den Plastiksack in den Flur. Sie griff nach den beiden Plüschkatzen und setzte sie auf die Lehne des schweren Ledersofas. Die schwarze neben die graue, neben die anderen Katzen, in die Phalanx der gestickten Kissen, angeführt von einer Käthe-Kruse-Puppe, deren Lächeln altklug zwischen zwei zu Affenschaukeln hochgebundenen Zöpfen hing. Johanna sah in die Glasaugen der Sofa-Gesellschaft und sah wieder weg. Sie sollte etwas tun; die Krankenhauswäsche lag im Flur. Sie ging ins Badezimmer, knipste das Licht an, nahm das Frotteedeckchen von der Waschmaschine und öffnete den Deckel. Sie überlegte, ob sie zuerst eine 40 Grad-Wäsche waschen sollte oder eine 60 Grad-Wäsche. Sie ging ins Schlafzimmer, um nach Wäschestücken zu sehen, die in ihrer Temperaturverträglichkeit zu denen aus dem Krankenhaus passen würden.

Hinter der Tür stand der graue, abgesteppte Wäschepuff. Er war älter als Johanna. Er war immer im Schlafzimmer der Eltern gestanden. Am Anfang muß er größer gewesen sein als sie. Vielleicht hatte sie an ihm gelernt, sich aufzurichten. Jedenfalls wußte sie sofort, wie er sich anfühlte, als sie ihn jetzt wiedersah. Früher hatte es in seiner Nähe noch eine beigefarbene Waage gegeben mit zwei dunkelnoppigen grünen Flächen für die Füße und einem schwarzen Zeiger, der heftig ausschlug und sich dann zitternd beruhigte. Der Wäschepuff war schwer, auch wenn er nicht gefüllt war. Mit der Zeit aber war Johanna über ihn hinausgewachsen. Er wurde kleiner und unbedeutend. Und doch haftete an ihm noch ein kaum faßbares Unbehagen. Johanna griff in die Mittellasche und hob den kreisrunden Deckel ab wie ein Becken.

Noch bevor sie ein Wäschestück berührt hatte, kam der Geruch. Ein blasser, vertrauter Muttergeruch. Johanna wußte, daß ihre Mutter eine peinlich saubere Frau gewesen war. Doch getragene Nylon- oder Perlonstrümpfe riechen, Kittelschürzen mit Flecken von Essensspuren, in den Taschen vergessene Taschentücher. Trevirapullover. Söckchen. Sie sortierte die Kleider auf dem Teppichboden des Flurs. Als sie spürte, daß ihr schwindlig wurde, beschleunigte sie ihre Handgriffe. Es war sehr heiß. Sie war nicht darauf gefaßt gewesen, daß ein toter Mensch noch atmet und daß er riecht, da, wo er gelebt hat.

Genaugenommen wußte sie nicht, was sie tat. Es hatte keinerlei Sinn, hier in der Wohnung Wäsche zu sortieren, heute, wenige Stunden nach ihrem Tod, an einem heißen Sonntagnachmittag. Und dazu noch Wäsche, die sie vermutlich wegwerfen würde. Wer brauchte schon über Jahre getragene Kittelschürzen, BHs, Strumpfhalter, Hüftgürtel, Söckchen? Die Schränke ihrer Mutter waren voll davon. Hätte sie nicht wenigstens das Schmutzige gleich in die großen Container vor dem Block werfen können? Doch wenn sie an den Mülleimer dachte, überfiel sie die seltsame Gewißheit, daß es dieses Schmutzige war, das sie band. Konnte sie etwas wegwerfen, in dem sich noch das Warme, das Feuchte, das Gelebte des Körpers hielt? Und so war ihr, als geriete sie in einen eigenartigen Sog dieser zuletzt getragenen Kleider.

Der vage, vertraute Geruch packte sie. Der Geruch hatte sich selbständig gemacht, er war monströs geworden, er hatte die tote Mutter überstiegen. Bevor sie es begriff, hatte sie ihn in den Lungen und atmete ihn aus, um ihn wieder einzuatmen. Sie atmete die Mutter. Und die tote Mutter atmend, überkam sie eine haltlose Übelkeit.

Wie hatten sie zusammen geatmet! Neun Tage lang war sie mit dem Zug gekommen, zweimal Umsteigen, dann mit der Straßenbahn zur Klinik. Morgens drei Stunden hin, abends drei Stunden zurück. Sie hatte Schreibtischarbeiten, Organisatorisches vorgeschoben, das sie nachts oder frühmorgens unbedingt zu Hause erledigen müsse. Sie hatte sich freinehmen können, unbezahlten Urlaub, wegen der Krankheit der Mutter, sie, als einziges Kind, man hatte das verstanden, aber die Mutter würde nun doch auch verstehen, daß es Dinge gab, die schlecht liegenbleiben konnten. So hatte sie es ihr gesagt, während die Mutter stumm dalag. Immerhin hatte sie nicht zugeben müssen, daß sie auf keinen Fall in der Wohnung der Mutter hatte übernachten wollen. Neun Tage stand, lehnte sie an ihrem Bett auf der Intensivstation, später in den Räumen der Dialyse. Besuche waren nicht erwünscht, deshalb gab es keine Stühle. Am siebten Tag hatte man ihr einen Tee angeboten. Einen Beuteltee, aufgebrüht mit heißem Wasser aus der Thermoskanne. Sie erinnerte sich an den wunderbaren Geschmack von Pfefferminz. Sie hatte das gerne getrunken. Doch jetzt erst im nachhinein begriff sie, daß diese milde Geste der Tochter gegenüber das endgültige Zeichen dafür gewesen war, daß man die Mutter aufgegeben hatte.

Auf der Intensivstation im Bett neben der Mutter lag ein italienischer Junge im Koma, ein Medizinstudent, fast noch ein Abiturient. Es sei eigentlich ein harmloser Unfall gewesen, auf dem Rückweg von den Ferien in Holland. Der Freund am Steuer habe ein gebrochenes Nasenbein. Die beiden Mädchen auf der Rückbank seien unverletzt. Er aber war vorne gesessen, nicht angeschnallt.

Seine schmale Mutter, eine mädchenhafte Norditalienerin, war über Nacht eine alte Frau geworden. Come si vive male, sagte sie vor sich hin. Ihr blondes kurzes Haar hatte nun die Farbe von Asche. Sie konnte kein Deutsch. Sie verstand die Ärzte nicht, nicht die Pfleger. Die muntere Übersetzerin, die manchmal vorbeikam, verhinderte, daß sie verstand. Sie schenkte ihr Zeit. Johanna hatte begriffen, daß der Junge, sollte er je nochmals aufwachen, blind sein würde. Seine Augen zeigten, wenn der Pfleger die geschlossenen Lider anhob und den direkten Strahl der Taschenlampe erst in das eine, dann in das andere richtete, keine Reflexe mehr. »L’inverno è passato, l’aprile non c’è più«, sang die Übersetzerin, »è ritornato il maggio al canto del cucù.« Dann zwitscherte sie etwas vom Lebensfrühling, der, ach, in unseren Jahren, dabei blinzelte sie von Frau zu Frau, nun vorbei sei, der Sommer sei angebrochen. Und als die Mutter des Jungen nur abwesend vor sich hinsah, war sie schon summend weitergesegelt. Von wegen Sommer, hatte Johanna gedacht und ihr nachgesehen. In unseren Jahren begann der Herbst.

Die Mutter des Jungen hatte wieder angefangen, ihren Sohn zu besprechen. Topolino, sagte sie, weißt du noch, wie ich dir immer Topolino gekauft habe, weißt du noch. Unter sein Kopfkissen hatte sie ein geweihtes Kräuterkissen aus einem Wallfahrtsort gesteckt.

Johanna betrieb ihren eigenen Voodoo-Zauber. Johanna atmete. Johanna atmete, damit ihre Mutter atmete. Sie atmeten zusammen. Sie schnauften. Über dem Bett der Mutter liefen Kurven, die manchmal piepten. Johanna verwechselte sie dauernd, vielleicht weil sie dauernd wechselten. Aber die eine Kurve erkannte sie, es war die Kurve, die den Sauerstoff maß, den die Mutter atmend aufnahm. Die Kurve fiel immer wieder so ab, daß man der Mutter ein Röhrchen in ein Nasenloch stecken mußte. Auch dann blieb die Kurve schlecht. Obwohl die Kurve schlecht blieb, glaubte Johanna jeden Morgen, wenn sie kam, daß es besserginge. Jeden Tag etwas besser. Bis es bald wieder ganz gut sein würde. Topolino, sagte die andere Mutter am anderen Bett. Ihre Mutter schwieg.

Entspann dich, sagte Johanna, entspann dich und dann ganz tief, sagte Johanna und atmete, sich selbst entspannend, der Mutter vor, damit die Mutter mit ihr atme. Und sie atmete so tief, bis ihr schwindlig wurde, weil sie selbst nun zuviel Sauerstoff abbekam. Hecheln, dachte Johanna. Wenn das eine Geburt wäre, müßtest du hecheln. Johanna hatte einmal einen Geburtsfilm gesehen, in dem eine Hebamme mit der Gebärenden atmete. Nun also gebar sie atmend die Mutter.

Einmal sagte die Mutter: Bring mir meine Zähne! Da wußte Johanna, sie ist über den Berg. Ein andermal sagte die Pflegerin: Hat Ihre Mutter keinen Kamm? Da wußte Johanna, sie wird bald entlassen. Als sie ihre Mutter kämmte und ihr den kleinen Spiegel vorhielt und sagte: Schau, Mama, so sieht doch keine Frau aus, die stirbt, sagte die Mutter: Doch.

Johanna zeigte der Mutter Schweizfotografien von erlebtem Schönem. Die Mutter aber schüttelte den Kopf und sagte: Tu das weg.

Die muntere Übersetzerin, von der Johanna langsam begriff, daß sie die Klinikpastorin war, bat Johanna auf den Gang hinaus hinter die Glaswand und sagte: Sehen Sie sich Ihre Mutter doch an! Sie will nicht mehr. Warum lassen Sie Ihre Mutter nicht in Ruhe sterben?

So war auch in Johanna der Gedanke aufgekommen, daß sie ihre Mutter quälte. Mit dem gemeinsamen Atmen vergewaltigte sie sie zum Leben. Doch Johanna setzte ihre Fahrten in die Klinik fort. Hätte jemand ihr gesagt, sie selbst sei krank, sie hätte nicht widersprochen. Und wäre weiterhin gekommen.

Pathologisch, sagte der Pfleger einmal zu ihr und sah sie an. Seine Hände, die die Mutter kundig wendeten, rochen nach Arnika. Wie alt sind Sie eigentlich? Sie werde vierzig, hatte Johanna geantwortet und dem Pfleger ins Gesicht gesehen, in seine weiten, grauen Augen. Das ist doch pathologisch, hatte er wiederholt, gehen Sie nach Hause. Johanna hatte genickt und gesagt, gleich. Und war geblieben.

Eine Schwester hatte begonnen, den Jungen aufzudecken, um ihn zu waschen. Und Johanna sah seine Füße, seine gebräunten Beine, sein Glied. Und noch im Gehen sah Johanna über ihre Schulter hinweg den ruhigen Blick des Pflegers, der die Lenden des Jungen streifte. Es war ein Blick von so abgründigem Bedauern, daß er Johanna weh tat, noch lange nachdem sie den Kittel und die Plastiküberschuhe ausgezogen und in die dafür vorgesehenen Behälter geworfen hatte und wieder hinter der dicken, sich automatisch schließenden Panzerwand stand und nun unter den Kastanien zu laufen begann, um die Straßenbahn nicht zu verpassen.

III

Johanna kniete vor der Toilettenschüssel. Ihre Stirn lehnte noch auf der Plastikbrille. Aber es war schon vorbei. Als sie aufstand und den metallenen Spülhebel herunterdrückte, gab er einen Widerstand. Der Mechanismus war verkalkt, und auch wenn sie ihn mit aller Kraft niederhielt, kam nur ein Rinnsal. Du mußt nur die Laufrichtung ändern, fiel ihr ein. Sie hatten diesen kleinen Text in der Schule gelesen, und sie hatte ihn nicht verstanden. Wenn die Maus davonläuft, holt die Katze sie ein und frißt sie. Wenn sie aber die Laufrichtung ändert, wenn sie also der Katze entgegenläuft, dann frißt die Katze sie auch. Hatte sie gedacht. Dann hatte es doch keinen Sinn, die Laufrichtung zu ändern. Dann hatte aber der Text keinen Sinn. Dann hatte es keinen Sinn, die Geschichte mit der Maus, die die Laufrichtung ändern soll, geschrieben zu haben. Und doch war die Geschichte geschrieben worden. Nur um zu sagen, daß sie keinen Sinn hat? Johanna hatte sich damals über die Geschichte geärgert, sie wollte mit einer Geschichte, die nur sagt, daß die Katze die Maus sowieso frißt, nicht belästigt werden. Und doch begleitete sie der Satz von der Laufrichtung von nun an wie ein hüpfender Schatten. Da mußte ein Trick sein, ein Trick, den sie nicht verstand. Würde die Katze vielleicht erschrecken, wenn die Maus die Laufrichtung änderte? Was war unwahrscheinlicher: daß die Maus sich umdreht oder daß die Katze stockt? Johanna hatte die Hand immer noch auf dem Hebel der Toilettenspülung und beobachtete, wie das Becken langsam sauber wurde, bis auf das alte, gelbliche Kalkdelta an der Abflußenge. Es war stickig im Klo. Sie öffnete die Tür weiter und meinte einen Lufthauch zu spüren. Sie beugte ihr Gesicht zum kleinen Hahn über dem Handwaschbecken und spülte sich den Mund aus. Das kalte Wasser war lauwarm. Sie wusch ihr Gesicht, trocknete es aber nicht ab, sondern schüttelte nur den Kopf. Mit den nassen Händen streifte sie die kurzen, schwarzen Locken zurück wie ein Fell.

Sie würde jetzt schnell eine Maschine waschen, die Wäsche über der Badewanne aufhängen und zurückfahren, drei Stunden Richtung Süden durch den Schwarzwald und dann dem kleinen Mittelgebirge entgegen, wo es kühler war als hier in der Rheinebene mit den Spargelplantagen und Tabakfeldern und dieser saugenden tropischen Hitze, die von den Baggerseen, den Fischteichen und den sumpfigen Altrheinarmen aufstieg.

Die Formalitäten der Beerdigung würde sie am Montag erledigen können und zunächst sicher auch nur telefonisch.

Doch als sie die Wäsche – sie hatte sich entschlossen, alles bei 40 Grad auf einmal zu waschen – in die Trommel gestopft und die Maschine in Gang gesetzt hatte, stieg mit dem langsamen Einströmen des Wassers die Angst. Die ersten Rotationen des Metalls waren Schläge. Johanna stand im Badezimmer und sah vor dem Hintergrund der rosa Kacheln ein Gesicht im Viereck des Spiegels. Jahrelang waren es zwei Gesichter gewesen. Viele Schuljahre lang, noch weit in die Gymnasialzeit hinein, hatte die Mutter ihr jeden Morgen im Bad vor dem Spiegel zwei Zöpfe geflochten. Zwei Zöpfe waren eine sichere Frisur. Ein Kind sah damit den ganzen Tag ordentlich aus, vor allem wenn die Mutter das Haar exakt scheitelte und in flinker Übung die übereinandergelegten Strähnen fest anzog. Und während sich ihre Blicke immer wieder im Spiegel trafen, besprachen sie den beginnenden Tag. Neben dem Spiegel hing die spitze Tüte aus gelbem Plastik für die kleinen Badabfälle. Die Mutter hatte hier die Haare der Familienmitglieder gesammelt, die sie aus dem Kamm oder aus der Bürste zog. Damit die Haare nicht davonflogen, hatte sie sie zu kleinen elastischen Haarbällchen gerollt. So waren auch sie aufgeräumt. Johanna suchte nochmals das Gesicht im Spiegel. Auf dem Rand des Waschbeckens hockten ihre Hände wie Vogelkrallen.

Sie hätte gehen müssen. Sofort. Sie hätte nicht hierherkommen dürfen. Nicht gleich am ersten Tag. Sie hätte die Sachen ihrer Mutter in der Klinik lassen sollen. Es war völliger Unsinn, hier Wäsche zu waschen. Bei laufender Maschine würde sie weitere anderthalb Stunden in dieser stickigen Wohnung festsitzen. Sie mußte weg, sie mußte hier weg, je schneller, desto besser.

Aber als nähme sie nun einer an der Hand, ging sie ganz langsam in die Küche. Sie setzte sich an den Küchentisch, legte ihre nackten, warmen Unterarme zueinander auf das Wachstuch, auf die zarten, hellbraunen Streublumen, auf die zarten, hellbraunen Rauten. Und saß da.

IV

Love is a four-letter-word, klopfte es in ihren Schläfen. Es war eine Zeile aus dem Gedicht einer schwarzen Schriftstellerin, die sie in einem Volkshochschulkurs Englisch einmal aufgeschnappt hatte. Johanna hatte fasziniert, daß diese Zeile nicht zu übersetzen war. Sie entzog sich der Wörtlichkeit, die ausgerechnet das Wort versteckte, das überführt werden sollte. Liebe ist ein Vier-Buchstaben-Wort. Das stimmte im Deutschen nicht. Das Wort »Liebe« hatte fünf Buchstaben, und auch wenn Liebe nur vier Buchstaben hätte wie »Lieb’« zum Beispiel, bliebe der Satz unverständlich. Im Englischen aber, das hatte der alte Lehrer damals erklärt, seien four-letter-words unanständige Wörter, Wörter, die man nicht sagte. Aber selbst wenn man nun frei übersetzte, etwa: Liebe ist ein schmutziges Wort, dann war das doch nur eine leere Behauptung, eine grundlose Unterstellung. L-O-V-E hingegen, das konnte jeder für sich abzählen, an den Fingern seiner eigenen Hand, L-O-V-E hatte vier Buchstaben. Das Wort war gestellt, es gehörte nachweislich in jene besondere englische Kategorie. Das jedenfalls hatte Johanna, die nicht begabt war im Sprachenlernen, sofort eingeleuchtet.

Sie hatte damals mehrere Kurse nacheinander belegt, abends in den Klassenzimmern eines Gymnasiums. Sie war nicht nur wegen des Englischlernens hingegangen. Sie hatte dort auch deutsche Wörter gelernt. Im Abgleichen mit den englischen Wörtern hatte sie sie neu gelernt. Der alte Lehrer konnte ihnen wie selbstverständlich einen anderen Grund geben. Und mit diesen frisch abgesicherten Wörtern konnte auch sie einen besseren Halt finden. Damals hatte sie in der Stadtbibliothek nach Gedichten gefahndet, gierig, als seien es Gebrauchsanweisungen fürs Leben.

Später hatte sie der alte Lehrer manchmal zum Essen eingeladen, und einmal nach so einem Abendessen draußen auf der Straße hatte er sie plötzlich an sich herangezogen und auf den Mund geküßt, hart auf den Mund geküßt, und seine harte Zunge war in ihren Mund gefahren wie ein unförmiger Holzlöffel. Das war das Gegenteil der Worte gewesen. Das Gegenteil von Grund. Sie hatte sich so furchtbar, so bodenlos geschämt, daß sie diese Szene sofort vergessen hatte. Es war einfach nicht geschehen. Sie hatte weiter die Englischkurse besucht, sie war auch noch öfter abends mit ihm ausgewesen, nur hatte sie sich seither einfach immer kleiner gemacht. Begrüßungen und Abschiede überspielte sie mit albernster Munterkeit. L’aprile non c’è più.

Die Waschmaschine war zu einem gleichmäßigen Geräusch übergegangen. Johanna mußte lachen. Warum fiel ihr nun ausgerechnet die Zunge des alten Lehrers ein, hier am Küchentisch, wenige Stunden nach dem Tod ihrer Mutter. Johanna fuhr mit dem Finger den Verlauf der filigranen Girlanden nach, pastellfarbene Streublümchen auf einem dicken Wachstischtuch. Diese Dinge, dachte sie, haben mit uns gelebt. Sie haben ein besseres Gedächtnis als wir. Und sie sind mutiger. Sie behalten mehr, weil sie sich nicht ablenken lassen und weil sie es anders aushalten dazusein.