Impressum

1. Auflage 2021

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autoren reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Bildnachweis Titel, oberes Foto: Rechte bei Wiebke Köhler; Fotograf Christian Barz

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Wiebke Köhler

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783755746829

Über die Autorin

Wiebke Köhler ist seit über zwanzig Jahren Top Management Strategieberaterin; auch ist sie Gründerin, Buchautorin und Key Note Speaker. Sie arbeitete während ihrer beruflichen Laufbahn in den Top Management Beratungen bei Roland Berger und McKinsey & Co. Als Partnerin im Executive Search begleitete sie internationale Konzerne bei der Besetzung von Vorstandspositionen und bekleidete zuletzt selber die Position als Personalvorstand bei der AXA Konzern AG in Deutschland. Sie ist CEO der Top Management Beratung impactWunder und unterstützt Konzerne und Mittelständler in strategischen Fragen des Marketings und im HR, vor allem im Bereich des Kultur- und Wertewandels sowie bei der Führungskräfteentwicklung.

Weitere Bücher der Autorin:

Gender-Anmerkung

Auf den folgenden Seiten finden Sie ausschließlich die maskuline Form von Nomen. Damit ist keinerlei politische, diskriminierende oder nonkonformistische Aussage verbunden – es liest sich einfach nur flüssiger und leichter; wahrscheinlich sogar für beide Geschlechter.

Disclaimer

Die in diesem Buch beschriebenen Erlebnisse im Bewerbungsprozess zur Reserve sind höchst persönlich. Sie erheben keinen Anspruch darauf, repräsentativ für andere Bewerber, geschweige denn allgemeingültig für den Bewerbungsprozess zur Reserve, zu sein. Ich hoffe sogar, dass der Prozess für andere Bewerber in weiten Teilen anders verläuft.

Dank

Ich bedanke mich herzlich und ausdrücklich bei den vielen Soldaten aller Dienstgrade, die mich im Laufe des letzten Jahres an den verschiedensten Stellen im Prozess begleitet, betreut und unterstützt haben. Das war großartig – Danke Euch, Kameraden!

Inhalt

Vorwort

Waren Sie schon mal Geisel? Niemand will das werden. Ich bin dieser Niemand. Dafür musste mich keiner kidnappen – ich meldete mich freiwillig. Zu einer Geiselnahme im Rahmen eines Spezial-Trainings für Menschen, die beruflich in gefährlichen Ländern und in Krisenregionen tätig werden. In Vorbereitung darauf übt man auch eine Geiselnahme – um zu überleben. Um zu lernen, wie man sich in solchen Lagen bestmöglich verhalten sollte. Sie fragen sich jetzt sicher: Wie kann ein Mensch sich das freiwillig antun?

Einfache Antwort: Nachdem ich im Unternehmenskontext so ziemlich alles erlebt hatte, was man dort erleben kann, und bis hinauf in die Vorstandsetage aufgestiegen war, wollte ich unbedingt ein neues, mindestens ebenso spannendes Terrain erkunden. Eine neue steile Lernkurve erleben. Ich fand sie im Thema „Führen im Grenzbereich“: Wie schaffen es die Besten der Führungskräfte, unter extremem Druck ihre Teams so zu führen, das auch als unmöglich anmutende Ziele erreicht werden?

Um dem Geheimnis exzellenter Führung unter Hochdruck auf die Spur zu kommen, interviewte ich Führungspersönlichkeiten, deren Alltag die Führung in extremen Lagen ist, unter anderem: Notfallmediziner, Piloten, Krisenmanager und eben auch Offiziere der Fallschirmjäger und vom Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.

Es ist schon schwierig genug, unter extremem Leistungsdruck exzellent zu führen. Doch exzellent zu führen, wenn die Kugeln fliegen – das braucht höchste Führungskompetenz. In der Bundeswehr fand ich sie. Reichlich. Sowohl die stark ausgeprägte Führungskompetenz als auch die beeindruckenden Führungspersönlichkeiten. Ich war vom ersten Augenblick an fasziniert.

Also führte ich die Recherche-Gespräche für das Buch durch und war fast enttäuscht, als es abgeschlossen war und gedruckt vor mir lag. Das Buch „Führen im Grenzbereich“ wurde richtig gut. Doch mit dessen Drucklegung fiel der Anlass weg, weiter mit der Bundeswehr im Austausch zu bleiben. Das wollte ich aber zu gerne. Denn ich hatte Geschmack gefunden. Ich wollte mehr Tarnfleck.

Eine glückliche Fügung wollte es, dass der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, ein zweites Buchprojekt anregte. Auch hierfür durfte ich wieder mit zahlreichen führungs- und wertestarken (Unter-)Offizieren sprechen. Und je mehr Gespräche ich führte, desto stärker wuchs meine Begeisterung. Das war mir anzumerken.

Das merkten auch die Offiziere, mit denen ich sprach, bis der erste General sagte – und nach ihm eine Reihe anderer: „Mit Ihrer Begeisterung und Ihrer Führungserfahrung – warum kommen Sie nicht zu uns? Die Reserve kann Menschen wie Sie gebrauchen!“ Reserve?

Mir war zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht klar, was die Reserve alles umfasst und leistet. Doch je mehr ich mich mit dem Gedanken beschäftigte, desto mehr Charme entwickelte die Idee in meinen Augen. Irgendwann platzte bei mir der Knoten, und ich beschloss:

Ich bewerbe mich zum Reserve-Offizier!

Mein ziviles Umfeld warf die Hände in die Luft: „In deinem Alter? Du warst doch nie beim Bund! Und dann noch als Frau! Wie soll das gehen?“ Doch mein Entschluss stand fest.

Wenn die Bundeswehr mir das schon selbst anträgt, die mich gebrauchen können und sich über mein nebenberufliches Engagement freuen – dann mache ich das doch! Wo ist das Formular, wo unterschreibe ich, wann ist Dienstantritt? Das wird sicher eine tolle Sache! Das war im September 2020.

Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß und was ich seit diesem entschlussfreudigen September mitgemacht und erlebt habe – ich hätte erst noch einen Tee zubereitet und mir das nochmal in Ruhe überlegt.

Was ich in diesem einen Jahr meiner Bewerbung zur Reserve erlebte, geht auf keine Kuhhaut – nur in ein Buch. So gesehen: Wäre mir nicht so viel passiert, wären wir nicht hier zusammen und könnten ein Abenteuer nicht noch einmal erleben, das man sich nicht um alles in der Welt ausdenken könnte. Mir passierten Dinge, die ich mir auch nach drei Gläsern Wein nicht hätte vorstellen können.

Das muss man erlebt haben.

In diesem Sinne …

„Ich habe keine besondere Begabung, sondern
bin nur leidenschaftlich neugierig.“
Albert Einstein

Erstes Kapitel

Ab in die Kaserne!

Die Kunst, sein Bett zu machen

Im Herzen bin ich Soldat. Zwar sollte es über vierzig Jahre dauern, bis diese verborgene Erkenntnis, tief in mir schlummernd, an die Oberfläche trat und mir bewusst wurde, aber dafür brach sie sich dann umso heftiger Bahn. Das war nicht nur für mein Umfeld, sondern auch für mich völlig überraschend.

Denn bei meinem ersten Zusammentreffen mit der Truppe fand ich die starren militärischen Abläufe noch ein wenig verstörend. Zwar faszinierend, aber ich blieb distanziert. Beim zweiten Mal packte mich schon das echte Interesse. Aber erst beim dritten Mal funkte es so richtig, und die Leidenschaft für das Ökosystem Bundeswehr brach voll durch. Doch wie gesagt: Beim ersten Mal war davon nichts zu merken.

Mein erstes Mal war 1990. Erinnern Sie sich? Die Jahre des Kalten Krieges, Säbelrasseln zwischen Ost und West. Wir hatten noch die Wehrpflicht, Landes- und Bündnisverteidigung waren die Kernaufgaben der Bundeswehr – von Auslandseinsätzen war keine Rede. Ich ging damals in Schleswig-Holstein zur Schule und machte gerade Abitur. Zu der Zeit wurden meine männlichen Mitschüler wehrpflichtgemäß eingezogen und zitterten vor dem Musterungsbescheid. Nur wenige gerieten bei dem Gedanken, schon bald ihre Pflicht an der Waffe leisten zu müssen, in Verzückung.

Ich als junge Frau sah mir die Klassenkameraden, die immer nervöser wurden, entspannt an und dachte mir: Wie schön, dass das nicht mein Thema ist! Gleichzeitig war ich neugierig: Was heißt „Musterung“? Was wird mit einem jungen Menschen gemacht, wenn er „gemustert“ wird? Und was machen die Jungs, falls tauglich, danach in der Kaserne? Darüber kursierten Schauermärchen.

Ältere Freunde hatten ihren Wehrdienst geleistet und befeuerten die Gerüchteküche. Keines der Gerüchte war positiv. Am wenigsten gruselig war noch: „Zumindest kriegst du dort Disziplin eingebläut!“ Auch oft gehört: „Danach kannst du deine Bettdecke auf Taschentuch-Format zusammenlegen!“ Oder: „Da lernst du, mit dem Lineal dein Bett zu machen.“ Der Tenor war: „Bundeswehr? Da erlebst du viel Willkür von einem Haufen ungebildeter Menschen, denen die Macht zu Kopf gestiegen ist und die sich als Unteroffiziere aufgeblasen aufführen.“ Was Gymnasiasten so erzählen. Das machte mich nur noch neugieriger. Ich hatte genug von den Gerüchten. Ich wollte mir selbst ein Bild machen und wissen, was es mit der Bundeswehr auf sich hatte.

Ich hatte auch keinen älteren Bruder, der gedient hätte und mich mit erbaulichen Geschichtchen hätte aufklären können, was es mit der Truppe auf sich hat. Zwar hatte mein Vater seinen Wehrdienst geleistet – aber in den 50er-Jahren. Das war für mich tiefstes Mittelalter, überkommen, verjährt. Überdies erinnerte ich mich nur an eine einzige „Geschichte vom Bund“, die mein Vater in seinem Leben jemals erzählt hatte. Diese aber häufig und mit Gusto.

Wo ist der Feind? Wir gehen hin!

Mein Vater und sein bester Freund, ein Mediziner in spe und ein angehender Jurist, begannen ihren Wehrdienst in der festen Überzeugung, dass sie als erfolgreiche Abiturienten und angehende Akademiker das Beste seien, was dem Bund seit Jahren passiert war. Zu sagen, dass sie etwas vorlaut ihren Dienst antraten, wäre ein Euphemismus.

Sie strotzten geradezu vor Selbstüberschätzung, wie mein Vater rückblickend einräumte, wenn er die Anekdote zum Besten gab: „Wir waren ziemlich überheblich und hatten keine Ahnung!“ Schnell prallten sie mit diesem toxischen Mindset an der Realität ab.

Die Realität trat ihnen in Gestalt eines knurrigen Feldwebels entgegen, der damals nicht zum ersten Mal die Arroganz angehender Akademiker abbügelte.

Als der komplette Zug in den ersten Tagen erst einmal auf dem Kasernenhof strammstehen und vernünftig grüßen („Linke Hand an Hosennaht – rechte Hand: Nicht winken! Grüßen!“) lernen musste, konnten sich mein Vater und sein bester Freund spontane Anflüge von gymnasialer Überheblichkeit nicht verkneifen. Sie kicherten wegen der häufig holprigen Syntax des Feldwebels. Sie amüsierten sich über seinen filmgerechten Kasernenhofton vor allem deshalb, weil sie a) so ein vorgesetztes Bellen noch nie live gehört hatten und b) nun tatsächlich auf einem Kasernenhof standen. Sie machten Faxen. Sie zogen den armen Kerl auf. Erst mimisch. Dann gestisch. Irgendwann fielen Bemerkungen, die kaum zu überhören waren. Der halbe Zug fing unterdrückt an zu kichern.

Die kichernden jungen Männer begingen einen strategischen Fehler: Das war nicht das erste Rodeo des Feldwebels. Er kannte seine Gymnasiasten („Halten sich notorisch für was Besseres!“) und ließ die beiden nach allen Regeln der Kunst auflaufen.

Als seine immerhin beträchtliche Toleranzgrenze erreicht war, zog er sie raus und verdonnerte sie, zur Strafe um den Kasernenhof zu joggen. Die beiden machten innerlich Pfff! und fanden es typisch Bundeswehr, dass die a) offensichtlich keinen Spaß verstehen und b) sofort autoritär werden, sobald man ein bisschen Leben in die Bude bringt. Mit dem mimischen Ausdruck enthobener Überlegenheit joggten die beiden los.

Als sie nach der verordneten Strafrunde wieder ins Glied eintraten, unterbrach der Feldwebel seine wieder aufgenommene Unterrichtung der Soldaten, schaute sie freundlich, aber bestimmt an und brüllte dann unvermittelt los: „Wer hat Ihnen erlaubt, stehen zu bleiben? Habe ich dazu den Befehl gegeben? Ich habe Laufen gesagt, nicht Stehen. Wenn der Befehl ‚Laufen‘ kommt, laufen Sie, und erst wenn der Befehl ‚Stehen‘ heißt, dann stehen Sie!“

In diesem Moment fiel der Groschen. Nicht nur bei den beiden. Wenn der Lehrer an der Schule „Hausaufgaben“ sagte, konntest du die machen oder nicht. Dagegen würde in jeder Armee der Welt diese kommode Wahloption das Ende der Einsatzfähigkeit bedeuten.

Ungläubig vor Erstaunen zottelten die beiden los zur zweiten Runde. Und zur dritten. Und zur vierten …

Jedes Mal, wenn sie progressiv heftiger schnaufend wieder an ihren Kameraden vorbeikamen, schauten sie den Feldwebel flehentlicher an. In voller Uniform und mit schweren Kommissstiefeln an den Füßen zu joggen, ist kein Spaziergang. Der Feldwebel ignorierte sie konsequent und unterrichtete weiter den Rest vom Zug. Am Ende der Lektion müssen die beiden wohl zwanzig Runden gedreht haben; rund sieben Kilometer, schätze ich. Schweißgetränkt und außer Atem. Die Lektion saß. Beim ganzen Zug.

Der eigentliche Witz dabei war: Jedes Mal, wenn mein Vater die Anekdote erzählte, amüsierte das nicht nur seine Zuhörer. Auch er erboste sich nicht rückblickend über die unverhältnismäßige Strenge und die schmerzenden Füße. Er schmunzelte vielmehr, so wie auch sein bester Freund. Er blickte durchaus wohlwollend und mit gewisser Freude auf seine Zeit beim Bund zurück. Ich fand das einigermaßen rätselhaft.

Du wirst als junger Mann von einem rundgemacht, der dir intellektuell nicht das Wasser reichen kann – und du findest das im Rückblick erheiternd bis lohnend? Das konnte ich nicht verstehen. Ich hätte an meines Vaters Stelle dem Feldwebel die Leviten gelesen und mit dem Generalinspekteur gedroht. Das dachte ich zumindest damals mit dem Hochmut jugendlicher Hybris – wahrscheinlich nicht weniger überheblich als mein Vater damals.

Dass dies die einzige Geschichte war, die mein Vater jemals über die Bundeswehr erzählte, trug nicht zu meinem gesteigerten Verständnis bei. Als ich dann volljährig wurde und erlebte, worauf meine Schulkameraden sich bangen Herzens demnächst einlassen mussten, reifte in mir der Entschluss: Das verstehe ich nicht. Das muss ich mir genauer ansehen.

Allein unter Soldaten

In Schleswig-Holstein gab es damals noch die Bose-Bergmann-Kaserne. Das war die nächstgelegene Kaserne. Die schrieb ich an. Natürlich gleich den Kommandeur. Wahrscheinlich ein Oberstleutnant, so genau erinnere ich mich nicht.

Ich schrieb, ich sei volljährig, im Abiturjahrgang und wäre interessiert daran, für die Schulzeitung über die Bundeswehr im Allgemeinen und die Bose-Bergmann-Kaserne im Besonderen zu schreiben. Da die Bundeswehr realiter so gut wie nicht im Unterricht vorkäme, sei ich neugierig. Ob ich mal über die Kasernenmauer blicken dürfte?

Ich weiß nicht mehr, ob ich meine Eltern vorher gefragt hatte, was sie von einem Besuch bei der Bundeswehr hielten. Falls ich es gemacht hatte, so kann ich mich an eine Diskussion darüber jedenfalls nicht erinnern. Vielleicht weil ich nicht ernsthaft dachte, ich könnte eine Zusage bekommen. Seit wann machen Oberstleutnants wegen 18-jähriger Naseweise den Schlagbaum an der Wache hoch?

Daher erinnere ich mich noch heute an mein fassungsloses Erstaunen, als ein Brief mit Bundeswehr-Absender ankam und der Kommandeur mich darin einlud, einen Tag in seiner Kaserne zu verbringen. Ich weiß noch, wie unfassbar erstaunt mein Vater das Schreiben in den Händen hielt, ganz zu schweigen von mir. Es war der Wahnsinn. An einem zu vereinbarenden Wochentag sollte ich mich um 0700 an der Wache einfinden. Erstes Problem: Wie kommst du als Schülerin dorthin?

Damals hatte noch nicht jeder Abiturient praktisch automatisch mit dem Erhalt der Matura einen Golf GTI. Also fuhr mich mein Vater hin.

Ich habe mein ganzes Leben lang eher Hosen als Röcke getragen. Warum ich ausgerechnet an diesem einen Tag, an dem ich zur Bundeswehr ging, einen schwarzen Rock anhatte, frage ich mich noch heute. Ich frage mich auch, warum mein Vater mich nicht davon abhielt. Er musste wissen, wie unpraktisch das werden würde.

Mit Rock in die Kaserne? Ich finde, dass man keiner jungen Frau vorschreiben sollte, was sie zu tragen hat. Wahrscheinlich hat sich mein Vater deswegen auch nicht dazu geäußert. Aber besonders schlau war meine Kleiderwahl trotzdem nicht – wie ich schnell merkte.

Jedenfalls setzte mich mein Vater am designierten Wochentag vor der Wache ab. Ich erinnere mich noch an das Gesicht des Wachsoldaten. Als ob er noch nie eine Frau an der Schranke gesehen hätte. Hatte er auch nicht (außer einigen zivilen weiblichen Angestellten der Kaserne – doch ich war klar erkenntlich kein solche, sondern deutlich im Alter einer Wehrpflichtigen). Das verwirrte ihn sichtlich: Es gab damals keine Soldatinnen.

Ich stellte mich vor und präsentierte das Schreiben des Kommandeurs. Der Wachsoldat sah mich misstrauisch an. Dann nahm er das Schreiben mit zwei Fingerspitzen, als ob es mit Anthrax versetzt wäre. Dann telefonierte er einige Zeit. Ich kann mir vorstellen, was er halblaut in die Muschel gesprochen haben muss: „Da steht eine am Tor, ja, eine, eine Frau! Die behauptet, sie wolle zum Chef. Wisst ihr was davon? Was soll ich machen? Die Feldjäger verständigen?“ Das tat er nicht. Er bestellte mir vielmehr ein „Taxi“. Ich wurde abgeholt von einem Jeep, der natürlich nicht Jeep heißt, sondern eher Wolf. Die Bundeswehr-Fahrzeuge haben alle ihre eigenen Namen.

Kaffee beim Kommandeur

Wir fuhren zum Hauptgebäude. Der Kommandeur begrüßte mich in seinem Büro, das nicht viel anders aussah als das Chef-Büro bei einem Mittelständler: gehoben, aber spartanisch. Er begrüßte mich freundlich und bot mir einen Kaffee an. Für mich war bereits der Gang zu seinem Büro ein Ausflug auf den Mars: Alle, die sich unterwegs begegneten, grüßten sich militärisch. Für eine behütet aufgewachsene 18-Jährige ein befremdliches Ritual. Ich hatte so etwas noch nie in echt gesehen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, worüber wir beim Kommandeur redeten. Ich erinnere mich nur noch, wie angenehm freundlich und souverän er das Gespräch führte. Überhaupt nicht von oben herab, sondern absolut auf Augenhöhe. Damals war ich viel zu jung, um die atemberaubende Implikation dieser Haltung zu erkennen, die ich seither durchgängig bei der Bundeswehr erlebt habe: Die behandeln uns Zivilisten nicht von oben herab, weil sie dienen. Uns! Eigentlich unfassbar, mit welchem Undank wir das in aller Regel quittieren.

Nachdem der Kommandeur in Bausch und Bogen Zweck und Auftrag der Bundeswehr erklärt hatte (ich notierte mit, für die Schulzeitung), wurde es praktisch. Man hatte sich für mich und meinen großen Tag verschiedene Stationen überlegt. Darunter eine Fahrt im Schützenpanzer Marder; schweres Gerät. Jetzt erwies sich mein Rock noch deutlicher als saudumme Idee.

Jeder Soldat, der schon mal versucht haben sollte, mit einem Rock durch die Einstiegsluke eines Panzers zu kommen, wird das bestätigen. Das ist unter Wahrung von Anstand und Würde schlicht nicht möglich. Mit Grazie hat das erst recht nichts zu tun. Ich krabbelte also mit hochrotem Kopf in den Panzer und dachte, wie sehr man sich doch mit einem unüberlegten Augenblick morgens vor dem Kleiderschrank im Laufe eines Tages lächerlich machen konnte. Die umstehenden Soldaten feixten fröhlich.

Endlich im Innern des Marders angelangt, wurde es nicht besser. Ich richtete mich nach überstandener Einstiegstortur erleichtert auf und knallte prompt und resonant mit dem Kopf gegen die Decke. So ein Panzer ist innen eng und niedrig. Die Beule wuchs rasch. Dafür war die Panzerfahrt ein tolles Erlebnis. Mit leuchtenden Augen krabbelte ich wieder raus. Dann ging es zu den Unterkünften, beim Bund „Stuben“ genannt. Ich grinste die ganze Zeit in mich hinein.

Denn ein älterer Bekannter, der zu dieser Zeit dort stationiert war, hatte mir vorher, als ich ihm begeistert von meinem Überraschungsbesuch erzählen wollte, abwinkend gesagt: „Wir wissen doch alle längst, dass du kommst. Die ganze Kaserne. Der Kommandeur hat nämlich den Tagesbefehl ausgegeben: Alle Stuben sind außer der Reihe gründlich zu reinigen, sämtliche Pin-up-Bilder zu entfernen und alle Porno-Hefte in die Spinde zu schließen.“ Mein Bekannter lachte sich halb schlapp. Und natürlich waren alle Stuben und alle Kleiderschränke, als wir reinschauten, picobello und pornofrei.

Wir sahen uns die Mannschaftsduschen an – das gibt es heute kaum noch in den Kasernen. Die Toiletten auf dem Flur. Und die Waffenkammer – bedeutend aufregender, zumal für eine Zivilistin. Man zeigte mir Pistolen, Maschinengewehre und alle Arten von Waffensystemen, von denen ich noch nie gehört oder sie gar angefasst hatte. Der Waffenmeister erklärte mir alles detailliert und kundig. Ich war völlig überfordert. Ich erinnere mich vor allem daran, dass die Waffenkammer eine olfaktorische Orgie in Waffenöl war. Für die Kameraden in der Waffenkammer roch das sicher nach Chanel No5. Danach ging es zum Mittagessen ins Offizierkasino (in der deutschen militärischen Fachsprache ohne Fugen-s geschrieben).

Unter Offizieren

Die Blicke im Kasino werde ich nie vergessen. In den 90ern gab es nur wenige Frauen bei der Bundeswehr; hauptsächlich in der Verwaltung und im Sanitätsbereich. Keine Soldatinnen. Ich war jung und weiblich, kam im schwarzen Rock rein und saß am Tisch des Kommandeurs. Kein Augenpaar blieb auf dem Teller. Ich hatte meinen Auftritt, und für einige Sekunden hätte man ein Salatblatt auf den blankpolierten Boden fallen hören können.

Am Nachmittag ging es auf die Hindernisbahn. Das war der Moment, in dem mir aufging, was meinen Klassenkameraden bevorstehen würde. Mich überfiel spontanes Mitleid. Als wir an die Bahn kamen, wurde gerade eine Gruppe junger Rekruten eingewiesen und danach über die Hindernisse gejagt. Ich fand die oft unsportlichen Versuche der aufs Schulbankdrücken konditionierten jungen Männer unfreiwillig komisch. Doch die körperliche Anstrengung, die sie dabei aufbringen mussten, hatte mit Schulsport rein gar nichts zu tun. Das hier war der Ernstfall. Da war zum Beispiel eine rund zwei Meter hohe Wand, über die man ohne Hilfestellung kaum rüberkam und direkt dahinter ein Wassergraben.

Wer von der Wand abrutschte, klatschte unfreiwillig in den Graben und nahm ein Vollbad, was dazu führte, dass einige der armen Kerle den Rest vom Parcours pitschnass absolvierten. Instagram hätte seine helle Freude daran gehabt, wenn es das damals schon gegeben hätte. Das war witzig – aber keiner hat gelacht. Wobei das alles Wehrpflichtige waren – keine Navy Seals, keine Zehnkämpfer. Von der Schulbank weg in so eine Quälerei geschickt zu werden? Mit einem strengen Feldwebel, der alles genau überwachte und nicht mit Spott sparte. Ich verstand plötzlich, warum so viele Schauermärchen über den Bund kursierten. Um den Tag abzurunden, konnte ich noch mit Soldaten verschiedener Dienstgrade sprechen.

Um 16 Uhr wurde ich unversehrt und vollgepumpt mit Erlebnissen an der Wache abgegeben, fuhr heim und tippte meinen Bericht für die Schülerzeitung. Mein Fazit: Mitten in der zivilen Gesellschaft existiert eine ganze andere, fremde Welt. Und: Ich war froh, dass ich am Abend wieder rausdurfte. Mein herzliches Beileid an alle Mitschüler, denen das demnächst blühte. Nicht zuletzt wegen des Umgangstons in der Kaserne. Mir gegenüber absolut korrekt und freundlich, aber untereinander? Kernig, direkt, ruppig, ohne falsche Schonung. Das war wie bei meinem Vater in den 50er-Jahren immer noch der unverkennbare Kasernenhofton.

Mit diesem Fazit beendete ich meinen Exkurs in die Kaserne und war froh, dass ich da nicht mitmachen musste. Danach war das Thema die nächsten zwanzig Jahre für mich abgehakt. Ich hätte nie erwartet, dass es jemals wieder für mich aktuell, gar akut würde – was einiges über die Verdrängungskünste des durchschnittlichen Zivilisten in unserer demokratischen Gesellschaft aussagt: Die Soldaten schützen unsere Freiheit nach außen, aber gehen uns im Grunde familien-pizza-breit am Senkel vorbei. Dass das Thema dann plötzlich doch mein großes Interesse weckte, ist die Schuld eines ganz besonderen Menschen.

„Frontal binden, flankierend schlagen.“
Infanterietaktik

Zweites Kapitel

Etliche Jahre später

Was ist denn das für einer?

Wie ich Tom kennenlernte – das war eine tolle Geschichte. Wir müssen uns wohl bereits in einem früheren Leben über den Weg gelaufen sein. Anders kann ich mir die große Vertrautheit zwischen uns nicht erklären. Von Anfang an zündete das.

Witzig war bereits, wie wir uns kennenlernten, einige Jahre nach der Jahrtausendwende im Hamburger Stadtpark, rein zufällig. Ich gönnte mir eine kleine Verschnaufpause zwischen zwei Projekten und flanierte ein wenig im Park, die Sonne schien, das Wetter war herrlich mild. Wie immer bei schönem Wetter war ganz Hamburg draußen, die Tische im „Café Sommerterrassen“ füllten sich rasch. Ich saß an meinem Tisch noch allein, da kam Tom auf mich zu in Klamotten, die ich völlig inakzeptabel fand.

Kurzärmeliges Hemd, wie es eigentlich nur Piloten unter ihrer Uniform tragen und welches auch nur von Piloten überhaupt getragen werden sollte – von anderen eher nicht. Dazu Kampfstiefel und ein riesiger Rucksack aus Tarnfleck auf dem Rücken. Mit dem Rucksack hätte er problemlos ein Biwak in der Eiger-Nordwand versorgen können inklusive Zelt und Hängematte. Sowas nimmt man auf keinen Spaziergang durch den Hamburger Stadtpark mit! Dennoch stapfte er damit unverdrossen auf mich zu und – ebenfalls unüblich für uns zurückhaltende Hanseaten – sprach mich an. Ob er sich zu mir setzen dürfe. Ich konnte nicht gut Nein sagen, weil sich die anderen Tische bereits gefüllt hatten. Ich nickte. Er setzte sich, und wir kamen wider Erwarten schnell ins Gespräch.

Er kam nicht aus Hamburg, was auch erklärte, warum er sich mit an den Tisch gesetzt hatte. Der typische Hamburger würde das nur unter Schmerzen machen. Dann seine Aufmachung. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, was offenkundig war: dass er mit seiner gelinde gesagt augenfälligen Aufmachung einen militärischen Hintergrund haben müsse. Er bejahte: Bundeswehr. Ich fragte ihn, warum er „zum Bund“ gegangen sei, wie lange er schon dabei sei, was er dort mache. Bei der letzten Frage blieb er sehr vage. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass das nicht an seiner Zurückhaltung, sondern an der Geheimhaltung lag. Er war Kommandosoldat. Das sagte er damals im Café jedoch nicht – und ich hätte auch keine genaue Vorstellung davon gehabt, was das überhaupt ist. Noch nicht. Jedenfalls bindet das kein Kommandosoldat dem neugierigen Gegenüber beim ersten Gespräch auf die Nase. Weil sein Beruf nicht publik werden soll (weshalb Tom in Wirklichkeit auch nicht Tom heißt).

Er prahlte nicht mit seinem Beruf. Immerhin eine Tätigkeit, die James Bond alt aussehen lässt (weil Bond fiktiv ist – Kommandosoldaten dagegen kämpfen und sterben in echt). Vielmehr erzählte er eloquent und kurzweilig über seine Jahre in der Ausbildung beim Bund, zum Beispiel über den ersten Orientierungsmarsch seiner Rekruten.

Verloren im Gelände

Tom war damals als Aufsicht mit dabei. Die Soldatinnen und Soldaten wurden eingewiesen, bekamen Kompass und Karte ausgehändigt und sollten bestimmte Orientierungspunkte im Gelände anlaufen, innerhalb einer vorgegebenen Zeit. Dabei gilt das Bundeswehr-Prinzip: Zeiten setzen, Zeiten halten. Die Zeitvorgabe war zwingend einzuhalten.

Eine der Gruppen marschierte munter vorneweg, fand alle Punkte und kam zeitig zurück. Anderen Gruppen gelang das etwas später. Zwei Gruppen standen aus. Die Ausbilder warteten.

Und warteten. Schließlich fragten die Ausbilder: Welche beiden Gruppen fehlen denn noch? Es stellte sich heraus: eine Gruppe mit fast nur Soldaten und eine Gruppe mit fast nur Soldatinnen. Und beide im Gelände verschollen. Aha. Also weiter warten. Irgendwann riss die Geduld der Ausbilder: „Das kann jetzt nicht mehr sein! So lange wie die schon brauchen – da hätte man die Punkte ja zweimal anlaufen können!“ Also Suchaktion, raus ins Gelände.

Wo könnten die abgeblieben sein? Ist denen was passiert? Ein Unfall gar? Liegt ein Kamerad mit gebrochenem Gebein irgendwo im Gebüsch und die anderen basteln verzweifelt an einer Trage? Man wusste es nicht. Sowas war noch nie vorgekommen. Die Ungewissheit trieb den Ausbildern Schweißperlen auf die Stirn: Wenn den Rekruten etwas passiert wäre, würde das unweigerlich auf die Ausbilder zurückfallen. Man malte sich schon ein wenig bange die BILD-Schlagzeile aus:

„Ausbilder lassen ahnungslose Rekruten unbeaufsichtigt im Gelände herumtappen!“ Hektisch wurde ein Suchtrupp ausgesandt. Er wurde fündig.

Zuerst fand er die Männergruppe. Die Rekruten hatten den Gebrauch von Karte/Kompass nicht wirklich gut gemeistert, waren irgendwo in der Pampa falsch abgebogen und hatten einen kilometerweiten Umweg gemacht. Als die Ausbilder sie endlich im Nirgendwo aufgespürt hatten, ließen alle zerknirscht die Köpfe hängen, während ihre längst im Ziel angelangten Kollegen lästerten: „Was für Pappkameraden seid ihr denn? Stellt euch vor, es gibt Krieg und ihr findet die Front nicht!“ Nun fehlte nur noch die letzte Gruppe. Die Suche ging weiter.

Endlich stieß der Suchtrupp auch auf die letzten Verschollenen. Tom: „Als wir die Gruppe schließlich am Horizont auftauchen sahen – das kannst du dir nicht vorstellen. Nein, wirklich nicht!“

Ich sah ihn erwartungsvoll und etwas besorgt an: „Gab es Verletzte? Einen Zwischenfall? War eine der Rekrutinnen verunglückt?“ Tom lachte trocken: „Nee, ganz im Gegenteil, darauf kommst du nie: Die schlenderten gemütlich durchs Gelände, die sahen uns noch nicht mal kommen, weil sie alle die Köpfe gesenkt hatten und im Gespräch vertieft waren. Die angeregte Diskussion drehte sich um weltbewegende Themen wie Beziehungsprobleme, erste Blasen an den Füßen und die beste Maniküre im Feld.“ Die Frauen waren supergut drauf und fühlten sich bei ihrem kleinen Ausflug lediglich von der Ausbilder-Frage gestört, wo zum Donnerwetter sie denn so lange abgeblieben seien.

Ein Ausbilder blies ihnen gehörig den Marsch: „Wir sind auf einem O-Marsch und nicht auf der Bundesgartenschau!“ Die Frauen reagierten verschnupft. Was er denn habe. Schließlich habe niemand etwas von einem Schweigemarsch gesagt. Oder dass man Schnelligkeitsrekorde brechen müsse. „Das versteht sich ja wohl von selbst!“, betonte ein Ausbilder mit Hinweis auf das „Zeiten setzen, Zeiten halten“-Prinzip. „Aber keineswegs!“, entgegneten die Rekrutinnen. Ein bisschen unterhalten dürfe man sich doch wohl in dieser eintönigen Landschaft! Es sei ja sonst nix los. Auf den Mund gefallen waren sie jedenfalls nicht.

Die wollten das alles erst mal in Ruhe mit den Ausbildern ausdiskutieren. Die Ausbilder nicht. Die ließen sie im Laufschritt zur Kaserne zurück traben. Nicht zur Strafe. Sondern damit der ganze Haufen noch rechtzeitig zum Abendessen zurück war. „Das kam danach nie wieder vor. War halt ganz am Anfang, bei den allerersten weiblichen Rekruten.“, fügte Tom noch hinzu.

Als Tom mir das damals im „Café Sommerterrassen“ erzählte, musste ich herzlich lachen. Das war so gerade heraus, so wenig geschönt und politisch unkorrekt erzählt, das gefiel mir. Also schaute ich mir diesen ungewöhnlichen Typen nun etwas genauer an. Er gewann durch seine geistreiche witzige und eloquente Art unglaublich dazu – da konnte ich über sein Bergsteiger-Outfit hinwegsehen. Jemand, der etwas zu erzählen hat. Wir saßen stundenlang im Café. Wir redeten über Gott und die Welt und entdeckten zum Beispiel, dass wir beide Schimanski-Fans gewesen waren. Was man sich halt so beim ersten Kennenlernen erzählt. Mit einer herzlichen Umarmung gingen wir auseinander.

Kein Sterbenswörtchen

Bei unserem dritten Treffen nutzte ich die Gelegenheit, meine seit meiner Exkursion in die Kaserne Anfang der 90er Jahre schwelende Neugier den Bund betreffend endlich aus berufenem Munde stillen zu können und schüttete ihn mit Fragen zu: „Wann steht ihr denn auf in der Kaserne? Was macht ihr den ganzen Tag? Wieviel Mann teilen sich eine Stube? Was passiert zwischen zwei Einsätzen? Wie oft bist du in der ‚Schlammzone‘ (d.h. im Feld)? Was passiert da? Warum hast du, wenn du mir Bilder von euren Übungen im Felde zeigst, immer so viel Dreck im Gesicht und darunter einen 5-Tage-Bart – wird auf Hygiene im Feld nicht so viel Wert gelegt? Und warum siehst du auf allen Bildern so aus, als ob dieses knochenharte Extrem-Camping exakt dein Ding ist und du dir ein anderes Leben nicht mal vorstellen kannst?“ Er erzählte.

Mittlerweile wusste ich, dass er ein spezialisierter Soldat war und mit lediglich sehr kurzer Vorwarnzeit jederzeit auf Einsatz ins Ausland abkommandiert werden konnte – und niemand auch nur ein Sterbenswörtchen darüber erzählen durfte, wohin es ging oder was sein Auftrag war. Und genau das passierte dann in der Folge auch.

Wir lernten uns gerade etwas besser kennen, alles ließ sich gut an – dann war er plötzlich weg, wie vom Erdboden verschwunden, inkommunikado, von einem Tag auf den anderen. Jede Frau fühlt sich bei sowas natürlich sofort geghostet. Das kann der Kerl nicht machen! Nicht mit mir. Ich hatte so einen Hals.

Zweieinhalb Monate später meldete er sich, als wäre nie etwas gewesen und nie etwas passiert. Ich geigte ihm gehörig meine Meinung: Von jetzt auf gleich weg, ohne einen Mucks zu sagen – das hatte ich noch nie erlebt, das geht gar nicht! Er fiel aus allen Wolken.

Er war völlig überrascht, dass ich ihn vermisst hatte – eine Andeutung davon, wie die Beziehungen von manchen Soldaten funktionieren. Wer keine dauerhafte Beziehung mit einem anderen Menschen eingehen kann oder möchte, weil er jederzeit ins Ausland geflogen und totgeschossen werden könnte, erwartet intuitiv und vor allem leider implizit, dass auch umgekehrt kein anderer Mensch mit ihm dauerhaft in Beziehung stehen möchte. Also wunderte er sich erst mal, dass ihn jemand ernsthaft vermisst hatte. Ich. Das kannte er so nicht. Das konnte er nicht einordnen.

Er konnte es nicht fassen, dass ich es für merkwürdig hielt, als er nach unserem doch sehr intensiven ersten Kennenlernen von einer Stunde zur nächsten total verstummte. Wir klärten das dann. Erst am Telefon, dann persönlich. Er besuchte mich in Hamburg.

Kommandosoldat mit Rose

Wo er in den zweieinhalb Monaten gewesen war, weiß ich bis heute nicht. Er erzählte nur, dass er in geheimer Mission eingesetzt war. Mehr durfte er nicht erzählen. Ich reimte mir daraus in der Folge zusammen, dass er Kommandosoldat beim KSK (Kommando Spezialkräfte) sein müsste.

Gesagt hat er das so deutlich nie. Und zu den Einsätzen: Keiner außerhalb des engsten militärischen Kreises darf mehr wissen. Weder Freunde noch Bekannte, nicht einmal Familienangehörige. Das war zumindest damals so. Man kann sich vorstellen – Korrektur: Niemand kann sich vorstellen, was es mit einer Mutter, einem Vater oder einer Ehefrau macht, wenn der Sohn oder der Mann nachmittags um vier plötzlich die Sachen packt und sich auf Wochen mit unbekanntem Ziel verabschiedet, von dem er möglicherweise tot oder schwer verletzt zurückkommt.

Keanu Reeves sagte in „Speed“ zu Sandra Bullock, dass unter Hochstress stehende Beziehungen selten lange halten. Er sagte das, weil beide eben mit einer U-Bahn durch eine Hausmauer gekracht und zweihundert Meter in Seitenlage auf der Straße entlang geschlittert waren. Das soll Hochstress sein? Das ist nichts im Vergleich zur Belastung, unter der Beziehungen mit Kommandosoldaten stehen. Du weißt nie, wann, ob überhaupt und in wie vielen Einzelteilen er zurückkommt. Doch als Tom damals spur- und wortlos verschwand, wusste ich noch nicht einmal das.

Ich ahnte damals noch nicht, dass er Kommandosoldat war. Als er wie ein Geist verschwand, wusste ich bloß, dass er beim Bund war.

Das sang- und klanglose Verschwinden funktioniert so nicht, in keiner wie auch immer gearteten menschlichen Beziehung: „Ich bin dann mal monatelang weg, das hat was mit meinem Job zu tun, aber mehr darf ich nicht sagen.“ Sorry, aber das läuft nicht. Zumal er ja nicht einmal das zu mir gesagt hatte!

Er erzählte dann – natürlich – auch nichts weiter über seinen Einsatz. Er machte nur vage Andeutungen. Sicher hat er höchstens ein Prozent von den Dingen erzählt, die im Einsatz passiert waren. Als Zivilist versucht man dann, sich daraus irgendetwas zusammenzureimen, das halbwegs Sinn ergibt. Ist wie Malen mit Zahlen – wo 99 von 100 Zahlen fehlen.

Er kam also nach zweieinhalb Monaten unerklärlicher, frustrierender, absoluter Absenz nach Hamburg. Und schon an der Wohnungstür merkte ich wieder: Er ist ein ganz besonderer Mensch. Er stand also vor der Wohnungstür und reichte mir zur Begrüßung etwas aus seinem unvermeidlichen Rucksack, das in Zeitungspapier eingewickelt war. Ich dachte noch: Jeder andere Mann hätte das zumindest in Geschenkpapier eingepackt.

Ich nahm das Bündel Zeitungspapier entgegen und wickelte eine Rose aus. Keine lebende Rose, vielmehr eine getrocknete. Ich schaute ihn verwirrt an.

Er sagte: „Als ich den Einsatzbefehl bekam, bin ich an einem Blumenladen vorbeigekommen, hab eine Rose gekauft, auf den Einsatz mitgenommen und mir vorgenommen, sie dir zu geben, wenn oder falls wir uns wiedersehen. Sie hat mich die ganze Zeit an dich erinnert.“ Zeigen Sie mir die Frau, die daraufhin keine weichen Knie bekommen hätte.

Nachdem wir die anfänglichen Ungereimtheiten aus dem Weg geräumt hatten, hatten wir einen schönen Abend. An dessen Ende brachte er den außergewöhnlichsten Anmachspruch, den ich je gehört hatte – mit langem Anlauf.

Er sagte zuerst: „Mensch Wiebke, unsere Welten sind grundverschieden und eigentlich könnte ich mir vorstellen, dass du eher auf Männer aus deiner Welt stehst. Auf Unternehmer, Investmentbanker, Top Manager – da kann ich nicht mithalten. Aber ich kann etwas, das kein anderer kann.“

Der außergewöhnlichste Anmachspruch aller Zeiten

Jetzt war ich gespannt. Es war klar, dass jetzt der Knaller kommen musste. Aber ich wäre aus dem Stand nie draufgekommen. Was konnte er, was kein anderer Mann kann? Er machte eine Kunstpause und sagte:

„Lautlos töten.“

Ich starrte ihn sprachlos an. Wie bitte? Dann hatte ich einen Lachkrampf und meinte: „Bitte jetzt keine Demonstration im Wohnzimmer!“

Natürlich lernt jeder Kommandosoldat Nahkampftechniken. Da wird die israelische Kampftechnik Krav Maga rauf und runter geübt. Denn im Nahkampf unter Soldaten geht es mitunter wirklich auf Leben und Tod. Doch hier und jetzt in meinem Wohnzimmer? Jeder in meinem Freundeskreis kennt inzwischen den Spruch und jeder brüllte dabei erst mal los vor Lachen. Wenn wir seither im Freundeskreis auf ein Glas zusammensitzen, bringt nach deren mehreren immer einer diesen Spruch – und alles lacht erneut los. Lautlos töten. Irre. Danach waren wir dicke Freunde, Tom und ich. Mit Unterbrechungen.

Die Unterbrechungen lagen entlang der Chronologie der Brennpunkte dieser Welt: Irak, Afghanistan, Afrika. Er ging jedes Mal auf Einsatz. Er kam jedes Mal wieder. Bis heute. Was nicht selbstverständlich ist. Andere taten es nicht. Oder schwer verletzt. Nach und nach bekam ich Einblick in die militärische Welt – selbstverständlich immer, ohne Geheimhaltungsbestimmungen zu verletzen.

Ich erfuhr, wie in einer Organisation geführt wird, in der man Verluste nicht einfach abschreibt, weil sie in Blut bezahlt werden. Was Disziplin heißt, wenn gelegentliche Disziplinlosigkeit keine Option ist. Was für eine Sprache dort gesprochen wird, wo Sprache so präzise sein muss wie ein Scharfschütze auf 900 Meter bei leichtem Seitenwind. Im Vergleich zur Präzision eines militärischen Briefings ist die durchschnittliche DAX-Bilanzpressekonferenz die reinste Märchenstunde.

Nach meinem jugendlichen Kasernenbesuch war das nach langen Jahren das erste Mal, dass ich mit der Welt der Soldaten wieder in Berührung kam. Schnell kriegte ich mit, dass so ein Einsatz keine Spaßveranstaltung ist.

In Stahlgewittern

Wie wenig echter Krieg mit Hollywood zu tun hat, erfuhr ich an einem bis dahin völlig durchschnittlichen Wochentag. Ich stand irgendwo in der Hamburger Innenstadt an einer Kreuzung, wartete auf Ampelgrün und hatte im Übrigen mal wieder wochenlang nichts von Tom gehört. Haben die beim KSK kein Instagram?

Haben sie nicht. Nicht, weil sie altmodisch wären. Bei der Masse ultramodernen Geräts, das die benutzen, wäre das auch schwer vorstellbar. Nein, dass Kommandosoldaten oft für Wochen unerreichbar sind, hat einen anderen Grund. Man muss wissen: Das Wichtigste für einen Kommandosoldaten im Einsatz oft hinter feindlichen Linien ist, dass er nicht aufgeklärt wird. Er ist häufig in einer kleinen Gruppe gegen feindliche Übermacht unterwegs. Ein Instagram-Post in so einer Lage kann Entdeckung und Tod bedeuten. Auch die Taliban haben die elektronische Aufklärung. Also posten Kommandosoldaten nicht. Und sie haben ein abhörsicheres Handy. Du als Zivilist kannst sie nicht anrufen.

Du musst darauf warten, dass sie dich anrufen. Oder dass sie in die Botschaft gehen: „Ich bin gerade in der Botschaft – wir haben vier Minuten abhörsichere Leitung.“ So lauteten immer die ersten Worte, wenn Tom mich anrief.

Ich stehe also in der Hamburger Innenstadt, um mich herum tost Verkehrslärm, das Handy brummelt und zeigt eine Nummer, die ich nicht kenne – aber ich habe den Verdacht, dass es Tom sein könnte. Ich gehe ran und höre etwas, das ich noch nie gehört hatte.

Kein Ton über die Botschaft oder die abhörsichere Leitung. Ich höre stattdessen einen völlig euphorisierten Tom. Dazu muss man wissen: Tom ist Asket, fitter als ein Zehnkämpfer, rührt keinen Tropfen Alkohol an und schon gar keine Drogen. Wenn dich also plötzlich ein komplett euphorisierter Tom anruft, fragst du dich spontan: Was hat der denn intus?

Mit der Begeisterung eines Stadionsprechers beim Führungstor der Heimmannschaft brüllt er ins Handy: „Hey, ich wollte nur mal hören, wie es dir geht und wollte nur mal sagen, ich denk an dich. Was treibst du so?“ Ich denke nur: Wer hat den Tom denn von der Kette gelassen? Was rauchen die so im Einsatz? Was ist hier los? Direkt fragen kann ich nicht.

Denn Tom ist keiner, der mal so nebenbei erzählen würde, was Sache ist. Darf er auch nicht. Mit viel Fingerspitzengefühl gelingt es mir gerade noch, ihm einige vage Andeutungen aus den Rippen zu kitzeln – und dabei gefriert mir das Blut in den Adern.

Tom kommt eben von einer Nacht-Aufklärung zurück. Der Worst Case trat ein: Sein Trupp wurde vom Feind aufgeklärt. Der Gegner eröffnete das Feuer. Sie feuerten zurück. Die Kugeln flogen durch die Nacht. Eine zischte zwei Millimeter an seiner Halsschlagader vorbei. Sie riss Haut und Muskel auf. Blut spritzte. Zwei Millimeter weiter links und er wäre jetzt tot. Im Einsatz verblutet.

Anstatt tot zu sein, liegt Tom im Lazarett, vollgepumpt mit einem Medi-Cocktail und seinem eigenen Adrenalin, das ihm zu den Ohren rauskommt. Tom ist auf einem all-time high, im Orbit, nicht mehr von dieser Welt. Jeder andere Berufstätige würde nach so einer Nahtod-Erfahrung den Job an den Nagel hängen. Tom nicht. Tom liebt seinen Job. Tom ist aber so dermaßen begeistert und braucht bloß mal rasch jemanden, mit dem er seine unerträgliche Begeisterung teilen kann. Deshalb ruft er an. Ich stehe im Hamburger Verkehr und telefoniere mit einem, der eben dem sicheren Tod entronnen ist. Was sagt man da?

Gibt es darauf eine angemessene Reaktion? „Woah, Alter, geile Geschichte und gute Besserung!“ Wohl kaum. Ich sah mich zum ersten Mal hautnah mit dem „scharfen Ende des Soldatenlebens“ konfrontiert. Ein Soldat wird mit dem Tod als Perspektive ausgebildet. Als Tom dann endlich wieder vom Einsatz zurück war, sah ich mir seine Narbe am Hals an. Es lief mir kalt den Rücken runter. Als Zivilist weiß man von sowas nichts, will vielleicht auch nichts davon wissen.

Wenn ein Soldat in den Einsatz geht, schreibt er einen Brief an den nächsten Angehörigen, mit dem er seinen Nachlass regelt. Letzter Wille. Für alle Fälle.

Nach diesem Einsatz vereinbarten wir, dass dieser Brief an mich adressiert wäre. Ab da galt bei jedem neuen Einsatz: Solange kein Militärgeistlicher oder ein Soldat aus der Familienbetreuungsstelle bei mir vor der Tür steht und ein betretenes Gesicht macht, ist alles in Ordnung mit Tom.

Durch diesen sehr persönlichen Kontakt zu Tom gewann ich nach langen Jahren, in denen das Militär kein Thema für mich war, einen höchst menschlichen Blick durchs Schlüsselloch aufs Soldatenleben. Ich begriff, was der Preis für diesen Job sein kann. Nicht Burnout, Managergeschwür oder Karriere-Plateau, sondern Verwundung und Tod, im besten schlechtesten Fall noch PTBS. Dieser höchstpersönliche Eindruck legte die Saat für mein Interesse an dem, was jene Menschen tun, die unsere Sicherheit nach außen gewährleisten. Danach dauerte es trotzdem noch Jahre, bis diese Saat tatsächlich aufging.

„Train as you fight, fight as you train.“
Ausbildungsprinzip von Kampfeinheiten

Drittes Kapitel

Von der GSG9 zum KSK

Aller guten Dinge

Erst beim dritten Mal hat’s gefunkt. Beim ersten Mal, bei meinem Kasernenbesuch mit achtzehn, fand ich die Bundeswehr noch seltsam. Beim zweiten Mal, bei meiner Begegnung mit Tom, erschien sie mir schon deutlich sympathischer, menschlicher, persönlicher. Und auch faszinierend, wenngleich auch gefährlich. Doch erst beim dritten Mal hat’s richtig gefunkt. Das war vor zwei Jahren. Wie es dazu kam?

Ich hatte damals ein recht anspruchsvolles wissenschaftliches Forschungsprojekt beendet. Darin ging es um die Frage, wie man Mitarbeiter, nein, nicht motivieren, sondern begeistern kann. Quasi Motivation 4.0. Wie man Mitarbeiter derart emotional auflädt, dass sie mit ehrlicher Begeisterung bei der Arbeit sind. Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Immer mehr Arbeitgeber interessieren sich für solche Erkenntnisse. Zusammen mit Prof. Ingo Hamm von der Hochschule Darmstadt veröffentlichte ich die Forschungsergebnisse in einem Buch (Wettbewerbsfaktor Mensch: Wie man durch Mitarbeiterbegeisterung und moderne Führung Mehrwert schafft, Springer Gabler, 2020).

Bei der dafür grundlegenden deutschlandweit repräsentativen Studie kam heraus, dass unter anderem authentische Führung Mitarbeiter begeistert – was viele Führungskräfte ahnen. Doch eine wissenschaftliche Bestätigung dieser Ahnung stärkt Führungskräfte, die authentisch führen können und vor allem wollen. Authentisch im Sinne von: geradlinig, offen, aufrecht, unverbogen; die Führungskraft sagt, was sie meint, und handelt danach, was sie meint. Authentische Führung war für das Ziel von Mitarbeiterbegeisterung das zweitwichtigste Kriterium. Das zeigte die Studie eindeutig.