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© 2016 Olaf Ehlerding

Illustration und Cover: Olaf Ehlerding

3. Auflage (2022)

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7557-6605-6

Inhaltsverzeichnis

Der Korridor der Toten

Die gute alte Zeit

Eigentlich benötigte er einen Krückstock, denn das Aufstehen fiel ihm mit jedem Monat schwerer. Sein Gleichgewichtssinn ließ beim Laufen ebenfalls zu wünschen übrig. Doch wenn es irgendwie ging, wollte der alte Feldmarschall auf dieses Zeichen des morbiden Verfalls so lange wie möglich verzichten. Morgens nach dem Aufwachen waren die Schmerzen in den morschen Knochen besonders schlimm und er haderte dann stets, ob er nicht doch die Gehhilfe nehmen sollte. Die strahlend weiße Elfenbeinkrücke lehnte am Bettkasten und grinste ihn an. Er hatte im Gefühl, als würde sie mit ihm sprechen und ihn verhöhnen wollen. 'Nimm mich! Nimm mich endlich, du elender Schlappschwanz! Du Paradeexemplar des Siechtums! Gebrechlichster aller Gebrechlichen! Ohne mich kommst du eh keinen Schritt mehr vorwärts, alter, ranziger Lederlappen!' Die Krücke war ein Geschenk von Ramses’ Vater, dem Pharao Sethos. Anstatt einer Rüstung oder eines Schwertes hatte der alte Feldmarschall als Auszeichnung eine Krücke aus wertvollstem Elfenbein bekommen. 'Für was denn? Für hervorragende Senilität? Für die morschen Knochen? Für die vielen Falten am Hals?' »Nein!«, murmelte er verärgert. »Solange ich noch aus dem Bett kriechen kann, bin ich noch nicht zu alt.«

Als Sohn eines Getreideträgers im Hafen von Memphis war Boduril trotz geringerer Größe einst der stärkste Rekrut in der Kompanie gewesen. Jeden hatte er damals im Ringen zu Fall gebracht. Ebenso war er der schnellste Läufer aller Rekruten. Jahre später, nach vielen Kämpfen im Süden und Westen, erhielt er unter dem Pharao Haremhab wegen seiner Tapferkeit und Kampfkraft massenhaft Auszeichnungen. Seine Unteroffizierslaufbahn startete rasant, die ihm zum Schluss den Oberbefehl als Feldmarschall über alle ägyptischen Divisionen Re, Ptah, Amun und Seth eingebracht hatte. Eine Karriere als Offizier war sonst ausschließlich den Adelsleuten vorbehalten. Es machte ihn mächtig stolz, dass er es bis an die Spitze geschafft hatte. Boduril, einer aus dem Volke, war ganz oben angekommen.

Er genoss seinerzeit das allerhöchste Vertrauen beim alten Haremhab und wurde allseits geachtet und verehrt. Es änderte sich allerdings, als Haremhab verstarb und sich die neue Dynastie der Ramessiden an der Macht etabliert hatte. Obgleich Ramses der Erste nur kurz als Pharao herrschte, ging es von da an in eine ganz andere Richtung. Dies war Feldmarschall Boduril nicht entgangen. Sein guter Rat besaß kein Gewicht mehr. Als Ramses der Erste nach zwei Jahren zu Grabe getragen wurde und sein Sohn Sethos auf den Thron folgte, dachte Boduril, es würde wieder wie unter Haremhab werden. Aber das war nichts weiter als die blasse Illusion eines gealterten Soldaten. Zwar wurde es Boduril unter Pharao Sethos noch gestattet, ihn bei den Feldzügen zu begleiten, doch durfte er nur noch die Versorgung der Truppe verantworten. Jetzt allerdings, unter Sethos’ Sohn Ramses, musste er sogar ganz in Ägypten bleiben und man ließ ihn einzig neue Rekruten ausheben und ausbilden. Das war ein gehöriger Hammer! Was für eine Undankbarkeit nach so vielen Jahren des aufopferungsvollen Dienstes! Was für eine Demütigung, was für eine Schmach! Was hatte er nicht alles für sein Vaterland getan! Auf was hatte er nicht alles verzichtet! Auf ein Leben in Luxus, auf Korruption und auf Kinder. Gut, das Letztere nicht ganz freiwillig. Aber dennoch könnte er die Liste des Verzichts, ohne besonders viel nachzudenken, noch bis in den Abend fortführen. Allerdings brachte es nichts und die Erinnerungen vergangener Tage, wo alles besser war, quälten ihn weitaus stärker als die Schmerzen nach dem Aufstehen. »Der schwarze Kuschit hat eben seine Schuldigkeit getan!«, schnauzte er voller Gram vor sich hin. Jetzt, abgeschoben in die Garnisonsfestung Memphis, sollte sich Boduril wie ein Lastenesel kurz vor dem Zusammenbruch noch einmal mit den jungen Taugenichtsen herumschlagen. Die Zornesfalten auf seiner Stirn wölbten sich wie die stürmische See, während er darüber nachdachte, wie der Hitzkopf Ramses ohne ihn gegen die Hethiter in den Krieg zog. Das wäre vielleicht sein letzter Feldzug gewesen, bevor er in den Westen reisen müsste. Nur eines stimmte ihn trotz alledem zuversichtlich. Sein Herz würde beim Totengericht leichter als eine Feder wiegen. Denn trotz seiner Härte war er gerecht und in seinem Totenbuch standen nur Neins, wenn Osiris auf der Suche nach Missetaten einen Blick hineinwarf. Zwar müsste der alte Feldmarschall mit einem kleinen Ja für die zahllosen Leichen rechnen, die seinen Weg pflasterten. Jedoch war er als Handwerker des Krieges geboren worden und für den Tod anderer gab es immer eine Menge handfester Gründe. Das stand ohne Frage fest.

Boduril saß auf seinem Bett und schaute mürrisch seine dürren, schlaffen Oberschenkel an. Noch vor zehn Jahren erstrahlten sie kräftig wie Baumstämme. Dann strich er sich über die Haare und seine Laune verbesserte sich ein wenig. Kurzgeschnitten wie in jungen Jahren zierten sie nunmehr ergraut sein Haupt. Keine Halbglatze verunstaltete ihn wie bei anderen, die sich deswegen ständig den Schädel kahl rasierten. Nicht einmal eine Narbe verschandelte sein Gesicht, was bei ihm mehr als nur Wohlgefallen auslöste. Obwohl Boduril Zweikämpfen in der Jugend nie aus dem Weg gegangen war, hatte er nur wenige Narben am Körper davongetragen.

Er berührte nun seine Stirn. Hier gruben sich Altersfalten immer tiefer ein. Besonders dann, wenn ihn der Zustand heutiger Rekruten zur Weißglut brachte. 'Elende Schmarotzer sind sie, Parasiten im Fleische Ägyptens, Bandwürmer des Nils, die nur ans Vergnügen und ihre Vorteile denken. Vor jeder noch so kleinen Herausforderung schrecken sie wie Hühner vor dem Beil zurück.'

Selbst wenn Boduril altersbedingt einiges vergessen hatte, so behielt er doch noch etwas mit vollster Gewissheit in seinen Gedanken. Seine Generation war in den Blütejahren komplett anders gewesen. Sie waren besser, weitaus härter im Nehmen und Austeilen, sich für nichts zu schade und hatten, wenn es darauf ankam, eine Menge Dreck gefressen. Deshalb konnte der alte Pharao Haremhab alle Schlachten gewinnen und er, der hochdekorierte Feldmarschall Boduril, hatte mit Mut, Härte, Ehrgeiz, Disziplin und manchmal mit Skrupellosigkeit in herausragender Weise dazu beigetragen. Schon vor der Geburt, da war er sich absolut sicher, galt der Weg eines jeden Menschen als vorbestimmt. Niemals, das pflegte seine verstorbene Mutter stets zu berichten, hatte Boduril die Muttermilch erbrochen, wenn sie ihm zu viel geworden war. Schon damals als Säugling hatte er unter Beweis gestellt, dass er eine Menge einstecken konnte. Und dies setzte sich von seiner Rekrutenausbildung bis hin zur Stellung als Feldmarschall fort, wo er so manches zähneknirschend schlucken musste, obwohl ihn der Brechreiz würgte. Aber was sollte er jetzt machen? Es war Ramses’ Befehl, hierher zurückzukehren und junge Soldaten auszubilden. Auch diese bittere Mistkäferpille musste er ohne Murren schlucken.

Neunundsechzig Rekruten aus dem Volk wurden seit seiner Rückkehr aus Pi-Ramesse ausgehoben und eine ganze Division mit viertausend Mann sollte es werden. Er verstand beim besten Willen nicht, warum sich keiner der jungen Leute mehr für das Militär begeistern wollte. Ein Rekrut erhielt zweimal täglich Mahlzeiten aus Vollwertkost mit Hirsebrei und verdünntem Bier, man blieb körperlich fit, kam viel herum und damit waren nicht bloß die Runden um die Festung gemeint. Der junge Soldat konnte andere Länder, Kulturen, Sitten und Gebräuche kennenlernen. Mit ein bisschen Glück würde er heimkehren und davon den Eltern und später seinen Kindern erzählen. Wenngleich es sich bei Auslandseinsätzen nicht um Vergnügungsreisen handelte, was der Feldmarschall den Rekruten gleich am ersten Tag des Rekrutendienstes einhämmerte. Starb ein Soldat im Kampf, wurde er ordentlich in einem Massengrab bestattet. Tapferen Helden dagegen gewährte man Einzelgräber. Ein durch Kampf versehrter Veteran bekam an der nubischen Grenze eine Landparzelle, auf der er von Abgaben befreites Getreide anbauen durfte. Bei so vielen Vorteilen erschien es Boduril mehr als schleierhaft, warum so wenige der hoffnungslosen jungen Männer in die Armee wollten. War denn ein Leben als Bauer oder Lastenschlepper im Hafen die bessere Wahl? Boduril jedenfalls hatte als junger Spund für sich die richtige Entscheidung getroffen. Wenn er nur besser gehen könnte, würde er selbst Memphis’ Gassen durchforsten und junge Leute für den Dienst am Vaterland anwerben. Dazu war er leider zu alt und zudem als Feldmarschall unter seiner Würde. Mit leidgeprüfter Miene biss er die Zähne zusammen und kam nach einigen Anläufen auf die Beine. Das Aufstehen vom Bett fiel ihm zunehmend schwerer. Er hörte einen Ausbilder schreien und wackelte klapprig zum Fenster. Auf dem Hof musterte er in der Vormittagssonne die Volksrekruten, wie sie schwerfällig und unbeholfen über einige Gerüste kletterten. »Schäbiges Lumpenpack, faule Schmarotzer und selbstsüchtige Parasiten seid ihr!«, posaunte der alte Feldmarschall vor Zorn aus dem Fenster hinaus. »Ist das alles, was ihr in den Eiern habt? Schneller oder ich mache euch Beine!«

Der Aufseher glotzte verwirrt hoch und entschied sich dann, jedes einzelne Wort des Feldmarschalls nachzuplappern. Sein Bemühen blieb allerdings nahezu folgenlos. Kaum schneller hangelten sich die jungen Soldaten auf den Gerüsten voran. »Ich kann einfach nicht mehr«, stöhnte Boduril und schlug zerknirscht seine Hände über dem Kopf zusammen. »Ich kann so nicht führen! Muss ich denn alles selber machen?«

Es klopfte an der Tür. Der aufgedunsene Adjutant Waset tänzelte mit der Leichtigkeit des Seins herein und machte eine schnöde Verbeugung. Eben so, wie man es während der Offiziersausbildung auf der Akademie der sieben Lehren nicht gelernt hatte. Boduril fand ihn albern, dumm und anmaßend. Obendrein besaß er keinerlei Fronterfahrung, also ein reiner Verwaltungsoffizier, der aus Mücken gerne Elefanten machte. Speckrollen an den Hüften und der mit Olivenöl gekämmte Seitenscheitel gaben seiner inneren Schmierigkeit das äußere Passformat. Hätte Waset noch mykenische Haarwellen, würde Boduril ihm hundertprozentig seinen Kopf abreißen und ihm in den qualligen Hals pissen. Diese nichtsnutzige Schlammkröte hatte auf Bodurils Sympathieskala von eins bis zehn noch nicht einmal die Null verdient.

»Was gibt es?« Boduril drehte sich knurrig vom Fenster herum.

»Exzellenz! Der Dekan Zephidias ist hier.«

Den hatte er völlig vergessen, wie so einiges in letzter Zeit. »Schick ihn rein! Aber warte damit noch einen Moment«, schnauzte der alte Feldmarschall.

»Sehr wohl, Exzellenz!« Waset verbeugte sich brav und verließ den Raum. Unterdessen ging Boduril zum Stuhl und schnappte sich ein leichtes Leinengewand, um es über den Schurz zu ziehen. Der beleibte und gut gekleidete Zephidias kam gleich darauf herein. Um seinen Hals trug er ein Amulett mit sieben Goldplatten, auf denen die Lehren der Akademie in Hieroglyphen dargestellt wurden. Im Vergleich zu ihm war Waset nur ein spindeldürrer Grashalm. Boduril hasste Fresssucht wie die Krätzfäule und Zephidias spiegelte die Krönung der Völlerei wider. Und dazu kam noch etwas. Während nämlich der Feldmarschall versuchte, aus Jünglingen eisenharte Kerle zu schmieden, verging sich der Dekan an ihnen.

»Feldmarschall Boduril! Ich freue mich, dich zu sehen!«, grüßte Zephidias mit abfälliger Miene. Ohne Mühe stellte Boduril fest, dass die Antipathie auf Gegenseitigkeit beruhte. »Darf ich mich setzen?«, fragte der Dekan und setzte sich sofort an den Tisch.

»Nur zu, nur zu! Möchtest du Wein? Bedien dich.« Boduril machte gute Miene und zeigte gequält auf den Weinkrug.

»Das ist äußerst freundlich von dir. Darf ich dir auch einschenken, Boduril?«, fragte der Dekan und goss sich Wein in einen Tonbecher ein.

»Nein! Ich genieße nur abends ein Becherchen«, antwortete Boduril nicht besonders freundlich und setzte sich ebenfalls an den Tisch.

Zephidias trank einen Schluck und schob den Becher säuerlich von sich weg. »Süßer Wein bekommt mir besser.«

»Das wundert mich nicht! Du magst ja alles, was süß ist und nicht schnell genug auf den Bäumen ist«, spottete Boduril.

Der beleibte Dekan kniff boshaft die Augen zusammen. »Deine Garnisonsfestung ist gut in Schuss. Man merkt gleich, der große Feldmarschall ist wieder dort zurückgekehrt, wo er aufgrund seiner Betagtheit hingehört. Ganz ehrlich, der jetzige Feldzug nach Kadesh wäre doch viel zu anstrengend für dich. Denk doch nur allein an deine Knochen, was die alles hätten mitmachen müssen, ehrenwerter Feldmarschall!«

»Ich hätte durchaus noch gekonnt. Das kann ich dir gut und gerne versichern!«, krächzte Boduril. »Jedenfalls benötige ich keine Sänfte, um es von der Akademie hierher zu schaffen. Du solltest vielleicht deinem toten Fleisch ein bisschen mehr Bewegung gönnen, anstatt es an der Haut junger Schüler zu reiben! Aber lassen wir die Höflichkeiten. Ich muss mich um die Rekruten kümmern. Was verschafft mir die besondere Ehre deines Besuches?«

Zephidias lächelte sarkastisch. »Ein alter Feldmarschall kann schon mal Kleinigkeiten vergessen. Wie in meinem Schreiben angekündigt, haben wir dieses Jahr weit über tausend Bewerbungen für die akademische Ausbildung. Die hohen Adelsfamilien haben zu viele nichterbberechtigte Söhne in die Welt gepflanzt, die wir nicht alle unterbringen können. Alle sieben Lehren sind restlos überfüllt, sogar die des Militärwesens. Zu den Familien heimschicken können wir sie nicht. Schließlich finanziert der Adel nicht nur die Akademie, sondern er trägt auch zum Unterhalt Eurer Garnisonsfestung bei. Also bleibt für den Rest nur die praktische Unteroffiziersausbildung.«

»So groß ist der Beitrag von denen nun auch wieder nicht«, erwiderte der alte Feldmarschall grantig.

»Wie dem auch sei. Die Adelsjünglinge müssen baldmöglichst bei dir unterkommen, ansonsten kommen sie nur auf dumme Gedanken. Dur verstehst hoffentlich, was ich meine. Denk nur an Panethep und wie schwierig es ist, selbst die Schüler der Akademie unter Kontrolle zu halten. Außerdem ist jetzt Krieg und wenn einige von ihnen an der Front fallen, ist der Bewerberstau im nächsten Jahr weniger groß«, grinste Zephidias kalt.

»Und wie groß ist dieser Rest, den ich übernehmen soll?« Bodurils Misstrauen wuchs mit jedem Wort des Dekans.

»Hier ist die Liste!« Der Dekan reichte ihm eine Rolle über den Tisch. Doch Boduril nahm sie nicht entgegen. »Ah, ich verstehe! Deine Augen sind nicht mehr die besten«, lächelte Zephidias verächtlich. »Also es sind insgesamt neunhundertsiebenundachtzig Jünglinge, die ich deiner Obhut anvertrauen muss.«

»Was? Wie viele sind das?« Boduril ließ sich ungläubig auf die Stuhllehne zurückfallen. Seine Stirn kräuselte sich zu düsteren Wogen.

»Neunhundertsiebenundachtzig. Wieso? Ist das ein Problem für dich, Feldmarschall?«

»Das ist aber ein sehr großes Problem! Ich habe neunundsechzig Rekruten. Die sollen von neunhundertsiebenundachtzig Unteroffiziersanwärtern geführt werden? Auf jeden einzelnen Rekruten aus dem Volk kommen dann mehr als zehn kleine Adelsrekruten, die alle Befehle geben wollen. Du hast doch einen Meißel im Kopf!«, erwiderte der Feldmarschall ungehalten. »Das kannst du vergessen! Ich nehme höchstens fünfzehn auf. Schick den Rest von mir aus zu ihren Familien zurück!«

»Nun, ich kann dich nicht zwingen, wenn du sie absolut nicht haben willst. Allerdings, wenn sich die Adelsherren beim Pharao beschweren, sehe ich deine Zukunft in der Festung Meha mit all ihren Wanzen und Stechmücken als gekommen an. Dort in Kusch soll es nicht sonderlich idyllisch zugehen, wie man hört.« Zephidias hatte genau Bodurils wunden Punkt getroffen. Keinesfalls wollte er an die nubische Grenze versetzt werden, genauso wenig wie jeder andere halbwegs vernünftig denkende Offizier. Das Leben als bäuerlicher Grenzer war gewiss zweckdienlich für einen gemeinen Veteranen, aber doch nicht für einen großartigen Feldmarschall seiner Klasse. Die Krätzfäule wütete dort regelmäßig, die ärztliche Versorgung war ohnehin schlecht und die mangelnde Demut der kuschitischen Bevölkerung gegenüber dem Pharao und seinen Truppen sorgte verlässlich für mieseste Stimmung unter den Veteranen in Meha. Boduril atmete tief durch und blickte auf seine dürren Beine. Sollte er seinen alten Knochen ausgerechnet das noch zumuten? Der fettwanstige Dekan würde dafür sicherlich seine Ränke schmieden, wenn er sich weigerte. Boduril starrte mürrisch zum Fenster hinaus.

»Wie ich sehe, bist du einverstanden. Sehr schön!«, gab sich Zephidias zufrieden, denn sein eigenes Problem war damit gelöst, indem er es Boduril in die Sandalen schob. »Du wirst in deinem Alter noch einmal auf die Probe gestellt, die Jungs in die richtige Spur zu bringen. Das sollte für dich machbar sein und wie ich dich kenne, könnte es dir das reinste Vergnügen bereiten. Kopf hoch, alter Mann! Du wirst das schon schaffen! Und außerdem habe ich das pharaonische Dekret nicht erlassen, das jedem Adelsjüngling zumindest eine militärische Ausbildung als Unteroffizier garantiert.«

»Ist ja schon gut! Erspare mir dein Geplappere!« Boduril rang nach Fassung. »Wann sind sie hier?«

»Die Jünglinge werden sich im Laufe der nächsten Wochen hier einfinden. Für die operativen Details hast du ja Ausbilder. Also bist du mit dieser Herausforderung nicht ganz allein und kannst die Drecksarbeit anderen überlassen.«

»Operative Details ...«, murmelte Boduril nachdenklich. Wie gerne erinnerte er sich an dieses Schlagwort. Haremhab hatte ihm stets die operativen Details des Krieges anvertraut, damit der Pharao den Siegesruhm ernten konnte. Nun aber verrottete Boduril hier und dieser Begriff hatte eher die Bedeutung von Jauchefässern, die ein alter Packesel schleppen musste und die er genauso wenig loswerden konnte, wie ein Kadaver die Fliegen.

»Wunderbar! Dann haben wir jetzt alles geklärt. Der Pharao und die Familien sind dir zum Dank verpflichtet. Auf Wiedersehen, Feldmarschall!« Zephidias stemmte seinen massigen Körper vom Stuhl hoch und entfernte sich mit einem triumphierenden Lächeln aus Bodurils Kammer.

Der alte Feldmarschall hingegen hockte wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl, bis er sich nach einiger Zeit aufraffte. Am Fenster blickte Boduril erneut voller Abscheu auf die Rekruten, die sich wie Greise mit Klimmzügen abquälten. Nach einer Weile verächtlichem Stöhnen nahm Boduril seine schöne goldverzierte Lederrüstung vom Wandhaken. Nicht mehr ganz so unzufrieden zog er das inzwischen viel zu groß gewordene Geschenk des alten Haremhabs an. Die Rüstung lag damals eng am Körper. Die vielen Muskeln, die einst seinen Leib zierten, hatten die Frauen in Verzückung versetzt und waren von den Männern gefürchtet. Schließlich setzte er sich den vergoldeten Rundhelm auf und band sich den Ledergurt mit dem Silberschwert um die Hüften. Einerseits konnte man mit der silbernen Klinge nicht kämpfen, weil sie schnell zu Bruch ging, andererseits hinterließ sie einen enormen Eindruck auf Untergebene. Sein Augenmerk richtete Boduril noch auf das mit einem Stachelkranz bewehrte Marschallzepter. Nur für besondere Anlässe nahm er es von der Wand herunter. Diese würden ohne jeglichen Zweifel bald kommen.

»Waset, komm sofort her!«, schrie der alte Feldmarschall nach seinem Adjutanten dermaßen laut, wie er ihn noch nie herbeizitiert hatte.

Waset stürzte aufgeregt herein und verbeugte sich kurz. »Exzellenz! Ist irgendetwas passiert?«

»Lass sofort die Pferde satteln! Wir beide reiten zum Palast. Unterwegs erzähle ich dir, was demnächst auf dich zukommt.«

»Auf mich demnächst zukommt, Exzellenz?«, fragte er irritiert.

»Ja genau, Adjutant, was demnächst auf dich zukommt! Operative Details nämlich. Und jetzt verschwinde!«

Die schöne Elfenbeinkrücke ließ Boduril stehen. Den Zeitpunkt für deren Gebrauch wollte er so lange wie möglich nach hinten schieben. Sogleich ahnte der alte Feldmarschall, dass er eines Tages ohne diese Krücke nicht mehr auskommen könnte. Betrüblicherweise schien dieser Tag nicht mehr allzu fern, denn sein Gleichgewichtssinn spielte ihm immer öfters böse Streiche.

Boduril und Waset erreichten gegen Mittag die Stadtmauer von Memphis, vor der viele Zelte und einfache Planen aufgeschlagen waren. Abertausend ausgemergelte Flüchtlinge lungerten elendig dazwischen herum oder schlurften orientierungslos umher. Es roch bestialisch nach Exkrementen, Krankheit und Tod. Ein klappriger Ochsenkarren voller Hilfsgüter stand unweit des Lagers. Hunderte Flüchtlinge rangelten sich um das wenige Brot, was ihnen vom Wagen herab zugeworfen wurde. »Es ist ein Jammer, diese elendigen Hungergestalten sehen zu müssen«, äußerte Boduril sein Mitgefühl.

»Ja, Exzellenz! Darum ist es besser, sich schleunigst von ihnen abzuwenden und noch schneller abzuhauen«, pflichtete Waset mit einer gehörigen Portion Gleichgültigkeit bei, während beide an den Zelten und den vielen Hungergestalten vorbeitrabten. Selbst ihre Pferde scheuten sich vor diesem Gestank.

»In meiner Jugend gab es solch untragbares Leid nicht! Es waren stets genügend Vorräte vorhanden, um mindestens sieben Dürren hintereinander zu überstehen. Früher war man einfach besser auf diese Katastrophen vorbereitet«, schimpfte der Feldmarschall, der sein Ross zu beruhigen versuchte.

»Ja, Exzellenz! In Eurer Jugend war gewiss so manches besser.« Der Adjutant konnte es nicht mehr aushalten und hielt sich ein Tuch vor die Nase gepresst.

»Ich verstehe nicht, weshalb Wesir Paser nicht angeordnet hat, genug Getreide in die Speicher zu legen. Die Ernten waren in den letzten Jahren doch recht ordentlich!«

»Ja, Exzellenz! Sie waren recht ordentlich. Es gab nur zu viele Heuschreckenplagen. Sie haben die Speicher leer gefressen.« Waset verdrehte die Augen. Bodurils Gerede über die Vergangenheit schien ihm gehörig auf die Nerven zu gehen. »Ein jeder weiß, zu viel Nilschwemme löst Heuschreckenplagen aus und eine ausbleibende Schwemme dagegen zu viele trockene Felder. Die beste Situation liegt irgendwie dazwischen, Exzellenz«, tönte er neunmalklug und unterstellte seinem Vorgesetzten somit Einfältigkeit.

Wasets Respektlosigkeit entging dem alten Feldmarschall keineswegs, denn wenn Boduril sich anstrengte, konnte er immer noch gut sehen und auch alle weiteren Sinne scharf schalten. »Anhalten!«, knurrte unvermittelt der alte Feldmarschall. Hastig zog er sein kostbares Silberschwert und hielt dessen Spitze genau unter Wasets Nase. Es fehlte nur noch eine Daumenbreite und Wasets Nasenflügel wäre mit Leichtigkeit durchschnitten worden. »Weder brauche ich deine trotzigen Verbeugungen noch deine Klugscheißerei. Sag mir endlich, was in deinem verfluchten Scheißschädel vor sich geht!«

Waset lief feuerrot an. »Äh, ja, Exzellenz.« Sein Doppelkinn bibberte.

»Dann spuck es endlich aus, Fettsack!« Boduril schob die Schwertspitze in Wasets Nasenloch. Ein Wunder und verdammtes Glück für den Adjutanten, dass Bodurils Hand trotz des Alters nicht zitterte.

Daraufhin begann Waset nervös zu stottern. »Es ist Amuns Wille, wenn all die Armen und Elenden leiden müssen. Sie haben schließlich zu den Göttern nicht genug gebetet und das ist nun ihre Strafe. Aber wenn sie jetzt leiden und wieder unablässig zu den Göttern beten, verschont Ammit bestimmt ihre Herzen.«

»Wo steht das geschrieben?«, wollte Boduril mit Nachdruck wissen, den diese Begründung nicht recht überzeugte. Dennoch steckte er sein Schwert in die Scheide zurück.

Erleichtert runzelte der Adjutant die Stirn, fuhr sich über seine Nase und schien recht froh zu sein, nicht zu bluten. »Das weiß doch jeder. Der Sohn eines Sklaven wird als Sklave leben, der Sohn eines Bauern wird ein Bauer, der Sohn eines Schreibers wird ein Schreiber und der Sohn eines Adligen wird ein Adliger sein. Je tiefer die Stellung in unserer Gesellschaft, desto schwieriger das Leben im Diesseits und desto höher die Hürde, um ins Jenseits zu den Göttern zu kommen. Letztlich können nicht alle auf der Spitze der Pyramide stehen oder zumindest im oberen Drittel. Darum bin ich froh, dass ich der Sohn eines Adligen bin«, protzte Waset. Alle Furcht wich nun der Hochnäsigkeit.

»Und ich bin stolz auf meinen Vater, der nur Getreideträger im Hafen von Memphis war! Und der war kein schlechterer Erdenbürger als ein Adliger. Im Gegenteil, er hat im Schweiße des Angesichts geschuftet, um seine Familie durchzubringen. Wir reiten weiter!«, erwiderte der alte Feldmarschall ruppig.

»Jawohl, Exzellenz!« Waset trabte ihm verständnislos, aber auch mit einer Prise Verachtung hinterher.

Sie kamen dem Stadttor allmählich näher. Darauf und auf den angrenzenden Mauerabschnitten waren permanent Bogenschützen postiert. Von denen wurden bereits zahlreiche Flüchtlinge niedergestreckt, als diese versucht hatten, in die alte Hauptstadt einzudringen. Nach einiger Zeit des eisigen Schweigens sprach der alte Feldmarschall wieder. »Neunhundertsiebenundachtzig junge Männer aus deiner Gesellschaftsschicht werden bald in unserer Garnison eintreffen. Von dir, Adjutant, wird dann einiges abverlangt werden! Die kompletten Musterungen überwachen, Übungspläne ausarbeiten, gewissenhafte Kleiderausgabe, Eintragungen ins Militärregister, Zuweisung der Unterkünfte und vieles mehr. Auf unabsehbare Zeit wirst du keine Gelegenheit mehr für die Taverne haben und für ausgiebige Fressorgien«, grinste Boduril mit Hohn. »Wie viel Getreide haben wir noch im Garnisonspeicher? Und wie viele Ziegen?«

»Ähm! Genug, Exzellenz.«

»Was heißt genug? Ich will es genau wissen!«

»Äh, ja! Ich müsste mal wieder nachzählen lassen. Aber ich glaube, wir haben noch zwanzig oder dreißig Säcke und vielleicht vier oder fünf Ziegen.«

»Dann tu das, Adjutant!«

»Jawohl, Exzellenz!« Waset guckte ziemlich unglücklich drein. Die Tage des Müßiggangs schienen tatsächlich auf unabsehbare Zeit vorbei zu sein.

Kurz vor dem Südtor zügelte Boduril sein Pferd. Er blickte nach rechts zum Hafen, wo einst sein Vater die Säcke von den Booten schleppen musste. Dann schaute der alte Feldmarschall über den Nil hinweg zum östlichen Ufer, wo die vielen Manufakturen, Schmieden, Gerbereien, die Viertel der Arbeiter und Armen lagen. Dort war Boduril aufgewachsen. Er dachte mit Wehmut an seine Eltern zurück, die ihn liebevoll aufgezogen hatten. Nie hatte seine Mutter böse Worte für ihn übrig gehabt. Nie hatte sein Vater ihn verprügelt. In seinen äußerst seltenen Gebeten ehrte er sie dafür.

Der alte Feldmarschall schlug die Zügel und sie trabten langsam durch das gut bewachte südliche Doppelturmstadttor. Schöne mehrstöckige Luxushäuser standen in Memphis an der breit angelegten Hauptstraße, die den Namen Weg-des-Pharao trug. Rechts und links der Hauptstraße führten Straßen und Gassen schachbrettartig in die Wohnbezirke hinein.

Schattenspendende Weinreben rankten überall auf den Lauben der Dächer empor. Hunderte Palmen und viele kleine Brunnen säumten die Prachtstraße, in denen sich Kinder gegenseitig nass spritzten oder mit Schiffchen spielten. Nichts spürte man hier von dem Elend vor der Mauer, geschweige denn von dem abscheulichen Gestank. Händler verkauften gebratenes Fleisch, dessen würziger Duft sich mit Parfüms, Weihrauch, Honig und frisch gebackenem Brot zahlloser weiterer Händlerstände vermischte. An einem Backwarenstand hielten sie kurz an, damit Waset Kuchen kaufen konnte.

In der Zwischenzeit hielt Boduril die Zügel von Wasets Pferd und beobachtete auf dem Weg-des-Pharao das rege Treiben aus aller Herren Länder. Assyrische Kaufleute in ihren bunten wallenden Langgewändern, halbnackte Nubier, finster verhüllte Libyer mit schwarzen Kopftüchern oder hellhäutige Mykener mit öligen Haarwellen in ihren schlichten weißen Gewändern musterten seine argwöhnischen Augen. Nach für Bodurils Geschmack zu langer Wartezeit hetzte Waset zurück, stieg auf und sie trabten weiter.

Am Ende der Prachtstraße, kurz vorm Erreichen des Königspalastes, warf Boduril noch einen grimmigen Blick auf das Schwarze Haus des Geheimdienstes. Dort herrschte der Schwarze Prälat. Oben auf dem Gebäude thronte eine dunkelgraue Kuppel. Gleich darunter befand sich Sosars Amtssitz. Düstere Erinnerungen aus der Vergangenheit spülten an die Oberfläche, die Boduril sofort wieder verdrängte.

Gleich neben dem schwarzen Haus lag das weitläufige Anwesen der Akademie der sieben Lehren, dessen Dekan ihn vormittags besucht hatte. Die Holztribüne stand immer noch an jener Stelle, auf der Hochrichter Panethep gepfählt wurde. Die Übeltäter, achtzehn halbstarke Adelsjünglinge, hätte er gewiss am Hals gehabt, wenn sie in Pi-Ramesse nicht von Krokodilen verspeist worden wären.

Schließlich erreichten sie die Palastaußenmauern und hielten ihre Pferde vor dem Doppelturmtor an. Boduril schaute zu den Türmen hoch. Auf denen flatterten weiße Fahnen mit Ramses’ Kartusche. »Du wartest hier!«, befahl Boduril seinem Adjutanten. Waset reichte Boduril den Kuchen, stieg ab und führte sein Pferd in den Schatten eines Turmes, während die Torwachen den alten Feldmarschall passieren ließen.

Boduril trabte auf seiner braunen Stute, die auch nicht mehr zu den jüngsten zählte, den filigran mit kleinen bunten Mosaiken gepflasterten Weg im Palastgarten entlang. Beidseitig des Weges wachten unzählige Sphingen, jede mit einem anderen Gesicht. Maulbeer- und Johannisbrotbäume, Akazien, Zypressen und Eukalyptusbäume spendeten im großflächigen Palastgarten nicht nur Schatten, sondern auch ein angenehmeres Klima als in der Stadt, wo jetzt die Mittagshitze in den Gassen brütete. Reichlich Sklaven bewässerten gerade die Bäume mit Eimern.

Dann erreichte Boduril das Eingangportal des Palastgebäudes. Links davon saß ein steinerner Amun mit blauem Gesicht und gelber Pfauenfederkrone. Rechts dagegen Gott Re mit seinem Falkenkopf und der goldenen Sonnenscheibe auf dem Haupt, die von einer zischenden Uräusschlange eingefasst war. Einige Diener kamen herbeigeeilt und halfen dem alten Feldmarschall vom Pferd.

»Hallo, Onkel Boduril! Hast du uns etwas mitgebracht?« Von dem flachen Schwimmteich rechts neben dem Eingang schrillten Kinderstimmen herüber. Zwei Jungen und drei Mädchen, alle unter zehn Jahren, sprangen aus dem Wasser und stürmten auf Boduril zu. Lächelnd, mit ausgestreckten Armen, hielt er die Honigkuchen in die Höhe. Die Kinder hüpften vergebens danach hoch. »Ihr müsst schon höher springen, Kinder!«, amüsierte sich Boduril. Ein Junge umklammerte fest sein Bein. Der alte Feldmarschall ließ sich daraufhin vorsichtig in den Rasen purzeln. Dabei rutschte der Rundhelm von seinem Kopf. Nun rissen die Kinder den Kuchen aus Bodurils Händen und stopften sich ihn in ihre gierigen Mäuler.

»Onkel, du sollst doch den Kindern nicht immer dieses süßes Zeug mitbringen! Wer weiß, was da alles drin ist!«, rief der neu erkorene Wesir Unterägyptens. Tia stand freudig vom Stuhl auf und eilte auf Boduril zu, der sich vom Boden aufrappelte und Grashalme von seiner Rüstung abklopfte. Dieser junge Wesir überragte bei der Umarmung den Feldmarschall um mindestens zwei Köpfe.

Tia schien mit der Zeit immer größer zu werden, dachte Boduril und nahm seinen Helm, der ihm von einem Sklaven zurückgegeben wurde. »Außer Teig und Honig wird nicht viel drin sein. Und wenn sich herausstellt, dass dennoch etwas drin ist, was nicht hineingehört, wird der Honigkuchenhändler an die Hyänen verfüttert«, lächelte Boduril, um dann gleich wieder ernst zu werden. »Wann hörst du endlich auf, mich Onkel zu nennen? Sogar deine Kinder sagen schon Onkel zu mir.«

Tia schmunzelte mit seinem allseits gewinnenden Lächeln. Sogar härteste Feinde liefen Gefahr, dem erlegen zu sein. Aber Boduril ließ sich davon niemals täuschen, denn er kannte Tia bereits seit seiner Geburt. »Genau an dem Tag, an dem mein Vater aus seiner Gruft steigt und dich aus deiner Patenschaft entlässt.«

Als junger Offizier hatte Boduril Tias Vater, dem königlichen Schatzmeister Amunwahsu, einst das Leben vor Meuchelmördern gerettet. Amunwahsu hatte daraufhin Boduril, der damals noch als ganz gewöhnlicher Unteroffizier seinen Dienst schob, zum Bruder erklärt und ihm quasi im gleichen Atemzug den Karriereweg in Haremhabs Divisionen geebnet.

»Dann lassen wir deinen Vater lieber dort ruhen, wo er ist!«, antwortete Boduril. Endlich verspürte er ein bisschen Glück und genoss es sichtlich, wieder eine vertraute Person vor Augen zu haben und deren Kinder vor Freude quietschen zu hören.

»Wie geht es deinen alten Knochen?«, erkundigte sich der besorgte Tia und ließ den Gast erst gar nicht zu Wort kommen. »Du isst doch hoffentlich nicht mehr fettig und lässt dich doch regelmäßig vom Medikus untersuchen, oder? Was ist mit den Massagen und Heilbädern?«

»Ja, ja! Mache ich. Es ist alles gut! Komm du erst einmal in mein Alter. Die Zeit fliegt wie Wüstenstaub davon«, maulte der alte Feldmarschall. Fettiges Fleisch aß er immer noch für sein Leben gern und letztes Mal hatte er dem Leibarzt auf der Flucht die Elfenbeinkrücke hinterher geworfen. Boduril sollte husten und sich dabei von ihm an den Eiern begrapschen lassen. Bei der Musterung von Rekruten mochte das vielleicht noch verständlich sein. Aber nicht bei einem alten Feldmarschall.

»Sehr gut!« Wesir Tia befahl daraufhin den Sklaven, Liegen und Kissen zu bringen. Ein weiterer Sklave servierte Glaskelche mit Zitronenwasser und stellte den Krug zwischen den Liegen auf dem Beistelltisch ab.

Boduril setzte sich den Helm sofort wieder auf, um ihn bloß nicht zu vergessen, wie schon einige Male zuvor, und bequemte sich auf die Liege. Dann nahm er den Glaskelch. Zitronenwasser war das beste, was man in der Mittagshitze trinken konnte. »Wie geht es deiner Gemahlin?«

»Sie lässt es sich gerade im Harem gutgehen. Jetzt, wo die Damen alle in Pi-Ramesse sind, findet sie dort im Bad bei einer Massage angenehme Ruhe.«

Der Feldmarschall nickte verständnisvoll und sah sich um. »Als neuer Wesir für Unterägypten lässt es sich hier prächtig leben. Kein Wunder, wenn man dazu noch mit einer Schwester des Pharaos verheiratet ist.«

»Halbschwester! Aber du sprichst die Wahrheit!«, pflichtete Tia ihm bei. »Besonders ruhig lebt es sich hier, wenn der Pharao fern in Pi-Ramesse regiert und nur selten hier einen Besuch abstattet.«

»... und seine Mutter Tuja nicht dir, sondern ihrem Sohn auf die Datteln geht. Du kannst wirklich zufrieden sein, dass deine Gemahlin nur die Tochter einer von Sethos’ Nebenfrauen ist. Sonst würde sie dich ständig im Fell zwicken.« Boduril prostete Tia zu und genoss das kühle Zitronenwasser.

»Tja! So ist das mit den Schwiegermüttern. Das Glück lacht mich holde an, Nefertari dagegen nicht«, sprach Tia ernst.

»Ja! Solange sie nicht schwanger ist, wird Tuja stets ihre fetten Pranken nach ihr ausstrecken.« Boduril beobachtete Tias Kinder, wie lebendig sie im Schwimmteich tobten. »Wobei immer noch zwei zu einer Schwangerschaft gehören. Ich weiß, wovon ich rede«, fügte er vielsagend hinzu. Tia wusste genau, worauf Boduril anspielte. »Man hört ja allerlei, wie mies sie von Tuja behandelt wird«, fuhr Boduril fort. »Wäre Nefertari meine Tochter, ich hätte sie längst von Pi-Ramesse weggeholt.«

»Hättest du das in ein falsches Ohr gesagt, wärst du in Windeseile auf dem Pfahl gelandet«, tadelte Tia ihn und das durchaus nicht zu unrecht. »Denk immer daran, überall lauern Augen und Ohren, die gerne viel mehr erzählen, als sie in Wirklichkeit gesehen oder gehört haben. Was meinst du, warum wir draußen sitzen?«

»Pah! Darum schere ich mich nicht mehr. Ich bin zu alt und habe zu viel gesehen. Und ich fühle mich dem Reich und nicht dem Wohl des Pharao verpflichtet. Unter Haremhab war das …« »In deiner Jugend war alles anders! Aber nicht besser«, unterbrach Tia ihn milde. »Allerdings ist Haremhab schon sehr lange bei den Göttern. Der alte Pharao war damals dein General, bevor er Pharao wurde. Unter ihm warst du wie das Lamm unter dem Stab des Hirten. Er hat dir vieles durchgehen lassen. Deshalb fühltest du dich von ihm gut verstanden.«

»Mag ja alles sein! Aber er hatte das Militär zur Blüte zurückgebracht, genau so, wie es unter Thutmosis dem Großen schon war. Davon zehren jetzt die Ramessiden. Außerdem hatte er nicht ständig getönt, was für ein toller Gott auf Erden er war. Ich glaube, er hat sich nie für einen Gott gehalten. So hatte er mir gegenüber einmal den Eindruck gemacht. Darüber hinaus hörte er immer auf die Meinung seiner Generäle und darum ging kein Krieg, nicht einmal eine Schlacht verloren.« Boduril konnte seinen Unmut kaum verbergen und trauerte den längst vergangenen glorreichen Zeiten nach.

Tia blickte den alten Feldmarschall forsch an. »Bist du sicher, dass du nie eine einzige Schlacht verloren hast? Manchmal verdrängt man seine Erinnerungen, besonders dann, wenn sie schmerzhaft in einem nagen.«

Boduril plagte auf einmal Sodbrennen. Er war sich nicht sicher, ob es am Zitronenwasser lag oder an dieser alten Wunde, in die Tia gerade seine Finger legte. »Lassen wir das! Ich bin hier, weil ich deine Hilfe benötige.«

»Schieß los, Onkel! Ich helfe, wie es mir meine Stellung als Wesir von Unterägypten erlaubt«, sagte er listig, um gleich die Erwartung zu dämpfen.

»Ich brauche deine Hilfe in der Funktion des Wesirs und des Schatzmeisters, um mehr junge Männer zum Kriegshandwerk zu begeistern. Du weißt selbst, wie leer die Schatzkammer durch Ramses’ Bauwerke geworden ist. Aber allein mit schlauen Sprüchen kann man heutzutage keinen mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Aus irgendeinem Grund scheint außerdem bei vielen der Reiz des Soldatentums abhandengekommen zu sein. Und auch das macht die Sache letztendlich teurer.«

»Dann nimm doch die Hungerflüchtlinge!«, schlug Tia arglos vor. »Dann wird es wieder billiger.«

»Genau daran habe ich schon gedacht. Dennoch brauche ich deine Hilfe. Die Hungerflüchtlinge müssen mit Nahrung gelockt und zu Kräften gefüttert werden. Doch die Festungsspeicher sind fast leer. Die drei Dutzend Säcke und die paar Ziegen reichen für die jetzigen Volksrekruten und die Ausbilder höchstens eine Woche. Für eine ganze Division reichen sie nicht einmal einen ganzen Tag.« Bodurils Sorgenfalten auf der Stirn prägten sich immer stärker aus. »Die nächsten Wochen bekomme ich knapp eintausend Adelsrekruten, die sich wegen ihrer reichen Eltern zum Glück selbst versorgen können. Ihnen mundet das Essen der Garnison sowieso nicht besonders.« In seiner Miene hellte sich ein Hoffnungsschimmer auf. »Du musst unbedingt mit dem Adel sprechen! Er muss uns noch mehr Getreide und Schlachttiere liefern! Schließlich sollen ja deren Söhne jene Rekruten befehligen, die ich noch unter den Hungerflüchtlingen anwerben muss.

»Das kannst du dir gleich abschminken, Onkel! Die Adligen tun erst einmal gar nichts mehr für Staat und Militär. Nicht, bevor Ramses zurückkehrt und erklärt, warum sein einfältiger Bruder einige ihrer Söhne den Krokodilen vorgeworfen hat. Das war ein großer, dummer Fehler von Neba. Ramses hätte Paser am Hof Rechtsprechen lassen sollen. Darum sollte es dich auch nicht wundern, weshalb die Vorräte in deiner Festung rasch zur Neige gehen. Wenn eure Speicher leer und alle Ziegen geschlachtet sind, wird es sehr unangenehm für dich werden.«

Entrüstet stemmte sich Boduril hoch. »Was erlauben sich diese Schweinepaviane? Auch Adlige haben Pflichten gegenüber dem Reich. Scheiß auf diese jungen Mistkerle, die Panethep ermordet haben. Sie haben verdient, dort zu sein, wo sie jetzt sind.«

Tia zuckte die Schultern. »Kann schon sein. Allerdings breitet sich die Wut des Adels wie ein Flächenbrand in ganz Ägypten aus. Besonders heikel ist aber die Tatsache, dass Panethep ein Schwager des Amun-Retap war. Es würde mich kaum überraschen, wenn der Hohepriester des Amuntempels einen Ausgleich vom Adel erwartet. Die verlangte Spende dürfte ziemlich hoch ausfallen, was einer weiteren Finanzierung des Militärs zuwider laufen könnte. Eine verzwickte Lage, wenn man finanziell von der Oberschicht abhängig ist.«

Boduril starrte resigniert zum Schwimmteich. Jetzt konnten nicht einmal Tias quicklebendige Kinder seine Stimmung heben. »Also nichts vom Adel, vom Tempel sowieso nicht und die Staatskasse ist wie immer blank.«

»Nicht den Kopf hängen lassen, Onkel! Ich habe vielleicht einen Ausweg für all unsere Sorgen«, tröstete Tia den alten Feldmarschall. »Ich habe jemanden beauftragt, uns zu helfen. Du wirst dann genug haben, um eine ganze Division aus dem Boden zu stampfen und wirst ausreichend Getreide kaufen können, um sie zehn Jahre lang zu füttern.«

Boduril wurde hellhörig. »Was hast du vor, Tia? Willst du den Amuntempel in Theben stürmen?«

»Lass dich überraschen, lieber Onkel!« Tia füllte Zitronenwasser nach und stieß mit dem alten Feldmarschall an. Gerne hätte Boduril Genaueres erfahren, woher Tia all das notwendige Gold heranschaffen wollte. Aber vielleicht war es das Beste, nicht immer alles wissen zu wollen. Bevor er aufbrach, schaute der alte Feldmarschall ein letztes Mal mit Wehmut zu den Kindern im Teich. Gerne hätte er wenigstens einen Sohn gehabt. Aber es war ihm von den Göttern nicht vergönnt. Dennoch kehrte ein wenig Zuversicht zurück, denn für das Problem mit dem Aufbau einer ganzen Division bahnte sich eine Lösung an.

Die Barmherzigkeit eines Söldners

Ohne Zweifel dürfte der Schatzmeister und neue Wesir Unterägyptens Tia den Medjaiorden reich belohnen, vermutete Muntaris. Den Löwenanteil der Belohnung aber, genau wie beim Handel mit Tesalis zuvor, den der Söldnerhauptmann eingefädelt hatte, würden sich die Paten des Ordensrates erneut unter die Nägel reißen. Darauf konnte Muntaris seine stinkenden Füße verwetten. Allein deshalb suchte er stets nach Gelegenheiten, heimlich etwas beiseite zu schaffen, damit er bloß nicht bis ins hohe Alter seinen Hals für andere hinhalten musste. Und jetzt roch es nach einer verdammt guten Gelegenheit. »Erschlagt sie nicht! Nur einige wenige, falls es nicht anders geht. Vor allem verschont mir Frauen und Kinder. Habt ihr verstanden? Den Ruf als Frauen- und Kindermörder kann ich nicht gebrauchen.«

Die vier Kommandeure nickten mehr oder weniger einsichtig und machten sich rasch zu ihren Truppenteilen auf. Muntaris hielt sich die Hand über seine Augen. Die Mittagssonne blendete ihn stark, als er sich kurz vor dem Angriff auf seinem schwarzen Hengst noch einmal einen letzten Überblick verschaffen wollte. Seine Medjaisöldner gingen alle in Angriffsstellung. Mehr als fünfhundert Kämpfer, allesamt mit Speeren und Kurzschwertern bewaffnet, ausgerüstet mit Schilden, Helmen sowie mit hochwertigen Schuppenrüstungen, die ansonsten nur ägyptischen Offizieren oder den Streitwagenbesatzungen vorbehalten waren. Weniger Männer hätten für diesen Einsatz dicke ausgereicht, wusste es Muntaris besser. Denn groß war die Oase Oharat beileibe nicht. Sie lag in einer Senke von Sandhügeln umgeben. Ein großer See in der Mitte versorgte die Idylle, welche nicht ganz so abgeschieden wie andere Oasen war. Man benötigte einen guten Tagesmarsch an den drei großen Pyramiden vorbei bis zu den Stadtmauern von Memphis. Muntaris’ Informationen zufolge dürften nicht mehr als sechshundert Bewohner in Oharat leben. Davon waren höchstens einhundertfünfzig Männer im wehrfähigen Alter.

Der Söldnerhauptmann kratzte sich an seiner langen Narbe auf der Wange. Diese juckte besonders schlimm, wenn die Hitze auf ihr brannte und sich Schweiß in der Vertiefung sammelte und darin herunterlief. Ungern erinnerte sich Muntaris an die alte Geschichte, wie er sich diese scheußliche und damals grottenschlecht vernähte Narbe eingehandelt hatte. Einen Kaufmann in der kuschitischen Kleinstadt Buhen, unweit der nubischen Grenze und nördlich von Meha, sollte der Söldnerhauptmann vor vielen Jahren aus dem Weg räumen. Den Auftrag hatte er vom geheimen Ordensrat der Medjai höchstpersönlich erhalten. Mit detaillierten Hintergründen hielt sich dieser für gewöhnlich zurück. Als Untergebener des Ordens musste er einfach dessen Befehle ausführen. Dennoch war für Muntaris klar gewesen, es ging entweder um eine unbezahlte Auftragsrechnung, Betrug oder Verrat.

Jedenfalls hatte sich Muntaris eines Nachts zur Zeit des Frühjahrsmarktes in das Zelt des Kaufmanns geschlichen. Im Schlaf durchschnitt er dann kurzerhand die Kehle des Todgeweihten. Der Auftrag war somit ohne viel Aufwand erfolgreich abgeschlossen. Leider hatte Muntaris im Zelt die Gemahlin des toten Kaufmanns übersehen, ein tölpelhaftes und nicht mehr rückgängig zu machendes Missgeschick ohnegleichen. Als er zur Aufbesserung seiner Altersversorgung die Truhen des Kaufmanns nach wertvollen Gegenständen durchwühlte, hatte sie ihm hinterrücks ein scharfes Messer durch das Gesicht gezogen. Von der Stirn, über die Wange, bis hin zum Unterkiefer verlief die blutige Wunde. Bevor sie aber ein weiteres Mal das Messer gegen ihn richten konnte, hatte er sie weggestoßen. Während sie hysterisch schreiend auf dem Boden lag und somit die Kaufleute in den Nachbarzelten weckte, stürzte er blutüberströmt aus dem Zelt und ritt in der Dunkelheit davon.

Nach einiger Zeit hatte er weiter nördlich einen Außenposten der Medjai erreicht, ein entlegenes, baufälliges Haus mit Holzturm an der Seite und einem kleinen Steg zum Nil. Fünf Medjai und ein Barbier, der zusätzlich für Kochen und Heilkunde zuständig war, hausten dort auf engstem Raum und soffen gegen die alltägliche Langeweile an. Der Schnitt war lang und tief, das hatte Muntaris gespürt. Die Wunde musste schnell und sachkundig versorgt werden, andernfalls würde er an Wundbrand sterben. Im Stützpunkt wurde ihm schwarz vor Augen und er konnte nur mit letzter Kraft gegen die Ohnmacht ankämpfen. Darum gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder sich von einem betrunkenen Barbier zunähen lassen oder auf halbem Wege nach Theben verrecken. Zudem hatte der Barbier ja behauptet, öfters Wunden genäht zu haben. Also stand es außer Frage, welchem Schicksal sich Muntaris zu beugen hatte. Lieber griff man in stürmischer See nach einer morschen Planke, als in den Untiefen zu versinken.

Mit schmutzigen, zitternden Händen hatte der Barbier seine Arbeit begonnen und nähte die klaffenden Wundränder grob zusammen. Muntaris konnte es damals vor Schmerzen kaum aushalten und hatte sich fast die Zunge abgebissen. Anschließend träufelte der Barbier mit einem Schwamm Essig auf die Wundnaht. Das brannte höllisch. Muntaris hatte sich damals zu spät daran erinnert, dass man Wunden zuerst mit Essig säuberte und dann vernähte, aber nicht umgekehrt. Warum der Barbier zum Nähen kein Pferdeschweifhaar, sondern stattdessen dickere Papyrusfaser verwendet hatte, erschloss sich dem schwerverletzten Medjaihauptmann bis heute genauso wenig. Er war damals zu schwach gewesen und sein Leben tänzelte auf Messers Schneide. Tatsächlich ging es Muntaris am nächsten Tag besser und er verließ den Außenposten im Morgengrauen, während der Barbier und die anderen Medjai volltrunken schnarchten.