Thriller
Aus dem Englischen
von
Barbara Ostrop
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Februar 2022
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
© 2020 by Sakura Express, Ltd.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel:
The Nemesis Manifesto (Forge)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München (Himmel, Hubschrauber);
Alamy Stock Photo/ © Daniel Lange (Gebäude); © Stephen Mulcahey / arcangel images (Frau)
E-Book Konvertierung powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-8437-2562-0
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Oktober
»Ich bin anderer Meinung.«
»Natürlich.«
General Boyko betrachtete Gorgonov skeptisch. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Rothirsch zu, der mit bebenden Flanken einen letzten Moment verharrte, um gleich von der Lichtung in den dichten Kiefernwald zu flüchten. Boyko drückte mit dem Zeigefinger den Abzug der Saiga durch. Der Schuss erwischte den Hirsch von der Seite und schleuderte ihn einen halben Meter durch die Luft. Die Augen des Tiers verdrehten sich, und seine Hinterläufe zuckten, als wollte er sich mit einem letzten Sprung retten. Blut spritzte auf den jungfräulichen Schnee.
»Du bist immer anderer Meinung als ich«, fuhr der General fort, während sie beide hinter der Deckung hervorkamen.
Gorgonov betrachtete die Waffe des Generals; es sah Boyko ähnlich, ein Jagdflintenmodell zu verwenden, das auf einer Kalaschnikow basierte. »Aber doch nicht immer.«
Die beiden alten Schulfreunde, jeder mit einer komplizierten Vergangenheit, traten aus dem Schutz der Kiefern hervor auf die von Blut befleckte Lichtung.
»Über diese Agentin kann es keine Meinungsverschiedenheiten geben«, erklärte Boyko, ohne die Antwort seines Freundes zu beachten.
»Na ja.« Gorgonov zuckte mit den Schultern.
Boyko blieb unvermittelt stehen und wandte sich seinem Freund zu. »Anton Recidivich, diese Frau stellt seit vielen Jahren eine gefährliche Bedrohung für die Föderation dar. Sie hat uns bei jeder Gelegenheit einen Strich durch die Rechnung gemacht und so viele von unseren Agenten ausradiert, dass es sich kaum mehr zählen lässt. Sicher, es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich glauben konnte, dass eine Agentin, eine Frau, so erfolgreich sein kann. Anfangs dachte ich sogar, es gäbe sie gar nicht, das sei nur amerikanische dezinformatsiya. Aber das war absurd; nicht einmal die Amerikaner sind so blöd. Dann glaubte ich, sie wäre die Tarnidentität für einen Killer, der im Geheimen operiert. Aber als ich mit eigenen Augen gesehen habe, welches Gemetzel sie am Rand von Sankt Petersburg angerichtet hat, war ich von ihrer Existenz überzeugt. Also: Wie könnte das Ziel, sie umgehend zu eliminieren, zwischen uns zur Diskussion stehen?«
»Zum einen gehörst du zum GRU und ich zum SVR«, erwiderte Gorgonov. »Unser Modus Operandi unterscheidet sich.« Er stapfte durch den Schnee zu dem Rothirsch, der reglos auf der Seite lag. Seine Augen waren glasig. Gorgonov starrte in diese Augen, als versuchte er, das Mysterium des Todes zu ergründen. »Und zum anderen habe ich eine bessere Idee.«
Der General stieß ein bellendes Lachen aus. »Das behauptest du immer.« Er war ein kleiner, untersetzter Mann, o-beinig und mit mächtigem Brustkorb. Mit seiner gerissenen Art und seiner Körperkraft hatte er es mühelos geschafft, seine Kameraden in der Schule und an der Universität zu unterjochen. Sein kantiges Gesicht wies die kraterähnlichen Spuren einer in der Jugend durchlittenen Akne auf. Vielleicht war das der Grund, aus dem er einen mächtigen, an Stalin erinnernden Schnauzbart trug. Sein silbergraues Haar war auf die altbewährte militärische Weise stoppelkurz geschnitten. Seine Ohren waren äffisch klein und saßen merkwürdig tief am Schädel. Seine Augen waren schwarz, von dicken Brauen überwölbt und gaben nichts preis.
»Ich habe immer recht.« Im Gegensatz zu Boyko war Gorgonov in der Schule ein Fechter gewesen – Degen und Säbel –, und ein verdammt guter. Er war über einen Kopf größer als Boyko und wesentlich schlanker. Um sich als Fechter auszuzeichnen, brauchte man die gleichen Eigenschaften wie ein eleganter Tänzer: Beweglichkeit, Gewandtheit, Tempo und Gleichgewicht. Jeden Tag stand Gorgonov pünktlich um fünf Uhr früh für eine Stunde Tai-Chi auf, dann folgte eine Stunde Qigong. »Und in diesem Fall, mein lieber Yuri Fyodorovich, gilt das ganz besonders. Als Mann des Militärs hast du gelernt, linear zu denken. Warum sonst würdest du weiterhin dieselben Nicknames – APT 28 und Fancy Bear – für deine Hackeridentitäten verwenden? Jeder weiß, dass der GRU dahintersteckt.«
»Nein.« Gorgonov klopfte eine türkische Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und sog einen Zug tief in die Lunge ein. Der Rauch schoss zu seinen Nasenlöchern hinaus und vernebelte kurz die Sicht auf den geschossenen Hirsch. »Ich habe lang und angestrengt über die Frage nachgedacht, Yuri. Diese Person erfordert eine andere Herangehensweise.«
»Welche Möglichkeit besteht denn noch, außer sie zu eliminieren?«, fragte Boyko gereizt.
»Mein lieber alter Freund, versuche, die Situation einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.«
Der General vollführte mit der Hand eine heftige Bewegung, als durchschnitte er die Luft. »Sie stellt schon zu lange eine Gefahr für uns dar.«
»Aber was, wenn sie keine Gefahr mehr wäre? Was, wenn sie zu einem unschätzbar wertvollen Werkzeug würde?«
Boyko zog finster die Augenbrauen zusammen. »Ist das Tabak, was du da rauchst, oder eine amerikanische psychedelische Droge?«
Nun war Gorgonov mit Lachen an der Reihe. »Ich stehe mit beiden Beinen fest auf dem Boden, das kann ich dir versichern.«
»Wovon redest du dann, zum Teufel?«
»Du erinnerst dich doch an Lyudmila Alexeyevna Shokova.«
Knurrend antwortete Boyko: »Diese Verräterin von …«
»Komm schon, Yuri, was auch immer Shokova war oder nicht war, spielt hier keine Rolle.«
»Da bin ich vollkommen anderer Meinung. Sie war eine der beiden einzigen weiblichen Apparatschiks im Politbüro. Aber sie hat eine unglaubliche Machtfülle angehäuft. Tatsächlich war das beispiellos. Auf jeder Hierarchieebene hat sie ihre Befugnisse überschritten. Und dann flog ihre Freundschaft mit dieser amerikanischen Agentin Evan Ryder auf.«
Seine Stoeger-3 000-Selbstladeflinte in die Armbeuge geklemmt, warf Gorgonov Boyko einen durchdringenden Blick zu. »Tja, nun ist Shokova weg – nach allem, was meine Netzwerke sagen, hat sie sich praktisch in Luft aufgelöst. Vielleicht ist sie sogar tot, aber egal. Was mich dagegen weiterhin interessiert, ist Shokovas enge Freundschaft mit Evan Ryder.«
Die Hand des Generals schoss nach vorn. Er nahm Gorgonov die Zigarette weg, hielt sie sich unter die Nase und schnüffelte an ihrer Aschespitze. »Wieso?«, fragte er. »Wie du gerade erläutert hast, ist diese bedauerliche Shokova-Episode aus und vorbei.«
Gorgonovs Gelächter hallte durch den Wald. »Siehst du, nichts als Tabak.« Er tat die Unterstellung des Generals, er könnte high sein, mit einer Handbewegung ab. »Aber die Sache ist ja die: Wir können vermuten, dass Shokova und Evan Ryder viele Geheimnisse miteinander geteilt haben.«
»Und was soll uns das jetzt nützen?«
»Dieses Wissen macht Evan Ryder zu einer noch größeren Gefahr. Wer weiß, wie viel Shokova ihr über die gegenwärtigen und künftigen Pläne des Kremls berichtet hat.«
»Na gut. Dann eliminieren wir Ryder so schnell wie möglich.«
»So spricht ein wahrer Offizier«, knurrte Gorgonov. »Das haben schon einige versucht, alle ohne Erfolg.«
»Das, woran sie gescheitert sind, wird uns gelingen«, erklärte Boyko.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Gorgonov hob seinen schlanken Zeigefinger. »Aber was, wenn wir unsere eigene Shokova erschaffen würden – oder in diesem Fall, unseren eigenen Shokov?«
Boyko blinzelte, als hätte Gorgonov ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet. »Wovon sprichst du?«
Gorgonov blies sich in die frostkalten Hände. »Wir sollten in die Datscha zurückkehren. Ich lasse den Hirsch von meinen Leuten abhäuten und zerteilen.« Er grinste. »Zum Abendessen gibt es frisches Steak, blutig gebraten, genau wie du es magst. Und Wein direkt aus meinem Fasslager.«
Über ihnen kehrten die Vögel in die Baumwipfel zurück, von denen sie durch den Schuss erschreckt aufgeflogen waren. Schneeflocken fielen auf die Kiefern nieder, und die Zweige senkten sich unter ihrem Gewicht.
Ein düsteres, indigoblaues Dämmerlicht hatte sich herabgesenkt und dem eisblauen Nachmittag den Todesstoß versetzt.
Gorgonov und Boyko saßen zu Tisch, vor sich Servierplatten voll Hirschsteak, so blutig wie vom Gastgeber versprochen, Pelmeni – die Teigkrapfen mit der Hackfleischfüllung glänzten von geschmolzener Butter und dufteten nach Lorbeer –, ein Leib Pumpernickel und das allgegenwärtige Kohlgemüse in einer wässrigen Tomatensoße, die mit ihrer Namensvetterin im südlichen Italien nichts gemein hatte.
Die Männer bedienten sich und schaufelten sich riesige Portionen in den Mund wie damals, als sie gemeinsam studiert hatten. Obwohl sie inzwischen in den mittleren Jahren angekommen waren, hatte ihr Appetit noch nicht nachgelassen. Sie aßen überwiegend schweigend, und die einzigen Geräusche waren das Klappern von Besteck auf Porzellan und das Gluckern des Côte de Beaune, wenn er aus den beiden Karaffen in der Tischmitte in Wassergläser eingeschenkt wurde. Hin und wieder tauschten sie sich mit einem maschinengewehrähnlichen Wortschwall über ihre Ehefrauen und derzeitigen Geliebten aus oder über äußerst lukrative, schwarz abgewickelte Geschäfte.
Erst als sie den Hauptgang beendet hatten und neben Tellern mit Süßigkeiten, darunter die von Gorgonov innig geliebten Snickers-Riegel, weitere Weinflaschen auf dem Tisch standen, kehrte das Gespräch zu dem Thema zurück, das sie im Wald angeschnitten hatten.
»Na gut.« Die Hände über dem Bauch gefaltet, lehnte der General sich zurück. »Ich habe noch eine Stunde, bevor wieder die Pflicht ruft. Lass mich dein Märchen hören.« Sein Gesicht hatte einen blasierten Ausdruck, der Gorgonov gar nicht gefiel.
Gorgonov stand auf und schenkte sich konzentriert zwei Finger hoch Sliwowitz ein. Den Rücken zu Boyko gekehrt, leerte er das Glas halb. Dann streckte er die Hand aus und schob eine 8-Spur-Kassette in einen uralten Pioneer-H-R99-Kassettenspieler, schloss die Augen und lauschte, sich leicht zum Rhythmus wiegend, den ersten Takten von Fleetwood Macs »Go Your Own Way«. »Magst du diesen Song genauso gern wie ich?«
Boyko antwortete nicht.
Schließlich kehrte Gorgonov zum Tisch zurück und setzte sich seinem Gast gegenüber. »Die amerikanische Rockgruppe Fleetwood Mac war die Lieblingsgruppe der Shokova.«
»Interessant«, sagte Boyko in einem Tonfall, der klarmachte, dass ihn das absolut nicht interessierte.
»Ich habe ein bisschen recherchiert.« Gorgonov stellte einen Karton, der mit einem Stempel als Eigentum des SVR gekennzeichnet und mit dem russischen Äquivalent für streng vertraulich beschriftet war, auf den Tisch. Er klopfte auf den Deckel des Kartons. »Hier drinnen befindet sich alles, was ich in Shokovas Datscha eingesammelt habe. Nun, abgesehen von dem 8-Spur-Kassettenspieler und den Musikkassetten.«
»Schrott«, meinte der General geringschätzig.
Gorgonov machte sich nicht die Mühe, Boyko direkt zu antworten. »Einiges von dem, was ich gefunden habe, hat mich überrascht. Nicht diese Kassette; Shokova hat amerikanische Rockmusik geliebt. Aber wie sich bei der Durchsicht ihrer Papiere und Tagebücher zeigte, war sie anscheinend eine Frau von starken moralischen Grundsätzen.«
»In der heutigen Welt spielt Moral keine Rolle, und schon gar nicht hier in der Föderation.«
»Möglich«, erwiderte Gorgonov. »Aber das war nun mal Shokovas Haltung.«
»Dann wurde sie im falschen Staat und im falschen Jahrhundert geboren. Sie hat ihr Mutterland verraten.«
Ein gequältes Lächeln trat auf Gorgonovs Lippen. »Das stimmt.« Er holte eine Akte des SVR hervor, schlug sie auf und drehte sie um, damit Boyko das Foto sehen konnte, das auf der obersten Seite lag.
Mit gefurchter Stirn zog der General die Akte zu sich heran. »Wer ist das?«
»Mit das Wichtigste, was ich bei meiner Recherche erfahren habe, ist, dass Lyudmila Alexeyevna Shokova einen Bruder hatte, Arkady Illyich Shokov. Arkady und seine Frau kamen ums Leben, als ihre Kinder noch ganz klein waren.«
Boyko blickte auf. »Gewiss. Sie hatte eine Familie, genau wie du und ich. Und sie alle sind in der Akte des SVR versammelt.«
»Das sollte man meinen«, antwortete Gorgonov. »Aber so ist es nicht. Keines von Arkadys Kindern taucht in Shokovas SVR-Akte auf. Und sie fehlen auch in allen anderen Akten, in denen sie eine Rolle spielt.«
Boykos raupenähnliche Augenbrauen berührten sich fast. »Wie kann das sein? Da habt ihr offensichtlich versagt.«
»Hör mal, deine Leute besitzen nicht mal eine Akte über sie.« Gorgonov wollte nicht in diesem Stil weitermachen, obgleich er das durchaus hätte tun können; er hatte keine Lust auf einen weiteren Weitpinkelwettbewerb mit dem GRU. »Nein, General. Lyudmila Alexeyevna hat dafür gesorgt, dass alle Aufzeichnungen über diese Kinder aus den Unterlagen entfernt wurden. Da bin ich mir sicher.«
»Shokova hat sie versteckt?«
»Es hat den Anschein.«
Die Furche in Boykos Stirn wurde tiefer. »Aber warum?«
»Das wissen allein die Götter. Über die Tochter haben wir gar keine Informationen.« Gorgonov zuckte mit den Schultern. »Und Lyudmila Alexeyevnas Neffe Vasily Shokov ist tot. Ums Leben gekommen, als er sich einer Festnahme widersetzte.«
»Dann …?«
»Ah ja, hier siehst du Vasily Shokov. Allerdings meinen Vasily Shokov.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Boyko begriff. Gorgonov konnte beinahe sehen, wie ihm ein Licht aufging.
»Okay, dieser Mann gehört also zu deinen Leuten.«
Gorgonov nickte. »Peter Limas ist etwas ganz Besonderes.« Gorgonov nahm die Akte wieder an sich. »Er lebt im Westen und ist Unternehmer. Zusammen mit einem Partner führt er eine Firma für Cybersicherheit. Wenn das kein Ding ist.«
»Ein Unternehmer?« Boyko machte große Augen. »Ihr schickt einen Unternehmer los, um sich bei Evan Ryder einzuschmeicheln?«
»Wer wäre besser geeignet?«
»Zum Beispiel ein echter Spion.«
»Einen von uns würde Ryder auf hundert Meter Entfernung riechen – wie schon viele Male zuvor. Wie du selbst sagtest, wir haben sie immer wieder unterschätzt, einfach weil sie eine Frau ist. Wir konnten nicht glauben, dass der Schaden, den sie uns zugefügt hat, wirklich auf ihr Konto ging, wir hielten es einfach nicht für möglich, dass eine Frau so gerissen und gefährlich sein kann – ein Todesengel für unsere Agenten.« Er seufzte. »Nein, jemand, der den Geheimdienst nicht kennt, ist hier genau der Richtige für uns. Und das Beste ist, dass Limas bereits eingeschleust ist. Er hat eine Geschichte, die jeder Überprüfung standhalten wird.«
»Der Plan ist verrückt. Wie ich bereits vermutet hatte.« Mit erhobener Hand gebot Boyko seinem Freund, der bereits zu einer Entgegnung ansetzte, Einhalt. »Aber schön, sagen wir einmal, ihr macht mit diesem Plan weiter, und sagen wir auch noch, dass es eurem Mann gelingt, sich mit Ryder anzufreunden. Und dann?«
»Dann bleibt er ihr Freund – genauso, wie Lyudmila Alexeyevna ihre Freundin war. Er füttert Ryder mit Informationen, die ihre Handlungen beeinflussen, genauso, wie Lyudmila Alexeyevna es getan hat. Nur werden es diesmal unsere Informationen sein.«
»Dezinformatsiya.«
Gorgonov nickte. »Genau.«
Boyko ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen. »Go Your Own Way« endete, und »Songbird« begann. Gorgonov schaute den General an. Anscheinend würde Boyko das Gespräch nicht auf Brady Thompson bringen, den Elefanten im Raum, und Gorgonov würde das ebenfalls schön bleiben lassen.
Boyko schob seinen Stuhl zurück und ging zur Toilette. Sobald er sich eingeschlossen hatte, nahm er sein Handy heraus und schickte seinem Adjutanten eine Nachricht. Er gab einen Namen ein und tippte im Anschluss: SOFORT AUF DIE TODESLISTE SETZEN.
Er pinkelte lang und zufriedenstellend, wusch sich die Hände und kehrte an den Tisch zurück, wo Gorgonov ihn erwartete.
»Also«, sagte Boyko, nachdem er sich gesetzt hatte.
Gorgonov legte den Kopf schief. »Also was?«
»Wollen wir Evan Ryder jetzt also tot sehen oder nicht?«
»Komm mir hier nicht in die Quere«, erwiderte Gorgonov scharf.
Der General breitete die Hände aus, um zu zeigen, dass er nichts zu verbergen hatte. »Ich muss jetzt los.« Er stand auf. »Danke für deine Gastfreundschaft, Anton Recidivich.«
»Es war mir wie immer ein Vergnügen, General.« Gorgonov erhob sich ebenfalls. »Meine Leute haben das Hirschfleisch auf Eis gelegt und eingepackt. Es erwartet dich in deinem Wagen.«
»Und das Geweih«, warf Boyko ein. »Vergiss das Geweih nicht.«
»Ich vergesse nichts«, antwortete Gorgonov.
Während die Internet-Recherche-Agentur in Sankt Petersburg, die vom Souverän die Aufgabe erhalten hatte, sowohl Pro-Kreml-Propaganda als auch dezinformatsiya zu verbreiten, immer wieder ihre Büros wechselte, seit sie im Jahr 2015 durch einen Artikel im New York Times Magazine »aufgeflogen« war, war im Gegensatz dazu der Stützpunkt der Hackergruppen ACT 28 und Fancy Bear ein so gut gehütetes Geheimnis, dass abgesehen von einer speziellen Operationsgruppe im GRU nur der Souverän genau wusste, wo er sich befand. Selbst Gorgonov kannte diesen Ort nicht, was ihn aber zu Boykos beständiger Verärgerung nicht zu stören schien.
Boykos Einheit war in einer ehemaligen Synagoge untergebracht, die der GRU vor einigen Jahren »befreit« hatte. Von den ursprünglichen Nutzern des Gebäudes war nichts geblieben als die verblasste Erinnerung an einen Prozess wegen Hochverrats, der blitzschnell gekommen und gleich vorbei gewesen war. Von den Angeklagten, falls man dieses Wort verwenden durfte, wurde nie wieder etwas gehört. Es war, als hätten sie nie existiert. Nachforschungen ihrer Familienmitglieder erwiesen sich als fruchtlos und am Ende sogar als ein wenig gefährlich.
Das Gebäude lag am inneren Rand der Moskau umschließenden Ringstraße, am Westrand der Stadt in einer Gegend voller Gaswerke und Ölraffinerien. Die Luft war Tag und Nacht dunstig und verschmutzt. Oft war es, als rieselten schwarze Schneeflocken von den riesigen Fabrikschloten herab, die sich wie Reißzähne in den trüben Himmel bohrten. Auf dem Boden lag Asche und bedeckte die Schneereste, die sich hier und da noch zwischen kackbraunem Matsch in den verstopften Rinnsteinen häuften. Je weniger man über den Gestank sagte, desto besser.
Drinnen sah es jedoch ganz anders aus; dafür hatte Boyko gesorgt. Obgleich er durch und durch Soldat war, hatte der General es gern bequem. Als junger Rekrut hatte er bei den Einsätzen genug Unannehmlichkeiten erduldet. Unter seiner regen Anleitung hatte die vom Militär gestellte Renovierungsmannschaft das jüdische Gotteshaus gut gelaunt in eine sichere Zufluchtsstätte verwandelt, von der aus das handverlesene Team des Generals dezinformatsiya ins amerikanische Internet schmuggelte, die wesentlich raffinierter waren als alles, was die Jungs in Petersburg sich ausdachten. Sein eigenes Büro war zwar klein, genoss aber den Vorteil, den Raum einzunehmen, in dem die Juden ihre heiligen Schriftrollen aufbewahrt hatten. Es roch noch danach: eine angenehme Mischung aus Stoff, Alter, Papier und religiösem Staub, die nach Boykos Erfahrung so unverwechselbar war wie der Geruch von Bibliotheken, Zahnarztpraxen oder der Wohnung seiner Mutter.
Als er das Gebäude betrat, schüttelte er die feuchte graue Asche ab wie ein Hund, der aus dem Regen kommt, und schlüpfte aus seinem knöchellangen Wintermantel. Das nagende Gefühl von Unruhe, das ihn seit der Rückfahrt von Gorgonovs Datscha begleitet hatte, konnte er jedoch nicht loswerden.
Das Großraumbüro war in den gedämpften Schein indirekter Beleuchtung getaucht, und das konstante Brummen des Antiüberwachungs-Perimeterschutzes war wie das ferne Summen von Honigbienen. Was durchaus passte, da das Büro einem Bienenstock voll elektronischer Aktivität ähnelte. Vierundzwanzig Workstations, vierundzwanzig hochgetunte Laptops und vierundzwanzig junge Männer, die über das blau flackernde Licht ihrer Bildschirme gebeugt Software bearbeiteten, Netzbots programmierten, in den sozialen Netzwerken herumtrollten oder Fotos, GIFs und Kurzvideos mit Photoshop veränderten. Sie erschufen »Nachrichten« aus spinnwebzarten Strängen, so flüchtig wie ein Traum, aber glaubhaft für die wenigen Stunden, die nötig waren, um große Aufregung auszulösen, Brände zu stiften oder die Flammen einer Terrortat anzuheizen, bevor sie wie Seifenblasen zerplatzten. Doch das war nicht die einzige Aufgabe von Boykos Legion von Online-Provokateuren. Man nehme zum Beispiel Nemesis, seinen bedeutendsten Kunden. Dessen Projekte waren wichtiger als alle anderen; sie sollten nicht flüchtig sein, sondern lange nachhallen und die immer größer werdende Kluft in der amerikanischen Psyche noch vertiefen. Nemesis’ Mission war das Hauptgeschäft von Boyko, genau die dezinformatsiya, auf die der Souverän zählte und auf die Boyko spezialisiert war.
Sammy nahm dem General den Mantel ab und begleitete ihn in sein Büro, wo ihn an seinem Schreibtisch eine Kanne Kaffee und eine eiskalte Flasche Wodka erwarteten. Sammy war natürlich nicht der richtige Name des Mannes, der eigentlich Semyon hieß. Alle Männer, die hier arbeiteten, hatten englische Namen bekommen, die ihren russischen Namen grob entsprachen. Aus Timur wurde Timmy, aus Oleg Ollie, aus Pyotr Peter und so weiter. Diese Amerikanisierung hatte Boyko sich überlegt, damit die Männer auf ihr Zielpublikum konzentriert blieben. Er ließ täglich einen Stapel amerikanischer Zeitungen einfliegen; zwar waren diese auch online zugänglich, doch er wollte, dass seine Leute ein Gefühl dafür bekamen, die Papierausgaben in den Händen zu halten, mit allem Drum und Dran, mit Werbung, dem Leitartikel und den Fotos, die teilweise sonderbar und schlüpfrig waren. Amerika, dachte Boyko verächtlich, stolz darauf, zum Niedergang des Landes beizutragen.
»Setz dich, Sammy«, sagte er zu seinem Adjutanten. »Ich habe ein Problem, das gelöst werden muss.«
In diesem Augenblick vibrierte sein persönliches Handy. Ein Blick darauf zeigte ihm, dass man ihm das Symbol einer Uhr ohne Zeiger geschickt hatte. Er entschuldigte sich und verließ das Gebäude. Drinnen war jeder Quadratzentimeter elektronisch überwacht und gesichert. Er wechselte zu einem Wegwerfhandy und drückte auf die einzige Nummer, die in der Kontaktliste gespeichert war. Er hörte das Wählgeräusch und dann einen hohlen Klang in der Verbindung, der anzeigte, dass sie vor jeder Art von äußerer Einmischung geschützt war. Er vernahm die Stimme, hörte zu, sagte: »Betrachten Sie es als erledigt«, und drückte auf Auflegen. Dann nahm er die SIM-Karte aus dem Gerät und zertrat sie mit dem Absatz auf einem Stein.
Nach drinnen zurückgekehrt, ging er zu seinem Schreibtisch, wo Sammy ihn so geduldig erwartete wie ein treuer Hund seinen Herrn. Sammy, ein Mittzwanziger mit sandfarbenem Haar und wenig bemerkenswerten Gesichtszügen, aber einem bemerkenswerten Verstand, hatte im GRU den Rang eines Hauptmanns inne, auch wenn im Inneren des Gebäudes niemand mit seinem Rang angesprochen wurde. Der hoch aufgeschossene und etwas schlaksige junge Mann ließ sich Boyko gegenüber auf einem Stuhl nieder. Anders als seinem Chef war ihm unangenehm bewusst, dass er in dem Raum saß, in dem die Juden ihre heiligen Schriftrollen aufbewahrt hatten; bei diesem Gedanken juckte ihm immer der Schädel. Er wünschte inständig, der General hätte einen anderen Ort als Stützpunkt gewählt. Andererseits liebte er das Untergeschoss, das entkernt und zu einem Restaurant im amerikanischen Stil umgebaut worden war, in dem tagsüber Hotdogs, Hamburger, Fritten und dergleichen serviert wurden und abends Ribeye- und Porterhousesteaks, Folienkartoffeln, Rahmspinat und Caesar-Salat. Daneben lag ein Kino, in dem an drei Abenden pro Woche die neuesten Hollywoodstreifen liefen. Erscheinen war Pflicht, und öffentlich beschwerte sich keiner, aber insgeheim empfand Sammy nur Verachtung dafür, wie Hollywood sich ganz offensichtlich an den chinesischen Markt heranschmiss.
»Das Problem?«, fragte Sammy.
»Ist gelöst«, antwortete Boyko, der sich setzte. »Heute ist mir eine neue Idee gekommen. Ich habe sie im Kopf gedreht und gewendet, und jetzt wirst du sie mit deinem Team umsetzen.« Er schenkte sich einen Kaffee ein, versetzte ihn mit Wodka und trank einen großen Schluck. »Ab heute werden APT 28 und Fancy Bear eingemottet.« Ihm kam gar nicht der Gedanke, dass die Idee von Gorgonov stammte; in seiner Vorstellung war sie allein ihm selbst entsprungen.
Sammy blinzelte. »Chef?«
Boyko strahlte. »Schau nicht so verstört, Sammy. Ich löse die Einheit nicht auf. Ganz im Gegenteil.« Er beugte sich vor, die Ellbogen auf die Schreibtischplatte gestützt. »Aber mir ist klar geworden, dass wir beide Accounts schon länger einsetzen, als gut ist.«
»Ich dachte, es wäre uns ganz recht, dass man im Westen von uns weiß. Ich dachte, das verliehe uns – wie soll ich es ausdrücken – etwas Arrogantes.«
»So war es auch. Bis heute.« Boyko leerte seinen Kaffee mit Schuss. »Ab heute beginnen wir eine neue Phase in unserem Cyberkrieg gegen die Vereinigten Staaten. Unsere Initiative war ursprünglich dazu gedacht, alle Wahrheiten zu zersetzen und einen verwirrenden Schwarm alternativer Wahrheiten zu erzeugen, die bei Randgruppen Anklang finden würden. Die Leute glauben das, was ihren Vorurteilen am meisten entspricht. Dieses Ziel haben wir erreicht. Aber das war nur Phase eins. Ich möchte, dass all das ausgelöscht wird, als hätte es nie existiert. Wie steht es mit der neusten Generation von Bots?«
Sammy tätigte einen internen Anruf, redete leise ins Handy und hörte dann zu. »Sie sind mit den Tests beinahe durch«, berichtete er.
Diese Bots waren mit KI ausgestattet. Sie konnten Spamfilter, Captchas, Anti-Malware-Programme und dergleichen umgehen. »Ausgezeichnet«, erwiderte Boyko. »Bis wann sind sie einsatzbereit?«
Erneut telefonierte Sammy mit dem IT-Team. »In fünf Stunden, höchstens sechs.«
»Sag ihnen, dass sie drei Stunden haben und keine Sekunde länger. Sonst wird ihre Einheit umgehend gesäubert.« Der General sah auf die Uhr, während Sammy seinen Befehl per Telefon weitergab. »Bis heute um vierzehn Uhr möchte ich die Bots installiert sehen – eine ganze Armee«, fuhr er fort. »Sie sollen darauf programmiert werden, mehrere Millionen neue IP-Adressen zu generieren, von denen aus wir unsere dezinformatsiya in Umlauf bringen werden.«
Sammy nickte. »Jawohl, Chef. Und dann?«
»Dann nutzen wir den neuen Netzbot – nennen wir ihn Soul Searcher –, um Benjamin Butler anzugreifen«, antwortete General Boyko. »Du hast noch nie von ihm gehört, stimmt’s? Das gilt auch für neunundneunzig Prozent des GRU und des FSB. Doch tatsächlich führt er die geheimsten Operationen für das amerikanische Verteidigungsministerium durch – sehr intelligent, sehr fähig. Als Jude ist er außerdem auch verwundbar. Wir halten uns an das Motto der Schafe, die unsere Zielgruppe sind: »Dummheit ist Macht«, und hängen Butler faschistische und sozialistische Parolen an. Den Unterschied begreift unsere Zielgruppe ohnehin nicht. Wir doxen ihn als unmoralischen Menschen, Sicherheitsrisiko und geheimen Homosexuellen und beschuldigen ihn all dessen, was wir sonst noch in unserem Arsenal böswilliger Absichten haben.« Doxing war ein Terminus aus dem Internetbereich, er stand für eine Methode, durch Social Engineering schädliche Informationen – aufgedeckte Geheimnisse, oft auch Unwahrheiten – über eine Person in Umlauf zu bringen.
»Und warum nehmen wir gerade diesen Benjamin Butler aufs Korn? Er ist ein Jude, aber ist er auch Zionist?«
»Meines Wissens nicht, aber vielleicht lassen wir ihn auch als einen von dieser Bande dastehen!«, erwiderte Boyko heiter. »Wir erschaffen ein falsches Narrativ und verdrehen es zu einer Verschwörungstheorie; nichts liebt unser Zielpublikum mehr als Verschwörungstheorien – daran heften die Leute sich fest wie Pilotfische an Haie.« Boyko lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurück. Er handelte diametral entgegengesetzt zu Gorgonovs Wünschen, und darum ging es ihm gerade. »Der eigentliche Grund, aus dem wir ihn aufs Korn nehmen, ist jedoch, dass er gut mit Evan Ryder befreundet ist.« Gorgonovs Plan war jämmerlich. Boyko wollte Evan Ryder tot sehen. Punkt. »Er ist der Köder, den wir benutzen werden, um Ryder zu fangen und zu töten.«
Dezember
Zwei Raben