Olaf-Axel Burow

# Schule der Zukunft

Sieben Handlungsoptionen

mit E-Book inside

Prof. Dr. Olaf-Axel Burow lehrt Allgemeine Pädagogik an der Universität Kassel und ist Autor zahlreicher Fachbücher zu Pädagogik, Organisationsentwicklung und Kreativitätsforschung. Er berät Bildungseinrichtungen im In- und Ausland, aber auch DAX-Unternehmen in Change-Prozessen (www.olaf-axel-burow.de).

Für Christel, Sarah und Sophia

Inhalt

Einführung – Rückkehr zur Normalität?

Im Epochenbruch – ein persönlicher Rückblick in die Zukunft

II Sieben Handlungsoptionen für die Schule der Zukunft

Digitalisierung kreativ nutzen

Talente und Neigungen stärken

Neue Bildungsräume erschließen

Agile Schulkultur gestalten

Gesundheit, Glück und Resilienz sichern

Demokratie und Gerechtigkeit leben

Zukunftskompetenz fördern

III Das Ende der Normalität

Danksagung

Literatur

Einführung – Rückkehr zur Normalität?

»Die Menschen reden über eine Rückkehr zur Normalität,

aber ich glaube nicht, dass das möglich sein wird …

Ich halte es weder für möglich, noch für wünschenswert …

Denn die alte Normalität hat uns in diese missliche Lage gebracht.

Wir sollten die Pandemie als Pforte betrachten,

durch die wir zu etwas Besserem gelangen können.«

Frank Snowden (Shafy 2021, S. 3)

Gibt man auf »Google« den Suchbegriff »Rückkehr zur Normalität« ein, erhält man über eineinhalb Millionen Einträge, die überwiegend von der Vorstellung getragen sind, wir könnten nach Überwindung der Pandemie zu unserem »normalen« Leben zurückkehren. Doch weder wird das Virus verschwinden noch ist die »Rückkehr zur Normalität« möglich und wünschenswert, worauf der amerikanische Historiker Frank Snowden mit Recht verweist.

Schon vor Corona war schließlich klar, dass der Lebensstil der Menschen in den Industriestaaten nicht zukunftsfähig ist. So charakterisiert der Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Harald Lesch (2016) mit seiner Zusammenstellung der wissenschaftlichen Fakten die Richtung, in der wir uns bewegen, und bringt sie mit der Wahl eines pointierten Buchtitels auf den Punkt: »Die Menschheit schafft sich ab«. In der Tat stehen wir in fast allen Bereichen vor dramatischen Umbrüchen: Beginnend bei der Bewältigung des Klimawandels über die anstehende Zähmung unseres – die natürlichen Ressourcen überlastenden – Wirtschaftssystems, die Überwindung des wachsenden Gegensatzes von Arm und Reich, die Fragen zu Migration und demografischem Wandel, die Stärkung unserer Demokratie und die Verringerung der atomaren Bedrohung durch die Entwicklung wirksamer Verfahren der Konfliktlösung gibt es eine Vielzahl von bislang ungelösten Herausforderungen, die uns zwingen, Abstand von der »alten Normalität« zu nehmen. Und dies betrifft – wie ich zeigen werde – besonders auch die Schule.

In kaum zu überbietender Dramatik offenbarte die Corona-Krise den Modernisierungsrückstand unseres Schulsystems – denn wie kann es sein, dass dieses Virus genügt, um es weitgehend außer Funktion zu setzen und dabei die zu lange hingenommenen Mängel sichtbar zu machen? »Nicht ein Virus ist schuld«, urteilt auch der Leiter der Deutschen Schulakademie Hans Anand Pant (2020), sondern ein »tiefgreifender und lange zurückreichender Innovationsstau im deutschen Schulsystem«. Wie ich – auch in Nachzeichnung meiner eigenen Erfahrungen als Schüler, Lehrer, Hochschullehrer und Schulentwickler – im ersten Teil des Buches zeigen werde, entstand die Notwendigkeit zu einer Neuerfindung von Schule und Unterricht nicht erst seit Corona, sondern schon sehr viel früher: In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts – dem Beginn des Anthropozäns, jener geochronologischen Epoche, in der der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse geworden ist.

In Teil I, meinem »persönlichen Rückblick in die Zukunft«, skizziere ich, wie ich diesen Epochenbruch, der lange Zeit unbemerkt im Hintergrund ablief, zunächst aus der Perspektive als Schüler an einer Berliner Grundschule erfahren habe und wie mich in den folgenden Jahren die rasante technologisch-kulturelle Umwälzung, insbesondere auch die Digitalisierung, zur Überzeugung geführt hat, dass eine Reform von einzelnen Elementen nicht erfolgversprechend ist, sondern dass wir Schule, Unterricht und die Organisation von Bildung, ja sogar unser Vokabular insgesamt neu erfinden müssen, um Schule aus ihrem Dornröschenschlaf wachzuküssen: Begriffe wie »Schule«, »Unterricht«, »Lehrkräfte« etc. fixieren unseren Blick auf überholte Formate des letzten Jahrhunderts. Ihre Fortschreibung als Teil einer »Normalität« von Schule wird der neuen Wirklichkeit nicht oder nur unzureichend gerecht. Mit der Songzeile »We don’t need no education« hat Roger Waters von Pink Floyd schon vor Jahren (1979) öffentlichkeitswirksam der Ahnung Ausdruck gegeben, dass es längst anstand, neue Organisationsstrukturen sowie zeitgemäße Bildungs- und Erziehungsformate zu entwickeln. Bei dieser Forderung handelt es sich – wie ich zeigen werde – nicht um eine reine Utopie, denn nie gab es eine Zeit, in der wir über ein solches Ausmaß an wissenschaftlich fundierten Konzepten und technologischen Ressourcen verfügten, mit denen wir Lehr-/Lernumgebungen und -formate so gestalten können, dass Räume für faszinierende Lernerfahrungen und umfassende Potenzialentwicklung geschaffen werden können.

Meine Nachzeichnung wesentlicher Entwicklungsetappen lässt sich auf die Formel bringen: »Innovation is the biggest enemy for change«. Zu viele der Reformversuche, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder unternommen wurden, waren – wie sich heute zeigt – von Beginn an zum Scheitern verurteilt, weil sie halbherzig und zu zaghaft angegangen wurden; auch weil wechselnde politische Mehrheiten und Rücksichtnahmen auf kampagnenstarke Interessengruppen einen klaren Kurs verhinderten.

Was wir aber in der Gesellschaft insgesamt und im Schulbereich im Besonderen brauchen, ist nichts weniger als eine Revolution, das heißt einen grundlegenden und nachhaltig strukturellen Wandel, der zusammen mit der anstehenden Bewältigung des Klimawandels schnell erfolgen muss. Ja, Schule kann durch die Entwicklung und Umsetzung neuer Bildungs- und Organisationsformate sowie entsprechender Inhalte zu einem wichtigen Faktor der anstehenden »großen Transformation« werden: Ohne eine radikal veränderte Bildungslandschaft wird es nicht gelingen, das Nullemissionsziel – wie von der Politik gesetzt – bis spätestens 2050 zu erreichen. Die Einlösung dieses ambitionierten Ziels innerhalb von knapp drei Jahrzehnten setzt nicht nur den Abschied von unseren gewohnten Lebens- und Konsumstilen voraus, sondern benötigt auch entsprechende Denkmodelle, Haltungen und Fähigkeiten. Unser traditionelles Modell des Schulveranstaltens ist angesichts eines solchen epochalen Umbruchs längst an seine Grenzen gekommen und bereitet Heranwachsende nur unzureichend für das Leben in einer Welt wachsender Herausforderungen vor. Um die junge Generation wirkungsvoll darin zu unterstützen, mit Unsicherheit und Komplexität proaktiv umzugehen, und sie zu befähigen, in ihrem Bereich Zukunft aktiv zu gestalten, benötigen wir Schulen, die zu faszinierenden Orten begeisternden Lehrens, Lernens, Forschens und Begegnens werden. Nicht »Rückkehr zur Normalität« ist hier gefragt, sondern eine Neuerfindung von Schule, die junge Menschen befähigt, einen Beitrag zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Welt zu leisten.

Bei der anstehenden Neuerfindung der Schule, der Entwicklung neuer Konzepte, Formate, Begriffe und Organisationsformen können wir auch auf eine lange Geschichte von pragmatisch-visionären Pädagog*innen zurückgreifen, die sich weder durch ungünstige Rahmenbedingungen noch durch Widerstände davon abhalten ließen, als Pionier*innen Neuland zu erkunden. Stellvertretend für die mittlerweile vielen Schulkollegien, die den Aufbruch erfolgreich unternommen haben, beschreibe ich deshalb – als Abschluss des ersten Teils des Buches – exemplarisch einen solchen gelungenen, mehrjährigen Prozess der Neuerfindung von Schule anhand der Alemannen-Schule Wutöschingen, die für ihr wegweisendes Konzept mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Sie steht exemplarisch für viele andere Reformschulen, die sich auf unterschiedliche Weise aufgemacht haben, Neuland zu betreten. Wenn ich die Vielzahl dieser originellen und kreativen Versuche des Neugestaltens von Schule und Unterricht hier nur sehr eingeschränkt berücksichtigen kann, haben die Leser*innen doch die Möglichkeit, Expeditionen in mögliche Zukünfte von Schule und Unterricht über das Deutsche Schulportal (www.deutsches-schulportal.de) vorzunehmen.

Der Nachvollzug des gelungenen Schulentwicklungsprozesses der Alemannen-Schule macht – so hoffe ich – exemplarisch Möglichkeitsräume konkret sichtbar und soll zu eigenen Aus- und Aufbrüchen motivieren. Hier zeigt sich: Auch unter bestehenden Rahmenbedingungen gibt es erstaunlich viele, bislang ungenutzte Spielräume, die engagierte Schulkollegien in den letzten Jahren genutzt und erweitert haben. Wie bei jedem Versuch der Neuerfindung gab es neben vielversprechenden Aufbrüchen auch Fehlschläge. Nur wenn wir wissen, woher wir kommen, welche Versuche, Umwege und bisweilen auch Irrwege hinter uns liegen, und uns vor allem auch mit gelungenen Neugestaltungen auseinandersetzen, sind wir in der Lage, Erkundungen möglicher Zukünfte vorzunehmen, die nicht in überholten Modellen hängenbleiben und untaugliche Lösungsversuche verfestigen.

Leser*innen, die weniger an einer Aufarbeitung des persönlichen und zeitgeschichtlichen Hintergrunds interessiert sind, sondern gleich erfahren möchten, welche Gründe für die von mir behauptete Notwendigkeit eine Neuerfindung der Schule sprechen und die darüber hinaus Anregungen für entsprechende Umsetzungsvorhaben erhalten möchten, können Teil I überspringen und gleich mit Teil II beginnen. Hier analysiere ich Zukunftstrends und liefere mit meinen sieben Begründungen – quasi im Sinne von »Leitplanken« – Orientierungen für den Um- oder besser noch Neubau von Bildung und Schule. Über die Anregungen hinaus beinhalten diese Begründungen Materialien, Werkzeuge und Literaturverweise, die Projekte des Neuentwurfs unterstützen. Auch wenn sich – wie ich zu Beginn mit einem Bonmot des norwegischen Schulentwicklers Per Dalin bemerken werde – Schulen langsamer als Kirchen verändern, hoffe ich doch, dass diese These, die auf den amerikanischen Pädagogen Richard Gross (1991, »Schools change slower than churches«) zurückgeht, schon bald der Vergangenheit angehört. Schließlich sollen meine Ausführungen dazu beitragen, dass Neugestalter*innen ermutigt und die unter der Stagnation zu vieler Schulen leidenden Personen, seien es Schulleitungen, Lehrkräfte, Lernende, Erziehungsberechtigte und Eltern, aufhören, behindernde Zustände hinzunehmen. Stattdessen möchte ich sie mit meinen Argumenten und Beispielen motivieren, diese zu überwinden, indem sie sich proaktiv in Zukunftsgestalter*innen, »Future Designer« verwandeln. Eine Herausforderung, vor der wir alle – gleich in welchen Bereichen – immer häufiger stehen. Doch der Neugestaltung der Schule kommt beim Umbau unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, bei der Verarbeitung und Umsetzung unseres rasant sich entwickelnden Wissens und nicht zuletzt bei der Entwicklung zukunftsfähiger Lebens- und Verhaltensstile eine besondere Bedeutung zu: »Designing for a better world starts at school« – so lautet die wegweisende Formel der niederländischen Architektin und Schulreformerin Rosan Bosch (2018), die nicht nur begründet, warum wir die Schule – angesichts der vielfältigen Herausforderungen – neu erfinden müssen, sondern mit ihrem pädagogischen Konzept und ihren innovativen Schulbauten auch vielversprechende Perspektiven zur Umsetzung im Sinne einer zukunftsorientierten »Positiven Pädagogik« eröffnet. Die Chance, daran mitwirken zu können, sollten wir nicht versäumen.

IIm Epochenbruch – ein persönlicher Rückblick in die Zukunft

Was ist schon in Zeiten rasanten Wandels und wachsender Ungewissheit »normal«? Meine Geburt an einem Donnerstag im Juli des Jahres 1951 – wenn man den Auskünften meiner Mutter glauben darf – war es jedenfalls nicht: Vor einem Publikum angehender Mediziner demonstrierte ein Professor seinen Studiosi, wie eine normabweichende Geburt bewältigt werden konnte: Offenbar lag ich von Beginn an quer.

»Schulen wandeln sich langsamer als Kirchen«

Mein Glück war nur, dass ich bei meinem Schuleintritt auf eine verständnisvolle Grundschullehrerin traf, die meine fortwährende Normabweichung – ich störte permanent den Unterricht, weil er mich langweilte – in der Kopfnote meines Zeugnisses der dritten Klasse nicht mit einem Tadel versah, sondern ganz im Gegenteil verständnisvoll und positiv bewertete: »Olaf ist ein mitteilungsbedürftiges Kind«.

Frau Hülsdell – nicht von ungefähr weiß ich noch ihren Namen – verfügte offenbar über jene Qualitäten, die ich viele Jahre später als Kennzeichen der »Positiven Pädagogik« (Burow 2011/2021) beschreiben sollte, einer Pädagogik, die auf Lernfreude, Wohlbefinden und Spitzenleistung abzielt. Leider sollte sich diese aufgeschlossene Lehrkraft auf meinem weiteren Schulweg als Ausnahme erweisen. »Buele, buele, komm nach vorn, krisch zwoa Tatzen« begrüßte mich Herr Erdmann in breitestem und für mich schwer verständlichem Schwäbisch. Er war der Rektor einer baden-württembergischen Grundschule, an die ich nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 und der sich kurz darauf anschließenden Flucht meiner Eltern aus dem eingemauerten Berlin gewechselt war. Eben noch hatte ich John F. Kennedys mitreißende Rede verfolgen können, die in dem – mit amerikanischem Akzent gesprochenen – Satz »Ick bin een Beliner« gipfelte, jetzt aber hatte es mich als auf seine Geburtsstadt stolzen »Berliner Pimpf« in die Provinz verschlagen, wo ich den rustikalen pädagogischen Bemühungen meines Grundschulrektors ausgeliefert war. Mein Mitteilungsbedürfnis kam hier weniger gut an: Herr Erdmann forderte mich auf, Zeige- und Mittelfinger auszustrecken, woraufhin er zu meiner Verblüffung und meinem Erschrecken vor versammelter Klasse mit einem Rohrstock ausholte und zweimal derb zuschlug. Ich bin mir heute sicher, dass diese frühen Konfrontationen mit extrem unterschiedlichen Lehrer*innenhaltungen mein anhaltendes Interesse an der Entwicklung einer »Positiven Pädagogik« schon im Grundschulalter befeuerte.

Wer jetzt meint, das seien Berichte aus längst vergangener Zeit, der irrt. 1987 wurde körperliche Züchtigung an britischen Schulen verboten und in Nordirland sogar erst 2003 (Focus Online 2011). Und nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts »YouGov« für das Bildungsmagazin »Times Educational Supplement« sprachen sich noch 2014 49 Prozent der befragten Eltern dafür aus, in Fällen besonderer Disziplinlosigkeit Rohrstock oder gar Ohrfeigen einzusetzen. Schulkinder vor die Türe zu schicken oder Strafarbeiten zu verteilen, begrüßte eine Mehrheit.

Ich hoffe, dass diese Einstellung nicht »normal« ist und dass eine entsprechende Umfrage in Deutschland heute ganz anders ausfallen wird. Andererseits belegen Untersuchungen zur Einstellung gegenüber unterschiedlichen pädagogischen Fragen, wie schwierig es ist, einmal eingeführte »Normen«, die tief in den mentalen Modellen von Eltern und auch Lehrenden sowie in der Tradition von Schule verankert sind, zu ändern. So hält zum Beispiel noch immer eine Mehrzahl von Eltern und Lehrkräften das Sitzenbleiben für eine sinnvolle pädagogische Maßnahme, obwohl Untersuchungen längst deren schädliche Folgen belegt haben: Es zerstört den Glauben an sich selbst bzw. Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und führt nur in seltenen Fällen zum erwünschten Erfolg. Ein solches Beharrungsvermögen trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse verurteilte der norwegische Schulentwicklungspionier Per Dalin schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wobei er ein Zitat des Stanford Professors Richard Gross (1991) übersetzte und auf europäische Verhältnisse übertrug: »Schulen wandeln sich langsamer als Kirchen«.

Morgendämmerung

Offenbar hatte es der August, der Monat des Mauerbaus, in sich. Denn nicht nur jener schicksalhafte Sonntag im Jahr 1961 sollte mein Leben prägen – als existenziell entscheidender erwies sich im Nachhinein ein anderer Augusttag: Nur durch eine technische Verzögerung war sechs Jahre vor meiner Geburt Berlin knapp dem Atominferno entgangen. Stattdessen wurde Hiroshima mit einem Höllenfeuer ausgelöscht – wenige Sekunden, nachdem Colonel Paul Tibbets, der Commander der »Enola Gay«, am Montag, den 6. August 1945, den Auslöseknopf gedrückt und damit die erste Atombombe abgeworfen hatte.

Erst im Verlauf der sechziger Jahre wurde mir klar, welches Glück meine Generation erfuhr, die zwar in das »Zeitalter der Extreme« geworfen wurde – so die Charakterisierung des britischen Historikers Eric Hobsbawm (1998) – aber diese Extreme nicht am eigenen Leib erfahren musste. Stattdessen durften wir, aufgewachsen zwischen Trümmern, teilhaben an dem einzigartigen Aufstieg der kapitalistischen Wirtschaftswunderwelt im prosperierenden Nachkriegsdeutschland. Die glitzernde Fassade verhinderte den Durchbruch zur Erkenntnis, dass wir mitten in einem sich stetig zuspitzenden Epochenbruch aufwuchsen, der darin bestand, dass sich die nun allmählich ausbildende »Normalität« schon bald in immer mehr Bereichen als dysfunktional erweisen und sogar die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten bedrohen sollte.

Anders als damals verfügen wir heute nicht nur über wissenschaftlich fundierte Prognosen über mögliche Segnungen, aber auch die fatalen Wirkungen unseres für »normal« gehaltenen Wirtschaftswunderlebensstils, sondern es haben sich für letzteres auch beunruhigende Bezeichnungen entwickelt. So fällt mein Geburtsjahr nach heutiger Erkenntnis fast deckungsgleich zusammen mit dem Übergang vom Holozän zum »späten« Anthropozän, dem Zeitalter, von dem an der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktor bei der Entwicklung der Biosphäre aufstieg. Paul Crutzen, Nobelpreisträger für Chemie und Entdecker des Ozonlochs, hatte diese Bezeichnung 2002 in einem bahnbrechenden Artikel der Zeitschrift »Nature« unter dem Titel »Geology of Mankind« vorgeschlagen. Dort stellte er seine Forschungsergebnisse zur Bedrohung des Lebens durch die Erhöhung der atmosphärischen Konzentration von Treibhausgasen dar und hatte damit als erster wissenschaftlich begründet, dass der Mensch durch seine Aktivitäten zum stärksten Treiber für die Zerstörung der Erde geworden ist.

Angesichts der sich im Hintergrund zuspitzenden Bedrohungslagen, die – zumindest was die Atomkriegsgefahr, zunehmend aber auch das ökologische Desaster betrifft – durchaus absehbar waren, wäre es schon vor Jahrzehnten an der Zeit gewesen, darüber nachzudenken, wie eine Bildung aussehen könnte, die geeignet wäre, um Heranwachsende angesichts des rasanten Wandels mit den notwendigen Zukunftskompetenzen auszustatten. Als ich 1973 mein Pädagogikstudium an der PH Berlin aufnahm, waren wir zwar nur umrisshaft über Bedrohungslagen und Zukunftsherausforderungen informiert worden, doch war bei vielen Studierenden und Lehrenden angesichts eines sinnentleerten Konsumkapitalismus, fixierter Herrschaftsstrukturen und Rollenmodelle, der unzureichend aufgearbeiteten Nazivergangenheit, des Vietnamkrieges und vielem mehr Gesellschaftskritik angesagt und der Wunsch nach einem anderen Gesellschaftsmodell zu spüren. In einer kurzen Phase des Aufbruchs suchten wir deshalb begeistert nach neuen Konzepten, wurden aber – was nicht nur den Bildungsbereich betrifft – allzu bald desillusioniert, denn Tradition schlug Zukunft.

Wie auch die Nachzeichnung zentraler Stationen meiner Schüler- und Pädagogenbiografie zeigen wird, handelt es sich bei dieser unzureichenden Zukunftsorientierung um ein altes Problem: Es ist tief in der Tradition der öffentlichen Schule verankert.

Obwohl es, beginnend beim Übergang in das 20. Jahrhundert – insbesondere aus reformpädagogischer Perspektive (Flitner 2010) – vielfältige Versuche, Schule neu zu erfinden, gab, wurden die meisten dieser wichtigen Impulse nur selten oder unzureichend in der öffentlichen Schule umgesetzt: Eine Tendenz, die sich auch bei der Nutzung fortgeschrittener Technologien bis heute fortsetzt.

Erinnerungen an die Zukunft

Zwar wusste ich, als ich 1963 auf das humanistische Gymnasium wechselte, nichts von der Vielfalt alternativer Schulkonzepte, doch erkannte ich als »verhaltensorigineller« Schüler, zu dem ich mich entwickelte, dass meine Schule bereits in den sechziger Jahren hoffnungslos überholt war: Statt personenzentrierter Talentförderung und einer spannenden Auseinandersetzung mit Zukunftsthemen erlebte ich die Erfüllung eines meist frontalunterrichtlich vorgetragenen Normprogramms, das meine Talente und Neigungen kaum beachtete, weswegen mich der Schulbesuch nach hoffnungsfrohem Start immer weniger inspirierte, womit ich, wie Studien zeigen, nicht allein bin: Auch heute noch – allen »Reformen« zum Trotz – nimmt mit wachsendem Alter die Schulmüdigkeit dramatisch zu und so empfinden nur 23 Prozent der Schüler*innen in der Schule Lernfreude, wenn man einer Studie der Telekom Stiftung aus dem Jahr 2021 glauben darf. Zusätzlich sank die Lebenszufriedenheit durch Corona von 7,3 auf 5,8 Punkte der Bewertungsskala (Deutsche Telekom Stiftung 2021).

Während die meisten unserer Lehrkräfte sich schon damals weniger als Innovator*innen, sondern stärker als Normerfüller*innen gerierten, spürten wir Heranwachsende die Vorzeichen einer neuen Zeit, die durch das Aufkommen der Beatmusik und die Love-and-Peace-Bewegung mit der Suche nach alternativen Lebensmodellen selbst in die Provinz ausstrahlte, in die ich – aufgrund des Fluchtimpulses meiner Eltern – nun verbannt war. So beschäftigten wir uns in unserer Freizeit intensiv mit den neuen kulturellen Bewegungen, hörten Frank Zappa und lasen Herbert Marcuses Kapitalismuskritik mit dem programmatischen Titel »Der eindimensionale Mensch« (Marcuse 1967). In der Tat wurden wir Heranwachsende in der Schule überwiegend als »eindimensionale Menschen« behandelt, die sich dem verordneten Schulzweck unter Androhung der Abstufung oder gar Aussonderung im Falle der Eigensinnigkeit zu unterwerfen hatten, was aber bei Unangepassten auch Energien freisetzte. So entstand schon damals eine dramatische Kluft zwischen dem gesellschaftlichen sowie kulturellen Wandel und der auf ihre Traditionen beharrenden Schule. Aber auch damals gab es kreative Pädagog*innen, die ihrer Zeit weit voraus waren.

In meinem Fall handelte es sich ausgerechnet um unseren Religionslehrer, Pfarrer Wolfer, der mit uns pubertierenden Jugendlichen jeden Sommer ein Jugendcamp in den Schweizer Alpen veranstaltete. Hier erfuhren wir zum ersten Mal die Kraft Selbstorganisierten Lernens in Peergroups. Wolfer gab nur einen Rahmen vor, den wir nach eigenem Ermessen neigungsorientiert ausfüllen konnten. So folgten wir morgens – vor dem Hintergrund der schneebedeckten Gipfel – religionsphilosophischen Disputen zwischen ihm und seinem Freund, einem Theologieprofessor. Heftig diskutieren die beiden über existenzielle Fragen, womit sie uns zwar tief beeindruckten, aber nur wenige von uns bekehrten. Wir entwickelten ein Theaterstück und führten es vor den Einwohner*innen eines Dorfes in der rätoromanischen Schweiz auf. Weiter formierten wir eine Band und gründeten eine Schüler*innenzeitung, die die neuesten Satz-bzw. Drucktechniken nutzte, von denen die Mehrzahl unserer Lehrkräfte – schon damals wenig technikaffin – keine Ahnung hatte.

In diesen offenen und kreativen Freizeiten entwickelten wir grundlegende Kompetenzen, die für viele meiner Mitschüler*innen Grundlagen ihrer späteren Studien- und Berufswahl schufen, wie sich auf unserem Abiturient*innentreffen Jahre später zeigen sollte. Diese Freizeiten, die auch durch den popkulturellen Aufbruch und die Musik der Beatles beeinflusst wurden, erwiesen sich als eine der prägendsten Veranstaltungen meiner Schulzeit und sollten schon bald dazu führen, dass ich mich in der außerschulischen Jugendbildung und bei der Durchführung internationaler Camps engagierte. Doch nach unserer Rückkehr in den Schulalltag war fast nichts von diesen kreativen Ansätzen gefragt, sondern dominierte wieder der Regelvollzug mit dem Primat normierter schulischer Bildung. Dieses Primat versuchen auch heute noch viele Kultusbürokratien und Schulverwaltungen mit überzogenen Kontrollmaßnahmen zu sichern.

Den programmatischen Leitspruch des Eingangsportals unseres Gymnasiums schmückten die Zeilen »Per Aspera ad Astra«, die übersetzt »Durch Raues zu den Gestirnen« bedeuten und von Pfarrer Wolfer drastisch mit »Durch Scheiße zum Preise!« übersetzt wurden. Das war sicherlich überpointiert und doch traf es Momente unseres Erlebens dieser autoritär geführten und verstaubten Paukanstalt, an der schon damals zu wenige Lehrkräfte die Zeichen der neuen Zeit erkannten und nur die wenigsten den Mut hatten, »die alten Zöpfe abzuschneiden«, so die Parole der sich damals mit dem Soziologen Ralf Dahrendorf kurzzeitig liberal gebenden FDP.

Versuche eines Ausbruchs aus dem normierten, »normalen« Schulbetrieb gab und gibt es immer wieder – sowohl im öffentlichen Schulsystem wie in den Paralleluniversen der privaten und freien Schulen. Doch meist verpufften diese Ausbruchsversuche schnell und wurden von starren Regelungen normierter Schulgestaltung absorbiert. Erziehung, das belegte schon der Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (2000) in seiner in weiten Teilen nach wie vor zutreffenden Schrift »Sisyphos – oder die Grenzen der Erziehung«, ist stets rückschrittlich bezogen auf die gesellschaftliche Entwicklung. Und dies gilt insbesondere auch für den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule. Doch anders als in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als er diese These begründete, rütteln seit Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts einflussreichere Kräfte am Fundament der Traditionsschule und werden sie – wie ich vielleicht zu optimistisch vermute – in absehbarer Zeit zum Einsturz bringen; jedenfalls, wenn sich Schule nicht radikal neu erfindet.

Das Ende der Illusionen

Während also Bewahrpädagog*innen an der Konservierung eines an unzeitgemäßen Traditionen verpflichteten Bildungssystems festhielten, riefen die veränderten Bedürfnisse der Wirtschaft, aber auch der kulturelle Wandel im Gefolge des »Summer of Love« und der 68er-Bewegung nach einer Öffnung der Schule, mit der Konsequenz, dass die Schüler*innenzahlen an weiterführenden Schulen ebenso wie die Studierendenzahlen sprunghaft anstiegen. Benachteiligte Bevölkerungsgruppen erhielten erstmalig die Möglichkeit zum Bildungsaufstieg (Bude 2011), wenngleich bis heute der Anspruch der Chancengleichheit bzw. Bildungsgerechtigkeit nicht annähernd umgesetzt ist und durch Corona einen erneuten Rückschlag erlitten hat. Immerhin etablierte sich mit den Gesamtschulen ein neuer Schultyp, der die starren Aufstiegsbarrieren, die das Gymnasium nach wie vor charakterisieren, geringfügig lockerten.

Dieser behutsame Wandel, der den bis heute bestehenden »Mythos Bildung«, das heißt die Illusion des Aufstiegs durch Bildung ohne Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, befeuerte (El-Mafaalani 2020), wurde vor allem von der gesteigerten Nachfrage der Wirtschaft nach besser qualifiziertem Nachwuchs getrieben. Zwar experimentierten Teile der neuen Lehrer*innengeneration, zu denen inzwischen auch ich als engagierter Gesamtschullehrer gehörte, mit veränderten Formaten des Lehrens und Lernens, doch – wie Dalin längst erkannt hatte und ich in meiner Lehrertätigkeit nun erfahren sollte – erwiesen sich die Beharrungskräfte als so stark, dass spätestens mit der neoliberalen Wende zu Beginn der neunziger Jahre viele der behutsam sich entwickelnden Pflänzchen zurückgeschnitten wurden und die alte »Normalität« weiter weite Teile des Systems prägte.

Viele Kommiliton*innen meiner Generation waren wie ich mit der Hoffnung ins Studium gestartet, durch Pädagogik die Welt zum Besseren zu verändern – wobei natürlich auch Theodor Adornos Radiovortrag »Erziehung nach Auschwitz« aus dem Jahr 1966 eine wichtige Rolle spielte. Das Motiv, die Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu überwinden, verband sich mit dem Wunsch einer Überwindung der negativen Auswüchse des expandierenden Kapitalismus. Dieser visionäre Überschuss wurde in meinem Fall durch das »Projekt integrierte Lehrerbildung« (PIL) an der PH Berlin von engagierten Professor*innen unterstützt. So begannen wir nicht nur mit einer gesellschaftskritischen Analyse der ökonomischen Struktur des Bildungssystems, experimentierten mit innovativen pädagogischen Ansätzen und unterzogen uns einer psychoanalytisch grundierten Selbstreflexion, sondern engagierten uns auch bei der Betreuung von Kindern aus benachteiligten Verhältnissen an Erziehungsberatungsstellen – ein Praktikum, das auch heute jeder angehenden Lehrkraft anzuraten ist. Doch spätestens mit der zweiten Phase der Lehrer*innenbildung, dem Referendariat, wurden zu vielen von uns die emanzipatorischen Illusionen ausgetrieben, durch den Zwang zur Einpassung in den Regelvollzug. Schnell lernten wir, dass es hier nicht – wie in manchen Universitätsseminaren – um eine Neuerfindung von Schule und Unterricht, sondern um eine Anpassung an die für »normal« gehaltene Praxis der selektierenden Massenschule geht. »Lernziel: Menschlichkeit«, so der Titel meiner zusammen mit Karlheinz Scherpp geschriebenen Vision einer »ganzheitlichen Schule« der Zukunft auf Basis von Humanistischer Psychologie und Gestaltpädagogik (Burow & Scherpp 1981), war nicht gefragt.

Dabei hatten wir damals in Anknüpfung an reformpädagogische Konzepte und mit Bezug auf die Humanistische Psychologie (Carl Rogers 1974: »Lernen in Freiheit«) nach wie vor bedenkenswerte Eckpunkte für eine Neuerfindung der Schule formuliert, die allerdings bislang kaum berücksichtigt wurden. Ja, mag es auch für manche arrogant und belehrend klingen, so fällt doch auf, dass sich 40 Jahre später die meisten der von uns mit Bezug auf progressive Pädagog*innen und wissenschaftliche Erkenntnisse gründenden Forderungen als topaktuell erweisen:

Befeuert wurden die Ideen einer Neuerfindung der Schule durch verschiedene Verlage, zum Beispiel durch die Pädagogische Reihe des Rowohlt Taschenbuchverlags, in der namhafte Wissenschaftler*innen und pädagogische Reformer*innen ihre Ideen an eine aufbruchsbereite Lehrer*innengeneration heranbrachten, unterstützt auch durch Zeitschriften wie »betrifft:erziehung« und »pädExtra«. Sicherlich hat diese Reihe wie auch die alternativpädagogischen Schriften des Westberliner Basis-Verlags dazu beigetragen, neue Ideen und Konzepte in Schule und Elternhäuser zu tragen, doch erwiesen sich die bestehenden Strukturen – von Ausnahmen abgesehen – als ziemlich veränderungsresistent. Die Revolutionierung von Schule und Unterricht sollte, wie sich bereits in der Corona-Krise zeigte und es sich in der nahen Zukunft noch stärker erweisen wird, viel wirkungsvoller durch eine zunächst unterschätzte Erfindung vorangetrieben werden: Die Erfindung des Internets und die rasante Entwicklung digitaler Medien.

Die Erfindung des Internets

Während wir uns also mit der Frage nach Möglichkeiten der »Humanisierung« von Bildungseinrichtungen auseinandersetzten, aber die Mehrzahl der Schulen weitgehend unbeeindruckt vom gesellschaftlichen und technologischen Wandel damit beschäftigt war, den »normalen« Schulbetrieb zu sichern, kündigte sich auf der nur von wenigen beachteten Hinterbühne längst eine weitere Entwicklung an, die den Epochenbruch vorantreiben sollte: Die Erfindung des Internets.

Kaum jemand ahnte, als am 29. Oktober 1969 in den USA das ARPA-Net startete und die erste Nachricht per Internet versendet wurde, dass sich hier eine von der sprunghaften Entwicklung digitaler Technologien angetriebene Revolution ankündigte, die in wenigen Jahren unsere Gesellschaft, unser aller Leben und auch unsere Bildungseinrichtungen grundlegend wandeln würde. Zunächst noch für das Militär konzipiert, mit dem Ziel durch eine verteilte Struktur die Verwundbarkeit von Informationsnetzen zu reduzieren, stellte Tim Berners-Lee am CERN in Genf 1989 Überlegungen für ein Hypertext-Netz an, aus denen schließlich die erste »Killer-Applikation« werden sollte: Das World Wide Web.

Aber erst mit dem Erscheinen von »Mosaic« im Jahr 1993, dem ersten Web-Browser mit grafischer Benutzeroberfläche, wurde eine Nutzerfreundlichkeit geschaffen, die die nun nicht mehr aufzuhaltende, exponentiell sich steigernde Ausbreitung des Internets ermöglichte: Ein schlichter Mausklick ersetzte die komplizierten Operationen, die zunächst noch notwendig waren, um Kommandos zu erteilen und auszuführen.

Schon ein Jahrzehnt zuvor, am 24. Januar 1984, zeichneten sich erste Umrisse der fortan sich rasant entwickelnden Digitalwelt ab: Steve Jobs, übrigens ehemals ein »verhaltensorigineller« Schüler, der sein Studium abgebrochen hatte, stellte den Macintosh, den ersten PC mit grafischer Benutzeroberfläche, vor, dessen Genialität darin bestand, dass er verblüffend einfach per Mausklick zu bedienen war. Auch wenn der Erfolg dieses Prototyps zunächst ausblieb, begründete sein Erscheinen Apples späteren Durchbruch, da er schon alle Ingredienzen enthielt, die die nun Schlag auf Schlag erscheinenden »digital devices« auszeichnen sollten: Ansprechendes Design, einfache, intuitive Bedienung und unübertreffbare Nutzerfreundlichkeit.

Zwar revolutionierte schon allein der PC das Schreiben, Speichern und Verarbeiten von Texten bzw. Informationen, doch sollte erst die Vernetzung durch das Internet die exponentiell sich ausbreitende und sich fortwährend optimierende neue Digitalsphäre hervorbringen.

Lernlust statt Schulfrust

Während all diese revolutionären Entwicklungen im Hintergrund liefen, startete ich meine Berufslaufbahn nach Absolvierung des Referendariats an der Otto-Hahn-Gesamtschule in Berlin-Neukölln. Dabei handelte es sich um eine dieser mit Klimaanlage und fensterlosen Dunkelräumen versehenen, überdimensionierten Gesamtschulzentren, die man allerdings 1983 noch als innovative Schulen der Zukunft betrachtete. Ganz dem Geist der industriellen Fließbandproduktion verhaftet – wie sie Ken Robinson (2010c) drei Jahrzehnte später in seinem millionenfach geklickten, eindrücklich animierten TED-Video »changing education paradigms« auf den Punkt gebracht hat – schufen die Planer*innen mit diesem Modell lebensfeindliche und auch ökologisch bedenkliche Lernfabriken, die Monstren glichen.

In einem Artikel der Zeitschrift »Psychologie Heute« arbeitete ich 1983 meine Erfahrungen als junger Lehrer an dieser Schule auf: Unter dem programmatischen Titel »Lernlust statt Schulfrust« wandte ich mich nicht nur gegen die aus meiner Sicht verfehlte Architektur, sondern schrieb auch eine Kritik des pädagogischen Konzepts dieses Schulmodells, das in mehrfacher Ausfertigung die Westberliner Schullandschaft prägen sollte, in die Bundesrepublik ausstrahlte und sogar ins Ausland exportiert wurde (Burow 1983). Im Kontrast zu den Reformhoffnungen, die mit diesem Modell verbunden waren, erlebte ich eine massive Demotivation bei zu vielen meiner Schüler*innen, die mit den im Geiste des Taylorismus vorgefertigten »Unterrichtseinheiten«, denen sie ganztägig ausgesetzt wurden, wenig anfangen konnten. Mein Bericht über die scheiternden Bildungsbemühungen an dieser Schule mündete in der Forderung nach einem radikalen Schnitt: 50 Prozent des Unterrichts sollten für Lehrkräfte und Lernende freigegeben werden – für die Befassung mit Themen, die die Talente und Neigungen der Beteiligten stärker trafen.

Meine damalige Formel »Lernlust statt Schulfrust« gilt heute mehr denn je: Fast vierzig Jahre, nachdem ich sie publizierte, sollte der Augsburger Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer (2019) mit Verweis auf desillusionierende Einsichten der PISA-Studien (OECD 2019) eine ähnliche Forderung für die Entrümpelung der Lehrpläne aufstellen. So zeigte sich im Jahr 2019, dass die Zustimmung der befragten Schüler*innen zur Schule von 99 Prozent in der ersten Klasse kontinuierlich auf erschreckende 35 Prozent in der neunten Klasse abgesunken war. Die nach dem Studienautor benannte »Jenkins-Kurve« zeige, so Zierer (2019), dass die Schule ihr zentrales Ziel umfassend verfehle: Die »natürlich« gegebene Lernfreude zu erhalten und Umgebungen zu schaffen, in der diese erfahren und ausgebaut werden kann.

Scheiternde Gesamtschulversuche

Diese Einsicht überrascht mich nicht, bestätigt sie doch auf erschütternde Weise Per Dalin und wirft überdies ein Schlaglicht auf ein Modell von Schule, das bis heute eine Mehrheit für »normal« hält: Das ungebrochene Festhalten am Traditionsmodell der Schule, wie wir es in seinen Grundzügen seit etwa 200 Jahren mit der Aufteilung von Schüler*innen nach Alterskohorten, der fließbandmäßigen Organisation des Unterrichts mit der fächerzentrierten 45-Minuten-Stunde und den Prüfungen nach Prinzipien der fabrikartigen Massenproduktion kennen.

Während ich also meine Lehrertätigkeit mit Reformhoffnungen angetreten hatte, stand ich nun – ob ich es wollte oder nicht – in der Gefahr, zum »Mitläufer« zu werden, war meine Schule doch Ausdruck einer sich verschärfenden Bildungsplanwirtschaft, die sich vordergründig als innovativ gab, letztlich aber dem Geist der Massenproduktion des Industrialismus und Logik der herkunftsorientierten Selektion verhaftet war. Wie Guido Seelmann-Eggebert (2021) herausgearbeitet hat, überwand die Gesamtschule mit ihrem ganztägigen Angebot zwar die vor über hundert Jahren vorgenommene Einrichtung von Halbtagsschulen, doch verschulte sie den erweiterten Zeitrahmen und verschenkte die Möglichkeiten einer kreativen Neugestaltung von Schule. So versuchte man vermittels der vorgeschriebenen Fachleistungsdifferenzierung nach dem FEGA-Modell – bezogen auf das jeweilige Unterrichtsfach – eine homogene Lerngruppe herzustellen. In der »oberen Anspruchsebene« wurden die Schüler*innen in den »F-Kurs« (Fortgeschrittenenkurs) sowie den »E-Kurs« (Erweiterungskurs) versammelt, während sich der andere Teil in der »unteren Anspruchsebene« im »G-Kurs« (Grundkurs) und »A-Kurs« (Aufbaukurs) wiederfand. Dieses auf äußerer Differenzierung fußende Kurssystem zeitigte unerwartete Nebenfolgen, führte es doch dazu, dass für meine »Kerngruppe«, die »KG 814«, zu jeder Stunde der Lernort, die Lerngruppe, die Lehrperson und der Lerngegenstand wechselte – und zwar verteilt über den ganzen Tag, da es sich um eine Ganztagsschule handelte. Das Ergebnis war ein organisatorisches Chaos, in dem alle Beteiligten überfordert und permanent in Bewegung waren: Lehrkräfte zogen sich erschöpft in die nach Fachgruppen formierten »Lehrerstützpunkte« zurück, heimatlose Schüler*innen irrten unentwegt durch das Gebäude und verstopften die Gänge, wobei die pädagogische Beziehung litt und der Überblick verloren ging. Für Auflockerung sorgte der häufig stattfindende Feueralarm, wenn ein*e genervte*r Schüler*in einen der im Gebäude verteilten Alarmknöpfe gedrückt hatte, was dazu führte, dass der Unterricht sofort abgebrochen wurde und sich die Schulgemeinde im Hof versammelte.

Diese zehnzügige Schule war in zwei Halbjahrgänge zu je fünf »Kerngruppen« aufgeteilt, die zur gleichen Zeit das Gleiche lernen sollten. Die Parallelität sollte durch vorgefertigte Unterrichtseinheiten gesichert werden, die als Kopiervorlagen von Teams erarbeitet wurden, nach einiger Zeit aber lückenhaft waren. Noch heute habe ich den Spiritusgeruch in der Nase, der den Beginn unseres Schultages prägte, wenn wir die Wachsmatritzen mit den Arbeitsaufträgen für die Schüler*innen über die Druckrolle kurbelten oder zu viel Zeit am Kopierer verbrachten. Neben der mangelnden Berücksichtigung der Lebenswelt der Schüler*innen, von denen eine Mehrzahl schwierige soziale Hintergründe hatte, erschwerte auch eine bis heute andauernde Fehlausrichtung sinnvolles Unterrichten: Die überzogene Fixierung auf Noten und Prüfungen. Mit der dadurch verursachten permanenten Abwertung von Schüler*innenleistungen verhinderten sie das Entstehen von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und den Erhalt von intrinsischer Motivation bzw. Lernfreude. Erschwerend kam die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft im Problembezirk Berlin-Neukölln hinzu, die der Gesamtschulidee widersprach und durch die unausgewogene soziale Zusammensetzung Problemkonstellationen so verdichtete, dass zu viele Lehrkräfte, Lernende und Eltern dramatisch überfordert waren.