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André Gide

Der Immoralist

Aus dem Französischen übertragen
von Gisela Schlientz

Roman

Anaconda

Andre Gides Roman »L’immoraliste« erschien zunächst 1902 in der Literaturzeitschrift Mercure de France in Paris. In deutscher Übersetzung erschien der Roman erstmals 1905. Die Übersetzung von Gisela Schlientz erschien erstmals 1991 in Band VII der Werkausgabe »Gesammelte Werke in zwölf Bänden«, Deutsche Verlags-Anstalt.
Ihr liegt die erste französische Fassung von 1902 zugrunde. Orthografie und Interpunktion wurden unter Wahrung von grammatischen Eigenheiten auf neue Rechtschreibung umgestellt.



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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen
der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
© der Übersetzung 1991 Deutsche Verlags-Anstalt
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagmotiv: Amedeo Modigliani (1884–1920)
»Portrait of Paul Guillaume« © Bridgeman Images / Photo Josse
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
Satz und Layout: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN 978-3-641-29229-4
V001
www.anacondaverlag.de

Für HENRI GHÉON
meinen freimütigen Gefährten

Ich danke dir dafür, o Herr,
dass ich wunderbar gemacht bin.
Psalm 139, 14

Vorwort

Ich gebe dieses Buch hin für das, was es wert ist. Es ist eine Frucht voll bitterer Asche; es gleicht den Koloquinten der Wüste, die an ausgedörrten Stellen wachsen und den Durst nur noch schrecklicher brennen lassen, doch auf dem Goldsand nicht ohne Schönheit sind.

Hätte ich meinen Helden als Beispiel ausgegeben, so wäre mir das, ich muss es eingestehen, schlecht gelungen; die wenigen, die sich für Michels Abenteuer überhaupt interessierten, wollten ihn nur verhöhnen mit der ganzen Kraft ihrer Güte. Nicht umsonst habe ich Marceline mit so vielen Tugenden geschmückt; man mochte es Michel nicht verzeihen, dass er sie nicht sich selbst vorzog.

Hätte ich dieses Buch als eine Anklageschrift gegen Michel ausgegeben, so wäre mir das kaum besser gelungen, denn niemand hat mir Dank gewusst für den Unwillen, den er gegen meinen Helden empfand, es schien sogar, als empfände man diesen Unwillen ohne mein Zutun; von Michel ging er auf mich über; um ein Weniges hätte man mich mit ihm verwechselt.

Ich habe jedoch aus diesem Buch weder eine Anklageschrift noch eine Apologie machen wollen und habe mich jeden Urteils enthalten. Das Publikum verzeiht dem Autor heute nicht mehr, wenn er sich nach dem Schildern der Handlung nicht für oder wider erklärt; selbst mitten im Fortgang des Dramas soll er Partei ergreifen, soll er sich eindeutig äußern, entweder für Alceste oder für Philinte, für Hamlet oder für Ophelia, für Faust oder Gretchen, für Adam oder Jahwe. Ich will gewiss nicht behaupten, die Neutralität (fast möchte ich sagen, die Unentschiedenheit) sei das sichere Zeichen für einen großen Geist; aber ich glaube, manche großen Geister waren wenig geneigt zu … entscheiden – und wer geschickt ein Problem stellt, hat es noch lange nicht im Voraus gelöst.

Nur widerwillig benutze ich hier das Wort »Problem«. Eigentlich gibt es in der Kunst keine Probleme – deren hinlängliche Lösung nicht das Kunstwerk lieferte.

Wenn man unter »Problem« jedoch »Drama« versteht, möchte ich meinen, dass das in diesem Buch erzählte, nur weil es sich in der Seele meines Helden abspielt, nicht weniger zu allgemeingültig ist, um nur auf sein besonderes Erleben begrenzt zu bleiben. Ich maße mir nicht an, dieses »Problem« erfunden zu haben; es existierte schon vor meinem Buch; ob Michel siegt oder unterliegt, das »Problem« besteht weiter, und dem Autor gilt weder der Sieg noch die Niederlage als ausgemacht.

Wenn einige kluge Köpfe in diesem Drama nichts anderes sehen wollten als die Darstellung eines bizarren Falles und in seinem Helden einen Kranken; wenn ihnen entgangen ist, dass etliche bedrängende Gedanken von ganz allgemeinem Interesse darin enthalten sind – so liegt die Schuld nicht bei diesen Gedanken oder bei diesem Drama, sondern beim Autor, und damit meine ich: bei seinem Ungeschick – auch wenn er in dieses Buch all seine Leidenschaft, alle seine Tränen und alle Sorgfalt eingebracht hat. Aber das wirkliche Interesse eines Buches und jenes, das ihm das Tagespublikum entgegenbringt, sind zwei sehr verschiedene Dinge. Ich glaube, man kann ohne allzu große Überheblichkeit eher riskieren, dass man am ersten Tag mit interessanten Dingen kaum interessiert – als dass man ohne Aussicht auf ein Morgen ein nach Plattheiten gierendes Publikum begeistert.

Im Übrigen ging es mir nicht darum, etwas zu beweisen, sondern darum, mein Gemälde gut auszumalen und zu beleuchten.

Herrn Präsident D.R.

Sidi b.M., 30. Juli 189 …

Ja, Du hast richtig vermutet, mein lieber Bruder: Michel hat mit uns gesprochen. Hier folgt, was er uns erzählt hat. Du hast danach verlangt; ich habe es Dir versprochen. Aber nun, da ich es abschicken will, zögere ich noch, und je öfter ich es lese, umso schrecklicher scheint es mir. Ah, was wirst Du von unserem Freund denken? Was soll ich übrigens selbst von ihm denken? Sollen wir ihn einfach verdammen und damit leugnen, dass man auch Fähigkeiten, die sich grausam äußern, zum Guten leiten kann? – Doch ich fürchte, es gibt heute mehr als einen, der sich in diesem Bericht zu erkennen wagt. Kann man für so viel Intelligenz und Kraft ein Amt finden – oder muss man dem das Bürgerrecht verweigern?

Auf welche Weise kann Michel dem Staat dienen? Ich gebe zu, ich weiß es nicht … Er braucht eine Beschäftigung. Werden es die Macht, über die Du verfügst, die hohe Stellung, die Dir Deine großen Verdienste eingebracht haben, ermöglichen, sie ihm zu finden? – Beeile Dich. Michel ist ergeben, noch ist er es; bald wird er es nur noch sich selber sein.

Ich schreibe Dir unter einem vollkommen blauen Himmel; in den zwölf Tagen, die Denis, Daniel und ich hier verbringen, keine Wolke, kein Nachlassen der Sonne. Michel sagt, der Himmel sei seit zwei Monaten so klar.

Ich bin weder traurig noch heiter; die Luft hier erfüllt dich mit einer schwer zu fassenden Erregung und lehrt dich einen Zustand kennen, der so weit von der Heiterkeit entfernt ist wie vom Schmerz; vielleicht ist das Glück.

Wir bleiben bei Michel, wir möchten ihn nicht allein lassen. Lies bitte diese Seiten, und Du wirst verstehen, warum. Hier, in seiner Wohnung, erwarten wir Deine Antwort; zögere nicht.

Du weißt, dass eine schon anfangs sehr enge Schulfreundschaft, die sich mit jedem Jahr festigte, Michel mit Daniel, mit Denis, mit mir verband. Unter uns vieren wurde eine Art Pakt geschlossen: Auf den geringsten Hilferuf des einen sollten die drei anderen antworten. Als ich dann von Michel diesen mysteriösen Notschrei erhielt, habe ich sogleich Daniel und Denis benachrichtigt, und alle drei ließen wir alles hinter uns und brachen auf.

Wir hatten Michel seit drei Jahren nicht wiedergesehen. Er hatte sich verheiratet, war mit seiner Frau auf Reisen gegangen, und während seines letzten Aufenthalts in Paris war Denis in Griechenland, Daniel in Russland gewesen und ich, wie Du weißt, bei unserem kranken Vater festgehalten. Wir waren indes nicht ohne Nachrichten geblieben; doch was uns Silas und Will, die ihn wiedergesehen hatten, von ihm berichteten, konnte uns nur erstaunen. Ein Wandel ging in ihm vor, den wir noch nicht erklären konnten. Das war nicht mehr der hochgelehrte Puritaner von einstmals, dessen Gesten im Eifer der Überzeugung linkisch, dessen Augen so klar waren, dass vor ihnen unsere oft allzu freien Reden verstummten. Das war … aber warum soll ich Dir schon andeuten, was Dir sein Bericht selbst sagen wird?

Ich schicke Dir also den Bericht, wie ihn Daniel, Denis und ich gehört haben. Michel erzählte auf der Terrasse, wo wir in seiner Nähe im Dunkel und in der Sternenhelle ausgestreckt lagen. Am Schluss seines Berichtes sahen wir den Tag über der Ebene aufsteigen. Sie wird von Michels Haus beherrscht, und vom Dorf, das nur wenig entfernt liegt. Durch die Hitze und weil die Ernte eingebracht ist, gleicht diese Ebene einer Wüste.

Trotz seiner Armut und Absonderlichkeit ist das Haus von Michel bezaubernd. Im Winter litt man unter der Kälte, denn seine Fenster haben keine Scheiben, oder vielmehr hat es gar keine Fenster, sondern riesige Löcher in den Mauern. Es ist so schön, dass wir draußen auf Matten schlafen.

Ich muss Dir noch erzählen, dass wir eine gute Reise hatten. Wir sind hier gegen Abend angekommen, von der Hitze erschöpft und trunken von neuen Eindrücken, nachdem wir uns weder in Algier noch in Constantine lange aufgehalten hatten. Von Constantine brachte uns eine neue Bahn bis nach Sidi b.M., wo ein Wagen wartete. Die Straße hört weit vom Dorf entfernt auf. Dieses nistet hoch oben auf einem Felsen wie gewisse Marktflecken in Umbrien. Wir stiegen zu Fuß hinauf; zwei Maultiere hatten unsere Koffer übernommen. Wenn man auf diesem Weg ankommt, ist Michels Haus das erste des Dorfes. Ein von niedrigen Mauern umschlossener Garten, oder eher ein Vorplatz, umgibt es, in dem drei schiefe Granatapfelbäume und ein prächtiger Oleander wachsen. Ein Kabylenkind war da, das bei unserer Ankunft flüchtete, indem es kurz entschlossen über die Mauer kletterte.

Michel empfing uns ohne sichtbare Freude; er schien jede Äußerung der Zärtlichkeit zu fürchten; aber gleich auf der Schwelle umarmte er jeden von uns dreien mit Ernst.

Bis zum Einbruch der Nacht wechselten wir keine zehn Worte. Ein fast frugales Mahl war in einem Salon vorbereitet, dessen aufwendige Dekoration uns erstaunte, was Dir jedoch der Bericht Michels erklären wird. Dann servierte er uns den Kaffee, den er selbst zubereitet hatte. Danach stiegen wir auf die Terrasse, wo sich der Blick bis ins Unendliche erstreckte, und warteten alle drei, gleich den drei Freunden Hiobs, während wir über der flammenden Ebene das rasche Schwinden des Tages bewunderten.

Als es Nacht war, sprach Michel: