Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2022 Ravensburger Verlag
Copyright © 2022 by Rose Snow
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Lektorat: Franziska Jaekel
Umschlaggestaltung: Miriam Wasmus
Verwendete Bilder von © Elen Lane, © Kotkoa, © yanushkov, © bokasana, © artrise, © pthub125896, © lightgirl, © aluna1, © Olga Begak Art, © rangizzz, alle von Adobe Stock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51107-5

www.ravensburger.de

Für meine Kinder und den Brief,
der niemals ankam

»Er ist tot, Kela.«

»Ich weiß, dass er tot ist«, sage ich. »Ich war auf seiner Beerdigung.«

»Eben. Großvater ist endlich unter der Erde. Er geistert hier nicht mehr herum.« Brandon lehnt mit dem Rücken an der Küchentheke, verschränkt die Arme vor der Brust und wirft mir einen skeptischen Blick zu, bevor er die Besteckschublade öffnet, nach einer Dessertgabel greift und die Schublade schwungvoll zuwirft. Sie schließt nicht ganz, bleibt fingerbreit offen. Es ist kaum ein Zentimeter, doch mir klafft aus diesem Spalt ein ganzer Abgrund entgegen.

Mein Bruder schnappt sich den Teller mit dem letzten Rest Apfeltorte, den uns die alte Nachbarin aus Mitleid vorbeigebracht hat. Ich starre auf das schmächtige Stück mit der dicken Zuckerglasur und spüre gleichzeitig die immense Unruhe, die mich befällt. Ich möchte nicht an die offene Schublade denken. Zu meinem Unglück ist es jedoch ein Ding der Unmöglichkeit, bewusst an etwas nicht zu denken. Meine Finger beginnen zu kribbeln, mein ganzer Körper spannt sich an. Der innere Druck steigt, schlingt sich wie ein Lasso um meine Gedanken und zurrt sie zusammen auf den einen, den ich nicht in meinem Kopf haben will. Kurz kämpfe ich dagegen an, doch die Erfahrung flüstert, dass es zwecklos ist. Zwei schnelle Schritte und eine Handbewegung, mehr ist nicht nötig, um die Anspannung zu lösen.

Als die Schublade einrastet, schwappt eine beschämende Welle der Erleichterung über mich hinweg.

Mein Bruder zieht die linke Augenbraue hoch. Mir fällt auf, wie müde er aussieht. Sein Gesicht könnte eine Rasur vertragen, sein kariertes Hemd einen Waschgang. Die Nachtschichten in der Chocs Factory strengen Brandon an, auch wenn er das niemals zugeben würde.

»Besser?«, fragt er.

Nickend schenke ich mir ein Glas Wasser ein und nehme einen großen Schluck, während ich wehmütig die hellbeigen Küchenfronten betrachte, die einen Anstrich bitter nötig hätten. Mom wollte sie immer streichen, in einem kitschigen Roséton, doch der Krebs hat uns davor bewahrt.

»Du musst dich beruhigen, Kela.«

»Ich bin ruhig.«

»Du hast mir gerade erzählt, dass du unseren toten Großvater gesehen hast.«

Ich stelle das Glas auf der Arbeitsplatte ab, etwas heftiger als beabsichtigt. »Glaubst du, ich weiß nicht, wie durchgeknallt sich das anhört? Aber ich habe das nicht geträumt, er stand definitiv vor meinem Bett. Mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck und der grauen Schirmmütze.«

»Ah. Mit der grauen Schirmmütze. Na, dann muss es ja wahr sein. Der Alte hatte das Teil doch ständig auf dem Kopf, um die verdammten Teufelshörner zu verstecken.« Brandon grinst, zieht einen der Holzstühle zurück, der geräuschvoll über den alten Dielenboden schrappt, und lässt sich dann an unserem fleckigen Küchentisch nieder. Das Kuchenstück hat er bereits aufgegessen, der Teller mit dem verblichenen Blumenmuster steht neben meinem Wasserglas – wie ein altes Ehepaar, das nicht mehr zueinanderfindet.

»Nimm mich ernst«, verlange ich in vollem Bewusstsein, wie schwer das gerade ist. Um die restliche Anspannung abzubauen, beginne ich, den Geschirrspüler einzuräumen. Äußere Ordnung ist gerade das Einzige, was hilft, mein inneres Chaos zu besänftigen.

»Hey«, lenkt Brandon ein, dessen Augen einen sorgenvollen Schimmer annehmen. »Es war viel in letzter Zeit. Viel für uns beide. Veränderungen sind nicht dein Ding, Kela, und auch mir macht das Ganze zu schaffen. Nach Moms Tod vor zwei Jahren hatten wir endlich ein bisschen Ruhe, und dann stirbt uns der alte Mistkerl einfach weg.« Er reibt sich über die Stirn. »Ich meine, du warst schon immer kreativer als ich. Deine Gedichte sind wunderschön, und ich mag es, dass du in Wolken, Bäumen und Lichtspiegelungen die verrücktesten Dinge sehen kannst. Aber die Vorstellung, dass Grandpa hier noch immer herumspukt und mit seiner abartig schlechten Laune die Luft verpestet, will wirklich nicht in meinen Kopf.«

»Du bist unfair.«

»Mag sein. Aber ich werde nicht gut über ihn sprechen, nur weil er tot ist. Wir haben jetzt ganz andere Probleme. Mit Großvaters Tod wurde auch seine Rente beerdigt – das Einzige, worum wir wirklich trauern sollten. Denn wenn wir bis zum Monatsende keine Untermieter finden, müssen wir hier raus.« Er seufzt schwer und seine Schultern sacken nach unten. »Hoffentlich sagen die beiden Mädels zu.«

Ich schalte den Geschirrspüler an und setze mich zu meinem Bruder an den Tisch. »Haben wir wirklich keine andere Wahl?«, frage ich und klammere mich an den letzten Strohhalm, der mir noch einfällt. »Morgen ist doch mein Vorstellungsgespräch.«

»Selbst wenn sie dich einstellen, was willst du denn nach dem Sommer machen? Du musst zurück an die Uni. Mom würde es mir niemals verzeihen, wenn du dein Studium abbrichst. Und ich …« Er holt Luft, nimmt innerlich Anlauf, doch ich lege ihm eine Hand auf den Unterarm und blicke ihn liebevoll an.

»Du machst schon genug, Brandon. Deine Augenringe berühren bald den Boden, du kannst nicht ewig Nachtschichten in der Fabrik schieben, auch wenn sie besser bezahlt sind.«

Brandon ist dreiundzwanzig und damit gerade mal siebzehn Monate, zwölf Tage, elf Stunden und ein paar zerquetschte Minuten älter als ich, was genügt, dass er sich für mich verantwortlich fühlt. Hat er schon immer. Bevor wir mit Grandpa zusammengezogen sind, war mein Bruder der einzige Mann im Haus. Eine Rolle, die er nicht abgelegt hat, selbst wenn sie nie im Drehbuch stand.

»Vielleicht könnte ich neben der Uni weiter im Büro arbeiten, auch an den Wochenenden. Und wenn ich mit dem Babysitten noch etwas Geld verdiene …«, füge ich hinzu, komme aber nicht weit.

»Kela.« Mein Name fällt wie ein Stoppschild. Ein knapper Moment vergeht, bevor Brandon weiterspricht. »Du musst Zeit zum Lernen haben. Und wir brauchen zusätzlich Kohle, um die Heizung zu reparieren, das Dach muss geflickt werden …« Er beginnt aufzuzählen, was noch alles erneuert werden muss. Es ist eine Menge. Doch wir beide lieben dieses Haus, jedes wilde Detail davon – ein wunderbares Sammelsurium aus zusammengewürfeltem Mobiliar, Böden und Tapeten, die einander so fremd sind, dass man hinter der Zusammenstellung beinahe Absicht vermuten könnte. Außerdem haftet an jeder Ecke die Erinnerung an Mom, die es nicht lassen konnte, sämtliche Abstellflächen mit kleinen Kitschfiguren zu bevölkern. Auf den Kommoden tummeln sich dämlich grinsende Engel zwischen verliebten Giraffen und tanzenden Zwergen aus Glas, Keramik und Plüsch, die Herzen in den Augen, auf den Händen oder ihrer Kleidung tragen. Über allem hängt der unerträgliche Ausdruck inniger Liebe, und auch wenn ich die Figuren bizarr finde, sind sie doch ein Teil von Mom.

Ich erinnere mich noch genau, wie sie mit uns in dem alten Van durch die Gegend gefahren ist, auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Brandon war zehn, ich stand kurz vor meinem neunten Geburtstag. Davor hatten wir in einer kleinen Wohnung gehaust, in die Grandpa mit seiner Demenz nicht hineinpasste. Vermutlich passte er auch nicht zu uns in das große Haus, aber das war eine Entscheidung, die Mom schon längst getroffen hatte. Sie war einfach zu gut für diese Welt.

Das Haus war meine erste große Liebe.

Ich sah es und war überzeugt, dass ich darin wohnen musste, am liebsten sofort und für immer. Schon damals war es in einem desolaten Zustand, mit der weiß getünchten Veranda, den schiefen Dachgauben und dem Garten, den sich die Natur längst zurückerobert hatte. Dichte Efeuranken besetzten die Vorderfront des zweistöckigen Kolonialhauses und schlängelten sich wie ein dunkles Wesen weiter, um das Unkraut zu überwuchern, das früher einmal eine Wiese mit hübschen Beeten gewesen sein musste. Sofort sprang meine Fantasie an. Dieser Garten war wie das Öl, das meinen Motor speiste, denn er lud zum Träumen und Sich-darin-Verlieren ein. Brandon rümpfte bei diesem Anblick die Nase, aber meine Mutter sah mich an und erkannte das Leuchten in meinen Augen, dem sie ebenso wenig widerstehen konnte wie der dicken Eiche, die aus zwei Baumstämmen zusammengewachsen war.

Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, hier auszuziehen, aber dass zwei fremde Frauen Großvaters Räume im ersten Stock besetzen, ist auch kein sehr angenehmer Gedanke.

»Vergiss den Van nicht. Bald macht er es auch nicht mehr, und dann brauchen wir eine neue Karre«, holt mich Brandon in unsere Küche zurück. Mit der Fingerspitze fahre ich die Einkerbungen des alten Küchentisches nach, auf den fahle Streifen Sonnenlicht fallen.

»Kela, hörst du mir überhaupt zu?«

Ich zeichne Kreise ins Holz und nicke. »Ja, natürlich. Wir brauchen das Geld.«

»Wir können von Glück reden, wenn Melissa und Wendy sich für uns entscheiden. Gib den beiden eine Chance.«

Ich lege den Kopf schief. »Melissa und Wendy klingen, als würden sie direkt aus einem Pferderoman zu uns ziehen. Bringen sie ihr Pony mit?«, frage ich.

Brandon lächelt schmal. »Sehr witzig. Sie sind wirklich nett, viel netter als du.«

Aus den Kreisen werden Quadrate. »Und das weißt du, weil …?«

»Weil ich die Mädels gestern vor der Arbeit getroffen habe. Sie haben Probleme mit ihrem Vermieter und wollen sich das Haus morgen ansehen.«

»Was für Probleme sind das?« Die Quadrate erhalten Zacken. Schon morgen. Mein Magen krampft sich zusammen.

»Irgendwas wegen zu lauter Musik. Ihre Anlage war kaputt und der Typ macht jetzt eine große Sache daraus. Aber sie wollten ohnehin etwas Größeres mit Garten.« Brandon lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, eine Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht. Er hat Moms Haarfarbe, ein warmes Kastanienbraun, das an Herbst und lange Spaziergänge erinnert. Ich hätte gern diesen Farbton geerbt, stattdessen sind meine Haare blond. Wenigstens meine Augen sind von dem gleichen satten Dunkelgrün erfüllt, das auch in Moms Blick zu finden war.

»Und es stört die beiden nicht, dass sie uns gar nicht kennen? Immerhin könnten wir total Verrückte sein.« Gespielt gleichgültig zucke ich mit den Schultern. »Ich meine ja nur. Zwei Mädels, die dich genau einmal getroffen haben, sind bereit, zu dir und deiner Schwester in ein altes Haus zu ziehen? Das klingt nach der ersten Szene eines Hitchcock-Films.«

»Vielleicht ist es auch der Beginn einer heißen Lovestory«, bemerkt Brandon und grinst. Es ist dieses selbstbewusste Grinsen, das Frauen ansprechend finden, wenn sie nicht die eigene Schwester sind.

»Der Anfang einer interessanten Dreiecksgeschichte«, macht Brandon weiter. »Melissa oder Wendy? Für wen wird sich der gut aussehende, muskulöse Held wohl entscheiden?« Mein Bruder legt eine Hand auf seine Brust und holt tief Luft. Er sieht lächerlich aus.

»Du hast wirklich zu viele von Moms Liebesfilmen geguckt.«

»Ich bin ein Romantiker.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Wie viele Beziehungen hattest du? Warte. Lass mich zählen.« Zwei meiner Finger wandern in die Höhe, einer davon wackelt leicht. »Eineinhalb«, fasse ich zusammen, wohl wissend, dass ich für meine Ex-Freunde auch nur zwei Finger benötige. Zumindest sind es zwei ganze Finger.

»Wer ist denn die Halbe?«, will Brandon wissen.

»Rachel Millwater.«

»Aus der Grundschule?« Er schüttelt entschieden den Kopf. »Wir waren nie zusammen.«

»Das hat sie anders gesehen. Sie hat überall herumerzählt, dass ihr auf der Toilette geknutscht habt. Mit Zunge

»Ich habe mit Rachel überhaupt nichts gemacht. Sie hat ihre Popel gegessen«, sagt er und streckt die Beine aus. »Zugegeben, das hat mich damals auf eine schräge Art beeindruckt, aber ich habe mir geschworen, sie nie zu küssen. Weder mit Zunge noch mit Popel.«

Ich lache und auch Brandon lacht, und dann unterhalten wir uns weiter über die Wunderlichkeiten unserer Schulzeit, bis ich irgendwann spätnachmittags in mein Zimmer gehe, um mich auf das Bewerbungsgespräch bei der Chocs Factory vorzubereiten. In der Gegend hier gibt es nicht viele große Arbeitgeber, und die Schokoladenfabrik bezahlt fair. Der ausgeschriebene Bürojob umfasst vierzig Wochenstunden, was das Ende meiner Sommerferien, aber auch Geld für Brandon und mich bedeutet. Inzwischen kenne ich den Text der Firmenwebsite, die als Logo einen anorektisch aussehenden Biber mit überdimensionalen Zähnen nutzt, beinahe auswendig. Als ich mir noch einmal die Ausschreibung ansehe, piepst mein Handy.

Hiermit reiche ich Beschwerde ein. Seit vier Tagen hast du dich nicht mehr gemeldet, dieses Verhalten widerspricht dem offiziellen Freundschaftskodex. Keine Ahnung, ob du überhaupt noch lebst. Falls nicht, muss ich das wissen, um mich garderobentechnisch auf deine Beerdigung vorzubereiten. PS: Glaube ja nicht, dass ich dann Schwarz trage, ich komme in Farbe.

Meine Mundwinkel zucken nach oben. Meine Freundin Suki gibt es tatsächlich nur in Farbe, am liebsten in Violett- und Grüntönen. Und nur sie kann sich so kurz nach einer Beerdigung über eine Beerdigung lustig machen.

In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder Freundschaften geschlossen, aber ich hatte nie eine beste Freundin, mit der ich aufs Klo gegangen oder Pyjamapartys veranstaltet hätte. Bis Suki vor ein paar Monaten in eine Marketingvorlesung geplatzt kam, mit ihrem schwarzen Lockenkopf, den lilafarbenen Creolen und der neongrünen Steghose, bei deren Anblick man schlagartig blind wird. Suki besitzt nicht nur ein Faible für bunte Kleidungsstücke, sondern auch für die Neunziger. Damit habe ich mich abgefunden, genau wie mit dem Umstand, dass mich Suki zu ihrer besten Freundin auserkoren hat. Ich habe keinen Schimmer wieso, doch von der ersten Sekunde an ließ sie nicht locker. Und wenn Suki etwas will, wird sie zu einem Tornado mit enormer Überzeugungskraft, dem niemand etwas entgegenzusetzen hat. Sie fegt einfach über dich hinweg.

Mir kannst du nichts vormachen, tippe ich zurück. Du hast dein Outfit für meine Beerdigung doch schon längst zusammengestellt. Garantiert schon in der Woche, in der wir uns kennengelernt haben. Du bist vorbereitet, gut – vielleicht überlebe ich ja den morgigen Tag nicht?

Es piepst erneut. Ich überlasse nichts dem Zufall. Outfit Nummer eins: Latzhose mit Plateausneakers. Nummer zwei: Spaghettikleid über T-Shirt. Nummer drei: Samtrolli mit Schottenrock. Aber wieso solltest du den morgigen Tag nicht überleben? Geht es um den Schokoladenjob? Falls du auf eine Rettungsmission meinerseits aus bist: Fehlanzeige. Ich werde dich nicht vor Bibern beschützen, die nur für ein Foto so tun, als würde man von Schokolade nicht dick werden und keine schlechten Zähne bekommen. Unehrliche Tiere sind echt das Letzte.

Ich verweise auf Seite acht, Absatz drei des Freundschaftskodex, antworte ich sofort. Es ist deine Pflicht, mich vor manipulativen Nagetieren zu beschützen.

Die nächsten Minuten verbringen wir damit, uns erfundene Kodex-Pflichten an den Kopf zu werfen, die in ihrer Absurdität kaum zu übertreffen sind. Erst als ich Wendy und Melissa als neue Beste-Freundinnen-Option ins Spiel bringe, wird Suki ungewöhnlich ernst.

Hey. Ich könnte euch Geld borgen, meine Eltern würden euch garantiert helfen. Dann müsst ihr nicht aus dem Haus raus und – noch besser – keine Fremden ins Haus reinlassen.

Auch wenn Sukis Eltern, die ständig in der Weltgeschichte herumtingeln, keine finanziellen Sorgen haben, wäre es mir unangenehm, von ihnen Geld zu leihen.

Ich bekomme das schon hin. Immerhin habe ich Grandpa ausgehalten, wie schlimm können Melissa und Wendy denn schon werden?, schreibe ich und verzichte darauf, einen kotzenden Smiley hinter das Fragezeichen zu stellen, damit das Ganze glaubhaft klingt. Außerdem mag ich Smileys nicht besonders. Zu oft werden sie benutzt, um Wahrheiten abzufedern oder Gemeinheiten lustig klingen zu lassen. Smileys sind kleine Vertuschungsobjekte, die in Chats wie Massenware rausgehauen werden.

Doch Suki lässt nicht locker. Sie versichert mir, dass das wirklich überhaupt kein Problem wäre. Ihre Eltern würden mir das Geld ohne Weiteres geben, es mir sogar nachwerfen, wenn sie ihnen von meiner Situation erzählt. Ich beteuere, dass ich nicht gern beworfen werde, weder mit Wasserbomben, Brotkrumen noch mit Geld, und dass Brandon und ich das schon hinbekommen, weil wir unser ganzes Leben lang Übung darin haben.

Doch auch das reicht nicht aus. Suki mutiert zum Tornado. Ich kann förmlich spüren, wie ihre Rotationen heftiger werden, wie sie durch die Handyverbindung rauschen, und noch bevor sie mich mitreißen kann, beende ich das Gespräch, weil ich angeblich zu einem späten Termin mit Dr. Torres muss. Eine gut gemeinte Lüge. Würde der Freundschaftskodex tatsächlich als Standardwerk in jedem Bücherregal stehen, wäre diese Lüge nicht nur erlaubt, sondern in einer Situation wie dieser erwünscht, um die andere Partei nicht unnötig zu verletzen.

Anstatt zu Dr. Torres zu gehen, sortiere ich mein Bücherregal nach Farben und versuche, krampfhaft nicht an Grandpa zu denken, was mir natürlich nicht gelingt. Unbarmherzig schraubt sich die Erinnerung an seine blasse Gestalt in meine Gedanken, begleitet von einer fiebrigen Unruhe, die sich wie eine dunkle Welle in mir auftürmt, das innere Chaos weiter anfacht und ihren Höhepunkt erreicht, als ich aus dem Augenwinkel plötzlich einen düsteren Schatten wahrnehme, der geräuschlos über meinen Kleiderschrank gleitet.

Ich erstarre vor Schreck. Mein Herz setzt aus, mein Puls donnert nach oben. Mit angehaltenem Atem zwinge ich mich, meinen Blick auf die hellen Schranktüren zu richten, aber der lichterlose Schemen ist verschwunden.

Das schreckliche Gefühl jedoch bleibt.

»Du siehst aus wie eine schlecht gelaunte Sphynx-Katze.« Oscar blinzelt mich mit seinen großen Augen an. Rote Haarsträhnen hängen ihm verschwitzt in die Stirn, das graue T-Shirt mit dem wundervollen Gedicht schlackert um seine Oberarme. Love is my religion. I could die for that. I could die for you.

Ich kenne keinen Neunjährigen, der John Keats so charmant auf der Brust trägt wie Oscar Coleman. Über den perfekt gemähten Rasen kommt der Nachbarsjunge auf mich zu. Er mustert mich von oben bis unten. »Scheißtag?«

»Du sollst nicht scheiße sagen«, entgegne ich. Es ist warm und meine Bluse klebt an mir, genauso wie die bittere Erkenntnis, dass aus dem Job wohl nichts werden wird. Nicht nach dem katastrophalen Interview.

»Du hast doch selbst gerade scheiße gesagt.«

»Um dir zu erklären, dass du das Wort nicht benutzen sollst.«

Er seufzt. »Du bist echt kein gutes Vorbild.«

Von jedem anderen Neunjährigen, der so altklug redet, wäre ich genervt. Bei Oscar ist es etwas anderes. Seit er drei Jahre alt war, helfe ich seiner Familie als Babysitterin. Auch wenn ich es vor ihm niemals zugeben würde: Er ist mein absoluter Liebling unter den Kindern der Straße, auf die ich ab und zu aufpasse. Seine Ehrlichkeit ist bestechend und verstörend zugleich.

»Wusstest du, dass Sphynx-Katzen mehr Futter benötigen als Katzen mit Fell?«, fragt er mich. »Sie sind also teurer in der Haltung und verdammt hässlich.«

»Manchen Leuten gefallen sie trotzdem. Aber danke, dass du mich eben mit einer verglichen hast.«

Oscar grinst sein Zahnlückenlächeln. »Es sind auch sehr intelligente Wesen.«

»Die Kurve bekommst du nicht mehr.«

Er zuckt mit den Schultern, als wäre ihm das vollkommen egal. »Du bist heute so hübsch angezogen. Warum?«

»Ich hatte ein Vorstellungsgespräch.«

»Und das lief sch… nicht gut?«

»Nicht besonders. Ich war so nervös, dass ich mein Wasserglas verschüttet habe, und dann natürlich unbedingt sauber machen musste. Außerdem gibt es mehr als vierzig Bewerber für diese Stelle, da stehen meine Chancen schlecht«, sage ich und beiße mir auf die Zunge. Schon seit Jahren wartet Oscar auf ein Spenderherz, da sollte ich ihm nichts über miese Chancen erzählen.

»Schon gut«, sagt er, als könnte er meine Gedanken lesen. »Ich bin in den letzten Tagen auf der Warteliste ein Stück nach oben gerückt. Mom und Dad haben sogar wieder mal gelacht.«

Ich freue mich. »Das sind doch gute Neuigkeiten.«

»Zumindest für mich. Für den Bus mit den Organspendern, der sich dreimal überschlagen hat, weniger.«

Es ist eine Feststellung, die völlig sachlich aus seinem Mund kommt und mir wieder einmal bewusst macht, dass der kleine Kerl viel zu viel Zeit mit Erwachsenen verbringt.

Im nächsten Moment hält mir Oscar den schmächtigen Arm angewinkelt entgegen, als würde er mich zum Tanz auffordern. »Soll ich dich nach Hause begleiten?«

»Ich bestehe darauf«, erwidere ich gestelzt, hake mich ein und lasse mich von ihm die wenigen Meter an dem alten Holzzaun vorbeiführen, der den Garten der Colemans von unserem trennt. Während bei Oscars Eltern alles perfekt gestutzt und getrimmt ist, sieht unser Grundstück wild und chaotisch aus. Wären es Musikstücke, dann wäre das Coleman-Haus eine klassische Symphonie mit zarten Violinenklängen, der wir einen kräftigen Heavy-Metal-Song entgegenschmettern.

Oscar und ich bleiben vor unserem verlotterten Gartentor stehen, das bei jedem Windstoß in den Angeln quietscht.

»Und? Welche Wolken hattest du heute?«

»Ich hatte acht Rennpferde, vier Schiffe und zwei Kamikaze-Hasen. Und du?«, fragt er zurück.

»Einen Dinosaurier und ein depressives Clownsgesicht, von dem ich heute schlecht träumen werde. Plus zwei kleine Elefanten.«

Oscar löst seinen Arm aus meinem und beginnt, auf dem Bürgersteig vor mir hin und her zu hüpfen. »Wusstest du, dass der Elefant das einzige Säugetier ist, das nicht springen kann?«

»Darüber sollten wir froh sein. Überleg mal, wie es wäre, wenn Elefanten springen könnten. Und zwar gleichzeitig.« Die bloße Vorstellung bringt mich zum Grinsen, auch Oscar kichert. Er war schon immer von Tieren fasziniert, genauso wie von skurrilen Fakten.

Oscar springt noch einmal in die Höhe, zieht dabei die Beine an und landet mit voller Wucht auf dem Asphalt, um die hüpfenden Elefanten nachzustellen. Bei Oscars Körpergewicht hält sich das Geräusch in Grenzen, doch er ist zufrieden. »Habe ich dir eigentlich schon mal mein krasses Muttermal gezeigt? Das musst du sehen, ist fast besser als die Wolken.« Der Kragen seines T-Shirts wandert nach unten.

Mein Blick fällt auf den kreisrunden Schönheitsfleck nahe seinem Schlüsselbein. Bislang war mir die Stelle nicht aufgefallen. »Sieht aus wie ein Kugelfisch.«

»Cool, nicht wahr?«

Ich hebe meine Hand und deute auf die unscheinbare Narbe in meiner Handfläche, deren blasse Linien seltsam elliptisch verlaufen.

»Ist doch bloß eine Blume. Mein Kugelfisch gewinnt«, sagt Oscar.

»Es ist keine Blume, es ist ein Drachenkopf.«

»Das hättest du wohl gern. Das ist niemals ein Drachenkopf. Wenn überhaupt, ist es ein großes Gänseblümchen. Vielleicht auch nur ein Kackhaufen.«

»Okay. Eigentlich wollte ich nicht so weit gehen. Topp das mal.« Ich hebe mein Bein an, was in dem engen Rock gar nicht so leicht ist. Stolz präsentiere ich eine Narbe an meinem Knöchel, die einem fliegenden Adler ähnelt, zumindest mit etwas Fantasie. Und davon haben wir beide reichlich.

Wie zwei Kriegsveteranen beginnen wir, unsere Narben und Muttermale zu vergleichen, bis Oscar irgendwann zum ultimativen Endschlag ausholt.

»Schau dir das an.« Er zeigt mir eine Wunde am Knie, knapp unter dem kurzen Hosenbein, die er mir als tanzenden Oktopus verkaufen möchte. Ich lasse es gelten, wie könnte ich auch anders.

»Wann ist denn das passiert?«, frage ich vorsichtig und bin sicher, dass Mrs Coleman ausgetickt ist.

Oscar lehnt sich an unseren Gartenzaun. »Bin gestern mit dem Fahrrad blöd gestürzt. Dabei wollte ich nur zum Fluss, um die Frösche zu beobachten. Jetzt erlaubt Mom das nicht mehr.«

»Sie macht sich eben Sorgen«, sage ich und merke, dass ich mich wie diese Erwachsenen anhöre, die versuchen, Enttäuschungen mit Worten wegzureden.

Oscar zuckt mit den Schultern, was mich traurig macht, denn es ist ein resigniertes Zucken. Ein Zucken des Aufgebens. Oscar ist noch viel zu jung, um so zu zucken.

»Gib ihr etwas Zeit«, sage ich, beuge mich zu ihm und stupse ihn verschwörerisch mit der Schulter an. »Außerdem können wir ja … also wenn ich das nächste Mal auf dich aufpasse, können wir einen kleinen Trip zum Fluss unternehmen und die Frösche zu zweit stalken.«

Die Lebendigkeit kehrt in sein Gesicht zurück. »Hört sich gut an. Wann kommst du?«

»Nächsten Donnerstag. Die Frösche werden uns bis dahin nicht davonrennen.«

»Nein, aber davonhüpfen.« Oscar lacht und beginnt erneut, auf dem Bürgersteig auf und ab zu springen. »Hey, wir könnten zwei Frösche mitnehmen und in eurem Garten aussetzen.«

»Das könnten wir«, erwidere ich und bin gerührt, dass er nicht bloß einen aussiedeln möchte, sondern gleich an Gesellschaft gedacht hat.

»Wenn es zwei talentierte Frösche sind, werden wir ihnen eine hübsche Wohnung mit Aussicht einrichten«, fährt Oscar enthusiastisch fort und deutet auf ein mehrere Meter hoch gelegenes Astloch im Stamm der dicken Eiche, die Mom so sehr liebte. Auch Oscar liebt unseren Garten und treibt sich gern darin herum, was seiner Mom gar nicht gefällt.

»Und wenn die Frösche nicht talentiert sind, musst du sie eben trainieren, bis sie weit genug nach oben springen können.«

»Das schaff ich. Und ich richte ihnen die coolste Wohnung aller Zeiten ein, das wird richtig klasse. Ich kann’s kaum erwarten.« Mit vollem Elan hüpft Oscar noch einmal besonders hoch und verzieht dabei quakend das Gesicht, als wäre er selbst ein Frosch. Er sieht witzig aus, und ich muss unwillkürlich lachen, wenigstens so lange, bis mein Blick auf unsere Veranda fällt, auf der drei große, dunkle Reisetaschen stehen, die gar nicht witzig aussehen.

Mein Magen kracht nach unten. Nein. Nicht schon jetzt.

»Bekommt ihr Besuch?«, will Oscar wissen.

Abwesend schüttele ich den Kopf und wünschte, es wäre nur Besuch, nur vorübergehend und gar nicht erst notwendig. Während ich mich von Oscar verabschiede, tobt sich mein Kopf bereits aus. Gedanklich sehe ich Wendy und Melissa in jeder Ecke unseres Hauses – wie sie Möbel verstellen, meinen Joghurt aufessen und ihre Sachen überall liegen lassen, weil wir nun eine große, glückliche WG sind, in der Sachen liegen gelassen werden und Essen geteilt wird.

Meine Schritte beschleunigen sich. Meine Beine führen mich an der Eiche, der Hollywoodschaukel und dem Gartenschuppen vorbei, die Verandastufen hinauf, durch die Eingangstür, in die Diele. Ich bleibe stehen, erwarte glockenhelles Lachen, das durch unser Haus schallt, doch es ist ruhig. Wahrscheinlich sind sie schon im ersten Stock und beziehen die Betten.

Entspann dich.

Nervös streife ich meinen Rucksack ab, schlüpfe aus den Ballerinas und steuere die Treppe an. Das Knarzen der Holzstufen verliert sich in meiner Wahrnehmung, ebenso wie der ungewohnte Duft nach gefallenem Regen, als ich die Stufen hinaufschreite.

»Brandon?«, rufe ich und folge den gedämpften Stimmen, die aus Grandpas Räumlichkeiten dringen. Vielleicht sind die beiden auch ganz nett, schießt es durch meine Gehirnwindungen, aber es ist nur ein Flüstern, nicht laut genug, um die restlichen Gedanken zu stoppen oder meine Hände davon abzuhalten, die Tür aufzureißen. Dahinter entdecke ich meinen Bruder, der zwischen Grandpas abgewetzter Couch und dem alten Fernseher steht und merkwürdig ertappt wirkt.

»Kela – du bist schon zurück?«

»Offenbar«, sage ich und mache zwei Schritte in den Raum hinein. Dabei starre ich abwechselnd die beiden Typen an, die nicht hierhergehören. »Das sind also Wendy und Melissa?«, frage ich zynisch und ernte dafür ein breites Grinsen von dem hageren Kerl mit dem aufgekrempelten Designerhemd, dessen Fingerspitzen gerade über die Plattensammlung meines Großvaters tanzen. Sein Freund mit den kurz rasierten Haaren und dem trainierten Bizeps, der stoisch an einem der Sprossenfenster Richtung Garten lehnt, zeigt hingegen keinerlei Regung.

Ich schnaube. »Irgendwie hatte ich mir die Mädels anders vorgestellt.«

»Das Leben ist eine Ansammlung von Enttäuschungen«, erklingt eine tiefe Stimme hinter mir, die mich augenblicklich innehalten lässt. Hätte die Stimme eine Farbe, dann wäre sie rauchschwarz, genau wie die Klamotten des Typen, der soeben aus Großvaters Badezimmer tritt. Er hat dunkelbraune Locken und ein markant schönes Gesicht, ähnlich jener schwermütigen Schauspieler, deren tragisch junger Tod einen Mythos aus ihnen machte. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, beginnt er, durch das Zimmer zu schlendern, als wäre er auf der Suche. Er klopft gegen die Wände und fasst unsere Möbelstücke an, als würden sie ihm gehören.

»Melissa und Wendy haben sich für ein anderes Haus entschieden. Anscheinend ein Schnäppchen, das sich gestern noch ergeben hat«, beginnt Brandon zu erklären. »Das hier sind Todd, Jerome und Nero. Sie brauchen kurzfristig eine Bleibe. Ein Freund hat den Jungs meine Telefonnummer gegeben, und sie konnten glücklicherweise gleich vorbeikommen. Also, was sagt ihr?«

Ich funkele meinen Bruder wütend an und will ihm sagen, dass er und ich eine verdammt unterschiedliche Definition von Glück besitzen, doch da hat der muskulöse Typ vom Fenster schon eine andere Antwort parat.

»Nicht gerade das Hilton.«

»Die Möbel bleiben?«, will der Kerl mit dem Hemd wissen, der mit seiner hippen Stoffhose aussieht, als würden sich nur teure Klamotten in seinen Schrank verirren.

»Ja, die Couch kann man ausziehen, da können zwei drauf schlafen. Das Zimmer nebenan hat ein Einzelbett, aber das habt ihr ja bereits gesehen.«

Stöhnend fährt sich der Muskelprotz über seinen Dreitagebart und blickt an mir vorbei zu seinem Freund, der sich noch immer suchend im Raum umsieht. »Nero«, mault er. »Nicht dein Ernst. Ich muss mit Todd auf der Couch pennen?«

»Du kannst auch gern den Fußboden nehmen«, wirft sein gestylter Kumpan ein, bei dem es sich offenbar um Todd handelt. »Der ist zumindest groß genug für dein Ego.«

»Wenigstens ist an mir etwas groß«, brummt Jerome zurück und betrachtet Todd abschätzig.

»Du sagst es. Wenigstens ist etwas an dir groß, den Rest versuchst du mit Muskelmasse zu kompensieren.« Lächelnd deutet Todd einen kleinen Abstand mit den Fingerspitzen an, woraufhin sich Jeromes Kiefermuskeln sichtlich anspannen.

Den Typ mit den dunkelbraunen Locken scheint das Hin und Her seiner Kameraden nicht zu interessieren. Ungerührt bleibt er vor einem düsteren Goya-Wandbild stehen, das neben dem kleinen Bücherregal hängt und zu Großvaters Grundstimmung passte, und nickt Brandon knapp zu. »Wir nehmen die Zimmer.«

Ich hoffe auf Gegenwehr von seinen Freunden, doch die kommt nicht, genauso wenig wie ein Erdbeben oder ein Wasserrohrbruch oder sonst irgendetwas, was die drei von ihrem Einzug abhalten könnte.

»Sehr gut. Wann wollt ihr einziehen?«, fragt Brandon, der mir einen kurzen, schuldbewussten Seitenblick zuwirft, den er sich sonst wo hinstecken kann.

»Heute«, sagt Nero.

»Bringt ihr Möbel mit?«

»Wir nehmen, was da ist.«

»Und euer Gepäck?«, frage ich bockig, in dem Versuch, das Ganze doch noch irgendwie abzuwenden. Gleichzeitig wünsche ich mir Wendy und Melissa zurück und verfluche die Sache mit den Wünschen, die eigentlich nie klappt oder einfach nur in die falsche Richtung läuft.

Und dann passiert es. Nero sieht mich an, zum allerersten Mal. Der Blick aus seinen fast schwarzen Augen ist so durchdringend, dass mir unwillkürlich der Atem stockt. Mein Herzschlag legt einen Gang zu, und ich verabscheue mich selbst für den nächsten Gedanken, aber ich bin tatsächlich noch nie einem derart schönen Mann begegnet, dessen Aufmerksamkeit sich wie ein einziger, dunkler Lichtstrahl auf mich legt. Es gibt kein dunkles Licht, doch wenn es das gäbe, dann würde es sich in Neros Blick wiederfinden.

»Steht vor der Tür«, beantwortet er ruhig meine Frage, die ich schon fast wieder vergessen habe.

Blinzelnd löse ich mich aus meiner merkwürdigen Starre und bin selbst verwundert, wie gleichmütig ich klinge. »Seid ihr etwa auf der Flucht?«

»Noch nicht«, verkündet er trocken. »Du wohnst auch hier?«, will er dann wissen, während er mich noch immer fixiert.

Es fällt mir schwer, mich aus seinem einnehmenden Sog zu befreien, dabei war ich noch nie jemand, der sich von Äußerlichkeiten beeindrucken lässt. Doch selbst der tiefe Klang seiner Stimme vibriert in meinem Inneren nach, als hätte die Realität eine zusätzliche Dimension erhalten.

»Sie ist meine Schwester«, erklärt Brandon hart. In wenigen Schritten ist er bei mir und schiebt sich vor mich.

»Jetzt willst du mich beschützen?«, gifte ich ihn leise an. Sein Großer-Bruder-Instinkt kommt reichlich spät.

»Es gibt Regeln«, erläutert Brandon über mich hinweg. »Regel Nummer eins: Wer Kela anfasst, ist tot.«

»Oh.« Todd wiegt die Chet-Baker-Schallplatte zwischen seinen manikürten Fingern. Seine Mundwinkel zucken nach oben. »Eine sehr klare Regel.«

»Keine Sorge. Das wird nicht passieren«, stellt Nero unbewegt fest. Seine Haltung ist distanziert, doch sein intensiver Blick weicht nicht von mir. »Wofür ist Kela die Abkürzung?«

»Katalea«, sage ich, auch wenn ihn das nichts angeht.

»Du scheinst über unseren Einzug nicht besonders erfreut zu sein, Katalea«, bemerkt er nüchtern, als würde es ihn nicht besonders interessieren.

»Nein, bin ich nicht«, bestätige ich. »Wo habt ihr denn bislang gewohnt? Und weshalb müsst ihr so schnell dort raus?«, setze ich nach, weil ich noch lange nicht bereit bin, aufzugeben.

»Im Norden der Stadt. Es gab Kakerlaken.«

»Im ganzen Norden?« Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass ein paar Küchenschaben die drei aus ihrem Zuhause vertreiben könnten.

»Kakerlaken gibt es überall.«

Ich erwidere Neros kühlen Blick. »Vielleicht auch in diesem Haus.«

»Ja. Vielleicht.« Jedes seiner Worte scheint Gewicht zu haben, auf eine ganz eigentümliche Art. »Das werden wir wohl erst mit der Zeit herausfinden.«

»Oder ihr sucht euch eine andere Bleibe«, schlage ich vor. »Eine ohne lästige Mitbewohner.«

Nero verzieht noch immer keine Miene, und auch meine Fassade sitzt. Hoffe ich zumindest. Es ist echt nicht leicht, seiner eigentümlichen Präsenz standzuhalten, aber noch schlimmer wäre es, mich jetzt zurückzuziehen. Das hier ist mein Zuhause, nicht seines.

»Wir mögen Herausforderungen«, höre ich Todd sagen. Der amüsierte Unterton in seiner Stimme verrät eine Endgültigkeit, die sich deutlich spürbar durch den Raum schlägt. Aus irgendeinem Grund haben die drei ihre Entscheidung schon längst gefällt.

»Die Jungs studieren auch an der Stanson University«, wirft Brandon ein und reibt die Hände aneinander. »Also. Ein Badezimmer habt ihr hier oben, die Küche unten könnt ihr gern mitbenutzen. Räumt bloß euer Zeug immer gleich weg. Schlüssel suche ich euch noch raus, richtet euch erst mal in Ruhe ein. Wenn ihr etwas braucht, ich bin unten und überlege mir die restlichen Regeln.« Noch ein schnelles Nicken, dann greift Brandon nach meiner Hand und zieht mich aus dem Raum, die Treppe hinunter, direkt in unser Wohnzimmer, wo er beide Holzschiebetüren hinter mir schließt.

»Was hast du dir bloß dabei gedacht?!«, fauche ich ihn mit bebenden Schultern an.

»Mein Freund würde seine Hand für die Jungs ins Feuer legen. Er hat gesagt, dass sie in Ordnung sind, Kela. Ich hätte mich auch mehr über Melissa und Wendy gefreut, aber das hat sich erledigt. Und wir sind nicht in der Lage, jemanden abzulehnen. Die Ansprüche der drei sind niedrig, genau das brauchen wir jetzt.«

»Wir könnten doch noch mal inserieren«, protestiere ich.

»Genau. Weil das so außerordentlich gut funktioniert hat. Lass mal überlegen, wie viele Leute haben sich auf unsere Anzeige gemeldet? Moment.« Er tut, als würde er intensiv nachdenken, um sogleich mit Daumen und Zeigefinger eine große, hässliche Null zu formen. »Null. Es waren genau null Leute. Der Van hat heute seinen Geist aufgegeben. Er muss in die Werkstatt, das bekomme ich nicht mehr alleine hin. Wir haben keine andere Wahl. Für die Jungs ist die Miete total okay. So schnell finden wir niemanden, der sofort und bedingungslos hier einziehen möchte.«

Ich schnaube. »Aber kommt dir nicht genau das komisch vor?«

»Nein. Es ist ein Glücksfall, den ich einfach mal so stehen lasse. Nach allem, was wir in den letzten Jahren durchmachen mussten, haben wir ein bisschen Glück verdient.«

»Für mich sehen die drei nicht nach Glück aus. Ganz und gar nicht. Sie sehen aus, als könnten sie uns eine Menge Ärger machen.«

Brandon will schon etwas erwidern, hält dann jedoch inne, um beunruhigt mein Gesicht zu studieren. »Hast du etwa Angst, dass sie …«

»Was? Über mich herfallen?« Ein Lachen erstickt in meiner Kehle. Meine Gedanken überschlagen sich und meine Finger beginnen wie von selbst, Moms Engelsfiguren, die auf der alten Kommode neben dem Bücherregal stehen, der Größe nach zu ordnen. »Nein, Brandon. Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich denke, dass sie einfach nicht in dieses Haus passen, dass sie nicht zu uns passen und dass ihre Anwesenheit noch mehr Chaos in unser Leben bringen wird.«

»Du wirst doch kaum etwas von ihnen mitbekommen.«

Der sitzende Kristallengel mit der Geige wandert nach rechts. »Echt jetzt? Das ist dein Argument? Die drei sehen nicht aus wie Typen, von denen man nichts mitbekommt.«

»Sie sind wirklich nett, mein Freund hat von ihnen geschwärmt.«

»Und warum ziehen sie dann nicht bei ihm ein?«, entgegne ich spitz. Der blaue Glasengel mit dem Heiligenschein rückt nach links.

Brandon atmet tief ein, dann legt er mir die Hände auf die Schultern. »Kela. Hast du eine andere Lösung?« Er fragt mich ruhig und sanft, redet mit mir wie mit einem störrischen Esel. Ich hasse es, dieser störrische Esel zu sein, und noch mehr hasse ich es, keine Antwort auf seine Frage zu haben.

»Nein. Noch nicht«, sage ich, tausche die Position des betenden Plüschengels mit der des schlafenden Himmelsboten aus Porzellan und klammere mich dabei an das letzte Rettungsboot, das in weiter Ferne vor sich hindümpelt. »Sukis Eltern würden uns Geld borgen.«

Brandon atmet abermals tief ein. Er mag Suki, vielleicht ein bisschen zu sehr. »Und das möchtest du? Du möchtest Schulden bei den Eltern deiner Freundin machen?«

»Nein, natürlich nicht«, gebe ich leise zu.

»Hey.« Brandon zieht mich zu sich, um mich in den Arm zu nehmen. »Ich habe auch keinen Bock, drei Fremde hier wohnen zu lassen. Aber vielleicht sind sie nicht so übel, und wenn doch, schmeißen wir sie einfach wieder raus, okay?«

Es ist ein Angebot, wie man es einem kleinen Kind machen würde, aber ich nicke. »Okay«, sage ich und löse mich aus seiner Umarmung. Das Pendel der antiken Standuhr rechts von mir schlägt im Gleichtakt, ganz im Gegensatz zu meinem Herzschlag, der noch immer viel zu schnell geht. »Aber sobald sie eine von Moms Figuren zerbrechen, war’s das für sie. Deal?«

Seufzend lässt mein Bruder seinen Blick über das Wohnzimmer streifen, dessen Überbevölkerung an lieblichen Porzellan- und Kristallfiguren einen schier erschlagen kann. Kaminsims. Couchtisch. Kommoden. Beistelltisch. Bücherregal. Sie sind einfach überall.

Er neigt den Kopf. »Das ist eine Falle. Als würdest du verlangen, auf einer Wiese kein Gras zu zertreten. Muss ich dich an die hübsche Ballerina erinnern? Oder an die singende Entenfamilie?«

»Das war ein Unfall.«

Er hebt die Augenbrauen. »Du bist eine Zerstörerin, Katalea Richardson.«

»Als hättest du noch nie etwas herunterfallen lassen. Denk doch an den dicken Igel und die tanzenden Pinguine.«

»Eben – es ist schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit, in diesem Haus nichts kaputt zu machen. Aber okay. Wenn die Typen insgesamt mehr als zehn Figuren ruinieren, müssen sie gehen.«

»Drei«, verlange ich und halte ihm auffordernd die Hand hin.

»Sieben.«

»Fünf. Mein letztes Angebot.« Ich blicke Brandon fest in die Augen, der kopfschüttelnd einschlägt. »Ich bereue es jetzt schon«, brummt er dann und setzt sich an den Couchtisch, auf dem sich neben einem Keramikschwan mit treudoofem Blick und zwei küssenden Kristallfröschen mit pinken Herzaugen einige Prospekte und Briefe stapeln. »Das hier ist übrigens für dich gekommen.«

Brandon hält mir einen Umschlag entgegen, der in einer hübschen Handschrift an mich adressiert ist. Eigentlich bekomme ich nie Post. Ich wende das cremefarbene Kuvert aus edlem Papier, das mit keinem Absender versehen ist. Es fühlt sich seltsam an. Was genau, kann ich nicht sagen, aber ich bin vorsichtig, als ich meinen Zeigefinger unter den Falz schiebe und den Umschlag behutsam öffne.

Katalea,

lass die Wunder wirken. Lebe dein Leben mit allen Sinnen und vertraue darauf, dass du den Weg gehen wirst, der dir vorbestimmt ist. Deine Intuition wird dich führen. Noch liegt sie tief in dir verborgen, aber ihre Stimme wird lauter und klarer, je länger du ihr zuhörst. Du bist einzigartig, Katalea. Du bist etwas Besonderes. Habe den Mut, dir das einzugestehen.

Das Leben ist im Fluss, das Leben ist Veränderung. Wenn du deinen Ängsten folgst, vergeudest du deine Kraft, um gegen den Fluss zu schwimmen. Tu das nicht. Heiße die Veränderung willkommen und lass dich von ihrer Strömung liebevoll treiben, auch wenn es dir schwerfällt. Heiße deine neuen Mitbewohner willkommen.

PS: Fang die blauen Kuckucke auf, du ersparst ihr damit unnötiges Leid.

Ich starre auf das Schreiben, starre auf die geschwungene, unbekannte Handschrift, starre auf den Inhalt, der mich sprachlos macht. Nur schwer kann ich den Blick davon lösen. »Brandon?«

Mein Bruder sitzt über den Rest der Post gebeugt. Kastanienbraune Haarsträhnen fallen ihm ins Gesicht, während er die Unterlagen sichtet. Er scheint mich gar nicht zu hören.

»Brandon?«, sage ich etwas lauter.

»Was ist?«

»Ich habe einen seltsamen Brief erhalten.«

Er fährt sich stöhnend durch die Haare. »Bitte sag’ nicht, dass es noch eine Rechnung ist.«

»Nein, ist es nicht«, erwidere ich und halte ihm das Schreiben hin.

»Und auch keine Mahnung?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß nicht, was es ist.«

Mein Bruder nimmt den Brief entgegen, um einen kurzen Blick darauf zu werfen. »Das ist ein Blatt Papier.«

Im Moment ist mir echt nicht nach Lachen zumute. »Sehr witzig. Lies die Zeilen.«

Er runzelt die Stirn. »Welche Zeilen?«

Ich greife nach dem Papier, das plötzlich leer ist. Ich blinzele, traue meinen Augen nicht. Dann wende ich das Blatt, doch auch auf der Rückseite blickt mir das blanke Nichts entgegen.

»Das kann nicht sein«, flüstere ich.

»Was kann nicht sein?«, fragt mein Bruder abgelenkt, denn er brütet schon wieder über dem Stapel Rechnungen.

»Vor ein paar Sekunden stand hier noch etwas geschrieben, von einem verdammten Fluss, von Veränderungen akzeptieren und von den neuen Mitbewohnern und irgendwelchen Kuckucken«, erkläre ich aufgeregt.

»Wie bitte?«, irritiert sieht Brandon zu mir hoch.

»Es war ein Brief an mich«, sage ich mit Nachdruck. »Das Papier war nicht leer.«

»Aber du siehst doch, dass da nichts draufsteht.«

»Das sehe ich – jetzt. Aber vorher war das anders.«

Brandon legt die Stirn in Falten. »Und da stand etwas von Veränderungen, den Typen, die hier einziehen, und irgendwelchen Vögeln?« Das letzte Wort zieht er unnötig in die Länge.

Mein Brustkorb verengt sich, und ich fühle, wie sich die Unruhe in mir ausdehnt. »Willst du etwa andeuten, dass ich einen Vogel habe?«

»Nein, ganz und gar nicht«, versichert er mir und steht auf. Sein Blick wird weicher. »Hey. Es waren ganz schön viele Veränderungen für einen einzigen Tag. Wann hast du denn deinen nächsten Termin bei Dr. Torres?«

Ich reibe mir über die Augen. »Ich habe mir die Zeilen nicht eingebildet, Brandon. Ja, ich bin vielleicht neben der Spur, weil meine Gedanken ständig Überstunden machen und sich in meinem Kopf verlaufen, aber das hier war echt.«

»Und was ist mit Großvater? Den du gestern noch vor deinem Bett gesehen hast?«

»Keine Ahnung. Vielleicht war es wirklich nur ein Traum«, sage ich, weil es das Einzige ist, was sich gerade noch vernünftig anhört, auch wenn ich es selbst nicht glaube.

Und dann lasse ich meinen Bruder mit seinen Rechnungen allein und ziehe mich mit dem Brief in mein Zimmer zurück, wo er mich mit gähnender Leere verhöhnt. Während von draußen die gedämpften Stimmen der Jungs erklingen, von denen ich nichts mitbekommen sollte, zermartere ich mir mein Hirn mit Fragen, die ich nicht beantworten kann. Wer hat mir diesen Brief geschrieben und zu welchem Zweck? Wie kann es sein, dass sich die Handschrift einfach in Luft aufgelöst hat? Wie konnte der Absender überhaupt von meinen neuen Mitbewohnern wissen? Und was hat es mit den blauen Kuckucken auf sich? In hässlichen Spiralen quälen sich die Fragen durch meinen Kopf. Befeuern meine Anspannung und geben mir das Gefühl, mein Leben aus der Hand gleiten zu sehen.

Nachdem ich geduscht und mein Zimmer stundenlang grundgereinigt habe, lasse ich mich irgendwann müde aufs Bett fallen und sinke in einen tiefen traumlosen Schlaf, aus dem mich ein Geräusch weckt. Es klingt nach einem Räuspern.

Einem verärgerten Räuspern.

Verschlafen drehe ich mich zur Seite und öffne langsam die Augen. Ein Streifen Mondlicht fällt schräg durch das Fenster auf meinen Schreibtisch und erhellt den schwarzen Adler aus Glas, den Mom mir vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hat. Ich versinke in der Erinnerung, als sich das ungeduldige Räuspern wiederholt und eine blasse Gestalt plötzlich an mein Bett herantritt.

»Herrje, wie kann man nur so fest schlafen! Dachte schon, dass du tot bist.« Großvaters knarzige Stimme schießt mir durch Mark und Bein.

Unverzüglich sitze ich senkrecht im Bett, mein Herz klopft mir bis zum Hals. Ich blinzele, mehrmals. Doch so sehr ich mich auch anstrenge, Grandpa steht noch immer vor mir, in seiner braunen Cordhose, der dunkelgrünen Weste und mit der grauen Schirmmütze auf dem Kopf. Er sieht aus, wie er immer aussah, nur dass sein Körper halb transparent ist und ein leichtes Strahlen von sich gibt, als könnte man einfach durch ihn hindurchfassen.