FÜR MEINE FRAU CHRISTINE,
SIE HAT MICH FÜR
DIE FLUSSABENTEUER
FREIGESPIELT.
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1. Auflage Dezember 2021
© 2021 edition riedenburg
Verlagsanschrift Adolf-Bekk-Straße 13, 5020 Salzburg, Österreich
Internet www.editionriedenburg.at
E-Mail verlag@editionriedenburg.at
Lektorat Mag. Bernadette Gotthardt
Bildnachweis Cover: © Gottlieb Eder
Fotos Alaska und Asien: © Gottlieb Eder
Fotos Österreich: © Marco Boeschenstein
Zeichnungen: © Gottlieb Eder
Satz und Layout edition riedenburg
Herstellung Books on Demand GmbH
ISBN 978-3-99082-077-3
Lachse besitzen eine innere Uhr. Ihre Rückkehr aus den Weiten des Meeres in das Brackwasser ist meist höchst verlässlich. In Wellen steigen die Wanderfische, je nach Art und Flusssystem, zu ihren eigenen Geburtsplätzen auf.
Meine erste abenteuerliche Flussbefahrung und der Zielfisch Silberlachs entwickelten sich jedoch zum Reinfall. Der „Coho Salmon“, wie die Einheimischen diesen Fisch respektvoll bezeichnen, machte sich rar in der „Susitna-Drainage“. Buschpiloten, Lodgebesitzer und einheimische Guides rätselten über die erhebliche Verschiebung der sogenannten Runs: Der geringe Schneefall des letzten Jahres und die spärlichen Niederschläge seien Schuld, meinten sie überzeugend. Kein Mensch nahm seinerzeit das Wort „Klimaveränderung“ in den Mund.
Jahrzehnte später wundern sich gar die Glaziologen. Weltweit ziehen sich die Gletscher zurück und der Masseverlust des „ewigen“ Eises ist bereits bedrohlich. Es ist gar von „galoppierenden“ Gletschern die Rede. Schneller als Nacktschnecken kriechen, gleiten manche steile Hanggletscher täglich mehr als zehn Meter talwärts.
Dem Symboltier Eisbär schmilzt buchstäblich sein Lebensraum unter den Pranken weg. Er ist ein ausgezeichneter Schwimmer. Trotzdem ist er nicht in der Lage, seine Beute – nämlich Robben oder Fische – im Wasser zu schlagen.
Die Probleme der Inuitkultur und der tierischen Polarbewohner kümmern die großen Konzerne keinen Deut. Ihre Gier richtet sich nun auf die leicht zugänglichen Rohstoffe und Lagerstätten der Region. Der Rückzug des Eispanzers in der Arktis löst geradezu einen Wettkampf aus. Die geopolitischen Spannungen verstärken sich.
Auch die Alpenregion ist keine Insel der Seligen mehr: Der Kitt zwischen den Gesteinen, der Permafrost, verliert nämlich an Bindungskraft. Mächtige Felsbrocken und Geröll folgen der Schwerkraft. Lokale Gewitterzellen und tagelanger Starkregen lösen Steinschlag und Muren aus. Die Flut reißt alles mit, was sich ihr in den Weg stellt. Verklausungen lassen die Wassermassen über die Ufer treten. Wertvoller Siedlungsraum wird verwüstet und der Schaden an Leib und Gut ist enorm.
Gegen sintflutartige Überschwemmungen sind wir Menschen machtlos. Längst halten sich die angeblichen 100-jährlichen Hochwasser nicht mehr an ihren Namen. Golfball große Hagelgeschoße zerstören innerhalb weniger Minuten die gepflegten Kulturen. Ein paar Bergrücken weiter sackt durch eine Hitzewelle gar der Grundwasserspiegel bedrohlich ab. Der niedrige Pegelstand von Bächen und Flüssen, sowie die geringe Sauerstoffsättigung des Wassers verlangen ein Aussetzen der Fischerei. Der zusätzliche Stress würde viele Flossenträger das Leben kosten.
Dürreperioden in afrikanischen Staaten und anderswo vernichten die Ernte. Verwüstet ist das Land. Das Vieh verdurstet. Kinder, Kranke und die Alten, die schwächsten Glieder der Gesellschaft, verhungern qualvoll auf Raten. Wanderheuschrecken fressen das letzte Grün.
Millionen Menschen, die an den Küsten leben und vor dem ansteigenden Meeresspiegel oder wiederkehrenden Tornados flüchten müssen, sind auch Leidtragende der hausgemachten Erderwärmung. Wirbelstürme fressen eine regelrechte Schneise in die Landschaft. Zurück bleiben Tod, Seuchen und Zerstörung. Konflikte um Süßwasser und Land sind die Folge. Nicht umkehrbar ist diese Migration.
Der Rückzug des Permafrostbodens in der waldreichen Taiga birgt neue Gefahren. Gewaltige Mengen an brennbarem Methan werden frei. Knapp unter der Erdoberfläche angesammelte Gasblasen entzünden sich schlagartig durch einen Blitzschlag. Der Wald brennt. Auf diese Weise wird das Rad der Erderwärmung weiter beschleunigt.
Doch nicht nur in den von der Sommerhitze geplagten Ländern brennt es lichterloh. Auch in unseren gemäßigten Breiten sind Waldbrände keine Seltenheit mehr. Die Löscharbeiten in schwierigem Gelände sind teils undurchführbar.
Was nützen die Versprechungen auf den Weltklimakonferenzen, wenn die Regierungen weiterhin, auf Teufel komm raus, auf die fossilen Energieträger setzen. Unvermindert hält der Raubbau von Kohle, Erdgas und Öl an. Stetig steigt die Konzentration von Kohlendioxid, dem gefährlichsten Treibhausgas, auf neue Höchstwerte. Die Temperaturerhöhung unter zwei Grad Celsius zu halten, bleibt vermutlich ein Wunschdenken.
Was dann? Wohin dann mit Alaska?
Dieses Buch beinhaltet meine wichtigsten elementaren Naturerfahrungen. Mit ihnen traten bereits vor vielen Jahren einschneidende Beobachtungen diverser klimatischer Veränderungen zutage.
Doch nicht allein über diese berichte ich in „Der Fischer und das fremde Wasser“. Sondern vielmehr über die Ehrfurcht vor unserer großartigen Natur und allem, was sich im Wasser und an Land tummelt.
Den Daheimgebliebenen möchte ich somit Einblicke in fremde Gebiete ermöglichen. Und allen echten Weltreisenden die Möglichkeit, sich mit meinen abenteuerlichen Erlebnissen in der Fremde zu messen.
Gottlieb Eder
Vor der engen Klotüre der Condor Boeing 767 verstellt mir der „Froschmann“ forsch den Weg. Schon am Frankfurter Flughafen, beim Einchecken, ist mir der schlaksige Typ aufgefallen. Stolz wie ein Pfau stelzte er durch die Abfertigungshalle. Selbstsicher das Kinn angehoben, gehüllt in eine lässige Kluft. Am Cowboyhut mit Patina wackelt ein giftgrüner Frosch aus weichem Gummi. Groß wie ein Handteller hängt die Amphibie an der Kordel. Bei jedem Schritt wippen verführerisch die langen Schenkel mit den Schwimmhäuten zwischen den Zehen. Ungewöhnlich ist dieser Schmuck am Hut. Fischer, Jäger und herausgeputzte Vertreter lassen sich auf Grund ihres Outfits leichter einschätzen, aber ein Lurch?
Ein Sonderling scheint der Mann im besten Alter auf jeden Fall zu sein, denn auch auf dem engen Sitz des Ferienfliegers legt er seine Kopfbedeckung nicht ab. Mit Interesse habe ich sein Gehabe gemustert und ausgiebig geschmunzelt. Nun hat er mich aus der Masse der Passagiere gezielt herausgepickt. Wohl zu lange habe ich mit dem Unbekannten die Blicke gekreuzt und er verwickelt mich in ein Gespräch. Er findet in mir einen dankbaren Zuhörer. Immerhin schleppt sich der Flug über neun Zeitzonen, ehe wir in Anchorage landen. Genug Zeit zum Erzählen. Abenteuerliche Geschichten austauschen. Ratschläge hamstern. Zudem ist Stehen allemal gesünder, als im Sitzen auf die Attacke einer Thrombose zu warten. Mein erbettelter Fensterplatz bietet ohnehin nur den Ausblick auf ein dichtes Wolkenmeer. Zudem verdeckt unmittelbar vor meiner Nase ein Teil der Tragfläche die Vogelschau auf die Erde. Ausgereizt sind die Musikkanäle und das blutlose Geschwätz mit Sitznachbarn, die sich in den Schlaf flüchten. Durch viele Reihen von mir getrennt, döst mein Reisegefährte Walter mit seinem Arbeitskollegen, der sich den Alaskatraum zum ersten Male erfüllt.
Vorzüglich gelingt es mir, gezielte Fragen wie Akupunkturnadeln zu setzen. Fast immer erwische ich einen sensiblen Punkt, der die Quelle seines Mitteilungsbedürfnisses zum Sprudeln bringt. Rasch stellt sich heraus, dass der ledige Weltenbummler sein gutes Einkommen auf wochenlangen Reisen verpulvert. Nach Belieben frönt er seinem nassen Weidwerk. Mit Leidenschaft stellt er den kapitalsten Flossenträgern nach. Nilbarsche aus dem Assuan-Stausee, gewaltige Welse aus dem Wolgadelta oder die wilden Tarpons aus den Flats vor Floridas Küsten und natürlich alle Pazifischen Lachse, all das und noch viel mehr hat er in respektablen Größen gedrillt.
Meine geschickt verteilte Dosis an Bewunderung spornt den Mann zu Höchstleistungen an. In Rausch geredet, schlägt er fast verbale Purzelbäume. Um meine geäußerten Zweifel bezüglich Wahrheitsgehalt seiner Schilderungen gänzlich auszuräumen, fischt er ein ganzes Bündel an Beweisfotos aus seiner Jackentasche. Mit Genuss preist er jedes Bild seiner persönlichen Rekordfische. Nicht versiegen ausschweifende Kommentare über Länge, Gewicht und Fanggründe sowie die beste Zeit.
Letzten Endes lohnt sich das eher einseitig geführte Gespräch auch für mich. Denn mit meiner Wissbegierde ziehe ich dem Mann Revierbewertungen und nützliche Adressen aus der Nase. Einem Hamster gleich sammle ich die Informationen und notiere sie in meinem zweckmäßigen Tagebuch, das ich stets in der Hosentasche mittrage. Fett unterstrichen ist der heiße Tipp bezüglich eines Fischkutterbesitzers in Ninilchik, auf der Halbinsel Kenai. Der Berufsfischer nimmt gerne Gäste mit, um sein Einkommen mit diesem Nebenerwerb aufzubessern.
Bis zur Landung vertreibe ich mir die Zeit des Wartens mit Lesen in einem handlichen Reiseführer. Sinngemäß bleiben folgende Eckdaten haften: Ein riesiger Eispanzer bedeckte während der jüngsten Eiszeit vor rund 25.000 Jahren die Erde. Unvorstellbare Mengen der Wasservorräte wurden im festen Aggregatzustand gebunden und ließen den Meeresspiegel absacken. Der Geologe Gernot Spielvogel meinte gar beweisen zu können, dass die Ureinwohner Amerikas nicht nur über die berühmte Beringstraße, sondern auch über eine Art Kontinentalbrücke eingewandert seien. Eine Vulkaninselkette verband die heutigen Komandorsky-Inseln (Russland) mit den Aleuten in Alaska. Als mutige Jäger und Sammler folgten die Einwanderinnen und Einwanderer den Tierherden über Tausende von Kilometern.
An den Lebensraum hervorragend angepasst, entwickelten sich aus „Alaskas Ureinwohner“ verschiedene Gruppen: Im Norden des rauen Landes fassten die „Rohfleischesser“, die Eskimos, Fuß. Wagemutig verfolgten sie mit den Umiaks, wendigen, mit Fell überzogenen Kajaks, Wale vor der Küste, Robben auf den Eisschollen und gar die mächtigen Polarbären. Trotz Beherrschung der berühmten Eskimorolle musste wohl jeder Bootsunfall im Eiswasser den Jägern des Nordens das Leben gekostet haben.
Heute ist das Jagdverständnis der Inuitgeneration gespalten. Sie leben quasi zwischen zwei Kulturen. Einerseits hat die Jugend die Fertigkeiten ihrer Großeltern zum Überleben nicht erlernt, anderseits finden sie sich auf dem beinharten Arbeitsmarkt nicht zurecht. Der Verlust ihrer wahren Wurzeln treibt sie in die Fänge des Alkohols. Ihr Hilfeschrei äußert sich in Zerstörungswut und Gewalttätigkeit. Viele Abhängige finden keinen Lebenssinn und fallen in schwere Depressionen.
Auf der wie Perlen aufgefädelten Inselkette der Aleuten siedelte das gleichnamige Volk – die Aleuten. Auch sie lebten vorwiegend von den „Früchten des Meeres“. Auf diesen unwirtlichen, den Wetterelementen extrem ausgesetzten Inseln lebte auch die massige „Stellersche oder Riesenseekuh“. Die akribische Beschreibung durch den deutschen Arzt und Naturforscher aus dem Jahr 1741 deckt sich mit den wenigen erhaltenen Skeletten. Die Seetang fressenden Tiere erreichten eine unvorstellbare Länge von rund acht Metern und fühlten sich trotz berechneter zehn Tonnen Lebendgewicht im Wasser wohl. Der Auftrieb schmeichelt immer der Masse. Kaum entdeckt durch Berings Crew, wurden die friedlichen Vegetarier ein Vierteljahrhundert später als Fleischlieferanten von den Pelztierjägern ausgerottet.
In Millionen von Jahren hat die Evolution an den jeweiligen Lebensraum angepasste, artenreiche Pflanzen und Tiere geschaffen. Obwohl unser eigenes Leben von der Vielfalt auf dem Planeten abhängig ist, plündert, mordet und rottet der Mensch stumpfsinnig weiter. Ein Übel ist die Gier.
Die Region im Südosten des Landes bietet neben einem milden Klima vor allem üppige Wälder mit reichem Wildbestand. Unerschöpflich scheinen die Fischgründe durch den Rhythmus der Wanderfische zu sein. Nicht durch den mühsamen, täglichen Nahrungserwerb gefordert, entwickelten die Tlingit-Indianer eine hohe Kulturstufe. Neben der kreativen Gestaltung der heute noch bewunderten Totempfähle waren sie mutig genug, sich gegen die Feuerkraft aus Gewehren und kleinen Kanonen der ersten russischen Eindringlinge zu behaupten.
Im Auftrage des Zaren Peter der Große segelte der Däne Victus Bering mit verwegenen russischen Seeleuten auf der Suche nach Land und den sagenhaften Pelztieren Richtung Osten. Sie entdeckten die noch unbekannte Nordwestküste Amerikas. Auf dem Rückweg war das Boot den wochenlangen Stürmen nicht gewachsen. Es driftete weit vom Kurs ab und zerschellte an einem rauen Eiland. Die halbe Mannschaft und der Kapitän überlebten den brutalen Winter nicht, obwohl sie sich vom Fleisch der Pelzrobben und den als „Seeaffen“ bezeichneten Ottern ernährten. Der Überlebenswille und die Sehnsucht nach der Heimat trieben die Bootsbauer zur Meisterleistung an. Aus den verbleibenden Trümmern des gestrandeten Wracks zimmerten sie ein seetaugliches Fahrzeug. Beladen mit einem Berg von Fellen erreichten die Schiffbrüchigen einen Außenposten auf Kamtschatka. In Windeseile verbreitete sich die Erfolgsgeschichte der Überlebenden und Pelzjäger. Obwohl viele Schiffe mit Mann und Maus versanken, trotzten ganze Flotten den Gefahren der unberechenbaren Meeresstraße und beteiligten sich an der Ausrottung der putzigen Pelzträger.
Die Russen beanspruchten quasi als Kolonialherren die Hoheit über den Fellhandel. Überall errichteten sie Stützpunkte, bauten befestigte Siedlungen und dehnten ihren Einfluss bis weit in den Südosten Alaskas aus. Kleider machen bekanntlich Leute. Der Zar und die Blaublütigen des Hofkreises schmückten sich mit den kostbaren Pelzen der Seeotter. Mützen, Krägen und lange Mäntel – die edelsten Felle wurden mit Gold aufgewogen – gehörten zum Statussymbol der Mächtigen und Reichen. Geblendet vom zauberhaften Glanz der billigen Glasperlen, den Kochtöpfen aus dem unbekannten Eisen und den Messerklingen, ließen sich die Einheimischen von den gierigen Pelzhändlern billig über den Tisch ziehen. Die Russen machten sich die Urbevölkerung zu nützlichen Handlangern. Später, als die Population der Seeotter immer mehr durch den rücksichtslosen Raubbau zusammenbrach, misshandelten sie Frauen und Kinder der Aleuten, um ihre Männer zur Felljagd an extrem ausgesetzten Küsten zu zwingen.
Übel wurde den Tieren mitgespielt, aber auch den Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern ging es durch die russischen Ausbeuter kaum besser. Der massive Einbruch des Pelzhandels durch die Maßlosigkeit und der Kriegsausbruch in Europa (1820) ließen Russlands Interesse an Alaska rasch schrumpfen. Aufgrund von Geldnöten verscherbelten die Russen das riesige Land zum Schnäppchenpreis an die Amerikaner. 7,2 Millionen Dollar oder umgerechnet 2 Cent pro Acre wechselten unter dem Präsidenten Abraham Lincoln den Besitzer. Bei den Acres handelt sich um eine jahrhundertealte, angloamerikanische Maßeinheit und 1 Acre entspricht rund viertausend Quadratmeter. Ein Hektar kostete somit lächerliche fünf Cent.
Parallel zur Küste des „Cook Inlet“ rollen wir auf dem Sterling Highway zum Fischerdorf Ninilchik. Schlicht ausgestattet ist unser gemietetes Wohnmobil. Großartig ist die Vielfalt der Landschaft. Schmucke Neubauten vermehren sich entlang der Hauptstraße wie die Anbieter von Lachs- und Heilbuttcharter. Aber der ursprüngliche Siedlungskern am gleichnamigen Ninilchik River ist geprägt von verwitterten Schiffschuppen und vernachlässigten Blockhäusern. Rostige Blechdächer verstärken den schäbigen Eindruck. In der Wildnis zwischen den Hütten verfaulen ausgediente Fischerboote. Ausdauernde Unkräuter durchdringen die Planken oder keimen gar auf dem morschen Holz. Über dem Dorf thront auf einer Anhöhe die russisch-orthodoxe Kirche.
Im kleinen Hafen von Ninilchik liegen die Fischkutter mit Tauen gefesselt. Nur durch profillose Autoreifen oder Fender getrennt, reiben sich die Rümpfe der Boote. Zuhauf stehen am Pier die eckigen Drahtreusen für den Krabbenfang bereit. Es stinkt nach Fisch. Unglaublich niedrig ruht der Wasserstand durch die herrschende Ebbe. Als Laie kann ich es mir schwer vorstellen, dass die Kutter überhaupt so viel Wasser unter dem Kiel finden, um das offene Meer zu erreichen. Kein Mensch lässt sich auf den Decks beim Netzflicken erblicken. Mit der Topadresse in der Hand halten wir Ausschau nach dem Kahn und dem Besitzer, der gegen moderate Bezahlung Fanggarantie auf große Heilbutte verspricht. Ein Schlitzohr soll er sein. Mit allen Wassern der Fischgründe gewaschen. Seine Erfahrung verspricht nicht nur Kaliber von Plattfischen, sondern auch einen sicheren Umgang bei Aufkommen einer rauen See. Nicht umsonst warnt die UNO auf Grund aktueller Studien, dass die Meeresfischerei – insbesondere der ertragreiche Krabbenfang im Eismeer – zu den gefährlichsten Berufen zählt. Durch die Überfischung der küstennahen Gewässer riskieren die Menschen in oft untauglichen Booten Kopf und Kragen. Mindestens siebzig Fischer verlieren täglich ihr Leben auf den Weltmeeren, wobei die Statistik nicht die Qualen durch Ertrinken erfasst.
Frustrierend wirkt die Stille. Es scheint, als ob die ganze Flotte samt der Besatzung einen ausgedehnten Mittagsschlaf halten würde. Sogar die Möwen wetzen lautlos ihren Schnabel. Einige Bussarde sitzen gelangweilt auf den Giebeln der alten Bootshütten. Ob mit vollem Kropf oder wegen der Flaute, das lässt sich nicht einschätzen. Unverrichteter Dinge und in gewisser Weise schon leicht enttäuscht, versuchen wir den Hafenmeister aufzuspüren. Dem Tower eines Kleinflugplatzes vergleichbar, blickt der Verantwortliche erhaben aus dem kaputten Fenster. Das rustikale Zimmer ist Büro und zugleich Aussichtswarte über sein bescheidenes Reich. Ob der scharfe Geruch von hochprozentigen Alkoholika stammt oder als Desinfektionsmittel aus schlecht verschlossenen Flaschen verdunstet, das wage ich nicht mit Sicherheit zu behaupten.
Meine schon in Gedanken oft durchgespielten englischen Phrasen kann oder will er einfach nicht verstehen. Immer wieder zieht er seine Schultern hoch und öffnet verständnislos seine Hände. Auch mein Bestechungsversuch mit einer Hand voller süßer Mozartkugeln verpufft wirkungslos. Wir werden einfach das Gefühl nicht los, dass unsere Not nicht wahrgenommen, sondern als Ruhestörung betrachtet wird. Herb enttäuscht durch die gescheiterte Kontaktaufnahme, ziehen wir uns aus der Hafenanlage zurück. Misserfolg soll kreative Kräfte mobilisieren, heißt es, aber wir können getrost darauf verzichten.
„Friedliche Siedlung an einem Fluss“ bedeutet der Name Ninilchik. Der Begriffstammt aus dem Sprachschatz der Tanaina-Indianer. Sie haben vor der russischen Besiedlungswelle diese ruhige Bucht für den Fischfang genutzt.
Vom erhabenen Kirchplatz aus bietet sich ein Bilderbuchblick über das verschlafene Nest. Hinter den baufälligen Gebäuden windet sich der Fluss durch das geringe Gefälle. Die herrschende Ebbe gibt einen bretterflachen, schiefergrauen Strand frei und gegenüber der Meerenge ragen die schneebedeckten Gipfel des Mount Iliamna und Mount Redoubt in den Himmel.
Menschen mit Kübeln, Spaten oder Schaufeln schlurfen wie Strandkrabben in alle Richtungen. Rein gar nichts hat ihr Bewegungsablauf mit einer Fischereimethode gemeinsam. Ihr Verhalten verblüfft uns. Suchen die Leute Lebendköder für einen heiklen Zielfisch oder gibt es Raritäten als Strandgut? Bernstein oder Diamanten passen ohnehin nicht in diese Gegend. Wir wissen es nicht. Mit Macht lockt das Unbekannte. Rasch sind wir uns einig, dass wir ihren Spuren folgen und ihnen bei ihrer Tätigkeit auf die Finger schauen.
Muschelsucher stapfen und schlittern durch den bleigrauen, schmierigen Schlick. Vorsichtige und Anfänger schürfen sich eher im trockenen Bereich durch den Boden, hingegen folgen die Kühnen beherzt dem weichenden Wasser. Schier verrückt sind die Menschen auf die berühmten „Razor-Muscheln“. Schwer vorstellbar ist es schon, wenn auch die Sammler eine Angellizenz benötigen, damit sie ihr Vergnügen rechtmäßig ausüben dürfen. Einige Leute knien im Dreck. Mit bloßen Händen legen sie Verdachtsplätze frei, wühlen sich aufgeregt wie Trüffelschweine in die Tiefe. Die Konkurrenz erhöht den Druck. Wie die Perle in der Muschel wird die Delikatesse geschätzt.
Das Aufspüren, Buddeln und Graben muss wohl als Überlebensprinzip in den Genen der Naturmenschen gespeichert sein, denn sie freuen sich geradezu kindisch bei jedem Treffer. Über den Rhythmus der Gezeiten sind die Profis bestens informiert und zudem auf Grund ihrer Erfahrung sowie Ausdauer sehr erfolgreich. Zuhauf liegt die wehrlose Beute im getrübten Kübelwasser. Die größten Exemplare zeigen die Länge eines Dollarscheines. Einer getrockneten Dattel gleicht der Farbton der Schale.
Die aufkommende Flut treibt die Menschen jedes Mal wie Strandgut zurück auf das Festland, wo sie – gemütlich vor dem Wohnwagen sitzend – ihre Weichtiere als begehrte Spezialität verarbeiten. So gefragt sind die Strände um Ninilchik, dass „Süchtige“ die Anreise gar über Tausende von Meilen in Kauf nehmen und ihren ganzen Urlaub in der Wohnmobilkolonie verbringen. Die Wegfreiheit der weitläufigen Strände verdrängt wohl die gefühlte Enge auf den Campingplätzen.
Vor allem Frauen erliegen der Faszination der Perlen. Andere Personen wiederum sind begeistert von der Vielfalt der Schneckenschalen und frönen ihrem Sammeltrieb während der Spaziergänge am Meeresstrand. Ammoniten, fossile Kopff üßler, genießen nicht nur als Briefbeschwerer hohe Wertschätzung. Unbeschränkte und bewunderte Verwendung findet das Perlmutt in der Schmuckindustrie und auch die kulinarischen Liebhaberinnen und Liebhaber von Schalentieren entdecken weltweit ihre Gaumenfreuden.
Seltsam ist die Tiergruppe mit den zwei Schalen auf jeden Fall. Man erkennt keine Gliederung des Körpers. Ein kalkfreies Schlossband hält wie bei einem Buch mit Hardcover die schützenden Hälften zusammen. Spezialisierte Muskeln schließen bei Gefahr überraschend schnell das Außenskelett. Langsam arbeitende Muskelfasern sind hingegen in der Lage, bei geringem Energieverbrauch ihren Schutz wochenlang unverändert dicht zu halten. Bei einigen Arten hat die Evolution den Schalenrand so ausgeprägt, dass der Durchtritt des muskulösen Ein- und Ausströmrohres, der Siphon, vorzüglich passt.
Ob das biologische Kanalsystem getrennt oder miteinander verwachsen ausgeführt ist, das hängt allein von der Art der Muscheln ab. Zweckmäßig und erfinderisch ist die Schöpfungskraft der Natur allemal.
Mit dem Atemstrom werden Kleinstlebewesen, Schwermetalle und Gifte angesaugt und als Nahrung gefiltert. Verbrauchtes Atemwasser und Stoffwechselprodukte fließen über den Siphon zurück in den unmittelbaren Lebensraum. Eine ausgewachsene Muschel ist in der Lage, rund einen halben Kubikmeter Wasser täglich zu filtern. Verseuchte Küsten – Unfälle mit Öltankern oder Bohrplattformen, Missbrauch des Meeres als Deponie oder Havarien mit Atomkraftwerken – beschleunigen nicht nur das Wachstum der Weichtiere, sondern auch die Einlagerung von Giften in den Fettzellen. Mahlzeit!
Ähnlich den Jahresringen am Querschnitt eines gefällten Baumes, lässt sich das Wachstum am Profil der Schale bestimmen. Das Erscheinungsbild der in Alaska begehrten „Razom-Muschel“ entspricht etwa unserer heimischen Teichmuschel. Kein Mensch findet in unseren Breiten Geschmack an diesem Weichtier. Nur die eingebürgerten Bisamratten knacken während der vegetationslosen Winterszeit die Nahrungsreserve und hinterlassen regelrechte Schalenfriedhöfe. Auch vierbeinige Vegetarier finden in der Not Gefallen an der Fleischeslust. Eigensinnige Aquarellkünstler verwenden immer noch gerne eine Schale als dekorativen Wasserbehälter, deshalb hat sich auch der Name „Malermuschel“ erhalten.
Zufrieden macht die Stückzahl der fußlahmen Beute. Gut gelaunt sitzen drei Männer auf ihren Campingsesseln vor ihrer rollenden Behausung und unterhalten sich lautstark. Hundertfach geübt und geschickt durchtrennen sie mit ihren Messern den kräftigen Schließmuskel der prächtigen Muscheln. Mein Interesse an ihrer Beschäftigung bleibt den reifen Herren nicht verborgen. Das bewusst langsame, etappenweise Annähern zeigt meinen Respekt und die Unaufdringlichkeit an. Rasch darf ich an ihrem begeisterten Urlaubsvergnügen teilhaben. Immer wieder zeigt der Wortführer des Trios mit seiner Messerspitze auf den Siphon der aufgeklappten Muschel und löst mit seinen Bemerkungen heiteres Gelächter bei seinen Kameraden aus. Mein Sprachverständnis ist zwar gering und leidet zudem unter der hohen Geschwindigkeit seines Redeflusses, aber es bedarf keiner allzu großen Fantasie, um den Anschauungsunterricht zu deuten. Der Strömungskanal der fleischigen Muschel schaut doch tatsächlich wie ein vermurkster Penis aus.
Verbindend wirkt die lockere Art, sich zu unterhalten. Ich erfahre auch, dass die Königslachse schon in den nahe gelegenen „Deep Creek“ zum Laichen aufgestiegen sind. Der schwache Jahrgang der kapitalen Wanderfische bereitet den Fischereibehörden Sorgen, deshalb haben die Organe den Fang in der laufenden Saison verboten.
Weiters, so informiert mich der Chef der Runde und Berufskollege, bringt nur ablaufendes Wasser die besten Heilbutte an den Haken. Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr meint er wissend, dass wir uns wohl einen halben Tag lang die Zeit vertreiben müssten, ehe wir mit Zuversicht in See stechen können. Kleine Boote gibt es zur Genüge, meint er grinsend, die, überladen mit Touristinnen und Touristen, von Traktoren mit gewaltigen Reifen ins fahrbare Wasser geschleppt werden.
Am Hindernis entwurzelter Bäume scheiterte unsere Schlauchbootfahrt vor rund einer Woche. Ein wilder Fluss, weit im Westen Alaskas. Ins Verderben trieb uns die scharfe Strömung des Nebenarmes. Unvorbereitet überraschte uns eine Wehr aus querliegendem Holz. Kein Schlupfloch, kein Anlanden und kein Durchkommen. Gleichsam einem wilden Mustang warf uns der botanische Schranken ab. Samt Boot, mit Mann und Maus, blitzschnell zum unfreiwilligen Tauchgang genötigt.
Um Haaresbreite ertranken wir nach dem Kentern nicht wie Bisamratten in der nassen Falle. Allzu leicht verheddert sich die Kleidung im steifen Geäst der Sitka-Fichten unter Wasser. Knapp wird die Luft. Rasch kriecht die Kälte bis in die Knochen. Zudem erdrückt das Gewicht einer mit Gletscherwasser gefüllten Wathose jeden Schwimmversuch. Wenige Tropfen Wasser in der Lunge und vernachlässigbare Kratzer am eigenen Leib waren zu beklagen. Verschmerzbare Verluste an Fischereizeug sowie eine abgesoffene Spiegelreflex- und eine streikende Filmkamera waren der Preis für die Freiheit in der Wildnis. Mit gewissen Ausfällen ist immer zu rechnen. Feuchtigkeit ist nun mal der Tod für empfindsame Technik.
Eine schlanke Landzunge reckt sich weit in die Kachemak Bay hinaus. Haufenweise säumt gestrandetes Treibholz das sandige Ufer. Die Skulpturen ziehen den Blick an und dahinter spiegeln sich die schneebedeckten Kenai Mountains im Salzwasser. Bunte Boote stehen mit den gepflegten Holzhäusern auf Stelzen im malerischen Wettbewerb. Fast aufdringlich bieten Charterunternehmer ihre Fangboote, Ausrüstung und Crew für das Fischereivergnügen auf die flachen Fische oder Lachse an. Eine Mär sind die leicht zu fangenden Lachse im „Fishing Hole“, einem künstlich angelegten See mit Besatz. Entweder ist das Loch leergefischt oder die verbleibenden Fische stehen mit abgerissenen Ködern im Kiefer vergrämt am Grund. Zudem hält sich bekanntlich die Beißlust der Königslachse in Grenzen.
In Homer greifen wir nach dem Strohhalm einer halben Heilbuttausfahrt. Das Personal in den aufgesuchten Agenturen ködert uns mit Fanggarantien und dicken Fotoalben, wo Teilnehmer der Ausfahrten vor Freude beinahe den Schleim von den erbeuteten Plattfischen schlecken. Allein, der Haken an der Sache ist, dass freie Bootsplätze erst am übernächsten Tag locker zu haben sind. Das fischlose Klinkenputzen kratzt am Nervenkorsett. Es zermürbt uns. Die Zwickmühle macht anfällig für falsche Entscheidungen. Zur Eile drängt der Übergabetermin unseres Fahrzeuges. Wie simple Anfänger lassen wir uns quasi von einem Hafenmarktschreier aufreißen. Statt der üblichen Ausfahrt in aller Herrgottsfrühe will er mit seinen Gehilfen heute noch das milde Abendlicht für einen erfolgreichen Fischzug nützen. Schier geblendet von seinen Versprechungen und der Prahlerei über die allerbesten Plätze, willigen wir gerne in das Geschäft ein. Wir erhalten die begehrte Lizenz und der Typ ein Bündel Dollarscheine. Wahrlich nicht billig ist gesunder Fisch aus dem Pazifik.
Weitere Touristinnen und Touristen finden an den Argumenten des Kapitäns keine Schuppe in der Suppe. Auch sie steigen erwartungsvoll an Bord des Kutters. Zwei geschlagene Stunden brettern wir den reichen Fanggründen entgegen. Wobei ich den Verdacht nicht loswerde, dass die Kosten des Dieselverbrauches eine geringe Rolle spielen. Wir genießen den Fahrtwind und die atemberaubende Kulisse der schneebedeckten Berge entlang der Halbinsel.
Ohne gesetzten Anker dümpelt der umgebaute Fischkutter im zunehmenden Wellengang. Unauff ällig überreichen einige Teilnehmer das Leihgerät mit der schweren Multirolle dem Personal. Mit kreidebleichem Gesicht und wortkarg verschwinden sie in den ruhigen Bauch des Schiffes. Vereinzelte fischende Nachbarn – das Heben und Senken des Köders über dem Meeresgrund ist ohnehin eine eher stupide Angelegenheit – klagen über Übelkeit und Gleichgewichtsstörungen. Vom Brechreiz geplagt entleeren die Armen ihren Mageninhalt an der Reling. Anschließend torkeln sie gleichsam wie schwer Betrunkene unter Deck.
Laufend wächst der Freiraum an Bord durch den Ausfall der Seekranken. Die Butte mit dem schneeweißen Fleisch haben nicht mehr die Qual der Köderwahl. Trotzdem bleibt die Durchschnittsgröße weit unter jener auf den Reklamefotos. Der Reihe nach gaffen die Helfer die geschockten Fische an, um sie nach dem Augenschein der Kunden wieder zum Wachsen zu entlassen. Keiner will die platten Zwerge abschlagen. Allmählich treibt der Sturm immer höhere Wellenberge gegen den Rumpf des Bootes. Kaum eine volle Stunde verbleibt uns Standhaften noch die Hoffnung auf das Fischerglück, ehe der Kapitän die Entscheidung zur Rückfahrt in den sicheren Hafen trifft. Recht ist den Kranken der neue Kurs, die anderen murren in Unverständnis. Auch uns bleibt pro Mann eine Dublette verwehrt, aber schließlich trägt der Seebär Verantwortung für die Sicherheit seiner Passagiere und für den Kahn.
Am Südufer des Turnagain-Arms liegt das Dörfchen Hope. Die Gründung des Dorfkernes fällt mit den entdeckten Goldflittern und Nuggets im „Resurrection Creek“ zusammen.
Aus dem schwarzen Sand des Flusses wurde Gold gewaschen, noch ehe der Goldrausch in Dawson oder Nome eine wahre Völkerwanderung auslöste. Ein paar Schüsselschwenker hatten seinerzeit die Whiskyidee, dass der Familienname des nächsten Menschen, der vom Schiffaus das Land betritt, quasi als Taufpate für die Ortsbezeichnung herhalten darf. Innerhalb kürzester Zeit wuchs die Bevölkerung auf einige Tausende an, um in gleichlaufender Geschwindigkeit des Verebbens der Funde wieder in die Bedeutungslosigkeit zurückzufallen. Im Jahre 1964 zerstörte das Karfreitagsbeben einen Teil des Ortes.
Rund zweihundert Seelen erachten das halbe Geisterdorf immer noch als lebenswerten Platz. Zur Zeit der Lachsheimkehr wimmelt es von Fischern, Pseudogoldsuchern und Schaulustigen. Viele Familien bessern ihr Einkommen durch den Tourismus auf. Zum Ausbeuten der Tagesbesucher animiert die kurze Saison. Bemerkenswert ist auf alle Fälle, dass rund ein Viertel der Häuser an eigenen Quellen hängt. Eigenständig ist ihre Wasserversorgung. Verwehrt bleibt mir leider der Kontakt mit einem Dorfschullehrer. Aber ein Einheimischer bestätigt mir, dass insgesamt fünfzehn Schüler die Bildungspflicht mit seinem Sohn erleiden.
Unweit der „Sozialhalle“ – sie wurde 1902 errichtet und dient immer noch als Raum für gesellige Veranstaltungen und Gemeindeversammlungen – wartet ein gewaltiger Brunnentrog auf Glücksritter. Busweise werden die Gäste in das historische Goldgräbernest gekarrt, damit sie die ausgehändigten Pfannen im rechten Kniffschwenken. Angeleitet und motiviert werden sie von einem verwegenen Bartträger, der auf einem Quart, samt Gewehretui, zum Dienst anknattert. Ein Original ist der Typ. Trinkgeld erschleimend umrundet er seine Gruppe, die – brav wie Rindvieh an der Tränke – auf rechte Unterweisungen hofft.
Auffallend geschnitten werden die eigenen Geschlechtsgenossen. Dafür drückt sich der Kerl mit Rauschebart bevorzugt an die Frauen mittleren Alters heran. Eingestreute Witze lockern das Freizeitvergnügen auf. Oft beobachte ich schmunzelnd, wie sich der Mann fast übergriffig an die Weibsbilder presst, damit er mit seinen Pranken ihre gepflegten Hände fassen kann. Einem Tanze gleich überträgt er die Bewegung der kreisenden Schüssel auf die Frau. Nach wenigen Minuten hat die Dame den Dreh halbwegs erfasst und lässt mit Schwung den wertlosen Sand mit dem Wasser über den Tellerrand schwappen. Vorwiegend in den Sandkübeln der Frauen stecken die glitzernden Flitter. Ihr Jubel spornt an. Die Stimmung steigt. Unbeschreiblich scheint das Gefühl, wenn ein einziges Körnchen Gold das Licht reflektiert.
Längst vorbei sind die glorreichen Zeiten des Goldrausches, dennoch zieht das organisierte und gesteuerte Waschen Fremde magisch an. Schmuggler, Gauner und Kriminelle, Pelztierjäger und Fallensteller lockte das Edelmetall einst. Ehrbare Männer verließen, vom Goldvirus gepackt, von einem Tag auf den anderen ihre Familien. Stärker als die Bindung an die eigene Sippe war der Lockruf des Goldes. Der Traum vom raschen Reichtum. Zu Fuß, auf dem Rücken von Maultieren und Pferden oder gar mit dem teuren Schiff , folgten sie den Spuren Tausender Abenteurer. John Griffith, besser als Jack London bekannt, beschrieb das Elend der Tragtiere unter der aufgebürdeten Last folgendermaßen: „Die Pferde starben wie die Moskitos im ersten Frost und verwesten haufenweise auf dem Weg von Skagway nach Bennet. Sie verendeten an Felsen, verhungerten, stürzten vom Pfad ab oder ersoffen unter ihrer Last in Flüssen. Sie blieben vor Angst wiehernd im Schlamm stecken und versanken im Sumpf.“
Nicht einmal eine Patrone opferten von der Gier geblendete Menschen, um den vierbeinigen Gefährten von den Qualen zu erlösen. Mit Gewalt rissen sie die kostbaren Eisen den Tieren noch im Todeskampf von den Hufen.
Die gesetzlosen Zustände in den boomenden Goldgräberstädten kosteten vielen Glücksrittern das Leben. Unberechenbar machte die Macht des Goldes, gering war die Hemmschwelle, begraben das Gewissen. Raubmord und Totschlag standen auf der Tagesordnung. „Blutnuggets“.
Zahlreiche Digger litten an Skorbut und überlebten die harten Winter nicht. Andere schlitterten in schwere Depressionen oder verfielen König Alkohol. Tausende wiederum verließen die Claims ärmer, als sie gekommen waren.
Lebensmittelhändler, Sargmacher, Geldhaie und die Saloonbesitzer sowie die Damen des ältesten Gewerbes wurden reich.
Rascher als die heimkehrenden Pinks frisches Süßwasser durch ihre Kiemen pumpen, spricht es sich bis zur Wirtschaftsmetropole Anchorage herum, dass gesundes Eiweiß leicht zu erbeuten ist. Wer im langen und dunklen Winter des Nordens Fisch verzehren will, der muss während des Laichaufstieges die Gelegenheit bei den Kiemen packen. Rege Betriebsamkeit herrscht besonders an den Wochenenden. Mit Kindern, Hund und Großmutter rücken die mobilen Stadtnomaden an, um sich am Buckellachs schadlos zu halten. Kleinvieh macht bekanntlich reichlich Mist. Und wer die täglich erlaubte Stückzahl pro Familienmitglied ausreizt, der hat am Ende der Saison keinen Platz mehr in der Tiefkühltruhe.
Im Mündungsbereich schlängelt sich der Fluss, aufgeteilt in einige Arme, durch ein flaches Areal mit Wiesencharakter. Bei Ebbe begleitet ein Trockenbachbett mit kopfgroßen Steinen den Lauf. Aalglatt sind ihre Oberflächen und eine ständige Herausforderung für die Sprunggelenke. Auf dieser Seite stören keine hinderlichen Bäume die Flugangler. Der Abschnitt ist ein Paradies für Anfänger. Von jeder Flut werden die kleinsten Vertreter der Pazifischen Lachsarten förmlich in den „Resurrection Creek“ gespült. In Wellen treten die Lachsschwärme ihre Laichwanderung an. Der Überfluss ist die Garantie, dass kaum ein Fischer den Tag als „Schneider“ beschließt. Außer ein Greenhorn in Sachen Fischerei kämpft mit den Tücken des Gerätes und verwickelt sich in die eigene Schnur.
Ich lehne am Brückengeländer, der Hope Highway schneidet das fischreiche Wasser, und genieße vom erhöhten Standpunkt aus den Blick über das Dorf, das Flussdelta und gegenüber des Turnagain-Armes die großartige Kulisse der Bergkette. Unterhalb der Brücke steht eine schlichte Schlachtbank. Ständig tauchen aus dem Schatten des Waldes Fleischfischer auf, welche aus den Buckellachsen die kleinen Filets schneiden und die Abfälle zu einer angefügten Rutsche schieben. Innereien, Kopf mit kompletter Wirbelsäule, fette Bauchlappen sowie Flossenansätze und Rippenbögen gleiten wie am Fließband in den Fluss. Möwen zanken sich um die schwimmenden Reste. Hunde schnüffeln wohl am gestrandeten Eiweiß, finden aber die Abfälle nicht begehrenswert.
Stahlblau schimmern die feinen Schuppen der Rückenpartie, wenn die Pinks aus der Weite des Meeres in ihre angestammten Flussmündungen zurückfinden. Bereits im Brackwasser kommt es zur Ausprägung des Hochzeitskleides. Wobei neben der halbmondförmigen Pigmentierung oberhalb der Seitenlinie und auf der ganzen Schwanzflosse besonders die Kieferumformung der Milchner ins Auge sticht. Die Veränderung der Kiefer geht einher mit dem Rückzug des Zahnfleisches. Grimmiger wirkt das scharfe Gebiss. Eigentlich stimmt die bildhafte Gegenüberstellung mit einem Geierschnabel nicht, denn auch das Ende des Fischunterkiefers wölbt sich nach innen und lässt somit eher an riesige Pinzetten denken.
Der Nacken wächst sich zu einem gewaltigen Buckel aus. Der unglaubliche Aufwand bezüglich des Umbaus der Körperform ist kein Verprassen der Energiereserven, vielmehr ein augenfälliges Signal der genetischen Potenz. Die Missbildung der Männchen existiert nur in unserer menschlichen Wahrnehmung, denn Irrwege sind in der Evolution ziemlich selten. Das Gehabe mit dem Buckel erfüllt den Zweck. Die betörende Wirkung auf den Geschlechtspartner ist ein klassischer Trick, um die Hormone der Weibchen in Wallung zu bringen. Auch gilt das Prinzip der Erfolgreichen. Überlegene Milchner erhalten den Vorzug. Kranke, Schwächlinge und Kümmerlinge können sich nur in Ausnahmefällen am Reigen der verschmelzenden Geschlechtszellen beteiligen.
Diese Lachsart erspart sich in der Regel beschwerliche Aufstiege. Sie laicht bereits in den Unterläufen ab. Ganz wenige Populationen verspüren den Drang in den Erbanlagen, bis in die Quellregionen vorzudringen. Rund zweitausend Eier setzen die Rogner in Schüben, auf mehrere Tage verteilt, in den Kiesgrund ab. Mehrere Milchner übernehmen die äußere Befruchtung. Sie sorgen dadurch für eine Streuung des Erbmaterials. Nichts von Inzucht hält die Evolution.
Nach dem Laichakt schlagen die Weibchen die unmittelbar hintereinanderliegenden Gruben wieder zu. Gar ihre letzten Kraftreserven stecken sie vor dem todsicheren Verenden in das Anhäufen eines gestreckten Laichhügels. Trotz versiegender Energie bemühen sich die Lachse um eine Bewachung ihrer Nachkommenschaft. Schon zu schlapp und dem Tode nahe, haben die Rogner keinen Einfluss mehr, wenn nachfolgende Laichtiere die Kiesnester wieder umschichten.
Kaum geschlüpft, macht sich die Brut noch im selben Winter auf die Flossen, um das reiche Planktonangebot im Brackwasser zu nutzen. Nach der Umstellung auf den Salzgehalt des neuen Lebensraumes strolchen die fingerlangen Junglachse entlang der Küste. Erst im Herbst ziehen die gewaltigen Schwärme in die Tiefe des Ozeans, um sich durch die vielfältige Kostpalette zu fressen. Innerhalb eines Jahres bringen sie im Durchschnitt bis zu zwei Kilogramm auf die Waage. Erstaunlich ist nicht nur die Gewichtszunahme, sondern auch der zweijährige Lebensrhythmus. Wegen der Buckellachse reist wohl kein Europäer nach Alaska. Gleichwohl ist es interessant zu wissen, dass die gewaltigsten Runs in den meisten Flusssystemen auf die geraden Kalenderjahre fallen.
Als Gast in diesem großartigen Land steht es mir nicht zu, einheimische Anglerkollegen anzupatzen, nur um selber in einer fleckenlosen Fliegenfischerweste dazustehen. Aber es ist schon überraschend, dass an der Küste viele Leute die gefährliche Alaskafliege – ein Riesendrilling mit Bleibeschwerung um den Schenkel – durch das Wasser ziehen, um Lachse zu reißen. Als fauler Trick entpuppt sich auch das per Gesetz verordnete Fliegenfischen an unzähligen Gewässern. Eine Bleiolive am Ende der Schnur erlaubt das weite Auswerfen mit der Spinnrute. Um den Schein zu wahren, hängt an einem Seitenast eine buschige Fliege. Die kleinen Buckellachse sind so zahlreich, dass sie auch von Anfängern mit dem leichten Gerät im Handumdrehen erbeutet werden. Das klare und seichte Wasser des Resurrection Creeks verrät die im Pulk stehenden Pinks.
Eng wie die Lachse reihen sich auch die Fischer an den Pools. Sie brauchen nicht die Leine in der Luft zum Wurf beschleunigen. Ganz im Gegenteil. Nur wenige Meter von der Rolle abgezogen, das genügt für den noblen Zweck. Der Partner zum Erfolg ist die leichte Strömung. Sie befördert die Fliege Richtung Fischmäuler. Unentwegt schnappen sich die beißfreudigen Lachse die mit Federn oder Haaren getürkten Haken. Auf Grund der verwendeten unfairen Vorfachstärken ist es keine Heldentat, so einen Buckellachs schnurstracks aus dem Wasser zu kurbeln. Fremd ist mir die mit Tierleid verknüpfte Begeisterung.
Ganze Familien stehen aufgefädelt wie die Perlen einer Gebetsschnur an aussichtsreichen Stellen. Kuschelig eng, fast mit Körperkontakt, bieten sie den Fischen eine Vielfalt von Fliegenmustern zur Auswahl an.
Gewohnt, zumindest an heimatlichen Gewässern, um einen fischenden Zunftkollegen einen weiten Bogen zu schlagen, auf dass seine ohnehin dürftigen Fangchancen nicht geschmälert werden, entferne ich mich von den Fleischfischern. Nicht, um in der unbeobachteten Einsamkeit die Fischereigesetze mit Füßen zu treten oder der Kreatur den Respekt zu versagen, sondern um mir die Lust an der nassen „Wayd“ zu erhalten. Ohne Stress darf ich mich der Lustfischerei auf die Buckellachse hingeben.
Nach einer kurzen Pirsch flussaufwärts entdecke ich eine reizvolle Stelle. Eine Schule von Lachsen nützt den Schatten und die Deckung eines entwurzelten Baumes, der in voller Länge quer über den Fluss hängt. Vereinzelt ragen blanke Aststummeln wie gewaltige Rechenzähne und Treibholzsammler fast bis auf den Gewässergrund. Natürlich ist mir das Hindernis als Vorfachfeind bewusst. Wickelt sich das Opfer am Haken erst einmal um das sperrige Holz, dann bringt es nur Ungemach für beide Beteiligte.
Dicht gedrängt rasten die Fische unter dem Schlagschatten. Viele finden keinen Platz und müssen als Vorhut ins freie Wasser ausweichen. Die Form der gedrängt schwänzelnden Individuen bildet in der Masse eine breite Speerspitze. Mein Ziel sind die Anführer der bewegten Mäuler. In der Luft lote ich die Länge der Schwimmschnur aus und lasse ohne Bedenken die haarige Fliege ins Wasser plumpsen. Gleichmäßig füttere ich Schnur nach, damit sie im Tempo der Strömung den Köder transportiert. Das Muster driftet genau auf die ersten Fische zu. Ich rechne mit der Neidgesellschaft und mit dem Angriffeines Buckellachses. Weder beißfaul, launisch oder gar heikel sind die Zwerge unter den Pazifischen Lachsarten. Ehe der Fisch im Reflex sein Rettungsprogramm ausschütten kann, habe ich den wilden Kämpfer schon aus dem botanischen Gefahrenherd geführt. Angeltechnisch keine Komplikationen bereiten mir die halben Portionen.
Mit geringer Hebelwirkung drehe ich den bartlosen Haken schonend aus dem Kiefer. Nicht einmal meine Hände spürt der Fisch auf seiner Schleimhaut und schwimmt nach dem respektvollen Drill leicht verwirrt in die Strömung zurück. Gemächlich reiht er sich wieder in die Masse seiner Geschlechtsgenossen ein. Wohl bereits der erste Fisch muss meine artgerechte Behandlung seinen Wandergefährten mitgeteilt haben, denn ich hätte unzählige Fische aus dem Schwarm entführen können. Aber ich brauche keinen schmerzenden Arm oder Rutenbruch, um mich in Selbstbeschränkung üben zu können.
Meine Partner haben drei Portionsfische abgeschlagen und mir als Buschkoch, freiwillig genötigt, die Filets küchenfertig geliefert. Das Vergnügen am Beuteerwerb ist stets mit der Pflicht zum Ausweiden verknüpft. Ein ungeschriebenes Gesetz auf unseren Reisen. Eher grau mit einem zarten Hauch von Rosa schaut das Fleisch aus der Bratpfanne. Verblüffend ist, dass die unterschiedliche Hautspannung ein starkes Wölben der Portionen hervorruft, obwohl ich wie immer fertig gemischtes Fischgewürz und Zitronenpfeffer verwende. In der Not futtert der Teufel Fliegen und wir halt Buckellachse.
Laut Karte sind wir, mein Freund Walter und ich, nur mehr eine Meile von den eingezeichneten „Rapids“ entfernt. Flusskarten lügen nicht. Uns beunruhigt der eingetragene Schwierigkeitsgrad. Verteilt sind die aus dem Wasser ragenden Felsklötze auf die ganze Breite im Flussbett, wie von einem Riesen in übler Laune geworfen. Wild rauscht das Weißwasser durch den Irrgarten aus mächtigen Steinen. Zur Vorsicht mahnt der heikle Abschnitt.