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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.
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3., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-038120-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-038121-6
epub: ISBN 978-3-17-038122-3
Wir widmen dieses Buch der ehrwürdigen Ayya Khema. Sie lehrte uns die Prinzipien der Achtsamkeit. Die Begegnung mit ihr beeinflusste unseren Lebensweg entscheidend.
Viele Einflüsse kommen in diesem Buch zusammen. Es beruht auf einer jahrzehntelangen Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Frauen und Männern, die unter einer Essstörung leiden oder litten. Grundlegende Erfahrungen konnten wir von 1988 bis 1999 an der Psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee sammeln. Ganz besonders danken wir dem Team, allen Ärzten, Psychologen, Pflegefachkräften, Ergotherapeuten und Sozialpädagogen der Borderline-Station der Universität zu Lübeck und den dort behandelten Patientinnen und Patienten. Dort haben wir beginnend im Jahr 1999 ein DBT-Behandlungskonzept für Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Essstörung etabliert. Ebenfalls an der Universität zu Lübeck entstand das Konzept des Selfish Brain, das großen Einfluss auf die Gestaltung der Essstörungsbehandlung hat. Namentlich erwähnen möchten wir Professor Fritz Hohagen, den Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Lübeck, der uns vertraut und uns stets bedingungslos gefördert hat, Professor Manfred Fichter, Pionier der verhaltenstherapeutischen Essstörungsbehandlung in Deutschland, Prof. Achim Peters, Leiter der klinischen Forschergruppe »Selfish Brain«, dessen Forschung zu einem neuen Verständnis des Zusammenhangs zwischen Metabolismus und Emotionen geführt hat, Prof. Martin Bohus, der DBT in Deutschland etabliert hat, sowie Prof. Christopher Fairburn, Entwickler der kognitiv-behavioralen Therapie der Essstörung, der unermüdlich an der Fortentwicklung kognitiver Therapien und an der Wissenschaftsbasierung der Essstörungsbehandlung arbeitet. Wir danken der Christina-Barz-Stiftung für die finanzielle Unterstützung bei der Erstellung und Erprobung des Manuals. Wichtige Personen unserer Arbeitsgruppe, die zu dem Buch beigetragen haben, waren Dr. Oliver Korn, Dr. Kristin Heinecke, Johanna Zabell, Dr. Eva Fassbinder, Dr. Niclas Wedemeyer, Dr. Sebastian Rudolf, Dr. Matthias Anlauf, Mirco Penshorn, Stephanie Friedrich, Dr. Alexia Friedrich, Katharina Burde, Nicole Bach, Stephanie Koglin, Sven Krüger sowie Doris Gressing, Silke Berg und das gesamte Pflegeteam. Sie haben mit ihrem Einsatz besonders die Umsetzung und Erprobung des Konzepts im stationären Bereich gefördert. Für kritische Lektüre danken wir Izabella Donczewski. Weiterhin danken wir Herrn Dr. Ruprecht Poensgen für die stets sehr wohlwollende verlegerische Betreuung.
Viele Patientinnen und Patienten haben mit ihren Erfahrungen und Rückmeldungen dazu beigetragen, dieses Buch zu verbessern. Hierfür möchten wir uns herzlich bedanken. Prof. Hohagen möchten wir dafür danken, dass er uns die Möglichkeit gegeben hat, das Konzept auch in den teilstationären und ambulanten Kontext zu transferieren. Bedanken möchten wir uns ganz besonders beim akademischen Team der Station 4 der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Lübeck und dem Pflegeteam unter der Leitung von Silke Berg und Iris Wischnewski, die bei der praktischen Umsetzung des Manuals geholfen und es auf eine kontinuierliche Erfahrungsbasis gestellt haben. Wichtige Personen in unserem aktuellen akademischen Team sind Dr. Kristin Heinecke, Christina Beckers, Dr. Till Wagner, Dr. David Brandt, Marie Dettbarn, Laura Heikaus und Nora Dietrich. Sehr hilfreich ist auch das Feedback aus der DBT Community. Viele haben an unseren Workshops teilgenommen und uns an ihren Erfahrungen bei der Benutzung des Manuals teilhaben lassen. Ganz besonders erwähnen möchten wir hier Andreas Schnebel, den Leiter von ANAD in München, der das Konzept im Bereich intensivtherapeutischer Wohngruppen und Beratungsstellen anwendet.
Ein Buch in der 3. Auflage ist etwas ganz Besonderes. Erneut haben viele Patientinnen und Patienten mit ihren Erfahrungen und Rückmeldungen dazu beigetragen, das Manual weiter zu verbessern. Hierfür möchten wir uns herzlich bedanken. Die Wissenschaft ist seit der letzten Auflage weitere Schritte gegangen. Von besonderer Bedeutung für unser Buch ist die »Theory of Constructed Emotions«, die von Lisa Feldman Barrett entwickelt wurde und von der wir annehmen, dass sie die Art, wie Emotionsregulation in der Psychotherapie vermittelt wird, deutlich beeinflussen wird. Bedanken möchten wir uns erneut bei den akademischen Teams und den Pflegeteams der Station 4 und der Tagesklinik der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universität zu Lübeck, die bei der praktischen Umsetzung des Manuals geholfen und es auf eine kontinuierliche Erfahrungsbasis gestellt haben. Wichtige Personen aus den aktuellen Teams, die neu erwähnt werden sollten, sind PD Dr. med. Jan Philipp Klein, Alisa Roller, Peter Westermair, Susanne Havemann, Wojciech Bahr, Andreas Fahs, Daniela Tegtmeyer, Christian Weißgerber, Annett Ahrens-Hahn, Simone Eifrig, Telse Ehlers-Belhadj, Andreas Antonia Rickmann, Ronja Hermanns, Bettina Besser, Svenja Orlowski, Svenja Haeger, Moritz von Iljin, Kristina Borchfeld und Miriam Trautmann.
Bereits seit der Antike ist bekannt, dass psychische Störungen und Auffälligkeiten des Essverhaltens eng zusammenhängen, beispielsweise Appetitlosigkeit und beeinträchtigte Stimmung (Melancholie). Die Anorexia nervosa als erste spezifische Essstörung wurde bereits im 19. Jahrhundert beschrieben (Gull, 1997; Lasegue, 1997), Bulimia nervosa (Russell, 1979) und Binge-Eating-Störung (Spitzer, 1991) erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Spezifische Therapieformen für Essstörungen wurden erstmals in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts entwickelt.
Das am besten evaluierte manualisierte verhaltenstherapeutische Konzept zur Therapie von Essstörungen ist die von Chris Fairburn entwickelte Cognitive-Behavioral Therapy – Expanded (CBT-E). Diese Therapiemethode verwendet ein Störungsmodell, bei dem das Phänomen, dass insbesondere restriktives Essverhalten die Funktion haben kann, gestörtes Selbstwertgefühl zu stabilisieren, im Mittelpunkt steht (Fairburn, 2011). CBT-E ist unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung erfolgreich in der Symptomreduktion. Bei kurzer Erkrankungsdauer, Fehlen von Komorbidität und günstigen psychosozialen Rahmenbedingungen ist es geeignet, auch global psychosoziale Funktionsfähigkeit und Lebensqualität wiederherzustellen. Warum also weitere verhaltenstherapeutische Methoden entwickeln? Zum einen lassen die Remissionsraten, die mit CBT-E erzielt werden, mit etwa 45 % erheblichen Spielraum nach oben. Deutliche Limitationen ergeben sich in der Behandlung von Essstörungen, wenn diese in komplexe Störungen der Emotionsregulation eingebettet sind.
Das vorliegende Manual setzt deshalb einen anderen Schwerpunkt. Wissenschaftliche Daten zeigen, dass eine Störung der Emotionsregulation eine wesentliche Ursache von Psychopathologie und auch ein wesentlicher Aspekt von Essstörungen ist (Prefit et al., 2019). Im vorliegenden Manual gehen wir deshalb von der Grundannahme aus, dass unzureichende Fertigkeiten in der Emotionsregulation der wesentliche aufrechterhaltende Faktor der Störung sind. Für diesen Ansatzpunkt spricht, dass ein Training der Fertigkeiten der Emotionsregulation sich bereits bei Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Komorbidität bewährt hat. Weitere prominente Arbeitsgruppen im Bereich der Therapieentwicklung für Patienten mit Essstörung setzen in ihren Manualen mittlerweile ebenfalls einen Schwerpunkt im Bereich Emotionsregulation, und zwar die Gruppe um Ulrike Schmidt und Janet Treasure vom King’s College in London (Schmidt et al., 2019) und die Gruppe um Stephen Wonderlich und Jim Mitchell von der University of North Dakota in Fargo (Wonderlich et al., 2015).
Das vorliegende Manual sieht sich im Rahmen der Psychotherapieentwicklung der dritten Welle der Verhaltenstherapie. Gemeinsames Element dieser Entwicklung ist die Abkehr von einer abstrakten Auseinandersetzung mit Inhalten von sogenannten dysfunktionalen Kognitionen (beispielsweise der Kognition »Ich bin zu dick« bei einer Patientin mit Anorexia nervosa). Stattdessen setzen sich die Methoden der dritten Welle mit den Fertigkeitsdefiziten spezifischer Patientengruppen in interpersonellen, emotionalen und metakognitiven Bereichen auseinander. Psychotherapie widmet sich an dieser Stelle vermehrt prozeduralen und emotionalen Lernprozessen. Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist, dass Themen wie Akzeptanz, Achtsamkeit, Dialektik, Werte, Spiritualität, Fusion–Defusion, Schemata, Beziehung, Metakognition und andere Fortentwicklungen der kognitiven Psychologie vermehrte Aufmerksamkeit bekommen und zunehmend integriert werden. Ein lerntheoretischer Rahmen wird dabei strikt beibehalten, kontextualistische Philosophie ist ein wichtiger Bezugsrahmen (Hayes et al., 2011).
Das Manual basiert auf der mittlerweile über 30-jährigen Erfahrung der beiden Autoren in der Behandlung von Patientinnen mit einer Essstörung, die wir am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, an der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee und in unserer Spezialstation für Patientinnen mit einer Essstörung und einer Persönlichkeitsstörung sowie durch die ambulante Behandlung von Patientinnen mit Essstörung erwerben konnten. Ideen zu diesem Manual und psychotherapeutische Techniken wurden im Laufe dieser Zeit aus einer Vielzahl von Quellen, durch den Besuch von Workshops und die Lektüre von Büchern sowie persönliche Gespräche aufgenommen und für die Behandlung der Patientinnen mit Essstörung modifiziert. Besonders erwähnen möchten wir Frederic Kanfer (Kanfer et al., 2011), Karl-Martin Pirke (Pirke et al., 1986), Manfred Fichter (Fichter, 1989), Marsha Linehan (Linehan, 2014), Martin Bohus (Bohus und Wolf, 2018), Matthew McKay (McKay et al., 2019), Steven Hayes (Hofmann und Hayes, 2018), James McCullough (McCullough Jr et al., 2012), Adrian Wells (Wells et al., 2011), Mark Williams und Zindel Segal (Segal et al., 2018), Jon Kabat-Zinn (Kabat-Zinn, 2020), Christopher Fairburn (Fairburn, 2011), Achim Peters (Peters und McEwen, 2015; Peters et al., 2007; Peters et al., 2004), David Barlow (Barlow et al., 2017), Thomas Joiner (Hames et al., 2013) sowie als Meditationsmeister die ehrwürdige Ayya Khema (Khema, 1988) und den ehrwürdigen Nyanabodhi. Eine wichtige philosophische Quelle war das Buch von Peter Sloterdijk: »Du musst dein Leben ändern« (Sloterdijk, 2010).
Das vorliegende Manual beschreibt eine Therapieoption für Patientinnen mit Essstörung – Anorexia nervosa (AN), Bulimia nervosa (BN), Binge-Eating-Störung (BED) oder nicht näher bezeichnete Essstörung (EDNOS) –, insbesondere dann, wenn komorbide eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder weitere psychische Störungen vorliegen.
Das Manual sollte der Patientin schrittweise oder im Ganzen ausgehändigt und von ihr durchgearbeitet werden. Es ist die gemeinsame Arbeitsgrundlage der Patientin und ihres Therapeuten. Das Manual kann entweder systematisch von vorne durchgearbeitet oder es kann individuell, ausgehend von der Problematik der Patientin, eine Auswahl getroffen werden. Eine solche Schwerpunktsetzung ist typischerweise erforderlich, wenn das Manual im Rahmen eines zeitlich begrenzten stationären Aufenthalts genutzt wird. Das Manual kann im Rahmen stationärer oder ambulanter intensivtherapeutischer Angebote eingesetzt werden. In diesen Rahmen ist es naheliegend, Gruppentherapie, Einzeltherapie, therapeutisch begleitetes Essen, Sport- und Bewegungstherapie, Achtsamkeitsübungen, Aufbau sozialer Kompetenz sowie weitere komplementäre Angebote zu integrieren. Es ist aber auch im ausschließlich einzeltherapeutischen Setting oder als Selbsthilfemanual anwendbar.
Das Manual enthält Informationsmaterialien und Arbeitsblätter, es sollte trotzdem nicht als Kochbuch missverstanden werden. Im Mittelpunkt bleiben das individuelle Störungsmodell der einzelnen Patientin und die Frage, welche Fertigkeiten die Patientin braucht, um langfristig dem Teufelskreis der Essstörung zu entkommen. Der Therapeut wählt die zu bearbeitenden Arbeitsblätter ausgehend von diesem Ziel aus. Alle Arbeitsblätter1 dieses Buchs können Sie als PDF-Datei kostenfrei unter folgendem Link herunterladen: https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-038120-9
Der erste Teil des Manuals wendet sich mehr an Patientinnen als Arbeitsgrundlage für Selbststudium und die Zusammenarbeit mit einem Therapeuten. Der zweite Teil wendet sich mehr an Fachleute und enthält auch manchmal schwer verständliches Fachwissen. Wenn Sie als Patientin etwas nicht verstehen, fragen Sie Ihren Therapeuten nach genaueren Erklärungen.
1 Wichtiger urheberrechtlicher Hinweis: Alle zusätzlichen Materialien, die im Download-Bereich zur Verfügung gestellt werden, sind urheberrechtlich geschützt. Ihre Verwendung ist nur zum persönlichen und nichtgewerblichen Gebrauch erlaubt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Therapie einer Essstörung durch Emotionsregulation richtet sich an Patientinnen, die unter einer Essstörung und damit verbundenen weiteren Problemen leiden. Ziel dieses Moduls ist, Experte in eigener Sache zu werden. Essstörung hat vielfältige individuelle Varianten. Um ihre Behandlung genau planen zu können, ist es wichtig, dass Sie wissen, welche Symptome vorliegen und welche nicht. Wenn Sie unsicher sind, ob eine Essstörung bei Ihnen ein wesentliches Problem ist, arbeiten Sie das Modul genau durch und diskutieren Sie alle offenen Fragen mit Ihrem Therapeuten.
Um von einer Essstörung zu sprechen, müssen zwei Kriterien erfüllt sein:
1. Das Essverhalten ist verändert (z. B. intensives Fasten, Erbrechen von Mahlzeiten) und
2. das veränderte Essverhalten führt zu körperlicher Gefährdung (z. B. Untergewicht, Störung im Mineralstoffwechsel) oder zu psychischer Beeinträchtigung (z. B. gesamte Aufmerksamkeit wird durch Gedanken an Essen aufgesogen, Depression).
Essstörungen sind häufig mit Problemen der Emotionsregulation verbunden. An dieser Beziehung zwischen Emotionen und Essverhalten setzt das Manual an.
Wenn Sie sich fragen, ob Sie an einer Essstörung leiden, oder wenn Sie an einer Essstörung leiden und Ihre Erkrankung genauer beschreiben wollen, dann gehen Sie die folgende Liste durch und überlegen welche Krankheitszeichen für Sie zutreffen ( Arbeitsblatt 12).
Um das festzustellen, müssen Sie Ihr Körpergewicht und Ihre Körpergröße kennen. Verwenden Sie zur Messung möglichst eine geeichte Waage und ein geeichtes Längenmessgerät (z. B. bei Ihrem Hausarzt). Wiegen Sie sich am besten morgens vor dem Frühstück in leichter Bekleidung. Die Messung der Körpergröße muss ohne Schuhe erfolgen. Aus den Daten lässt sich nach der Formel BMI = Gewicht (kg)/Größe2 (m2) der Body-Mass-Index errechnen. Im Internet finden Sie verschiedene BMI-Rechner, z. B. www.bmi-rechner.net.
Der BMI ist bei jungen Frauen zu niedrig, wenn er unter 18 kg/m2 liegt und zu hoch bei über 26 kg/m2. Das sogenannte Idealgewicht mit einer maximalen Lebenserwartung liegt bei einem BMI von etwa 19 (Hirko et al., 2015). Gesundheitsgefährdende Adipositas beginnt bei einem BMI von etwa 30 kg/m2, dabei wird die Wechselwirkung zwischen Adipositas und Mortalität mit dem Alter stärker (Masters et al., 2013). Zu beachten ist auch die Wechselwirkung zwischen Gewichtsverlauf und Mortalität. Am günstigsten ist stabiles Gewicht, Adipositas mit weiterer Gewichtszunahme, aber auch Gewichtsrückgang bei vorherigem Normalgewicht ist mit erhöhtem Risiko belastet (Zheng et al., 2013).
Für Männer gilt der gleiche Zusammenhang zwischen BMI und Gesundheit wie für Frauen, auch wenn teilweise in Tabellen höhere Grenzwerte angegeben werden.
Für Frauen und Männer, die Kraftsport betreiben, gelten höhere BMI-Obergrenzen. Im Laufe des gesunden Alterungsprozesses nimmt der BMI leicht zu, d. h. ein etwas höherer BMI ist mit einer maximalen Lebenserwartung verbunden.
Für Kinder gibt es keine einfache »Daumenregel« für den Normalbereich des Gewichts. Es ist deshalb notwendig, spezielle Tabellen im Internet (ebenfalls unter www.bmi-rechner.net) oder in Lehrbüchern der Kinderheilkunde heranzuziehen, um herauszufinden, ob der BMI eines Kindes oder einer Heranwachsenden im Referenzbereich liegt. Diese Tabellen arbeiten mit Perzentilen. Von Untergewicht bzw. Übergewicht wird ausgegangen, wenn das Gewicht unterhalb der 3. oder 5. bzw. oberhalb der 95. oder 97. Perzentile liegt.
Bauchumfang: Die Messung des Bauchumfangs ist eine Technik, die Körperfettverteilung zu schätzen. Wenn bei einer Frau der Taillenumfang 88 cm und bei einem Mann 102 cm überschreitet, ist vermutlich das Volumen des Bauchfetts (viszerales oder intraabdominelles Fett) zu hoch. Die Messung wird mit einem Maßband im Stehen, waagerecht, auf halber Strecke zwischen unterem Rippenbogen und oberem Beckenrand, ausgeatmet, mit entspannter Bauchdecke vorgenommen. Wenn Sie sich unsicher sind, lassen Sie die Messung von Ihrem Arzt durchführen.
Denken Sie ständig an Nahrungsmittel? Denken Sie häufig über Ihr Essverhalten nach? Braucht das viel Zeit oder schränkt Ihre Konzentrationsfähigkeit ein? Dies ist ein wichtiger Hinweis auf eine Essstörung.
Überprüfen Sie, welche der folgenden Verhaltensweisen für Sie charakteristisch sind:
• Mehrfach tägliches Wiegen, um Veränderungen des Körpergewichts engmaschig zu kontrollieren
• Nahrungsmenge wird nach dem aktuellen Gewicht oder Gewichtsveränderung ausgerichtet
• Vermeidung von hochkalorischen, fetthaltigen oder kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln
• Auslassen von Mahlzeitbestandteilen wie Nachtisch oder ganzen Mahlzeiten
• Kauen und Ausspucken von Nahrungsmitteln
• Genaue Bestimmung des Kaloriengehalts von Mahlzeiten, z. B. durch Abwiegen und Benutzung von Kalorientabellen
• Vermeidung von Nahrungsmitteln, deren Kaloriengehalt nicht eindeutig bestimmbar ist, z. B. wenn eine andere Person Suppe gekocht hat
• Regelmäßige oder intermittierende Verwendung von synthetischen oder pflanzlichen Süßstoffen (z. B. Aspartam, Cyclamat, Saccharin oder Stevia), Zuckeraustauschstoffen (z. B. Sorbit oder Xylit), Fettersatzstoffen (z. B. Olestra oder Carrageen) und Light-Produkten
• Verwendung von Appetitzüglern oder Nikotin zur Dämpfung des Appetits
• (Selbst-)Beschränkung auf eine oder zwei Mahlzeiten pro Tag
• Beschränkung auf eine bestimmte Zahl sehr kleiner Mahlzeiten
• Zufuhr von großen Flüssigkeitsmengen vor den Mahlzeiten, um die Nahrungsaufnahme zu begrenzen
• Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr, um die Nahrungsaufnahme zu erschweren (z. B. durch Durst oder trockene Schleimhäute)
• Einkaufen von Nahrungsmitteln, von denen Sie wissen, dass Sie sie nicht gerne essen, um die Nahrungszufuhr gering zu halten
• Horten von Nahrungsmitteln, die betrachtet, aber nicht gegessen werden
• Verwendung von Salz, Pfeffer und anderen Gewürzen, um Nahrungsmittel zu versalzen oder so scharf zu würzen, dass sie nur noch schwer essbar sind
• Einsatz von bildhaften Vorstellungen oder Gedanken, um den Konsum von Nahrungsmitteln unattraktiv zu machen, die Sie sonst gerne essen würden. Beispielsweise die Vorstellung, dass Schokolade durch Mäusekot oder Maden verunreinigt ist, oder die Vorstellung, dass der Koch in die Suppe gespuckt hat
• Vermeidung von Essen in Gemeinschaft, um Ablenkung beim Essen zu vermeiden
• Vermeidung von Essen in Gemeinschaft aus Scham über das eigene Essverhalten oder um Kommentare anderer über das eigene Essverhalten zu vermeiden
• Verwendung von einengenden Bauchgürteln, beengender Kleidung oder Muskelanspannung, um beim Essen ein frühzeitiges Völlegefühl zu erzeugen
• Nutzung von Zungenpiercings oder Selbstverletzungen im Mundraum, um die Nahrungsaufnahme zu erschweren
Hier sind alle Verhaltensweisen gemeint, die dazu dienen, aufgenommene Energie oder Flüssigkeiten rasch wieder aus dem Organismus zu entfernen.
• Erbrechen, entweder automatisch, nach Reizung des Rachenraums, unterstützt durch chemische Substanzen, die Erbrechen fördern (wie Hustensaft, Salzlösungen), oder auch unterstützt durch Ekelvorstellungen
• Einnahme von pflanzlichen oder chemischen Abführmitteln (Laxanzien)
• Einnahme von pflanzlichen oder chemischen wassertreibenden Substanzen (Diuretika)
• Einnahme von Schilddrüsenhormonen (um den Grundumsatz zu erhöhen)
• Exzessiver Sport, d. h. Sport, der nicht mehr der Fitness oder dem Wohlbefinden dient, sondern nur dem Kalorienverbrauch
• Absichtliches Anspannen der Muskulatur (isometrische Übungen)
• Absichtliches Frieren (durch unangemessen dünne Kleidung), um Kalorien zu verbrauchen
• Absichtliches Schwitzen, um Flüssigkeit zu verlieren (z. B. verlängerte Saunabesuche ohne angemessenen Flüssigkeitsausgleich)
• Weglassen von Insulin (wenn Sie Typ-1-Diabetes haben), um Zucker mit dem Urin auszuscheiden
• Ist das Essen ohne feste Mahlzeiten über den ganzen Tag verteilt?
• Essen Sie Süßigkeiten anstelle von Mahlzeiten?
• Essen Sie unter Stress zusätzlich außerhalb der Mahlzeiten?
• Essen Sie nur eine Mahlzeit pro Tag?
• Essen Sie mehr als vier Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten pro Tag?
• Essen Sie Ihre überwiegende Nahrungsmenge nachts, nach 20:00 und vor 06:00 morgens?
• Essen Sie nachts, wenn Sie aufwachen?
Der Begriff Essanfall beschreibt eine Episode von Nahrungsaufnahme, bei der die übliche Fähigkeit zur Selbststeuerung verloren geht, geschwächt ist oder erst gar nicht ausgeübt wird. Einen Essanfall zu unterbrechen oder abzubrechen ist deshalb sehr schwer oder wird als »unmöglich« angesehen. Dies schließt nicht aus, dass der Essanfall bewusst begonnen wurde und bereits vor mehreren Stunden geplant wurde. Werden während des Essanfalls Nahrungsmengen zugeführt, die hinsichtlich ihrer Kalorienzahl den Rahmen einer normalen Mahlzeit sprengen, spricht man von einem objektiven Essanfall. Eine genaue Kaloriengrenze ist nicht definiert, häufig werden aber 1.000 kcal als Grenze angenommen. (Eine Ausnahme von dieser Regel stellen Mahlzeiten dar, die an Tagen mit intensiver körperlicher Arbeit oder sportlicher Betätigung eingenommen werden.) Episoden von Nahrungsmittelaufnahme, die ungeplant oder unerwünscht sind, aber objektiv keine aus dem Rahmen fallenden Mengen darstellen, können subjektiv ebenfalls als Essanfälle wahrgenommen werden. Typischerweise werden bei Essanfällen Nahrungsmittel gegessen, die ansonsten »verboten« sind oder gemieden werden. Bei einer langzeitig bestehenden Essstörung werden Essanfälle häufig genau geplant, d. h. es werden für einen Essanfall geeignete Nahrungsmittel eingekauft, Vorräte angelegt und dafür gesorgt, dass niemand den Essanfall oder nachfolgende gegensteuernde Maßnahmen beobachten kann oder stört. Wenn Sie sich unsicher sind, ob Sie Essanfälle haben oder nicht, machen Sie genaue Aufzeichnungen und besprechen Sie diese mit Ihrem Psychotherapeuten oder Arzt.
Essstörungen gefährden Ihre körperliche Gesundheit und können zu gefährlichen Folgeschäden führen. Achten Sie vor allem auf folgende Punkte und sichern Sie sich durch medizinische Untersuchung bei einem Arzt ab!
• Untergewicht
• Übergewicht
• Störungen des Elektrolytstoffwechsels (am häufigsten: zu niedrige Konzentrationen von Kalium oder Phosphat im Serum)
• Störungen des Herzrhythmus
• Veränderungen des Blutdrucks
• Störungen der Nierenfunktion
• Störungen der Sexualhormone (z. B. Zyklusstörungen)
• Störungen des Knochenstoffwechsels (z. B. bei geringen Belastungen aufgetretene Knochenbrüche, erniedrigte Werte bei einer Knochendichtemessung)
• Zahnschäden
Menschen mit einer Essstörung erleben häufig keine Angst oder kein Gefühl der Bedrohung durch ihre Symptome oder ihr Gewicht. Essstörung »tut nicht weh«. Während Partner, Angehörige oder Freunde sagen: »Das ist gefährlich, das macht mir Angst«, sagt die Betroffene häufig: »Es geht mir gut, ich werde daran schon nicht sterben!« Auch subjektiv erleben sie keine Furcht oder Angst. Die moderne Psychologie geht davon aus, dass es sich hier um eine »erworbene Furchtlosigkeit« handelt. Die Erfahrung, dass gestörtes Essverhalten keine unmittelbaren gefährlichen Auswirkungen hat, aber auch Erfahrungen beispielsweise mit dem Überleben von schwerer Erkrankung, Gewalt, Missbrauch, Drogenkonsum, selbstschädigendem Verhalten können in Furchtlosigkeit münden.
Essstörungen können zu erheblichen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit in Schule und Beruf führen, da sie Konzentration und Energie eines Menschen weitgehend beanspruchen (Tabler & Utz, 2015). Weiterhin leidet die Lebensqualität (Mitchison et al., 2015). Beschäftigung mit Nahrung tritt an die Stelle von Freizeitaktivitäten oder der Pflege von Freundschaften, es besteht die Gefahr, in Isolation zu geraten und am Leben nicht mehr teilzuhaben. Zu beachten ist, dass gerade bei Essstörungen mit Untergewicht in der Anfangsphase der Erkrankung auch erhöhte Leistungsfähigkeit und Aktivität auftreten können. Dies kann zunächst darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Essstörung um eine Erkrankung handelt. Dieser aktivierte Zustand ist nicht von Dauer.
Wenn mehrere der obigen Punkte zutreffen und Ihre Lebensqualität beeinträchtigt ist, sollten Sie – falls Sie dies noch nicht getan haben – mit einem Fachmann sprechen, der dann eine genaue diagnostische Einordnung vornehmen kann.
Eine Essstörung ist manchmal das einzige psychische Problem eines betroffenen Menschen. Häufig tritt sie jedoch in Verbindung mit weiteren Störungen auf. Bitte überlegen Sie, was auf Sie zutrifft.
• Überwiegend schlechte Stimmung
• Kein Interesse mehr für Dinge, die früher wichtig oder erfreulich waren
• Schlafstörungen (keine Erholung mehr durch Schlaf, zu wenig Schlaf oder zu viel Schlaf)
• Fehlender Antrieb
• Vermehrte Wahrnehmung von Schmerzen und anderen unangenehmen Körperempfindungen
• Grübeln (Nachdenken über frühere Fehler)
• Gedanken, nicht mehr leben zu wollen, oder Gedanken daran, sich zu töten
• Vermeidung von Menschenmengen, Kaufhäusern, U-Bahn, Zugreisen, Autofahrten, Höhen, Flugreisen, bestimmten Personen oder Situationen, in denen man im Mittelpunkt steht oder von anderen beobachtet oder beurteilt werden kann.
• Panikattacken (plötzliche starke Angst mit körperlichen Zeichen und Angst zu sterben oder verrückt zu werden)
• Sorgen (häufige Gedanken darüber, was in der Zukunft alles Schlechtes passieren könnte, ohne eine konkrete Gefahr)
• Zwänge (Gedanken, die einem übertrieben vorkommen, aber einen dazu veranlassen, etwas zu tun. Beispielsweise der Gedanke: »Ich habe gefährliche Bakterien auf den Händen, nachdem ich die Türklinke angefasst habe«, der dann dazu führt, dass man sich ständig die Hände wäscht). Dabei verursachen die Gedanken und das zugehörige Verhalten einen erheblichen Zeitaufwand.
• Sich aufdrängende Erinnerungen (Erinnerungen an schlimme Situationen, die man erlebt hat, und die sich ständig ungewollt aufdrängen).
• Vermeidungsverhalten (Angst behindert einen bei wichtigen Dingen wie Partnerschaft, Arbeit, Freizeit)
• Trinken von Alkohol in ungesunden Mengen
• Gebrauch von illegalen Drogen wie Cannabis, Opiaten (Heroin) oder Stimulantien wie Amphetaminen, Methamphetaminen, MDMA (Ecstasy), Kokain
• Tägliches Rauchen von Tabak
• Gefährliches impulsives Verhalten (z. B. schnelles Autofahren, gefährliche Sportarten, Diebstähle, Sex mit Unbekannten)
• Rasche Stimmungsschwankungen auch ohne erkennbare Auslöser
• Rascher Wechsel in zwischenmenschlichen Beziehungen
• Schwierigkeiten allein zu sein
• Selbstverletzungen (z. B. durch Schneiden oder Brennen)
• Dissoziative Zustände (Zustände wie in Trance, fehlende Erinnerung an Situationen oder Gespräche, eigene Person oder Umgebung wird wie fremd wahrgenommen)
• Situationen, in denen man beurteilt werden könnte, werden vermieden (z. B. sich melden in der Schule, sich um eine neue, anspruchsvolle Stelle bewerben, jemanden ansprechen, den man mag oder attraktiv findet)
• Die eigene Attraktivität und Leistungsfähigkeit werden sehr gering eingeschätzt
• Entscheidungen werden anderen überlassen
• Extreme Ordentlichkeit (alles muss geordnet sein, Bedürfnis nach Symmetrie)
• Eingeschränkte Flexibilität (Ausnahmen von Regeln können nicht gemacht werden, fehlende Regelmäßigkeit ist sehr beunruhigend)
• Hohe Bedeutung von Rechthaben
• Perfektionismus (Überzeugung, dass alles fehlerlos gemacht werden muss, Dinge lieber gar nicht machen als Fehler riskieren)
Wenn einer oder mehrere der obigen Punkte zutreffen, sollten Sie – falls Sie dies noch nicht getan haben – mit einem Fachmann sprechen, der dann eine genaue diagnostische Einordnung vornehmen kann.
2 Alle Arbeitsblätter stehen als PDF-Datei unter folgendem Link zum kostenfreien Download zur Verfügung: https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-038120-9
In diesem Modul erhalten Sie grundlegende Informationen zur Selbstbeobachtung und dazu, wie Sie im Rahmen einer Psychotherapie Ihr Verhalten verändern können.
Dialektische Philosophie besagt, dass es zu vielen Dingen des menschlichen Lebens gegensätzliche Standpunkte (These und Antithese) gibt. Wenn man diese Gegensätze gleichzeitig berücksichtigt, kann sich daraus etwas Neues ergeben, das mehr ist als einfach nur ein Kompromiss. Kompromisse entstehen häufig über die Bereitschaft, teilweise von den eigenen Wünschen abzurücken, teilweise nachzugeben. So können Kompromisse auch dazu führen, dass beide Parteien sich als Verlierer wahrnehmen und durch den Kompromiss nur eben etwas weniger verloren haben. Eine dialektische Lösung führt zu einer neuen Betrachtungsweise bei beiden Parteien. Ähnliches gilt für innerpsychische Konflikte, beispielsweise Zielkonflikte. Dialektische Betrachtungsweise in der Psychotherapie bedeutet, dass sich das Verständnis für eine Erkrankung und Veränderungsprozesse daraus ergeben, nicht nur die Nachteile einer Störung zu betrachten, sondern auch ihren Nutzen und ihre Funktion für den betroffenen Menschen. Essstörung ist beispielsweise nicht einfach nur schlecht für die Gesundheit. Es gibt auch klare Vorteile: Fasten kann zumindest kurzfristig Gefühle von Angst, Scham oder Ekel reduzieren. Essanfälle können innere Anspannung dämpfen und Erbrechen kann die Angst vor Gewichtszunahme vermindern. Die Bewältigung der Störung muss diese Vorteile genauso berücksichtigen wie die Nachteile.
Dialektik bedeutet
• Gegensätze zusammenführen
• Darauf achten, was vorhanden ist und was fehlt
• Sowohl-als-auch-Denken statt Entweder-oder-Denken
• Die aktuelle Situation sehen und Veränderung bewirken
• Liebevoll-fürsorglich und fordernd-konfrontierend sein können
• Vernunft und emotionale Bedürfnisse zusammenbringen
Eine Essstörung überwinden, wieder gesund werden ist ein komplizierter Vorgang. Er erfordert etwas anderes als den Wunsch, die Essstörung einfach nicht mehr zu haben. Dieser Wunsch, die Essstörung nicht zu haben, hält Sie möglicherweise sogar in der Essstörung fest, weil Sie dann dazu neigen, nicht genau hinzusehen und die Essstörung und alle damit verbundenen Angelegenheiten nicht wahrhaben zu wollen. Und wer nicht genau hinsieht, der kann schlecht eine Strategie planen.
Hilfreicher ist eine Haltung, mit der Sie die aktuelle Situation sehen können: »Ja, ich habe eine Essstörung. Und ich habe gute Gründe, eine Essstörung zu haben. Die Essstörung hat mir geholfen, bestimmte Gefühle nicht wahrzunehmen, weniger zu leiden. Sie war eine natürliche Reaktion auf das, was ich in mir oder in meiner gegenwärtigen oder vergangenen Umwelt erlebt habe.«
Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie entweder die Essstörung weiter unbedingt brauchen, das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Essstörung bei Ihnen günstig ist oder der Versuch einer Veränderung bei Ihnen aussichtslos ist, dann lesen Sie trotzdem weiter, vielleicht finden Sie doch einige für Sie interessante oder nützliche Informationen.
Wenn Sie sich überlegen, eine Veränderung herbeizuführen, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht mehr stimmt und Sie überwiegend leiden oder wenn Sie schon ernsthaft entschlossen zu einer Veränderung sind, dann ist dieses Manual genau das Richtige für Sie.
Bevor Sie anfangen, sich zu verändern, ist es klug innezuhalten, über den Prozess der Veränderung nachzudenken, die notwendigen Ansatzpunkte und Abläufe mit Ihrem Therapeuten durchzusprechen und in der Vorstellung durchzugehen, bevor Sie sich tatsächlich anders verhalten.
Veränderung ist nur selten ein schmerzloser Prozess. Wenn Sie sich dazu entscheiden, an einer mehrwöchigen Expedition durch ein unbekanntes Gebirge teilzunehmen, können Sie voraussehen, was auf Sie zukommt: Sie werden schwitzen, frieren, Angst und Schmerzen erleben, Muskelkater haben, schlecht schlafen, auch mal denken, dass Sie nicht weiter machen können oder wollen und am Ende vermutlich sehr stolz auf das sein, was Sie geschafft haben. Sie müssen während der ganzen Zeit Ihre gesamte körperliche und seelische Kraft aufwenden, um die Expedition erfolgreich zu bewältigen. Ähnliches gilt für die Überwindung einer seelischen Störung: Sie müssen wesentliche Teile Ihrer seelischen Energie in den Veränderungsprozess investieren und den Schmerz der Veränderung durchleben.
Verhalten wird auf drei Ebenen gesteuert: Durch innere und äußere Auslöser, durch Gewohnheiten und durch Pläne, die auf Werte und Ziele ausgerichtetes Verhalten bedeuten. Dann kann man Annäherungs- und Vermeidungsverhalten unterscheiden. Bei Annährungsverhalten erfolgt ein Verhalten, das durch Belohnung aufrechterhalten wird, z. B. indem ein erwünschtes Ergebnis erreicht wird. Bei Vermeidungsverhalten ist das Verhalten darauf ausgerichtet, dass eine negative Konsequenz nicht eintritt, z. B. dass Schmerzen vermieden werden. Hieraus ergibt sich eine Matrix der Verhaltens- und Veränderungsmöglichkeiten. Die in Tabelle 1 zusammengestellten Beispiele aus dem Alltag erläutern diese Matrix ( Tab. 1).
Tab. 1: Die Matrix der Verhaltensmöglichkeiten
AnnäherungVermeidung
Veränderung kann auf allen sechs Feldern ansetzen. Es ist erforderlich, mit alltäglichen und überraschenden Situationen (Stimuli) in neuer Weise umzugehen, neue Gewohnheiten einzuüben und neu über eigene Werte und Ziele nachdenken. Weiterhin ist es wichtig, sich darauf vorzubereiten, dass bisher vermiedene Emotionen sich während Veränderungsprozessen mit ungewohnter Heftigkeit melden werden.
Es ist wichtig, einem Problemverhalten etwas auf derselben Ebene entgegenzusetzen: Wenn ein bestimmtes Nahrungsmittel wie Chips der Trigger für Essanfälle ist,
Tab. 2: Beispiele bei einer bulimischen Essstörung
AnnäherungVermeidung
ist es erforderlich, dieses Nahrungsmittel für eine bestimmte Zeit nicht zu Hause zu haben und gezielt andere Nahrungsmittel einzukaufen. Noch wichtiger sind neue Gewohnheiten. Wenn Sie vorher tagsüber gefastet haben und abends alleine einen Essanfall hatten, sollte die neue Gewohnheit damit nicht vereinbar sein. Sie können üben, dreimal am Tag eine vorher festgelegte Portion zu essen, dies abends zusammen mit Ihrer Freundin zu tun und dann immer Ihre Wohnung zu verlassen und etwas zu unternehmen.
Neue Ziele geben häufig die neue Richtung vor. Wenn Sie unsicher sind, ob die neuen Ziele zu Ihnen passen, können Sie auch erst einmal experimentieren, indem Sie sich zur Probe vorstellen, Sie hätten sich für das neue Ziel entschieden und sich eine Woche dem neuen Ziel entsprechend verhalten.
Die Veränderung von Situationen durch Vermeidung oder Hinzufügen von Elementen nennt man Stimuluskontrolle. Bei einer bulimischen Essstörung kann es beispielsweise hilfreich sein, für eine bestimmte Zeit nur noch in Gesellschaft zu essen und Nahrungsmittel, die vorher wichtige Bestandteile von Essanfällen waren, nicht einzukaufen.
Die Veränderung von Verhaltensgewohnheiten setzt es voraus, alte Gewohnheiten »über den Haufen zu werfen«, d. h. zu stoppen, das Verhalten bewusst nicht zu tun und »Nein« zu sagen (inhibitorische Kontrolle) und neue (gesündere) Gewohnheiten einzuüben. Hierfür sind häufig erhebliche Zeiträume erforderlich. Auch gut geübte neue Gewohnheiten können in belastenden Situationen oder bei Ablenkung vorübergehend verlorengehen. Deswegen ist häufig eine Kombination von neuen Gewohnheiten, inhibitorischer Kontrolle und Stimuluskontrolle erforderlich, um erfolgreich neues Verhalten zu etablieren.
Die Veränderung von Wahrnehmungsgewohnheiten kann zum einen durch das Aufsuchen neuer Situationen erreicht werden, zum anderen durch das gezielte Herangehen an Situationen »als wenn man sie das erste Mal erleben würde« (Beginner’s Mind). Beispielsweise widmen Menschen mit sozialen Ängsten und Essstörungen ihre Aufmerksamkeit häufig ihrem eigenen Aussehen, wenn sie sich in Gesellschaft befinden, oder sie achten ausschließlich auf schlanke junge Frauen oder Männer und vergleichen sich mit diesen. Wenn Sie das nächste Mal auf einer Party sind, nutzen Sie die Strategie »Beginner’s Mind«, stellen Sie sich vor, Sie würden niemanden auf der Party kennen und sehen Sie sich alle Gäste genau an. Dabei ist es wichtig, dass Sie alles beobachten und beschreiben, aber nicht als gut, schlecht, schön, hässlich, mag ich oder mag ich nicht bewerten. Sie werden mit völlig neuen Wahrnehmungen nach Hause gehen.