Der Autor:
Dr. Reinhold Haller ist Erziehungswissenschaftler, Berater, Trainer und Coach sowie Dozent im Bereich Personal und Kommunikation. Er ist selbst von Legasthenie betroffen.
Meinen Eltern gewidmet
Ohne die ich keine Bücher schreiben würde
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041520-1
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-041521-8
epub: ISBN 978-3-17-041522-5
»Meine größte Schwäche war vor allem
ein schlechtes Gedächtnis für Texte und Wörter.«
Albert Einstein
Physiker und Nobelpreisträger
1879–1955
»Säße ich im Rollstuhl, hätte jeder Mitleid mit mir.
Wenn ich sage, dass ich Legastheniker bin,
gelte ich als dumm.«
Tiemo Grimm
Universitätsprofessor für Humangenetik,
der sich zu seiner Legasthenie bekennt
Mit Fehlern leben zu lernen ist eine Aufgabe, die letztlich allen lebenden Menschen abverlangt wird. Schließlich ist niemand wirklich unfehlbar oder perfekt. Diejenigen, welche sich selbst für vollkommen halten, wohl am wenigsten.
Zur echten Herausforderung aber wird diese Aufgabe für all jene Menschen, die lernen müssen, mit Fehlern zu leben, die sich nicht einfach abstellen oder vermeiden lassen. Für Menschen also, welche Fehler nicht nutzen können, um daran zu lernen, zu reifen und klüger zu werden. Denn schließlich gibt es Fehler, die für sich genommen keine klassischen menschlichen Fehler sind, sondern sich wiederholende Symptome eines Fehlers in der sensorischen Wahrnehmung und deren neuronaler Verarbeitung.
Menschen mit Legasthenie, Dyskalkulie oder verwandten Teilleistungsstörungen sind konfrontiert mit Fehlern beim Lesen, Schreiben, im Umgang mit Zahlen, im Erkennen von Gesichtern oder Emotionen. Sie begegnen diesen Problemen nicht, weil ihnen beständig dumme oder vermeidbare Fehler unterlaufen. Vielmehr zeigen sie geringfügige Unzulänglichkeiten in ihrer Wahrnehmung und in deren zerebraler Auswertung. Man könnte sagen, sie machen keine Fehler, sondern der Fehler ist Teil ihrer selbst.
In diesem Kontext ist der eigentliche Lernvorgang ein grundsätzlich anderer als beim Umgang mit gewöhnlichen Fehlern, aus denen wir im besten Fall klüger werden, ganz nach dem Motto von Wilhelm Busch:
Aus Fehlern wird man klug,
darum ist einer nicht genug.
Bei einer Legasthenie oder ähnlichen Beeinträchtigungen geht es aber nicht darum, aus jedem der damit verbundenen Fehler etwas Neues zu lernen. Es geht vielmehr darum, mit einem permanenten und beständigen Fehler leben zu lernen. Die Herausforderung besteht dabei darin, das mit dem Fehler verbundene eigene Handikap anzuerkennen, anzunehmen und zu lernen, sich damit im Leben nachhaltig zu behaupten. Dazu gehört, zu akzeptieren, dass man mit seiner Schriftsprache immer wieder Fehler macht und machen wird. Fehler, welche für andere sichtbar sind und die mit beständiger Beurteilung, Missbilligung und mitunter auch Ausgrenzung einhergehen.
Die Aufgabe, mit seinen fortwährenden Fehlern zu leben, ist also eine Herausforderung oder gar Kunst, die vielen Menschen abverlangt wird. Von dieser Herausforderung und den verschiedenen Hilfsmitteln und Möglichkeiten einer erfolgreichen Bewältigung soll in diesem Buch berichtet werden.
Tatsächlich wird jeder, der über das Phänomen Legasthenie oder LRS recherchiert, in Publikationen oder im Internet auf schier endlose Listen von Menschen stoßen, die vermeintlich von Legasthenie betroffen sind oder waren. Aus verschiedenen solcher Aufzählungen habe ich hier eine gekürzte Zusammenfassung prominenter Persönlichkeiten zusammengestellt:
Tab. 1:
Was diese eindrucksvolle Auflistung der genannten Berühmtheiten betrifft, so kann ich natürlich nicht wirklich dafür garantieren, dass es sich hier wirklich bei allen Genannten um Menschen handelt, die zweifelsfrei und sämtlich von Legasthenie betroffen sind oder waren.
Erfahrungsgemäß werden solche, in Publikationen und vor allem im Internet kursierenden Aufzählungen voneinander abgeschrieben. Aber weder Leonardo da Vinci noch Galileo Galilei oder andere dieser VIPs konnten mit heutigen Diagnoseverfahren getestet werden. Und schließlich lebten viele dieser Menschen, wie etwa auch Mozart oder Goethe, in Epochen, in denen Rechtschreibung eher eine individuelle oder zumindest regionale Angelegenheit war und längst noch kein allgemeingültiger Standard. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand bekanntlich im deutschsprachigen Raum mit dem Werk des Konrad Duden die Grundlage einer verbindlichen Rechtschreibung.
Dass jedoch bei vielen der gelisteten Prominenten tatsächlich eine Legasthenie vorlag, ist durch zahlreiche glaubwürdige (auto-)biografische Aussagen oder persönliche Statements faktisch belegbar.
Bei anderen Kandidaten dagegen liegen zwar keine sicheren Belege vor, etwa bei Albert Einstein. Immerhin hat aber Einstein selbst darauf verwiesen, dass er erst im Alter von drei Jahren zu sprechen begann – ein Tatbestand, der häufig mit Legasthenie korreliert –, und merkte darüber hinaus an: »Meine größte Schwäche war vor allem ein schlechtes Gedächtnis für Texte und Wörter.« Der amerikanische Neurowissenschaftler Normen Geschwind schloss aus diesen Aussagen sowie aus Ergebnissen der pathologischen Untersuchungen von dessen Gehirn, dass Einstein unter Legasthenie litt (Wolf 2010).
Dessen ungeachtet sind bisher keine direkten und eindeutige Beweise publiziert, die sich aus Einsteins zahlreichen handschriftlichen Aufzeichnungen theoretisch leicht herbeiführen ließen. Es scheint, als wäre es trotz mangelnder zweifelsfreier Belege einfach zu verlockend, mit Albert Einstein als Galionsfigur einen perfekten Beleg für die Verknüpfung von Legasthenie und Intelligenz vorhalten zu können. Keine Frage: Einstein war ein Genie und ist weltweit populär. Ist aber seine Person wirklich unverzichtbar, nur um zu belegen, dass Legasthenie kein Anzeichen ist von Dummheit?
Unabhängig von einer umfassenden und validen Einzelfallprüfung aller gelisteten Personen darf jedoch festgestellt werden, dass in der Tat viele kluge und erfolgreiche Menschen zu den Betroffenen gehören. Zahlreiche Erfinder und Unternehmer, Schriftsteller, Könige und sogar Nobelpreisträger haben nachweislich gelernt, erfolgreich mit ihrer Legasthenie zu leben.
Begrüßenswert ist ohnehin, dass sich zunehmend betroffene Menschen offen zu ihrer Legasthenie bekennen. So haben beispielsweise der britische Fernsehkoch Jamie Oliver (Warter 2017) oder die schwedische Kronprinzessin Victoria ihre Erfahrungen in den Medien offenbart (Gamillscheg 2002).
Im Fall der schwedischen Königsfamilie betraf dieses Outing immerhin ein ganzes Adelsgeschlecht. Schließlich war der Vater von Prinzessin Victoria, König Karl Gustav, ebenso wie zwei ihrer Geschwister von diesem Handikap betroffen. Denn Legasthenie ist –wie man heute begründbar annimmt – mit einer genetischen Veranlagung verbunden (vgl. Abschnitt »Ursachen«).
In Deutschland hat sich beispielsweise der derzeitige thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow im Fernsehen (Wolfsgruber 2019) und in der Wochenzeitschrift »DIE ZEIT« zu seiner Legasthenie bekannt (Machowecz 2021). So ist greifbar und exemplarisch belegt, dass man es trotz einer Legasthenie durchaus auch zum Regierungschef bringen kann.
Wer selbst von Legasthenie betroffen ist, wird die beeindruckende Auflistung bekannter Persönlichkeiten jedenfalls gerne zur Kenntnis nehmen und wie die Fan-Gemeinde eines englischen Fußballklubs laut oder im Stillen anstimmen können: »You’ll never walk alone!« oder – frei übersetzt – auf gut Deutsch: »Du gehst diesen Weg niemals allein!«
Wer selbst nicht betroffen ist, wird sich vielleicht mit einer solchen Liste davon überzeugen lassen, dass Legasthenie keineswegs ein Beweis ist für die vermeintliche Dummheit oder das generelle Unvermögen von Menschen, die Probleme beim Schreiben und/oder Lesen haben. Ganz im Gegenteil!
Letzteres ist wahrlich nicht selbstverständlich. Auf den Vorbehalt, Menschen mit Legasthenie seien schlichtweg dumm, stoßen nicht nur Betroffene. Selbst meine Schwester – zeitlebens selbst ohne Anzeichen einer Legasthenie – durfte während ihres Psychologiestudiums noch Anfang der Achtzigerjahre an der Universität zu Köln aus dem Munde eines angesehenen Lehrstuhlinhabers für Diagnostik und forensische Psychologie erfahren: »Früher sagte man: ›Das Kind ist dumm!‹. Heute nennt man sie Legastheniker.« Wie man sieht, macht echte Dummheit und eine solide fachliche Ignoranz auch vor Universitätsprofessoren nicht zwangsläufig halt.
Dies ist auch deshalb unverständlich und zeugt von Ahnungslosigkeit, weil man es zumal als Wissenschaftler um das Jahr 1980 hätte besser wissen müssen. Aus Neurologie und Psychologie verfügte man seinerzeit bereits über hinreichende Daten und Fakten, die Beleg waren für die Widerlegung des Vorurteils, Menschen mit Legasthenie oder LRS seien einfach nur dumm oder unfähig.
In Wirklichkeit ist das genaue Gegenteil bewiesen: Von den Sechzigerjahren bis heute wird Legasthenie häufig als ein sogenanntes Korrelationsphänomen definiert. Demnach bedeutet Legasthenie, dass Menschen mit einer durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen Intelligenz in der Rechtschreibung und/oder beim Lesen im Vergleich zu ihrer jeweiligen Altersgruppe überdurchschnittlich viele Fehler unterlaufen.
Mit der definitorischen Verknüpfung einer hohen Fehlerquote beim Schreiben und Lesen und andererseits einer (über-)durchschnittlichen Intelligenz wollte man Menschen mit »echter« Legasthenie von bildungsschwachen Menschen, (partiellen) Analphabeten oder Menschen mit einer allgemeinen Lese-Rechtschreib-Schwäche grundsätzlich abgrenzen.
Wer selbst betroffen ist und lernen muss, mit Legasthenie oder einer Lese-Rechtschreib-Störung Schule, Beruf und Leben zu meistern, wird dennoch mit höchster Wahrscheinlichkeit mit Vorbehalten, Vorurteilen oder Ausgrenzung konfrontiert werden. Auch davon zeugen die biografischen Fakten und die persönlichen Erinnerungen prominenter und darüber hinaus viel mehr nicht-prominenter, »normaler« Menschen mit Legasthenie. Und so würde mich wirklich überraschen, wenn dies bei Kindern und Jugendlichen grundsätzlich anders wäre, die sich heutzutage mit ihrer Legasthenie in der Schule und im Leben behaupten müssen.
Wie belastend und ausgrenzend die Diagnose Legasthenie für betroffene Kinder sein kann, schildert eindrücklich das folgende Beispiel. Es ist der persönliche Rückblick eines Mädchens aus dem vierten Schuljahr auf ihre Grundschulzeit (Scheerer-Neumann 2015, S. 12):
Als wir hier hingezogen sind, kamm ich in die 3. klase. Ale heben gejubelt und wollten neben mir sitzen ich kamm neben Tanja meine erste Freundin. Nachdem ein paar Wochen vergangen waren wollte keiner mer neben mir sitzen sie haben alle gesagt ich sei doof und behindert. Ich habe nie was dafon gesagt aber dan wurt es immer schlemer ich sagte es Herr Schulte aber unternam nie was bis ich keine lust mehr hatte und nichts unternommen habe. aber dann haben wir einen Brief bekommen das ich zurrukgestelt werte. Alle waren trauchich weil sie keinen mer zum ergern haten. Aber ich war vro.
Fazit dieser berührenden Schilderung aus Kindermund: Auch fast genau 100 Jahre nach der Schöpfung des Begriffs und der Diagnose Legasthenie durch den ungarischen Arzt und Wissenschaftler Pál Ranschburg scheint noch kein Durchbruch erzielt im allgemeinen Verständnis und einer wirklichen Integration der Betroffenen.
Eben dem möchte dieses Buch abhelfen. Seine Ziele bestehen darin:
einer breiteren Zielgruppe kurzweilige und verständliche Informationen zu liefern rund um das Thema Legasthenie oder LRS und deren Bewältigung. Als Adressaten verstehe ich Betroffene, Angehörige, Lehrer, Sprachtherapeuten, Psychologen, aber auch Multiplikatoren in Medien oder (Bildungs-)Politik
Betroffenen und deren Angehörigen Mut zu machen und zu zeigen, dass sie trotz Legasthenie ein erfolgreiches und erfülltes Leben führen können.
Insbesondere aus dem erstgenannten Grund ist dies kein klassisches Fachbuch oder gar eine wissenschaftlich angelegte Publikation. Auch wenn es wissenschaftliche Erkenntnisse aufgreift und Quellen hierfür belegt, soll mit diesem Buch nicht der Anspruch erhoben werden, das Phänomen Legasthenie vollumfänglich oder gar wissenschaftlich präzise darzustellen.
Entscheidend ist vielmehr, das zu beschreiben, was man heute schon fast umgangssprachlich Resilienz nennt. Der aus Technik und Physik stammende Begriff Resilienz beschreibt die Fähigkeit – in diesem Fall von Menschen –, trotz widriger Umstände und von außen einwirkender Störkräfte zu seinem »gesunden« Zustand zurückzukehren und ein gesundes und weitestgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Genau dies ist schließlich das Ziel, wenn Menschen von Beeinträchtigungen wie einer Legasthenie betroffen sind.
Das Leben ist ein Spiel. Und es will gelebt und genossen werden, auch wenn die Karten, die den Menschen mit Legasthenie zugeteilt wurden, möglicherweise nicht die allerbesten waren. Aber auch mit nicht optimalen Karten lässt es sich spielen. Oder, um es mit Erich Kästner noch treffender zu sagen:
Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden,
kannst du etwas Schönes bauen.
Wenn sich die geneigte Leserin oder der ein oder andere Leser von dieser Sichtweise und dem dahinterstehenden Optimismus anstecken ließe, so würde mich das jedenfalls freuen.
Berlin, im Herbst 2021
Reinhold Haller
Erste Beschreibungen der Symptomatik einer Legasthenie wurden bereits im 19. Jahrhundert durch britische Augenärzte als »kongenitale Wortblindheit« beschrieben (Morgan 1896). Der eigentliche Begriff Legasthenie wird jedoch dem Psychiater Pál Ranschburg (1870–1945) zugeschrieben, einem ungarischen Arzt und Wissenschaftler. 1916 erschien dazu seine Publikation: »Die Leseschwäche (Legasthenie) und Rechenschwäche (Arithmasthenie) der Schulkinder im Lichte des Experiments« (Ranschburg 1916).
Der Begriff Legasthenie ist eine Wortschöpfung aus dem lateinischen »legere« (lesen) und dem altgriechischen Wort »asthéneia« (Schwäche). Im Englischen und Französischen findet der Begriff keine Verwendung, hier spricht von einer Dyslexie (engl. dyslexia). Dieser Begriff wird hergeleitet von altgriechisch »dys« (schlecht) und »léxis« (Sprache) und beschreibt das reduzierte Sprachvermögen. Im Deutschen wiederum wird Dyslexie etwas anders verstanden als eine primär erworbene Störung vorwiegend der schriftlichen und/oder sprachlichen Fähigkeiten, etwa durch hirnorganische Beeinträchtigungen nach Unfällen oder Erkrankungen.
Hinter all den babylonischen Puzzleteilen aus toten und lebendigen Sprachen verbirgt sich somit nichts anderes als eine spezielle Lese-Rechtschreib-Störung, kurz LRS.
Damit aber nicht genug: Wir lebten nicht im präzisionssüchtigen Deutschland, wenn es nicht auch um solche Begriffe eine ständige Diskussion gäbe; so auch in der Legasthenie-Forschung. Einige Autoren verwenden die Begriffe Legasthenie und LRS synonym. Andere dagegen meinen, LRS habe – anders als die »echte« Legasthenie – häufig andere Ursachen und sei deshalb viel allgemeiner gefasst als Legasthenie. Schließlich können die Gründe für eine allgemeinere LRS auch durch einen schlechten Unterricht, bildungsferne Herkunftsfamilien, Defizite im Sehen und Hören sowie durch neurologische oder psychiatrische Beeinträchtigungen verursacht sein. In der Forschung wird deshalb auch weiter differenziert mit dem Begriff der Rechtschreib-Schwäche, welche eher auf eine unzureichende Leistung zurückgeführt wird als auf das basale Schrift- und Sprach-Vermögen.
Immerhin hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (kurz: ICD-10) Legasthenie als spezifische Störung beschrieben (ICD-10-GM, Version 2021):
Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wieder zu erkennen, vorzulesen, und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus. Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig.
Es handelt sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Sie ist nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar. Die Fähigkeiten, mündlich zu buchstabieren und Wörter korrekt zu schreiben, sind beide betroffen.
Im Zusammenhang mit Legasthenie sprechen Experten analog auch von:
Lese-Rechtschreib-Störung
Entwicklungsstörung
Teilleistungsstörung
organischem Psychosyndrom oder einer
minimalen cerebrale Dysfunktion (MCD).
Letzteres beschreibt eine geringfügige hirnorganische Fehl- oder Mangelfunktion, wie sie etwa auch bei ähnlichen Beeinträchtigungen vorkommt; etwa bei:
Störungen der Feinmotorik
Rechenschwäche (Dyskalkulie)
Beeinträchtigung der Wahrnehmung von Gesichtern (Gesichtsblindheit oder in der Fachsprache Prosopagnosie)
Schwäche der Wahrnehmung und Verarbeitung von Emotionen (Formvarianten des Autismus) oder
einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) u. a. m.
Neben dieser biologisch-medizinischen Debatte um den Begriff Legasthenie und ähnlichen Phänomenen setzt sich eine weitere Diskussion fort unter dem Anspruch politischer Korrektheit. Diese ist zwar gut gemeint, hilft aber den Betroffenen nicht wirklich. So meinen manche Fachautoren, der Begriff »Störung« sei in Bezug auf Menschen oder gar Kinder nicht angebracht. Sie sprechen deshalb von einer spezifischen Lese-Rechtschreib-Schwäche. Andere meinen, die Diagnose MCD (s. o.) sei heutzutage aufgrund unterschiedlicher Entstehungsursachen, weder haltbar noch zeitgemäß.
Ich bleibe ungeachtet der fachlichen und moralischen Diskussion, trotz dieser Detaildifferenzen pragmatisch und verstehe Legasthenie als spezielle Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) mit einem offenbar auch organischen, psychomotorischen und genetischen Hintergrund. Insofern werde ich in diesem Buch die Begriffe Legasthenie und LRS in der Regel synonym verwenden.
Auch wenn sich eine Lese-Rechtschreib-Störung durch ihren organischen Bezug von einer Lese-Rechtschreib-Schwäche unterscheiden mag, werde ich diese Unterscheidung hier nicht weiter herausstellen. Schließlich sind die individuellen Nebenwirkungen für viele Betroffene recht ähnlich.