Nahlah Saimeh

Das liebe Böse

Warum wir gut sein wollen und nicht können

© fischer & gann in Kamphausen Media GmbH,
Bielefeld 2022 · info@kamphausen.media

Lektorat
Dr. Richard Reschika

Umschlag und Innensatz
Kerstin Fiebig [ad department]

www.kamphausen.media

1. Auflage 2022

ISBN print 978-3-95883-562-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Warum noch ein weiteres Buch zum „Bösen“? – Ein Vorwort

Warum die Metapher vom „Rucksack“?

Warum das ewige Thema des „Bösen“?

Vorgeburtliche Einflüsse und Erfahrungen in der Kindheit

Antisozialität und Kriminalität

Das Böse und die Moral

Das Böse als „Fehlgeburt des radikalen Sittlichen“

Das Ich, die Spaltung und ein Ausblick

Anmerkungen

Literatur

Warum noch ein weiteres Buch zum „Bösen“? – Ein Vorwort

Seit mehr als 20 Jahren spreche ich mit Menschen, die Verbrechen begangen haben. Als forensische Psychiaterin befasse ich mich mit dem Verhältnis von menschlicher Psyche und Delinquenz. In meinen True-Crime-Büchern habe ich verschiedene Fälle von Männern und Frauen geschildert, die auf ganz unterschiedlichen Wegen zu Straftäter*innen geworden sind. Meine Absicht war nie, schockierende Geschichten zur Unterhaltung auf Kosten von Opfern und deren Familien zu erzählen, Grusel auf Kosten von Täter*innen zu erzeugen oder Sensationslust zu bedienen. Alle von mir gewählten Fallgeschichten sind auf eine bestimmte Weise völlig unspektakulär. Es ging mir darum, Straftaten als das zu beschreiben, was sie sind, nämlich menschliches Verhalten und Ausdruck menschlichen Schicksals und Scheiterns. Menschen treffen eine grundlegend falsche Entscheidung. Solche grundlegend falschen Entscheidungen können mit den unterschiedlichsten Motiven zusammenhängen: die Trennung vom Partner, der Wunsch nach Nähe und Beziehung, die Verheimlichung von Schwangerschaften, Eifersucht auf einen anderen Erwachsenen oder gar auf ein Kind, Überforderung, Konkurrenzdenken, Habgier, feindselige Ideologien, materielle Sicherung des Überlebens in völliger sozialer Randständigkeit, übersteigertes Geltungsbedürfnis oder sexuelle Motive, um hier nur einige zu nennen.

Der Auftrag der forensischen Psychiatrie ist dabei klar: Es geht um die Erhebung der Biografie, die Nachzeichnung der sozialen Entwicklung, die Bedingungen, in die ein Mensch hineingewachsen und unter denen er groß geworden ist, die Beschreibung seiner Denk- und Verhaltensmuster, seiner persönlichen Lebensziele und Werte sowie seiner Besonderheiten wie z. B. Intelligenz, Impulskontrolle, Beziehungsgestaltung, Sexualität, Suchtmittelkonsum und die Feststellung oder den Ausschluss psychopathologischer Krankheitsmerkmale. Es geht um die Frage, ob jemand bei Begehung einer Tat psychisch schwer gestört oder nicht schwer gestört war, und es geht um das Erarbeiten eines Risiko-Profils in Bezug auf die Wiederholungsgefahr. Auch wenn das Vorgehen psychiatrischen Standards unterliegt, so ist doch jedes Gutachten immer der Versuch, einen Menschen als einzigartiges Individuum zu erfassen und zu beschreiben. Damit ist diese Tätigkeit Bestandteil eines Rechtssystems, das dem Täter seinen Subjekt-Charakter zuerkennt und ihn nicht zum bloßen Objekt rechtsstaatlichen Handelns macht.

Dieses Buch ist kein weiteres True-Crime-Buch. Mir geht es hier darum, mich von der klinisch-sachverständigen und konkret fall-bezogenen Tätigkeit zu lösen und mehr der übergeordneten Frage nachzugehen, warum wir als Menschen „böse“ handeln, obwohl wir es doch im Grunde besser wissen. Diese Frage wird mir oft gestellt. Daher fasse ich meine Gedanken in diesem Buch zusammen. Ich möchte dabei auch die Grenzen betonen, an die die forensische Psychiatrie letztlich bei dieser Frage stößt. Die Frage nach dem Bösen ist eine multidisziplinäre Frage – keine Fachdisziplin kann sie erschöpfend alleine beantworten. Es ist ein bisschen so, als frage man einen Chirurgen nach einer komplizierten, aber gelungenen OP, warum der Patient irgendwann doch sterben wird. Der Chirurg kann nur sagen: Meine Technik X oder Y trägt dazu bei, dass der Mensch nicht jetzt und nicht an dieser Ursache verstirbt.

Damit bin ich schon beim Kernpunkt meiner Einschränkung: Ich kann Ihnen die Frage nach „dem Bösen“ nicht beantworten, denn ich müsste mindestens Theologin, Philosophin, Verhaltensbiologin, Genetikerin, Soziologin, Politikwissenschaftlerin, Ökonomin, Historikerin, Kriminologin und dann auch noch forensische Psychiaterin zugleich sein. Ich bin aber nur Letzteres. Und selbst wenn ich das alles wäre, würde ich mutmaßlich zum selben Ergebnis kommen: dass sich die Wurzel menschlicher Destruktivität nicht durch eine einzige Disziplin hinreichend erklären lässt, dass es aber auch in der Kombination der Disziplinen immer einen letzten Punkt gibt, der für unser menschliches Bewusstsein nicht erkennbar ist.

Mir ist es wichtig, keinen wirklich entscheidenden Unterschied zu machen zwischen Straftätern und Nicht-Straftätern. Auf einer alltäglichen Ebene ist uns allen klar, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Person, die z. B. ein Kind so schwer misshandelt, dass es stirbt, und Eltern, die ihr Kind liebevoll erziehen und betreuen.

Auf die Frage, warum Menschen sehr grausam sein können, antworte ich mittlerweile immer häufiger mit der Metapher vom „Rucksack“. Mich interessiert der „Rucksack“, mit dem wir geboren werden und der zum Teil festlegt, welche anderen Objekte im Laufe des Lebens in unseren Rucksack hineingelangen werden. Wir tun immer so, als ob sich der Straftäter vom Nicht-Straftäter kategorisch unterscheidet, als ob er einer anderen „Gattung“ angehört. Wir tun so, als ob sein „Rucksack“ niemals der eigene hätte sein können. Aber woher nehmen wir diese Sicherheit?

Mit dem folgenden Text möchte ich mit Ihnen, liebe Leser*innen, gemeinsam ein bisschen in einem solchen Rucksack herumkramen und seinen Anteil an der menschlichen Destruktivität beleuchten. Ich verknüpfe Gedanken aus verschiedenen Fachbereichen in der Absicht, uns Menschen als komplexe, störanfällige, fragile Wesen darzustellen, die zeitlebens der großen Ursehnsucht hinterherlaufen, deren Erfüllung man aber durch nichts erzwingen kann: der Sehnsucht nach einem komplett bedingungslosen Angenommensein.

Warum die Metapher vom „Rucksack“?

Können Sie sich an Ihre Zeugung erinnern, oder zumindest an Ihre Geburt? Nein? Ich kann es auch nicht. Warum haben Sie die Eltern, die Sie haben? Warum haben Ihre Eltern das Kind gezeugt und geboren, als das Sie in die Welt gekommen sind? Das wissen Sie auch nicht? Das beruhigt mich, denn wenigstens in diesen Fragen scheinen wir einen Gleichstand des Nichtwissens zu haben.

Glauben Sie, dass Ihre Eltern sich Sie genau so, wie Sie sind und wie Sie als Kind waren, gewünscht haben? Exakt so? Ja? Na, vielleicht schummeln Sie ein bisschen, aber insgesamt haben Sie schon mal einen Rucksack aus robusterem Material, der Sie durch Ihr Leben begleitet. Jein? Das ist nun auch nicht so schlecht, denn dann haben Sie zumindest die wichtige Erfahrung im Leben gemacht, dass Sie trotz irgendwelcher Eigenschaften im Großen und Ganzen doch akzeptiert und geliebt wurden, wenn auch nicht bedingungslos. Mutmaßlich haben Sie in Ihrer Kindheit Vergleiche mit anderen Kindern zu hören bekommen, die irgendwelche vorzüglichen Eigenschaften hatten, die Ihren Eltern ins Auge stachen (während sie von den nervigen Eigenschaften Ihrer Spielkameraden natürlich nichts wussten). „Schau mal den Hans oder die Karin an, die sind so fleißig, warum bist Du nicht auch …“ Vielleicht gab es auch Kommentare in Bezug auf Ihr Äußeres. Solche Beispiele sind banal, und fast jeder kennt solche Vergleiche oder Bemerkungen, die auf ganz subtile Art und Weise die Botschaft einer Enttäuschung mitliefern, wenn sie sich stetig wiederholen. Du bist zwar unser Kind, aber wir fänden es noch schöner, wenn Du diese oder jene Eigenschaft der anderen Kinder hättest. Unser Selbstwert entwickelt sich – wenn es gut läuft – im Spannungsfeld zwischen liebevoller Zuwendung und angemessener Kritik, die uns erst dazu befähigen soll, uns selbst in Bezug auf unsere soziale Umwelt und unsere Fertigkeiten realistisch einzuschätzen. Gelingt das nur schlecht, werden wir im Leben mit einem narzisstischen Dilemma herumlaufen und uns ständig in unserem Selbstwert angegriffen fühlen. Wir benötigen so viel Zuwendung und Akzeptanz, damit wir lernen, mit notwendiger und angemessener Kritik auch vernünftig und konstruktiv umzugehen. Dabei macht eine kritische Rückmeldung nur Sinn in Bezug auf etwas, das ein Kind verändern und entwickeln kann. Ein Kind aufgrund äußerer Merkmale zu kritisieren ist grundlegend falsch.

Nun habe ich es oft mit folgenden Fragen zu tun: „Wie kann es sein, dass eine Mutter ihr Kind tötet?“ oder „Wie kann es sein, dass der Vater den eigenen Sohn missbraucht?“

Diese Fragen nehme ich zum Anlass, mit Ihnen eine kleine Imaginationsübung zu machen. Aber Vorsicht: Ich muss Sie vorher warnen. Es wird unangenehm. Stellen Sie sich einmal vor, was es für Sie bedeuten könnte, unter folgenden Umständen ins Leben zu treten:

Ihre Empfängnis ist das Produkt einer Vergewaltigung. Sie sind der Sohn oder die Tochter einer 15-Jährigen, die durch den eigenen Vater sexuell missbraucht wurde. Sie haben also Vater und Großvater in ein und derselben Person, und zwar sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits. Nun ist es so, dass die Mutter Ihrer Mutter, also Ihre Großmutter mütterlicherseits, eifersüchtig auf Ihre Mutter ist, weil die nämlich sexuelle Kontakte mit dem eigenen Ehemann (Vater) hat und Sie daher als Enkelkind schon aus dieser grundlegenden Eifersucht abgelehnt werden. Die Mutter Ihrer Mutter begreift nicht, dass ihre Tochter Opfer eines Inzests ist, vielmehr sieht sie in ihr eine aggressive Konkurrentin. Ihrer Mutter wird unterstellt, den eigenen Vater verführt zu haben.

Nun verlegen wir diese Szenerie obendrein in eine Kleinstadt oder einen ländlichen Bereich, wo das Leben des Einzelnen einer stärkeren äußeren sozialen Kontrolle unterworfen ist als in einer Metropole. So gibt es gleich mehrere Dinge in dieser Familie zu verheimlichen: Der missbrauchende Vater wird den Missbrauch seiner Tochter mehr oder weniger heimlich, vielleicht auch mehr oder weniger offen vor der Ehefrau begehen. Nehmen wir an, die Ehefrau weiß das, schweigt aber – aus welchen persönlichen und biografischen Gründen auch immer. Die Tochter schweigt auch, weil die oberste Regel in der Familie ist, dass familiäre Dinge in der Familie bleiben. Vielleicht hat sie auch Angst vor gravierenderen Folgen. Man kann davon ausgehen, dass sich alle darin einig sind, dass die Nachbarn davon nichts wissen sollen.

Die 15-Jährige wird schwanger und ist sowohl vom Alter ihrer Schwangerschaft als auch von den sozialen Umständen her in einer extremen Lebenssituation. In der Schule, sofern sie diese noch besucht, wird sie eine Sonderstellung haben und lügen müssen. Vielleicht wird sie auch als obdachlose Jugendliche leben, während Sie im Bauch dieser noch sehr jungen Frau heranwachsen, die sich aber – eingedenk des Missbrauchs, aus dem Sie entstanden sind – nicht sonderlich über Sie freut. Sie wird Sie neun Monate lang mit emotionaler Missachtung strafen, wenn nicht sogar mit Ablehnung. Ihre Mutter hat alle möglichen Probleme am Hals und keine Zeit, ihre Aufmerksamkeit auch noch auf Sie zu richten. Vielleicht trinkt sie auch oder nimmt Drogen oder kombiniert beides, sodass Ihr Gehirn bereits ab der dritten Lebenswoche im Mutterleib, also sehr frühzeitig, in Kontakt mit schädlichen Substanzen kommt. Das wird sich negativ auf Sie auswirken. Schon an dieser Stelle würde ich sagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie 18 Jahre später Abitur machen und studieren oder einen qualifizierten Lehrberuf ergreifen werden, sinkt deutlich.

Wenn Sie mit einer frühkindlichen Hirnschädigung auf die Welt kommen, weil Ihre Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, wird in Ihrer allerersten medizinischen Akte „Alkoholembryopathie (AE)“ oder „Fetales Alkoholsyndrom (FAS)“ stehen. Sie werden mutmaßlich eine Asymmetrie des Gesichtsschädels haben, vielleicht einen Herzfehler, Bewegungsstörungen und eine Beeinträchtigung Ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Rund 10.000 Kinder im Jahr kommen mit einer solchen angeborenen Reifungsstörung zur Welt.

Nun entwickeln wir die Geschichte mal in zwei Richtungen weiter, wobei wir hier Besonderheiten wie das FAS beiseitelassen: In der Variante Nr. 1 kommen Sie im Rahmen einer verheimlichten oder vernachlässigten oder sogar negierten Schwangerschaft nach rund neun Monaten an irgendeinem anonymen Ort auf die Welt, z. B. in einer Zugtoilette, und werden dort einfach liegen gelassen, bis Sie gefunden werden. Hier gibt es bereits wiederum zwei Varianten. Variante 1.1.: Sie wurden direkt nach der Geburt getötet oder einfach Ihrem Schicksal überlassen und vielleicht notfallmäßig anonym in eine Neugeborenen-Station gebracht. Die Kindsmutter in der Variante 1.1. ist zu einer jungen Frau geworden, die einen sogenannten Neonatizid begangen hat, die Tötung ihres Neugeborenen innerhalb von 24 Stunden. Sie hat ein Opferschicksal und ein daraus erwachsenes Täterinnen-Schicksal. Für Sie persönlich ist die Betrachtung Ihrer eigenen weiteren Entwicklung hier naturgemäß bereits zu Ende. Variante 1.2.: Ihr Leben geht weiter, wenn Sie als anonyme Geburt rasch in ein Pflegeheim kommen oder einer Pflegefamilie vermittelt werden, vielleicht auch adoptiert werden. Sie sind aber kein unbeschriebenes Blatt am Tag 1 Ihres Lebens. Sie haben in emotionaler Hinsicht bereits eine Lebenserfahrung von neun Monaten. Ihre Mutter wird wenig mit Ihnen gesprochen haben, wird Ihnen eher nicht Mozart vorgespielt haben. Es gibt Hinweise darauf, dass die vorgeburtliche Beschallung mit Musik die Gen-Expression beeinflusst. Bei Ihnen war das nicht der Fall. Ihre Geburt ging vielleicht sogar relativ schnell vonstatten, da der Körper Ihrer Mutter froh war, Sie endlich loszuwerden. Für Ihr späteres Leben ist all das von Bedeutung. Nichts in Ihrem späteren Leben wird zwangsläufig sein, aber die Mühewaltung, die es Sie kosten wird, einen einigermaßen geraden Lebensweg zu gehen, wird viel größer sein als für ein Kind, das in einem Moment großer Innigkeit zweier Menschen mit hoher sozialer und emotionaler Kompetenz entstanden ist. Ihr späteres Leben gestaltet sich – selbst angesichts vieler Möglichkeiten, zu scheitern oder Schicksalsschläge zu erfahren – auf einem anderen Fundament, wenn Sie frei von Alkohol und Drogen heranreifen konnten und die Mutter oder die Eltern Ihnen schon in den ersten neun Monaten Ihres sehr geschützten Lebens freundliche Dinge zuflüsterten, vorlasen oder Musik vorspielten, die ihnen gefiel.

Wir sind aber mit den Varianten in diesem Drama noch nicht ganz am Ende.

Wir spielen mal den Fall durch, dass die 15-Jährige doch irgendwie im Elternhaus ihre Schwangerschaft verlebt. Die unterschiedlichen denkbaren Variationen in Bezug auf das Verhalten des missbrauchenden Vaters lasse ich jetzt mal völlig unberücksichtigt (also die Frage, ob z. B. der Missbrauch an der schwangeren Tochter weitergeht …). Nur am Rande: Für Ihre Entwicklung ist auch das Maß der sonstigen Gewalterfahrung und Angst bedeutsam, die Ihre Mutter hatte, als sie mit Ihnen schwanger war. Ihr eigenes genetisches Aktivitätsmuster wird danach ausgerichtet und bestimmt Ihr Temperament.

Nun ist unsere kleine Imaginationsübung, die Elemente aus meiner Tätigkeit umfasst, aber noch nicht zu Ende. Denn es muss für diese Familie erst eine Geschichte konstruiert werden, wer der Vater bzw. die Mutter des Kindes denn offiziell sein soll. Auf jeden Fall werden Sie irgendwann geboren, medizinisch ordentlich versorgt und kommen in den Haushalt ihrer Eltern-Großeltern. Damit ist Ihr Schicksal aber noch nicht zum Guten gewendet, denn nun wird eine neue Lüge ersonnen, die Sie von Beginn an irreleiten wird und die dazu führt, dass Sie Ihren eigenen Emotionen in Bezug auf Gefühle für andere Menschen grundlegend misstrauen müssen, weil etwas nicht zusammenpasst: Ihre Großmutter wird Ihnen als Ihre Mutter verkauft. Ihre eigene leibliche Mutter wird Ihnen als die große Schwester vorgestellt und Ihr leiblicher Vater, der ja zugleich Ihr Großvater ist, wird Ihnen als Vater präsentiert (was ja immerhin auch stimmt). Während die männliche Person in dieser Aufstellung zumindest teilweise korrekt dargestellt wird, trifft dies für die Rollen, welche die beiden weiblichen Personen ihnen gegenüber spielen, nicht zu. Es handelt sich vielmehr um eine komplette Lügengeschichte. Beide Frauen, die sich nun um Sie als Kind kümmern (Ihre Großmutter mehr als Ihre Mutter) belügen Sie im Hinblick auf Ihre und die eigene Identität. Sie sind ein „Bastard“ oder – um es etwas zeitgemäßer zu formulieren – eine „Hurentochter“. Weder Ihre „Schwester“ will Sie, noch Ihre „Mutter“ ist über Sie erfreut. Beide erfüllen lediglich eine minimale soziale Pflicht, wenn sie Ihnen Obdach, Kleidung und Essen gewähren und Sie einigermaßen durch den Alltag bringen. Mit ein wenig Glück in dieser ganzen furchtbaren Konstellation wird zumindest noch Ihr leiblicher Vater Ihnen zugetan sein. In Anbetracht dessen, dass er die eigene Tochter missbraucht, ist aber auch seine Persönlichkeit eine schwierige. Wenn Sie als Sohn auf die Welt kommen und irgendwann die ganze Story erfahren, wird das Ihre emotionale Wertschätzung von Frauen nicht unbedingt steigern, weil Sie sich über Jahre hinweg von beiden Frauen belogen fühlten (und auch belogen worden sind). Was das für Sie später als Mann bedeutet, insbesondere wenn Sie heterosexuell sind, können Sie sich in Bezug auf Liebesbeziehungen, Partnerschaft, Elternverantwortung etc. vielleicht vorstellen. Als Mädchen werden Sie von zwei Frauen betreut, die Sie ablehnen, die aber auch die Realität durch Raffinesse verändern. Schwer vorstellbar, dass Sie lernen, dass Aufrichtigkeit in menschlichen Beziehungen ein wichtiger Wert ist.

Ihre Imaginationsübung ist hier beendet.

Verhältnisse wie diese sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Wenn mir aber Fragen gestellt werden, warum eine Mutter ihr Kind oder ein Mann das Kind seiner Freundin tötet, dann betreten wir häufig genau diese bzw. ähnliche sozialen Gefilde.

Warum mute ich Ihnen zu Beginn dieses Buches diese sehr unerfreuliche Imaginationsübung zu? Ich will Ihnen weder schlechte Laune machen noch Sie provozieren, sondern Sie an die Hand nehmen und Ihnen vermitteln, dass wir selbst der andere sein könnten. Mit unserer Geburt als Kind eines anderen Milieus haben wir Glück gehabt. Die Frage nach den Ursachen für „Böses“ ist immer unausgesprochen eine Frage nach dem „Handeln der anderen“. Befragen Sie zu den Ursachen doch einfach sich selbst. Dann könnten Sie es wissen.

Wir können naturwissenschaftlich sehr gut erklären, warum die Wahrscheinlichkeit, selbst dissozial zu werden, größer ist, wenn wir dissoziale Eltern haben. Wir können den Erziehungsstil dissozialer Eltern beschreiben, wir können genetische Muster und die Aktivität von Transmittersystemen bei Störungen der Aufmerksamkeit oder Ärger-Regulation beschreiben. Das ist alles gut und wichtig und macht Sinn. Wissenschaft trägt zur Versachlichung und zum Begreifen der Welt bei. Aber warum ausgerechnet dieses menschliche Wesen in diese Verhältnisse