E. M. Castellan
Im Schatten
des Sonnenkönigs
Aus dem amerikanischen Englisch
von Barbara Imgrund
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Erstmals als cbt Taschenbuch Juli 2021
Copyright © 2020 by E. M. Castellan
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020
unter dem Titel »In the Shadow of the Sun« bei Feiwel and Friends,
an imprint of MacMillan Publishing Group, LLC.
© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Imgrund
Lektorat: Julia Przeplaska
Umschlaggestaltung: © Carolin Liepins München,
unter Verwendung eines Designs von Mallory Grigg und
mehrerer Motive von Gettyimages (Nicholas Shkoda, TommyTang)
he · Herstellung: BB
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25487-2
V002
www.cbj-verlag.de
Für Lumen
Paris, März 1661
Kardinal Mazarin stirbt.
Nachdem er achtzehn Jahre lang im Schatten seines Premierministers gelebt hat, verkündet Louis, König Ludwig XIV., dass er Frankreich nun allein regieren wird.
Er ist zweiundzwanzig.
Es wird nur einen Sommer dauern, alle Hindernisse auf dem Weg zur absoluten Macht auszuräumen.
Die Wahrsagerin beobachtete mich mit wachsamem Blick, während ihre flinken Hände die Karten mischten. Der Ausdruck in ihren schwarz umrandeten Augen war weich, doch die Art, wie sie meine Verkleidung musterte – als könnte sie geradewegs durch sie hindurchschauen –, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Trotz des prasselnden Feuers im Kamin war der niedrige Raum von Kälte durchdrungen und ich zog den geborgten Mantel enger um meine Brust.
»Was möchtet Ihr wissen, Kind?«
Ein ermunterndes Lächeln ließ die Falten in ihrem schmalen Gesicht verschwinden und sie händigte ihrer Gehilfin den Kartensatz aus. Von den Karten ging ein warmer, bernsteinfarbener Schein aus, als die Frau, die ebenso runzlig und vom Alter gebeugt war wie die Seherin, sie mit der Vorderseite nach unten auf den abgenutzten Holztisch legte.
»Nun?«
Ihre sanfte Stimme und ihr ruhiges Auftreten sollten mir die Befangenheit nehmen, aber ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her und fragte mich, warum ich überhaupt beschlossen hatte hierherzukommen. Der klapprige Stuhl ächzte besorgniserregend, und ich warf einen nervösen Blick in die dunklen Ecken der Behausung, die nur aus diesem einen Raum bestand. Die fahle Dämmerung, die durch die schmutzigen, quadratischen Fensterscheiben hereinsickerte, warf nur sehr wenig Licht auf meine Umgebung. Die einzige Kerze, die auf dem Tisch brannte, zauberte Schatten auf die getrockneten Kräuter, die von den Dachsparren herabhingen, wie auch auf die Gefäße und Tonschalen in den Regalen.
»Ihr seid hier sicher, Kind«, erklärte die Wahrsagerin, die meine Gedanken erriet. »Und jetzt sagt mir: Warum seid Ihr hier?«
Ich legte den Kopf zur Seite. Inzwischen sollte sie erraten haben, dass meine Kleider geliehen waren und der Name, den ich bei meinem Eintreffen angegeben hatte, falsch war. Trotz meiner Bemühungen, meinen wahren Stand zu verbergen, hatte sie wahrscheinlich auch den Glanz meines Haars unter meinem einfachen Haarband bemerkt, den gesunden Teint und auch wie zart meine Hände unter dem Schmutz waren, mit dem ich sie eingerieben hatte. Die Wahrheit lag in diesen Kleinigkeiten, und ich fürchtete, nicht leugnen zu können, wer ich war – ein adliges Mädchen, das sich zu einer gottlosen Stunde allein ins schäbigste Viertel der französischen Kapitale gewagt hatte, noch dazu in die Unterkunft einer magicienne.
Mein Herz schlug schneller und ich sprang auf. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Es war ein Fehler gewesen. Es gab auch bei Hofe Magier und Seher. Dafür hätte ich nicht hierherkommen müssen. Dafür hätte ich nicht hierherkommen sollen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß. Schon um viel weniger willen hatten Leute ihren Ruf ruiniert. Andererseits wäre mein guter Name meine geringste Sorge, wenn diese Frau beschließen sollte, ihren Nachbarn und Bekannten von mir zu erzählen. Durchaus möglich, dass ich dann nicht mehr lebend nach Hause kam.
Meine Füße hatten mich schon zur Tür getragen, als die ruhige Stimme der Frau hinter mir ertönte.
»Heute ist ein überaus bedeutsamer Tag, nicht wahr?«
Meine Hand schwebte über dem Türknauf und ich biss mir auf die Lippen.
»Sonst wärt Ihr nicht hier«, fuhr sie fort.
Sie hatte recht, natürlich, aber das war leicht zu erschließen. Trotz ihres Renommees als begnadetste Wahrsagerin von Paris hätte es eine Dame meines Standes nicht gewagt, sie in diesem Teil der Stadt zu besuchen – es sei denn, sie hätte einen zwingenden Grund dafür gehabt. Ich warf einen Blick zu ihr zurück und sie wies auf meinen leeren Stuhl.
»Ich will Euch helfen, Liebes.«
Ich ließ einige Sekunden verstreichen. Das Aroma von Rosmarin und Essig vermischte sich in der Luft mit einem Duft, der berauschend war und den ich nicht einordnen konnte. Die wenigen Geräusche, die uns von der Straße unter uns und aus dem Gebäude um uns her erreichten, klangen sonderbar gedämpft. Man hätte meinen können, dieses seltsame kleine Zimmer hier sei aus Zeit und Raum gefallen.
Es kam mir albern vor, ohne Antworten nach Hause zu laufen, nach all den Umständen, die ich mir gemacht hatte, um hierherzugelangen. Und diese leise sprechende Frau und ihre stille Gehilfin schienen wirklich harmlos zu sein. Ich holte tief Luft, während ich meine Entscheidung traf. Magie leuchtete golden in den Augen der alten Wahrsagerin auf. Sie konnte davon nichts wissen, doch dank meiner eigenen Begabung war ich mir sicher, dass sie tatsächlich die magicienne war, als die sie sich ausgab. Also wollte ich bleiben und herausfinden, ob sie ihrem Ruf gerecht wurde.
»Ich will, dass Ihr mir von meiner Vergangenheit erzählt.« Ich setzte mich wieder. Sie nickte, doch ich fuhr fort, bevor sie antworten konnte: »Sowie von meiner Gegenwart. Und von meiner Zukunft.« Nun war es an mir, mit zusammengekniffenen Augen den Blick auf sie zu heften.
Ihre Miene blieb unter meiner eingehenden Musterung gleichmütig. »Dann wählt eine Karte.«
Ich vermied es, die Karten zu berühren, und deutete auf eine in der Mitte des aufgefächerten Kartensatzes. Die Frau nickte ihrer Gehilfin zu und in einer viele Male geübten Bewegung zogen beide gemeinsam die Karte heraus.
»Révèle«, sagte die Gehilfin.
Seit Anbeginn der Zeit hatte es zur Beschwörung von Magie dreier Elemente bedurft: einer Person, die sie ausübte – in Frankreich nannten wir sie magiciens –, eines Verbindungskanals – in diesem Fall ein Kartensatz – und einer Quelle. Die Gehilfin der Wahrsagerin war ihre Quelle. Magiciens besaßen die Macht, Zauber zu wirken, auch wenn sie die Magie dazu nicht selbst in sich trugen. Dies war wiederum bei Quellen der Fall, doch diese konnten ihre Magie nicht selbst nutzen. Einer war auf den anderen angewiesen, um seine Macht zu nutzen: Auf diese Weise hielten Gott oder die Natur beide Begabungen im Zaum.
Als beide Frauen die Karte aufdeckten, lief wellenartig Licht über ihre Schauseite. Ich hatte eine Tarotkarte erwartet, aber es war eine simple Spielkarte, schon abgegriffen und vergilbt. Die Karte, die ich gewählt hatte, war der Herzkönig. Die Wahrsagerin bedachte mich mit einem beeindruckten Blick.
»Dies ist die Karte Eurer Vergangenheit. Ein König.« Das warf sie mir als Köder hin, damit ich reagierte, doch ich hütete mich, ihr selbst die Antworten zu geben, nach denen ich suchte. Meine Miene blieb undurchdringlich. »Ihr habt einen König in Eurer Familie«, fügte sie zu meiner Überraschung hinzu. Ich konnte nicht verhindern, dass sich bei ihrer Feststellung meine Augen weiteten, aber ich antwortete noch immer nicht. Vielleicht hatte sie nur glücklich geraten. Schließlich konnten viele Höflinge von sich behaupten, entfernte Verwandte des Königs zu sein. Sie betrachtete mich einen Herzschlag lang, dann wies sie auf die übrigen verdeckten Karten. »Noch eine.«
Ich zeigte auf das rechte Ende des ausgebreiteten Kartenfächers. Die beiden Frauen wiederholten ihr kleines Ritual und deckten den Pikkönig auf. Die Wahrsagerin runzelte die Stirn.
»Und Ihr habt einen König in Eurer Gegenwart. Einen Ausländer.« Diesmal war der Blick, mit dem sie mich bedachte, eine unverhohlene Frage, und selbst das Gesicht ihrer Quelle, die bisher teilnahmslos geblieben war, verriet Interesse.
Mein Herz schlug schneller. Trieben sie ihr Spiel mit mir? Hatte die magicienne mich erkannt und sagte mir, was sie ohnehin bereits wusste?
»Was ist mit meiner Zukunft?«, fragte ich kurz angebunden.
Wenn sie meine Identität erraten hatte, wusste sie, dass es nicht gut für sie ausgehen würde, wenn sie mich hinters Licht führte. Ich deutete aufs Geratewohl auf eine Karte, und sie leuchtete auf, als beide Frauen sie mit der Schauseite nach oben auf den Tisch legten. Karokönig.
Die Wahrsagerin schnappte nach Luft. »Wer seid Ihr, Kind?«
Sie wusste es also nicht. Sie wechselte einen Blick mit ihrer Quelle, doch ich ignorierte den Schrecken in ihrer beider Augen.
»Was ist mit meiner Zukunft?«, wiederholte ich.
Mit zitternden Händen legte sie die drei Karten nebeneinander auf den Tisch. »Auch in Eurer Zukunft gibt es einen König.«
Ich beugte mich vor, um ihren Blick auf mich zu lenken. »Welchen? Und wie wird er mein Leben beeinflussen?« Ich musste es wissen. Es war zu wichtig.
Doch sie schüttelte den Kopf, ja, bei meiner eindringlich gestellten Frage huschte ein Ausdruck der Pein über ihr Gesicht. »Ich weiß es nicht, Liebes. Euch umgibt so viel Macht, ich kann es nicht sagen, tut mir leid. Vielleicht, wenn Ihr mir verraten würdet, wer Ihr seid, dann –«
Ich stieß einen enttäuschten Seufzer aus. Das war doch Zeitverschwendung. »Man munkelt, Ihr wärt die beste Wahrsagerin von Paris.« Ich wies auf die Karten. »Die beste Wahrsagerin von ganz Frankreich, den Kron-Magicien ausgenommen. Und doch ist das alles, was Ihr mir sagen könnt?«
»Die Bedeutung der Karten tritt nicht immer klar zutage.«
Ihre entschuldigende Antwort weckte meinen Zorn. Ihre Magie war echt. Ihr Ruf war sogar bis an den französischen Hof gedrungen. Und trotzdem konnte sie mir die Antworten nicht geben, nach denen ich suchte. Ich presste meine Handflächen auf den Tisch. Das Licht in den Karten – ein Zeugnis der Macht, die von der Quelle auf sie übergegangen war – schwand bereits.
»Aber Ihr habt recht«, sagte ich. »Ich habe tatsächlich einen König in meiner Vergangenheit, einen in meiner Gegenwart und einen in meiner Zukunft. Ich weiß, dass mein Schicksal mit dem ihren verknüpft ist. Ich habe es immer gewusst, das könnt Ihr mir glauben. Was ich hier erfahren will, was Ihr mir sagen sollt, ist, was das für mich bedeutet.«
Alle Frauen in meinem Leben hatten Könige zum Ehemann, Vater, Bruder oder Liebhaber gehabt. Und nicht einer einzigen von ihnen war ein langes oder glückliches Leben vergönnt gewesen. Gleich nach meiner Geburt war meine Mutter von einer englischen Königin zu einer mittellosen Witwe im Exil degradiert worden. Mein Vater war ein englischer König gewesen, der in einem von Magie und Bürgerkrieg zerrissenen Land wegen Hochverrats von seinem eigenen Parlament enthauptet worden war. Mein Bruder war der neu eingesetzte König von England. Dank der Barmherzigkeit des französischen Königs hatte ich in Frankreich aufwachsen dürfen. Nun, mit siebzehn Jahren und am Tag vor meiner offiziellen Einführung am französischen Hof, musste ich wissen, ob all diese Könige in meinem Leben und all die Entscheidungen, die ich jetzt gerade traf, sicherstellen konnten, dass ich niemals die Pein meiner Mutter würde erdulden müssen – oder ob sie mich einem ähnlichen Schicksal zuführten.
Die alte Frau schob die drei Karten zurück in den Stapel. »Die Karten werden mir das nicht verraten. Ich werde etwas anderes versuchen müssen.«
Ich zog den Beutel mit den Münzen aus den Falten meines grauen Umhangs – es hatte nun keinen Sinn mehr, so zu tun, als wäre ich nicht reich – und ließ ihn klirrend auf den Tisch fallen. »Dann tut das bitte.«
Sie berührte das lederne Säckchen nicht. Stattdessen wechselte sie einen vielsagenden Blick mit ihrer Quelle. Die Alte drückte sich von ihrem Stuhl hoch und schlurfte zum Regal hinüber. Sie nahm eine kleine Schüssel heraus, stellte sie zwischen uns auf den Tisch und füllte sie mit Wasser aus einem Krug.
»Warum seid Ihr heute hierhergekommen?«, fragte die Wahrsagerin, während ihre Gehilfin wieder Platz nahm.
»Ist es nicht an Euch, mir diese Frage zu beantworten?«
»Es geht um Euren Hochzeitstag, nicht wahr?« Sie sprach mit einem wissenden Blick und schob die Schüssel näher zu mir. Mein Schweigen bestätigte ihre Vermutung. »Und Ihr wollt wissen, wie Euer Ehemann sein wird?«
Sie fischte wieder im Trüben. Ich wusste, wie mein künftiger Ehemann war. Weder liebte ich ihn, noch kannte ich ihn besonders gut, aber ich war bereit, ihn zu heiraten, wenn das meine Sicherheit und mein Wohlergehen gewährleisten konnte. Was ich wissen wollte, war, was die Zukunft für mich bereithielt – ob das Leben in einer Welt der Könige und Königinnen mich retten oder vernichten würde.
Als ich nicht antwortete, zog sie ein kleines Messer aus der Tasche ihres Kleides und zeigte mit ihrem krummen Finger auf die Schüssel mit Wasser. »Ich brauche einen Tropfen Eures Blutes.«
Ich erstarrte. Lediglich Quellen konnten magiciens erkennen – niemals aber war es umgekehrt. Diese Frau konnte nicht einmal ahnen, dass ich selbst eine Quelle war.
Sie deutete mein Schweigen falsch, denn sie sagte: »Ich brauche nur einen Tropfen.«
Doch sie hatte keine Ahnung, worum sie da bat. Ich konnte nicht zulassen, dass sie mich berührte, geschweige denn mein Blut. Ich wusste nicht, was mit ihr geschehen würde, wenn sie zwei Quellen gleichzeitig als Kanal anzapfte, ich bezweifelte aber stark, dass es etwas Gutes war. Ich hatte allerdings nicht vor, den Grund preiszugeben, aus dem ich mich weigerte, ihrer Bitte nachzukommen. Ob sie nun von hoher oder niedriger Geburt waren, Quellen waren immer schon viel seltener gewesen als magiciens. Magie vererbte sich nicht, und niemand konnte voraussagen, wann oder wo ein Kind mit Magie im Blut geboren werden würde. In der Vergangenheit hatte man Quellen gejagt und geknechtet, und obwohl sich diese Gepflogenheiten in unserer modernen Zeit zum Besseren gewandelt hatten, war die Tatsache, eine Quelle zu sein, ein Schicksal, mit dem ich mich nicht anzufreunden gedachte. Es gab jetzt schon zu viele Zwänge in meinem Leben, als dass ich sie hätte zählen können – das Letzte, was ich mir wünschte, war, mich an einen magicien zu binden, gleichgültig, wie viel Prestige oder Reichtum es mir eintragen mochte. Meine Mutter und ich hatten mein Geheimnis siebzehn Jahre lang gehütet, und ich war nicht bereit, es jetzt zu offenbaren.
»Ihr braucht Antworten«, sagte die Wahrsagerin. »Ich kann sie Euch liefern, aber Ihr müsst mir vertrauen, Kind. Nur ein Tropfen.«
Sie hatte recht. Ich war um der Antworten willen hergekommen, hatte sie von ihr eingefordert. Mein Leiden musste mich nicht zwingend davon abhalten, sie zu erlangen. Die Wahrsagerin konnte mich nicht als Quelle benutzen, wenn ich es nicht zuließ, und die Magie, die ein einziger Tropfen meines Bluts enthielt, konnte nicht allzu mächtig sein. Die einzige Gefahr bestand darin, dass sie erkannte, wer ich war – doch mein Stand und mein Geld konnten Sorge dafür tragen, dass sie diese Informationen niemals ausplauderte. Hoffentlich.
Mein Entschluss stand fest. Ich nahm das Messer und ritzte die Kuppe meines Zeigefingers an. Ein einzelner Blutstropfen bildete sich, den ich in die Schüssel fallen ließ.
»Révèle«, sagte die Quelle.
Als der Tropfen die Wasseroberfläche berührte, zerfaserte er in rote Schwaden, die einen glänzenden Goldton annahmen. Ich blinzelte in das plötzlich erstrahlende Licht, während sowohl die magicienne als auch ihre Gehilfin die Augen schlossen und ihre Finger in die Flüssigkeit tauchten. In dem Augenblick, da sie das Wasser berührten, wurden ihre Leiber steif, und die Wahrsagerin riss den Mund in ihrem sonst so ruhigen Gesicht auf. Die Kerze flackerte, die Raumtemperatur sank beträchtlich, und eine Dampfwolke bildete sich vor meinen Lippen.
Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. »Was ist los?«
Keine der beiden Frauen reagierte. Die Wahrsagerin begann vielmehr, mit einer tiefen, rauen Stimme zu sprechen, in der keine Spur von ihrem sanften Tonfall von eben übrig war.
»Vier Jungfern kommen in den Palast«, sagte sie. »Die Herzdame ist so leicht wie Luft, doch möge sie sich davor hüten, sich das Herz brechen zu lassen.«
Ich öffnete den Mund, um zu fragen, ob ich diese Dame war, doch sie sprach schon weiter, unverändert mit geschlossenen Augen und versunken in Trance.
»Die Pikdame ist voller Feuer – je höher sie steigt, desto tiefer sie fällt. Möge sie sich in Acht nehmen vor dem, was sie begehrt.«
Von wem redete sie? Wer waren diese vier Jungfern? Und noch wichtiger: Welche davon sollte ich sein?
»Die Kreuzdame ist so beständig wie stilles Wasser, doch Geheimnisse und Verrat werden sie stürzen.«
Je länger sie sprach, desto mehr wünschte ich mir, ich hätte diesen Zauber abgelehnt. Wen auch immer sie meinte, jedes dieser vier Mädchen hatte eine schreckliche Zukunft vor sich, und ich hätte nicht mit ihnen tauschen wollen.
»Die Karodame wird am hellsten stahlen, doch die Welt wird ihr Licht nicht lange auf Erden halten können.«
Ihre Stimme brach und sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Dabei fiel ihre Hand herab, ihr Kopf sank auf die Brust. Ihre Quelle holte tief Luft und blickte verwirrt um sich. Plötzlich war der Raum wieder dunkel. Das Feuer brannte langsam im Kamin nieder.
Ich sprang auf. »Geht es Euch gut?«
Die Wahrsagerin riss die Augen auf und ihre schmalen Lippen teilten sich zu einem fast zahnlosen Lächeln. Ich seufzte erleichtert und stützte mich am Tisch ab. Mein Herz schlug noch wie wild, plötzlich war mir mein Korsett zu eng. Die kalte Luft kratzte in meiner Kehle und verkrallte sich in meine schwachen Lungen, bis mich ein Hustenanfall heimsuchte. Ich grub den Mund in mein Taschentuch, während der Hustenkrampf meinen Körper schüttelte und meine Augen zu tränen begannen.
Besorgnis breitete sich dunkel über das Gesicht der Wahrsagerin aus, während sie die Hand nach mir ausstreckte. »Ihr seid krank. Ist das der Grund, warum Ihr gekommen seid?« Es klang, als hätte sie keinerlei Erinnerung an die Worte, die sie soeben gesprochen hatte.
Kopfschüttelnd wich ich vor ihrer Berührung zurück. Meine Kehle war wie zugeschnürt und wund, ich hatte Mühe beim Sprechen. »Nein. Ich bin schon seit Jahren krank und wahrscheinlich werde ich es auch noch eine ganze Weile bleiben. Aber Ihr –« Während der Hustenanfall abebbte und ich wieder klar denken konnte, wuchs mein Unmut. »Ihr habt nichts als Unsinn geredet, und ich habe immer noch keine Vorstellung davon, was mich erwartet.«
Sie zuckte bei meiner Lautstärke zusammen und ein gequälter Ausdruck huschte über ihre Züge. Meine Enttäuschung betrübte sie, aber es war mir gleichgültig. Sie hatte mit Magie gespielt, die sie nicht durchschaute, hatte meine Zeit verschwendet und mich erschreckt. Und ich war kein bisschen schlauer, ob meine bevorstehende Heirat mir Vernichtung und Kummer bringen würde oder ob sie die Rettung war, auf die ich hoffte. Ich raffte meine Röcke zusammen und ging zur Tür, bis die leise Stimme der Quelle mich innehalten ließ.
»Ihr seid verärgert.«
Ich begegnete ihrem freundlichen Blick und meine Wut schmolz ganz gegen meinen Willen dahin. Die Kunst der Weissagung war niemals vollkommen. Ich hatte zu viel erwartet, und meinen Ärger an ihnen auszulassen, war ungerecht gewesen.
»Es tut mir leid, dass wir Euch nicht die Antworten geben können, um derentwillen Ihr gekommen seid«, fuhr sie fort. »Ich wünschte, wir hätten Euch helfen können.« Ihr Lächeln war entschuldigend. Sie stand auf, um mir mein Geld wiederzugeben. Ich machte einen Schritt rückwärts.
»Ich weiß.« Ich wies den Beutel zurück, den sie mir in die Hand drücken wollte. »Ihr habt es Euch verdient. Beide. Danke für alles, was Ihr getan habt.« Ich zog meine Kapuze übers Haar und verließ die beengte Unterkunft.
Draußen stieg Nebel von der schlammigen Straße auf, während die Dämmerung grau über die schrägen Dächer der Stadt kroch. Zu dieser Tageszeit kamen Händler, noch schlaftrunken, mit Weidenkörben voller Waren aus ihren Behausungen, während Handwerker die Fensterläden ihrer Werkstätten öffneten und einander lauthals begrüßten. Nur wenige hatten einen Blick für mich übrig – ich war nicht das einzige Mädchen, das unterwegs zu seinem Bestimmungsort war, während die Laterne in seiner Hand bei jedem Schritt in der kühlen Morgenluft schaukelte. Dennoch lief ich eilig an den schiefen Fassaden vorbei, mit verschleiertem Gesicht und niedergeschlagenen Augen, so schnell es mir eben möglich war, ohne einen weiteren Hustenanfall zu provozieren. Ich hielt mich an die Hauptverkehrsstraßen, die mit jeder Minute belebter wurden, weil mehr und mehr Pferdefuhrwerke und Fußgänger sie bevölkerten.
Ich erreichte die Seine, gerade als die Kirchturmglocken siebenmal schlugen. Der üble Geruch des grauen Wassers vermischte sich mit dem Gestank von Mist und verrottendem Unrat auf den Straßen und ich hielt mir die Nase zu. Ein kläglicher Versuch, meine empfindlichen Lungen vor der verpesteten Luft zu schützen. Am gegenüberliegenden Ufer tauchte die Silhouette des Louvre aus dem Morgendunst auf. Meine Schultern entspannten sich vor Erleichterung. Mit etwas Glück würde ich wieder in meinen Gemächern im Palais Royal sein, bevor meine Kammerfrauen erwachten und mein Bett leer vorfanden.
Ich bahnte mir den Weg zur Steinbrücke, bis die Menge so dicht wurde, dass sie jedes Weiterkommen verhinderte. Ich war gezwungen, stehen zu bleiben, und reckte den Hals, um einen Blick auf den Grund des Staus zu erhaschen, doch ohne Erfolg. Die Menschen um mich her machten allesamt grimmige Gesichter und schüttelten die Köpfe.
»Ist das nicht furchtbar?«
Ich brauchte einen Herzschlag lang, um zu merken, dass ein junges Blumenmädchen zu mir sprach. Eine farblose Spitzenhaube rahmte ihr schmales Gesicht ein. Etwas Dunkles lag in ihrem lebhaften Blick. In dem alten Korb, den sie mit ihren schmutzigen Fingern umklammert hielt, lagen Maßliebchen und Rosen.
»Was ist passiert?«, flüsterte ich in der Hoffnung, dass eine leise Stimme meine vornehme Sprechweise verschleiern würde.
»Sie haben schon wieder einen gefunden«, erwiderte sie. »Trieb im Fluss.«
Ich spürte das Blut aus meinem Gesicht weichen. »Einen Selbstmörder?« Ich hatte gehört, dass die Priester diese verzweifelten Seelen in der Messe verdammten, aber ich selbst war ihrer tödlichen Verzweiflung nie so nahe gekommen. Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Nein. Er wurde ermordet.« Bei dem aufgeregten Glitzern in ihren Augen musste ich endgültig leichenblass geworden sein. Während mein Geist noch die Information verarbeitete, öffnete ich den Mund, um eine weitere Frage zu stellen. Sie brauchte indes kein Stichwort, um fortzufahren. »Genau wie die anderen. Die Magie abgezapft, der Körper entsaftet wie Dörrobst. Keine Ahnung, wer das war. Das ist schon der dritte diesen Monat. Diese Quellen sterben wie die Fliegen. Wie die Fliegen.«
Besorgnis packte mich, raubte mir den Atem und mündete in einen erneuten Hustenanfall. Ich wandte mich ab und schloss die Augen. Ich hatte keine andere Wahl, als abzuwarten, bis sich meine Atmung wieder beruhigte. Als ich aufblickte, bahnte sich das Blumenmädchen schon weit entfernt mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge, beflissen, einen eingehenderen Blick auf die Leiche zu werfen, die man aus dem Wasser gezogen hatte. Eine Matrone mit einer großen Schürze blaffte sie an, sie solle warten, bis sie an die Reihe kam, doch das vogelzarte Geschöpf ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Ich will die tote Quelle aber sehen! Ich habe dasselbe Recht darauf wie Ihr!«
Ich zwang einen bebenden Atemzug meine Lungen hinab und besann mich wieder. Das Letzte, was ich mir wünschte, war es, diese arme Seele zu sehen. Quellen zu töten, um ihnen ihre Magie zu rauben, war bereits vor hundertfünfzig Jahren unter François I. verboten worden. Doch ich hatte schon gehört, dass sich einige skrupellose magiciens trotzdem dieser illegalen Methode bedienten, um genug Magie für komplizierte Zauber aufrufen zu können. Die so gewonnene Macht war nicht von Dauer, aber sie erlaubte es ihnen, ganz besondere Magie zu wirken.
Über der Stadt zerstob der Dunst und der Himmel wurde fahl im Morgenlicht. Ich musste so bald wie möglich ins Palais Royal zurückkehren und die Straßen der Hauptstadt mit all ihren Gefahren hinter mir lassen. Das Leben, das mich bei Hofe erwartete, war nicht weniger kompliziert, doch wenigstens wäre ich dort vor mörderischen magiciens in Sicherheit. Ich musste nur dafür sorgen, dass ich ohne weitere Verzögerung zurück in mein Schlafgemach gelangte.
Die Wahrsagerin hatte recht gehabt. Heute war der Tag meiner Hochzeit. Und es würde wohl mehr als einen diplomatischen Zwischenfall verursachen, wenn die Schwester des Königs von England am Morgen ihrer Vermählung mit dem einzigen Bruder des französischen Sonnenkönigs verschwunden wäre.