Du hast gesagt, wir sind zwei Sterne

BRENDA RUFENER wuchs im Nordwesten der USA an der Pazifikküste auf. Sie arbeitete zunächst als Redakteurin, bevor sie sich entschloss, hauptberufliche Autorin zu werden. Sie lebt heute mit ihrer Familie in North Carolina.

PETRA KOOB-PAWIS studierte in Würzburg und Manchester Anglistik und Germanistik und ist seit 1987 als Übersetzerin tätig. Sie wohnt in der Nähe von München, und wenn sie gerade nicht übersetzt, lebt sie wild und gefährlich, indem sie Museen durchstreift, Vögel beobachtet und ihren einäugigen Kater daran zu hindern versucht, sämtliche Möbel zu ruinieren.

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BRENDA RUFENER

Aus dem Amerikanischen
von Petra Koob-Pawis

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Erstmals als cbt Taschenbuch Januar 2021
© 2019 Brenda Rufener
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Since We Last Spoke«
bei HarperTeen, einem Imprint der Verlagsgruppe HarperCollins, New York
© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Petra Koob-Pawis
Umschlaggestaltung: Geviert, Gestaltung & Typografie
unter Verwendung der Bilder von © GettyImages (Henrik Sorensen), © Stocksy (Javier Pardina), © Shutterstock (Denis Belitsky)
MP · Herstellung: BO
Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-25114-7
V001

www.cbj-verlag.de

FÜR BRYAN

»Ich denke, die Menschen halten nicht zuletzt deshalb

so hartnäckig an ihrem Hass fest, weil sie spüren,

dass sie sich mit dem Schmerz auseinandersetzen müssen,

sobald der Hass verschwunden ist.«

James A. Baldwin

1

Aggi

Meine Schwester hat mir erklärt, Liebe ist der Stoff, der uns zusammenhält. Sie behauptete steif und fest, diese wirke wie eine Schutzschicht aus kugelsicherem Glas, die unzerstörbar ist. Liebe hält alles zusammen, selbst wenn die Welt um dich herum in Stücke bricht, sagte Kate. Aber ungeschützt, zerbricht selbst die Liebe.

Immer wenn ich mir nur einen einzigen weiteren Moment mit meiner Schwester wünsche, einen, in dem wir auf dem moosbedeckten Steg sitzen, im Gleichklang mit den Beinen baumeln und Steine über den spiegelglatten See titschen, überwältigt mich die Erinnerung daran. Ich würde Kate gerne fragen, welche Schutzschicht sie gemeint hat, denn ich habe erfahren, wie zart und zerbrechlich Liebe ist, selbst in den stärksten Beziehungen, die schon ein ganzes Leben dauern oder, wie in meinem Fall, siebzehn Jahre brauchten, um zu entstehen.

Sechstausendzweihundertfünf Tage vergingen, während denen ich mich in Maxwell Granger verliebte, aber nur Sekunden, bis unsere Beziehung zerschmettert war. Der Stoff, von dem Kate gesprochen hatte, wollte nicht halten, und ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt irgendetwas gibt, das stark genug ist, um zu kitten, was zwischen Max und mir zerbrochen ist.

Wenn ich Kate schreiben könnte, würde ich sie fragen, was genau sie gemeint hat. Aber meine Schwester wird die vielen Hundert Textnachrichten, die ich immer noch an ihre Nummer schicke, nie zu sehen bekommen. Mit einem Handy erreicht man sie nicht mehr.

In der Ferne brummt ein Motor und heult kurz auf, als der Fahrer den Gang wechselt auf seinem Weg durch den teils lockeren, teils festgefahrenen Schnee. Wenn sich eine neue Schneedecke über Walabash Woods breitet, dämpft sie jedes Geräusch. Aber sobald ein Fahrzeug auf den privaten Zufahrtsweg einbiegt, der fast eine Meile lang ist und sowohl meiner Familie als auch Max’ Eltern gehört, wird aus dem Schnurren des Motors ein Brüllen, und mein Körper lässt sich von dieser Dynamik mitreißen. Schnee wirkt so auf mich, er verlangsamt oder beschleunigt mich, aber heute ist Freitag, und wie an allen anderen Freitagen bin ich auch diesmal fest entschlossen, mich gegen seine Herrschaft aufzulehnen.

Ich stapfe über die Fußmatte, auf der Willkommen bei den Franks steht und die von Schnee und Schuhabdrücken bedeckt ist. Noch im Laufen trete ich meine Stiefel von den Füßen und renne die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt knarren und ächzen die Stufen, und oben knirscht das Geländer, als wolle es jeden Moment zusammenbrechen. Mit dem Fuß stoße ich gegen eine eingestaubte Schachtel mit Nägeln und springe über einen Stapel Gipsplatten im Flur, um in mein Zimmer zu gelangen. Ein Fremder würde annehmen, dass wir gerade mitten in einer Renovierung stecken, was auch stimmt, wenn »mitten in« Fegefeuer bedeutet. Ich wünschte, einer von den Leuten der Unser-neues-Zuhause-Sendung würde den Kopf zur Tür reinstrecken und rufen: »Überraschung!«, oder: »Willkommen zu Hause, Familie Frank!«, oder wenigstens: »Raus hier, wir stellen euer Haus auf den Kopf, ihr dürft erst wieder rein, wenn es bewohnbar ist!« Dann müsste ich mich nicht fragen, wie viele Monate die Schachtel mit den Nägeln im Flur vor meinem Zimmer noch herumliegen wird wie eine schmutzige Socke mitten auf der Straße, um die alle einen weiten Bogen machen. Alles, was das Leben besser macht, ist nach dem Unfall zum Stillstand gekommen. Mein Leben, meine Familie sind zerbröckelt wie eine Gipsplatte.

Letzten Dezember stand ich noch nackt in einem Kanu mitten auf dem See und rief: »Maxwell Granger! Ich liebe dich mehr als du dich selbst!« – mit ausgestreckten Armen, das Kinn zu den Wolken gereckt, die vom Himmel herab weiße Flocken auf meine Haare spien, als wären es kleine Papierkügelchen.

Es hat Jahre gedauert, bis ich Max endlich sagen konnte, was ich schon seit unserer Kindheit in meinem Herzen mit mir herumtrug. Warum ich nackt war? Ich hatte eine Wette verloren, aber meine Niederlage als Triumph gefeiert. Nichts hatte mich von meinem Geständnis abhalten können – nicht mal das verlorene Wettrennen zum Steg, weswegen ich dann im Kanu meiner Familie auf den See hinauspaddeln musste, unbekleidet und furchtlos. Ich hatte absichtlich gewettet und absichtlich verloren. Ich wusste an diesem Tag genau, was ich wollte. Es fühlte sich an, wie die Tat meines Lebens.

Umé, umgeben von ihrem Lächeln und dem unerschütterlichsten Selbstvertrauen des ganzen Universums, hatte mir vom Ufer aus zugerufen: »Jesus George Clooney Christ, Aggi! Du frierst dir den Arsch ab! Und wo ist deine verdammte Rettungsweste? Wie oft habe ich dir schon gesagt …«

Umé, meine beste Freundin seit der Mittelstufe, auch bekannt als mein Rettungsanker. Wir haben uns beim Sportunterricht kennengelernt, als wir uns in einer Reihe aufstellen mussten, um Zweiergruppen zu bilden. Plötzlich packten mich zwei Hände an den Schultern und ein Kopf tauchte neben mir an meinem Ohr auf. Eine Stimme flüsterte: »Ich bugsier dich jetzt zur Toilette. Keine Sorge, ich bin direkt hinter dir. Halt die Füße dicht beieinander – watschel einfach – und schau nicht runter auf deine Beine.«

Aber es war zu spät. Zwei Blutrinnsale sickerten aus meiner kurzen Sporthose.

Zum Glück hatte Umé sofort eine kleine Notlüge parat. »Ihr ist schlecht!«, rief sie unserer Turnlehrerin zu und lotste mich in den Toilettenraum, bevor die Lehrerin etwas einwenden konnte oder irgendjemand merkte, dass ich meine erste Periode zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt bekommen hatte. Umés warme Hand auf meinem Rücken hat mich so manches Mal geschoben oder sogar gestoßen – durch schlechte Tage, schreckliche Zeiten, Augenblicke der absoluten Niederlage. Ich hoffe, ich kann mich irgendwann revanchieren.

Max’ bester Freund Henry, der von Kopf bis Fuß in Toilettenpapier gewickelt war, weil er eine ähnliche Wette verloren hatte wie ich, brüllte damals vom Steg aus: »Hab ich’s dir nicht gesagt, Max? Sie liebt dich! Das hat sie schon immer, du glücklicher Scheißkerl!«

Henry meinte damit nicht, dass Max sich glücklich schätzen konnte, weil ich ihn liebte. Sondern weil er überhaupt geliebt wurde. Es ist nämlich so, dass Henry Liebe so nötig hat wie die Luft zum Atmen, aber wunderbarerweise wächst und gedeiht er – auch ohne sie. Henry ist wie diese gigantische Bohnenranke, die bis zu den Sternen wächst, obwohl sie kein Wasser und keine Nahrung erhält und zu Hause nie zu hören bekommt, wie sehr sie geschätzt und geliebt wird. Henry hat für sich einen Ort gefunden, an dem er Liebe horten kann. Er bewahrt sie in seinem Inneren auf, um sie dann großzügig mit seinen Freunden zu teilen, besonders mit Max. Also, wer von beiden ist der glückliche Scheißkerl?

Max und Henry sind seit der Grundschule miteinander befreundet, aber Max war noch nie bei Henry zu Hause in dessen Wohnwagen gewesen. Niemand von uns war das. Henry lässt es nicht zu, dass seine Freunde auch nur in die Nähe seines tief im Wald verborgenen Zuhauses kommen, nicht weil es ihm peinlich ist oder er sich schämt – obwohl ich mir sicher bin, dass dies auch eine Rolle spielt –, sondern weil er seine Freunde schützen will. Auf unseren Streifzügen durch Walabash Woods wagen wir uns nie näher als eine Viertelmeile an Henrys mit einer Kette gesicherten Zufahrtsweg heran. Andernfalls würden nicht nur die Hunde, sondern auch Henrys Vater und seine Zwillingsbrüder uns anblaffen, um uns von ihrem Grundstück zu vertreiben. Dad sagt, die Beacons seien schon zu oft mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und würden niemanden auf ihren Privatgrund lassen. Aber alle Regeln der Welt können Henry nicht von seinen Freunden fernhalten, vor allem nicht von Max. Die beiden sind wie Brüder.

An jenem Tag am See stieß Max seine Stiefelspitze in den festgetretenen Schnee am Ufer und sein zwischen den Bäumen widerhallendes Lachen hüllte mein lautes Geständnis ein wie eine warme Decke. Mut war noch nie meine Stärke. Ich hatte es nie gewagt, mein geheimstes Geheimnis auszusprechen – bis zu jenem Tag, jener Minute, jener Sekunde. Ein albernes Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel unter Freunden, das plötzlich mit der reinen Wahrheit endete. Als ich den Kopf in den Nacken legte und aus vollem Herzen lachte, empfand ich eine tiefe Gewissheit. Über mich. Max. Unsere gemeinsame Zukunft.

Max legte die Hände um den Mund und rief: »Du bist nackt! Auf dem See! Mitten in einem Schneesturm! Aggi Frank, du bist so wild und verrückt wie Walabash Woods!«

»Verrückt vor Liebe zu dir!«, rief ich zurück.

Max riss seine Mütze vom Kopf und schleuderte sie auf den See hinaus. Ein spontaner Entschluss, den er später noch bereuen sollte, als ihm fast die Ohren abfroren, während er mich zu meinen ordentlich gefalteten Kleidern neben dem Lagerfeuer trug, das er hinter der Scheune entzündet hatte, die unseren beiden Familien gehörte. Nur um das klarzustellen, ich war noch nackt, als Max’ seinen Akt der Ritterlichkeit vollführte, schnappte mir dann aber sofort meine Kleider. Max behauptete danach, er hätte meine Füße vor Frostbeulen bewahren wollen. Aber in Wahrheit hatte ich aus freien Stücken meine Selbstständigkeit abgestreift, sie in den Schnee fallen lassen und nach einem Träger verlangt. In dem Moment wusste ich, dass ich barfuß den Everest erklimmen könnte, wenn am Gipfel Max mit ausgestreckten Armen und einem heißen Kakao auf mich warten würde. Henry ist der Junge, der vor Liebe überquillt, und Max ist derjenige, der einen umsorgen kann wie niemand sonst. Zumindest war das früher so.

Der Wald tat derweil sein Bestes, um mein Geständnis ins rechte Licht zu rücken. Weiße Flocken fielen zur Erde und stapelten sich wie aus weichen Marshmallows gemachte Jenga-Teilchen. Das Rieseln des Schnees dämpfte alle Geräusche, bis schließlich sogar der Wald verstummte. Meine Arme breiteten sich aus nach Osten und Westen, und der Himmel entfaltete eine dicke Decke aus Schnee, um meinen nackten Körper einzuhüllen. Der See lag still, und seine Ruhe gab mir den Mut, Max meine Gefühle zu gestehen, die ich schon so lange mit mir herumgetragen hatte.

Der Wald kannte Max und mich, seit wir als kleine Kinder zwischen den Beinen unserer Mütter herumgetollt waren. Wie oft waren wir hier über unsere Füße gestolpert, weil wir gleichzeitig nach einem Kieferzapfen greifen oder den Schwanz eines Eichhörnchens packen wollten. Walabash Woods wusste, dass ich Max meine Liebe erst dann gestehen würde, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Nachdem die ersten Flocken vom Himmel gefallen waren. Bevor das Eis auf dem Wasser reißen und sich teilen würde.

Meine Worte waren wie Schneeflocken, die durch die Luft wirbeln, ohne je zu verraten, wie viel Mühe der Weg zur Erde sie gekostet hat. Wenn man Schneeflocken mit der Zunge auffängt und die Kristalle darauf schmelzen lässt, spürt man die sich tapfer gegen den Wechsel der Temperatur behauptenden Billionen von Wassermolekülen nicht. Man schmeckt nicht, wie der Wind ihre Struktur traktiert, während sie durch die einzelnen Luftschichten in die Tiefe stürzen und zerschellen. Erst am Ende ihrer Reise zeigen die Schneeflocken sich in ihrer ganzen Schönheit. Dann erkennt man ihr raffiniertes Design. Die unglaubliche Anstrengung, die das Entstehen eines solchen Kunstwerks erfordert, behalten sie für sich.

Als ich Max letzten Winter meine Liebe gestand, applaudierte der Wald angesichts von so viel Mut. Er zirpte und johlte, die Wipfel der Kiefern verneigten sich, der See klatschte und spritzte Fontänen gegen die Felsen. Sogar ein Seetaucher – den man in North Carolina nur sehr selten antrifft – brach verdammt noch mal in Gelächter aus, als er über uns hinwegflog. Die Welt war voller Möglichkeiten, überall warteten Anfänge auf Max und mich. Wir waren am Beginn von etwas Magischem, etwas Bedeutungsvollem, etwas, das für die Ewigkeit gemacht war. Wir dachten, unsere Liebe sei unendlich und kugelsicher.

In jener Nacht kam Max’ Bruder bei einem Autounfall ums Leben. Zehn Tage später brachte meine Schwester Kate sich um.

Diese beiden Ereignisse haben alles verändert. Diese beiden Ereignisse haben uns zerstört.

***

Ich schiebe meinen Druckbleistift zwischen die Lamellen der Jalousie und spähe hinüber zu dem schneebedeckten Weg, der unsere Zufahrt mit der von Max’ Familie verbindet. Kiefern reihen sich wie Krieger in weißen Rüstungen entlang der Grenze und halten Wache. Das Sonnenlicht wird von den hohen Schneewehen reflektiert, trifft auf den Wandspiegel hinter mir und wärmt eine kleine Stelle an meinem Rücken. Das Thermostat zeigt knapp dreizehn Grad an. Ich rutsche auf meinem Stuhl zur Seite, damit die Sonne meine Körpertemperatur ein klein wenig in die Höhe treibt. »Heizen kostet Geld«, sagt Dad immer, besser gesagt, er schreit es. Und: »Solange du keine Aktienanteile beim Elektrizitätswerk hast, bleibt die Heizung auf 13 Grad eingestellt.« Dad hätte vermutlich gerne Aktien. Mom hätte lieber Geld. Ich hätte am liebsten, dass Dad einen Job hat, mit dem er Geld verdient.

Mom und ich dürften eigentlich gar nicht wissen, dass er schon vor Monaten seine beiden Jobs verloren hat. Gleich nachdem er Max’ Vater mit dem Gesicht nach unten auf die Kühlerhaube des Trucks gedrückt hatte. Mom und ich dürfen uns nicht wundern, warum Dad jeden Morgen in Arbeitshose, festen Stiefeln, das zerknitterte Hemd nur halb in die Hose gestopft, unser Haus verlässt. Mom blickt zum Fenster hinaus, wenn Dad durch die Küche stapft, um zu seiner Nicht-Arbeit zu gehen. Sie fragt nicht nach, denn dann müsste sie sich dem stellen, was passiert ist. Ich sehe das anders. Irgendwann wird Dads Geheimnis auffliegen. Ich hoffe, Mom starrt dann nicht aus dem Fenster, sondern blickt endlich der Wahrheit ins Auge. Vielleicht unternimmt sie sogar etwas dagegen.

Es ist Freitag 3 Uhr 59, ich sitze an meinem Schreibtisch und warte darauf, dass Max in seinem Jeep die Zufahrt heraufpflügt. In sechzig Sekunden ist es so weit. Dann wird er aussteigen, in den Schnee hüpfen und zur Beifahrertür gehen. Ich frage mich, wen er wohl diesmal dabeihat? Ich frage mich, ob ich das Mädchen kenne, ob es von hier ist oder aus der Stadt.

Als der Motor lauter wird, lasse ich mich von meinem Schreibtischstuhl auf den Boden gleiten und kauere mich neben das Fenster. Nur Sekunden später kommt Max mit dem Jeep angerauscht, steigt in die Bremsen und kommt schleudernd auf dem Vorplatz zum Stehen. Ich blinzle, aber das Gesicht des Mädchens bleibt ein verschwommener rosa Tupfer auf weißer Leinwand, bis sie aussteigt. Es ist nicht das Mädchen von letzter Woche oder der Woche davor. Diese ist lockerer, fröhlicher. Ihr Lächeln ist auf eine Art herzlich, das sogar Fremde im Vorbeigehen mit einem Nicken erwidern. Sie ist in eine dicke cremefarbene Steppjacke und einen blauen Schal gehüllt. So einen Schal würde ich auch anziehen.

Max greift nach ihrer Hand. Sie gräbt ihre Fußspitze in den Schnee und lacht. Bei jedem Schritt schwingen die langen Pompons an ihren Stiefeln und ziehen feine Spuren im puderfeinen Schnee. Max bedeutet ihr, neben dem Jeep zu warten, dann eilt er zum Haus und holt die an der Veranda abgestellte Schaufel. Er räumt den Weg bis zur ersten Stufe frei, und als er fertig ist, nickt er dem Mädchen zu. Fast rechne ich damit, dass er seine Jacke schwungvoll zu ihren Füßen ausbreitet, herumwirbelt und plötzlich mit kariertem Flanellhemd, Axt und Trappermütze vor ihr steht. Max, Gentleman und Naturbursche. So war der Max, an den ich mich erinnere.

Max senkt den Blick und starrt auf seine Füße, während das Mädchen die Haare zur Seite streicht und mit knirschenden Schritten zur Veranda geht. Ich hasse es zuzuschauen und trotzdem quäle ich mich immer wieder damit. Keine Ahnung, wie oft ich schon versucht habe, mich nach der Schule abzulenken, wie oft ich mit Umé Kaffee getrunken oder mich mit Kopfhörern aufs Bett gesetzt habe. Aber trotzdem habe ich die Uhr genau im Blick – und wenn es so weit ist, kauere ich neben dem Fenster, jeden Freitag, immer zur gleichen Zeit.

Max nimmt die Mütze ab und fährt mit den Fingern durch seine nachtschwarzen Haare. Ich schließe kurz die Augen und seufze. Die Jeep-Tür wird geöffnet. Max reibt sich den Nacken, streicht mit der anderen Hand die Schneeflocken von seiner Hose und holt den Rucksack und eine Pizzaschachtel aus dem Auto.

Mein Magen fängt an zu knurren und bei dem Gedanken an den verführerisch heißen Inhalt der Pappschachtel läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Vermutlich eine extragroße BST-Pizza von Lucio & Sons – dabei hasst Max sowohl das S als auch das T.

Jahrelang habe ich Max zu überzeugen versucht, nur eine einfache Pizza mit Bacon zu bestellen, aber wir reden hier von Max. Vor ein paar Sommern habe ich ihm schließlich vorgeschlagen, die Leute von Lucio & Sons zu fragen, ob sie nicht die Zutaten weglassen könnten, die er nicht mag, aber Max, der selbst den einfachsten Scheiß verkomplizieren kann, weigerte sich strikt und wird daher für den Rest seines Lebens Salat und Tomaten von seiner Bacon-Salat-Tomaten-Pizza abkratzen. Er sagte, er brächte es nicht übers Herz, ein Kunstwerk zu zerstören wie das von Lucio & Sons Picasso Pizza Pies.

Jetzt drückt er mit der Hüfte die Autotür zu. Das Mädchen auf der Veranda stampft den Schnee von den Stiefeln, dann hält sie inne und beobachtet Max, der an der untersten Stufe stehen geblieben ist. Er hat den Kopf gesenkt und malt mit seinen Schuhen V-Muster in den Schnee. Abrupt kehrt er der langen Veranda den Rücken zu und lässt den Blick über den sichelförmigen See schweifen. Er dreht den Kopf nach links, wie jeden Freitag kurz nach vier, und blickt zu unserem Haus herüber. Wie in Zeitlupe hebt er das Kinn und fixiert ein Fenster über der Garage. Das Fenster zu meinem Zimmer.

Max weiß genau, dass ich da bin und durch die Jalousien spähe. Dass ich auf meinem Stuhl ausharre und herauszufinden versuche, wann der nächste Schneesturm zuschlägt. Das ist mein neues Hobby, mein neues Leben nach dem Unfall. Ich verbringe viel Zeit damit, die Bewegungen in der Atmosphäre zu analysieren, um Ruhe und Ordnung in das wetterbedingte Chaos zu bringen. Vielleicht versteht Max ungefähr, was ich tue, aber er hat nicht das ganze Bild vor Augen.

Seit Monaten gibt er mir die nachmittägliche Routine vor, diktiert mir, in meinem dunklen, kalten Zimmer zu sitzen und ihn heimlich durchs Fenster zu beobachten. So viel hat sich seit Kates Selbstmord verändert. Seit dem Tod von Max’ Bruder Cal. Seit der Tragödie, die unsere Familien auseinandergerissen hat.

Ich weiß genau über Max’ neues Leben Bescheid. Er hat angefangen zu laufen. Er isst zu viel Pizza, was gar nicht zu seinem drahtigen Körper passt. Und er bringt jeden Freitagnachmittag ein anderes Mädchen mit, wenn seine Eltern nicht da sind und er das Haus für sich allein hat.

Max hält inne und schaut zehn Sekunden lang zu meinem Fenster hoch. Ich zähle mit, wie immer, und halte dabei den Atem an.

Er senkt den Kopf. Ich drücke meine Hände an die Brust.

Was wirst du diesmal tun, Maxwell Granger? Auch ich habe das Haus für mich allein.

Plötzlich verlagert er sein Gewicht. Ein Ruck durchfährt mich. Ist heute der Tag? Bin ich bereit?

Seine Kehrtwendung Richtung Veranda liefert die Antwort. Ich hebe die Jalousie leicht an.

Die unerwartete Bewegung veranlasst Max, sich umzudrehen und zu mir hochzuschauen.

Ich stecke meine Hand in die vordere Hosentasche, damit ich nicht in Versuchung komme, etwas Verbotenes zu tun, wie zum Beispiel winken.

Max’ Blick verharrt auf meiner Sweatshirt-Silhouette. Kein Lächeln. Kein Winken. Keine Aufforderung, dass ich zu ihm herunterkommen soll.

Was jetzt, Max? Wer ist jetzt am Zug?

Mein Herz hämmert, wie es das sonst nur tut, wenn ich quer durch den See schwimme.

Mit Max zu reden würde die Vorschriften verletzen. Die Regel meines Dads brechen. Du wirst nie wieder mit diesem Jungen sprechen.

Ich stehe ganz still da und warte.

Warum beobachtest du mich, Max? Warum tust du noch so, als wär ich dir wichtig?

Sekunden verstreichen, und meine Brust wird eng vor Angst, Max könnte etwas tun, das wir beide später bereuen. Ich nehme ihm die Entscheidung ab, lasse die Jalousie los, sie knallt auf das Fensterbrett, lässt die Scheibe klirren und ein paar weitere Farbflocken abblättern. Max’ Blick bohrt sich in meinen, bis ich an dem Lamellenstab drehe, um Max auszublenden, und mich an der Wand nach unten rutschen lasse.

Ich werde nicht weinen. Meine Tränen sind schon vor Monaten versiegt. Stattdessen kauere ich mich ans Fenster und warte auf das Knirschen des Schnees und ihr Lachen, das von der Veranda widerhallt.

Schlüssel klappern. Max’ Hund bellt. Auch seine Worte sind durchdringend, graben sich in mein Herz, bevor sie draußen von den Schneewehen verschluckt werden.

»Wir haben das Haus für uns allein!«, sagt er viel zu laut.

Ich spähe noch einmal durch den schmalen Spalt der Jalousie und fange Max’ Blick auf, weil er genau in diesem Moment zu unserm Haus herüberschaut.

»Ja. Ich habe dich gehört, Maxwell Granger«, flüstere ich.

Das Zuschlagen seiner Haustür sendet Schallwellen aus, die durch den Schnee zu mir herüberfluten und gegen unser Haus branden.

2

Max

Ich kicke die Tür zu und scheuche Pawtrick Swayze, meinen Basset, in die Küche, damit er nicht an dem Mädchen hochspringt, das ich bedauerlicherweise in unser Wohnzimmer gebeten habe. Er bellt und knurrt, also packe ich seinen wurstförmigen Körper wie einen Football und setze ihn in sein verschließbares Reisekörbchen neben der Vorratskammer.

Ich bleibe in der Küche, laufe im Kreis herum und versuche einen klaren Kopf zu kriegen, streife mechanisch meine Jacke ab und werfe sie auf einen Küchenhocker. Dem Mädchen die Jacke abzunehmen, ist mir nicht in den Sinn gekommen. Ein Typ wie Ryan Gosling würde genau das tun. Aber im Moment bin ich zu durcheinander, außerdem befindet sich die Garderobe direkt neben der Haustür, ist also nicht zu übersehen. Ich atme tief durch und massiere meine Schläfen. Pawtrick fängt wieder an zu bellen und ich zucke zusammen. Als ich Aggi an ihrem Fenster gesehen habe, hatte ich das Gefühl, etwas tun zu müssen, aber ich hab keine Ahnung, was das sein soll.

»Willst du nun Pizza oder nicht?«, ruft das Mädchen aus dem Wohnzimmer. Erschöpft sinke ich gegen die Anrichte.

Warum tue ich mir das immer wieder an? Natürlich kenne ich den Grund. Mein Problem. Ist es ein Problem? Nein. Die Therapeutin nennt es ein Symptom, als ginge es um Appetitlosigkeit, aber sobald ich ausprobiere, ob das Symptom noch existiert, bereue ich es jedes Mal schwer. Ich atme aus, stoße mich von der Anrichte ab und schüttele meine Arme aus. Ich lasse den Nacken kreisen und spüre in der wohligen Wärme der Küche das Kribbeln meiner Haut.

Ich hätte sie nie hierher einladen dürfen. Es ist ihr gegenüber nicht fair, außerdem brauche ich Zeit zum Nachdenken. Sobald ich allerdings allein bin, wandern meine Gedanken in unerwünschte Richtungen. Daher stehe ich nun hier in der Küche neben dem Korb meines Hundes, während drüben ein wunderbares menschliches Wesen auf der Couch sitzt und mit einer extragroßen BST Pizza von Lucio & Sons auf mich wartet. Und dann ist da noch Aggi. Sie ist nur einen Katzensprung von mir entfernt, versteckt sich hinter ihrer bescheuerten Jalousie in ihrem bescheuerten Zimmer und wünscht sich, sie hätte mich, den Vollpfosten, niemals kennengelernt.

Mein Hund winselt. Ich gehe in die Hocke und lasse zu, dass er meine Finger ableckt. »Genau, Pawtrick. Genau so fühle ich mich auch.« Eingesperrt und eingeengt.

»Wenn du nicht bald kommst, fange ich ohne dich an!«, ruft das Mädchen. Das Mädchen. Britney? Leslie? Lynn? Ich kann mich nicht mal an den Namen erinnern, denn ich bin ein totaler Arsch und kriege nichts auf die Reihe.

BritneyLeslieLynn sitzt auf der Couch und wedelt einladend mit einem Stück Pizza. »Du wolltest doch unbedingt anhalten, um Essen zu holen. Bist du gar nicht hungrig?«

Die Ecken des Pizzadreiecks hängen schlaff nach unten, als sie mit dem Stück in der Luft herumfuchtelt. Als wolle sie mir eine Botschaft senden, obwohl ich genau weiß, das ist nur Einbildung, denn ich habe niemandem etwas von meinem Problem erzählt – ach ja, meinem Symptom. Aber innerlich nicke ich angesichts der Ähnlichkeit zwischen mir und dem schlaffen Pizzarand.

Ich setze mich neben sie auf die Couch, während sie sich lässig gebratene Speckstreifen in den Mund wirft. Ich lächle, sie auch. Aber ich lächle, weil ich an Vergangenes denken muss und nicht an das Hier und Jetzt. Sie erinnert mich an Aggi. So ungezwungen und selbstbewusst.

»Wann kommen deine Eltern nach Hause?«

Ich lache auf. Sie ist so direkt. Genau wie Aggi.

»Kann noch eine Weile dauern.« Ich lehne mich zurück und streichle die Armlehne, als säße mein Hund neben mir.

»Du wirkst nervös.«

Ich drücke den Rücken durch. »Echt? Findest du? Ich bin kein bisschen nervös.« Gelogen.

Sie lacht und beißt noch ein Stück von der Pizza ab.

Wenn ich Eier hätte oder das, was man dafür hält, würde ich jetzt loslegen. Das ist der Moment, in dem ich rüberrutschen und sie fragen müsste, ob ich sie anfassen darf. Nee. Das klingt bescheuert. Nicht die Frage, sondern die Sache mit dem Anfassen. Aber so ’nen Mist machen Typen, wenn sie Mädchen mit nach Hause nehmen. Mädchen, die auf der Couch sitzen und wissen wollen, wann die Eltern heimkommen. Nicht-Max-Typen, sollte ich wohl sagen. Ich mach Sachen, wie mit dem Zeigefinger Linien auf meine Jeans malen, Augenkontakt vermeiden, die Armlehne streicheln, als wäre sie Pawtrick Swayze, und wünsche mir ein anderes Mädchen herbei. Ein Mädchen, das nur lacht, wenn ich es mir verdient habe. Ein Mädchen, das mich im Pizzaessen schlägt. Ein Mädchen, das nebenan lebt, seit wir Babys waren.

BritneyLeslieLynn zerknüllt die Serviette, wirft sie auf den Wohnzimmertisch, steht auf, nimmt meine Hand und nickt Richtung Treppe.

Okay, denke ich. Ich kann das. Ich rutsche an den Rand der Couch … und haue die Bremse rein. Ohne lange zu überlegen, löse ich meine Hand aus ihrer. Ich kann das nicht. Nicht heute. Vielleicht nie wieder.

Ryan Gosling macht so was in jedem Ryan-Gosling-Film. Er springt auf, reißt sich das Hemd vom Leib, schlägt sich an seine glatte Brust. Mädchen – Frauen – können gar nicht genug davon bekommen. Aber ich bin nicht Ryan Gosling. Ganz sicher nicht.

»Gehen wir?«, fragt sie. »Wenn wir es machen wollen, sollten wir dann nicht endlich zur Sache kommen?«

Ich nicke, mache jedoch keinerlei Anstalten aufzustehen. Jetzt muss ich nur noch die richtigen Worte finden, um sie hinauszukomplimentieren, was gar nicht so einfach ist, schließlich habe ich sie zu mir eingeladen.

»Also?«

Ich blicke zu ihr hoch und zucke mit den Schultern.

»Oh Gott.«

»Tut mir leid. Ehrlich. Es ist nur so, dass –«

Sie wirbelt herum und schnappt sich ihre Tasche. »Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, es ginge dir inzwischen besser? Hätte die Therapie nicht längst anschlagen müssen?«

Anschlagen? Ich wünschte, es wäre so. Aber die letzte Sitzung liegt schon lange zurück. Nicht dass ich besonders scharf wäre auf eine Therapiestunde, in der ich mich meinen Gefühlen stellen muss, während Mom und Dad wie Statuen neben mir auf der Couch sitzen und ich nach Worten suche, um zu sagen: Ich habe seit Monaten keine Erektion mehr gehabt, und ich will wissen, ob auch das Teil des Trauerprozesses ist.

»Woher weißt du das von meiner Therapie?« Ich stecke beide Hände in die Hosentaschen.

Sie schlingt ihren Schal zu einem komplizierten Knoten. »Jess hat es von Katherine und die hat es von Lei Lei.«

Ich schnaube verärgert. »Ja klar.«

»Fahr mich einfach nach Hause.«

»Glaub nicht alles, was du über mich hörst«, sage ich und schlüpfe in meine Stiefel.

Ich weiß nicht, was genau sie aufgeschnappt hat, aber an unserer Schule verbreitet sich alles in Windeseile, und ich kann’s mir denken.

»Ja sicher, Max«, sagt sie knapp und schließt den Reißverschluss ihrer Jacke. »Fährst du mich nach Hause oder soll ich jemanden anrufen? Aggi vielleicht?«

»Wie kommst du auf Aggi?«

Sie zieht eine Augenbraue hoch und seufzt. Genau diese Wirkung habe ich auf andere. Auf Bekannte, sogar Freunde. Sobald ich versichere, dass alles in Ordnung ist, seufzen sie. Damit lasse ich sie vom Haken. Sie sind um ein unangenehmes Gespräch herumgekommen. Meine Therapeutin seufzt, aber vermutlich nicht aus Erleichterung, Erschöpfung oder Verärgerung. Ich nehme an, sie seufzt, weil ich mich ihr nicht öffne. Aber wer weiß?

»Es tut mir sehr leid«, sage ich und öffne die Tür.

Auf der Veranda bleibt sie noch einmal stehen. »Weiß ich doch, das macht es ja so traurig.« Sie blickt zu Aggis Haus und dann wieder zu mir. »Es tut mir echt leid für dich. Was du durchmachst. Was eure Familien durchstehen müssen. Das ist wirklich scheiße.«

Weder in ihrem Tonfall noch in ihrem Blick ist auch nur eine Spur von Sarkasmus zu entdecken, und darüber bin ich froh. Trotzdem wendet sie sich abrupt ab und stapft die Stufen hinunter. Das habe ich verdient. Ich habe sie aus reinem Egoismus zu mir eingeladen. Ich wusste, dass Aggi am Fenster stehen würde. Ihre Silhouette begrüßt mich jeden Tag. Aggi, in ihrem Oversized-Sweatshirt, die Haare zu einem Messy-Bun zusammengebunden, der ihre Wangenknochen noch betont. Sie ist wie ein Meisterwerk, das die Kunst aller Epochen in sich vereint. Ihr Gesicht, markant geschnitten, aber auch weich gerundet. Unergründliche Augen – eher hochmittelalterlich oder präraphaelitisch?

Ich fasse an meinen Nacken, presse die Hand dagegen. Kann ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken. Es ist echt schwer, nicht über das Wrack zu lachen, das ich nun bin, über den Scheiß, zu dem mein Leben geworden ist.

3

Aggi

Wie jeden Abend seit dem Unfall bleibt es an mir hängen, mich ums Essen zu kümmern. Meine kleine Schwester Grace lebt bei Moms Chefin und einziger Freundin, Dr. Nelson, zumindest fünf bis sechs Tage pro Woche. Nach Kates Tod ist in Moms Kopf eine Glühbirne durchgebrannt. Mom meint, sie braucht Zeit zum Trauern, aber wie soll das gehen mit einer Zehnjährigen auf dem Schoß, die um Küsse und Umarmungen bettelt, weil die große Schwester gestorben ist? Ich hab vorgeschlagen, auch bei Dr. Nelson zu wohnen, weil Grace und ich einander brauchen, aber Dad hat nur gesagt: »Verdammt noch mal, nein!« Wenn Dad »Verdammt noch mal, nein!« sagt, dann, weil er nicht die Kontrolle verlieren will, damit ich nicht bei der falschen Person Zuflucht suche. Also bleibe ich zu Hause, mache mir Abendessen und esse es alleine.

Ich filze den Kühlschrank und suche nach etwas Essbarem mit noch nicht abgelaufenem Verfallsdatum. Es lohnt sich nicht, den Ofen anzuwerfen, wenn Grace nicht da ist, also esse ich nur kalt. Müsli. Sandwich. Erdnussbutter aus dem Glas.

Nach Cals Tod, als Kate noch im Krankenhaus lag, habe ich Grace’ Lieblingsessen gemacht, getoastete Fluffernutter-Sandwiches. Dann habe ich sie in Dads alte Lunch-Box gestapelt, Grace am Arm gepackt und bin mit ihr zum See gegangen – Grace in ihrer warmen Steppjacke und mit Handschuhen, ich in meinem Daunenparka. Wir haben uns an den Steg gesetzt, zitternd, aber innerlich warm, weil wir einander hatten und zusammen waren. Mein Mitgefühl galt Max und seiner Familie, aber ich war überzeugt, dass sich unsere beiden Familien wieder erholen würden. Wir würden den Verlust verkraften, wenn ich mich nur gut um den einen Menschen kümmerte, auf den ich aufpassen sollte: Grace.

Aber eines Abends, als Dad aus dem Krankenhaus kam, um nach uns beiden zu sehen, traf er vor dem Haus auf Max’ Vater. Zuerst gab es nur lautes Geschrei. Dann flogen die Fäuste. Es endete mit Schlägen.

Dad sah uns auf der Veranda stehen – ein stummer Blick von ihm genügte. Ich schnappte Grace und floh hinunter zum See. Max wollte uns zum Steg folgen, aber der Schmerz seines Vaters ließ ihn erstarren. Mr Grangers Herz zersplitterte so herzzerreißend, dass die Bäume versteinerten und ebenso Max. Der Verlust seines Bruders hatte all seine Fäden gekappt, lähmte sein Beine und ließ sein Rückgrat zusammensinken, bis er nicht einmal mehr den Kopf heben konnte. Und währenddessen brüllte sein Vater: »Kate ist schuld! Wenn sie nicht gefahren wäre! Wenn sie sich nicht ans Steuer gesetzt hätte! Wenn sie … wenn sie … wenn sie …« Max kam nicht bis zum Steg, wo Grace und ich saßen. Er lief im Kreis und verschwand schließlich im Wald.

Inzwischen hindert ein Kontaktverbot unsere Väter daran, sich zu prügeln. An den Schuldzuweisungen ändert das nichts.

Bevor Mom Grace zu Dr. Nelson schickte, zog ich Grace oft eine warme Jacke an und wir rannten gemeinsam zum See. Es war der einzige Ort, wo wir es aushalten konnten. Allein, aber zusammen. Die Sandwiches schmeckten dort draußen besser, wenn wir zuschauten, wie die Schneeflocken durch die Luft tanzten und aufs Wasser sanken.

Ich wünschte, Grace wäre jetzt hier, dann könnten wir unsere Beine baumeln lassen, die Krusten unserer Sandwiches abzupfen und uns mit der Zunge die gefrorene Marshmallow-Creme von den Lippen lecken. Die Schneestürme draußen sind nichts gegen den Sturm, der sich zu Hause zusammenbraut.

Die backsteingroße Lasagne in der Auflaufform sieht appetitlich aus, aber dazu müsste ich den Herd einschalten. Außerdem erinnert sie mich an Kate.

Zwei Wochen nach ihrem Tod waren alle Aufläufe, die uns die Einwohner von Plum Lake gebracht hatten, restlos aufgegessen und das Geschirr stapelte sich im Waschbecken. Damals beschloss ich, für unsere Familie zu kochen. Ich dachte, wenn wir alle am Tisch beieinandersitzen und darüber sprechen, wie sehr uns Kate fehlt, wird uns das allen helfen. In einem Online-Artikel über Trauer hatte ich gelesen, das jüngste und verletzlichste Mitglied der Familie, also Grace, müsse uns als Gemeinschaft erleben. Mir ging es nicht viel anders. Ich wollte mit Mom und Dad über Kate reden. Ich wollte mich an ihre Witze erinnern. Ich wollte, dass wir zusammen weinen. Es hatten sich bereits hohle Dämme zwischen uns aufgebaut. Tränen würden die Mauern zwischen uns wegspülen und unsere Familie wieder miteinander verbinden, stand in dem Artikel. Und Lasagne auch – zumindest glaubte ich das.

Damals stellte ich mich stundenlang in die Küche, bereitete Pasta zu und übergoss sie mit einer öligen Sauce, doch Mom schickte Grace zu Dr. Nelson und verschwand wortlos in ihrem Zimmer. Also wartete ich auf Dad. Bestimmt würde er sich zu mir an den Tisch setzen und mit mir reden, so wie wir es früher gemacht hatten. Er würde die Lasagne aufspießen und eine Bemerkung machen, wie saftig sie ist. Er würde sich bei mir bedanken und mich bitten, eine Portion für ihn aufzuheben, die er am nächsten Morgen essen wollte, und natürlich würde ich auch für Mom einen Teller zur Seite stellen. Nachdem wir uns satt gegessen hatten, würde er das Kaminfeuer anzünden und fragen, ob ich noch etwas aufbleiben und mit ihm über Kate reden wollte. Über Kate, die talentierte Sängerin, über ihre selbst verfassten Liedtexte, die so wunderschön klangen, wenn Cal die passende Musik dazu komponiert hatte. Wir würden darüber sprechen, dass niemand in ganz Plum Lake auch nur den Hauch einer Chance gegen Kate gehabt hatte, wenn es darum ging, quer durch den See zu schwimmen, und ich würde ihm sagen, dass sie die beste große Schwester und Freundin gewesen war, die man sich vorstellen konnte.

Aber das war blöd von mir.

Als Dad an jenem Abend nach Mitternacht ins Haus gestolpert kam, huschte ich schnell in die Küche und stellte seinen Teller in die Mikrowelle. Aber Dad taumelte zur Anrichte, zog den Aluminiumdeckel von Wölkchens Katzenfutter ab, strich die Fleischpampe mit dem Finger auf eine Scheibe Brot, klappte die Brothälften zusammen und biss hinein, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Ich sagte: »Hey, Dad. Du isst gerade Katzenfutter.«

Er riss mir den Teller Lasagne aus der Hand und schleuderte ihn gegen die Wand. Dad erinnert sich nicht mehr daran, und falls doch, dann erwähnt er es mit keinem Wort. Aber die Tomatensoße ist in die dünne eierschalenfarbene Küchenwand gesickert und hat einen hellrosa Fleck hinterlassen. Dieser Fleck beweist, dass Dad nicht mehr derselbe ist. Er ist zornig, aber aus den völlig falschen Gründen. Wenn ich jetzt in die Küche gehe und den lachsfarbenen Fleck an der Wand sehe, denke ich daran, wie sehr sich unsere Familie verändert hat. Und das macht mich wütend.

Seither setze ich Grenzen, aus reinem Selbstschutz. Wie Mom, als sie Grace weggeschickt hat. Wie Dad, als er Cals Dad verklagt hat. Und ich halte mich inzwischen beim Essen an meine Drei-Zutaten-Regel.

Wenn ich länger als geplant außerhalb meines Zimmers bin, weil ich mehr als drei Zutaten verrühren muss, wird die Luft stickig und schwer. Meine Brust wird eng. Im Freien, in der Schule, ja sogar in meinem Zimmer hinter verschlossener Tür habe ich dieses Problem nicht, meine Brust dehnt sich ganz normal bei jedem Atemzug. Aber dieses Haus erinnert mich immer an die, die ich liebe und verloren habe, und dieser Verlust presst meinen Brustkorb zusammen wie ein bleiernes Gewicht, er zerquetscht die Person, die ich einmal gewesen bin.

Seit Grace zu Dr. Nelson geht, ist unsere Katze Wölkchen die Einzige, um die ich mich noch kümmern muss. Aber selbst wenn ich sie nur füttere, drückt mich das Haus mit seinen Erinnerungen nieder. Grace spürt es auch. In der kurzen Zeit, die sie hier sein darf, sind ihre Augen leer und ihr Lebensmut schrumpft. Das liegt an dem Haus, es erstickt sie. Es fällt mir schwer, Grace nicht bei mir zu haben, aber ich bin doch froh, dass sie weg ist. Bei Dr. Nelson bekommt meine kleine Schwester die Aufmerksamkeit, die sie braucht. Dort ist sie sicher vor verletzenden Worten, die Stiche versetzen und Löcher in ihrem Herzen hinterlassen, die sie ein Leben lang nicht wieder loswird. Es ist besser, wenn nicht sie, sondern ich das Nadelkissen bin.