Buch
Rafik, der Puzzler, war ein Kind, bevor er sich in die größte Bedrohung seiner Welt verwandelte. Er gab seine körperliche Existenz auf, doch der Tod bedeutet für Rafik nicht das Ende. Dies gilt auch für den letzten Überlebenden der Gilde der Historiker: Funkelauge konnte Rafik im Kampf nicht besiegen, doch nun erhält er eine zweite Chance. Er kehrt von den Toten zurück und reist in die zwielichtige Stadt der Türme, wo schweres Geschütz und eine große Portion Glück vonnöten sein werden, um zu überleben. Denn Funkelauge wird verfolgt von seiner Vergangenheit, einem tödlichen Geheimnis und einem Mörder aus einer vergangenen Zeit.
Autor
Eyal Kless ist professioneller Violinist sowie Gründer und erste Geige des »Israel Haydn Quartet«, aber auch Autor phantastischer Geschichten. Nach Stationen in England und Irland lebt Kless in Tel Aviv und unterrichtet an der Buchman Mehta School of Music. Nachdem er einen musikalischen Thriller veröffentlichte, hat er mit den Romanen »Das schwarze Mal« und »Die schwarze Maske« der Puzzler-Reihe einen außergewöhnlichen Vorstoß in die Science-Fantasy gewagt.
Weitere Informationen unter: www.der-puzzler.de
Von Eyal Kless bereits erschienen
Das schwarze Mal
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Eyal Kless
Die schwarze
Maske
Roman
Deutsch von Maike Hallmann
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»The Puzzler’s War« bei Harper Voyager,
an Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Eyal Kless
Translated from the English language: The Puzzler Returns
First published by: Harper Voyager
By Arrangement with The Deborah Harris Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, München.
JA · Herstellung: MR
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26703-2
V001
www.penhaligon-verlag.de
Für Maayan und Ella
und das, was ihr mich über die Liebe gelehrt habt
Prolog
»Ist das dein Ernst? Das ist also dein Plan?«
»Es geht nicht anders.«
»Ich könnte alles verlieren. Ich könnte mich selbst verlieren.«
»Jean Pierre, es tut mir leid, du bist zu früh aufgewacht. Ich kann dich nicht extrahieren, nicht jetzt gleich. Du musst warten. Am besten schläfst du weiter.«
»Nein … ich kann nicht wieder zurück in die Leere. Bitte …«
»Dann geht es nicht anders.«
»Es muss doch eine andere Lösung geben.«
»Ich wurde entdeckt. Er hat Sucher auf mich angesetzt. Ich muss hier weg. Es geht nicht anders.«
»Nein, bitte geh nicht … nimm mich mit … bitte! Geh nicht … Vitor … hallo?«
Schmerz riss ihn aus der Dunkelheit. Ihm war zumute, als würden Tausende Nadeln zugleich durch seine Haut dringen, jeder Stich war wie eine elektrische Entladung geradewegs in sein Nervensystem. Er zuckte, zappelte. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei und füllte sich mit der zähen Flüssigkeit, die ihn von allen Seiten umgab. Er würgte und schlug in seiner Panik wild um sich, da berührte er etwas Weiches, Bewegliches. Ohne nachzudenken oder etwas zu sehen, versuchte er, es zu fassen zu bekommen, aber das Material war zu glatt und zu schlüpfrig. Panik fegte auch den letzten Rest Vernunft hinweg, und nur ganz am Rande registrierte er das seltsame Gefühl an seinen Fingern, als er noch einmal nach dem Etwas griff und spürte, wie es unter seiner Berührung zerriss. In welchem Behältnis auch immer er feststeckte, mit einem Mal neigte es sich zur Seite, und er wurde durch eine Art Metallröhre gespült. Er kugelte am anderen Ende hinaus und landete so hart, dass er sich Knie und Kiefer anschlug und eine Hand übel verdrehte. Der Schmerz war eine neue unangenehme Erfahrung, aber er war nur eine quälende Empfindung von vielen, die er alle zugleich erlitt. Keuchend erbrach er sich und versuchte, sich aufzurappeln oder wenigstens von seinem Erbrochenen wegzukriechen.
Ringsum nahm er eine Menge Bewegung wahr und auch Lärm, der ihm in den Ohren schmerzte. Andere Körper streiften ihn, jede Berührung war die reinste Folter. In der Luft hing ein eigenartiger Geruch, und überall hörte er unverständliches Zischen und Knurren. Als er zu sprechen versuchte, kam ein ganz ähnlicher Laut aus seiner eigenen Kehle: ein Zischen.
Er sah wirbelnde Farben. Blinzelte und schüttelte den Kopf – was er zu sehen bekam, war ebenso verzerrt wie rätselhaft. Er senkte den Kopf und schüttelte ihn noch einmal, so kräftig er sich nur traute, dann öffnete er erneut die Augen.
Das Erste, was er richtig in den Fokus bekam, war seine Hand. Aber es war keine richtige Hand. Vier Finger, raue Haut und Klauen. Er hatte Klauen. Während er sie noch entgeistert anstarrte, wurde ihm mit einem Mal klar, dass er sie ein wenig einziehen und ausfahren konnte. Sie ganz einzuziehen ging zwar nicht, aber er konnte den Winkel ändern und ein wenig auch die Länge. Es war ebenso eigenartig wie beängstigend, aber zugleich war es auch das erste Mal seit dem Erwachen, dass er über irgendetwas selbst bestimmte, und deshalb war es auch seltsam tröstlich.
Was ist mit mir passiert?
Dieser naheliegenden Frage folgte eine Flut vager, abstrakter Erinnerungen, mit denen er nichts anzufangen wusste. Er war irgendwo gefangen, er entkam. Es war ein gefährlicher, verrückter Plan, aber Professor Vitors Worte hallten in seinem verwirrten Verstand wider: Es geht nicht anders.
Wer bin ich?
Wieder streifte ihn ein anderer Körper, stieß ihn mit der Wucht seiner schieren Masse beiseite. Er wandte den Kopf, und sein Verstand drohte ihm zu entgleiten. Lange Schnauzen, gewaltige Hinterbeine, Reißzähne, olivgrüne Haut, Klauen, verdammte Schwänze … er war von Monstern umgeben. Instinktiv wich er zurück und stieß mit dem Rücken gegen etwas Kaltes, Hartes. Unter den Monstern waren einige Kämpfe im Gange, sie schlugen nacheinander und bissen zu, schrien vor Schmerz und Wut, aber die meisten sahen nur zu, und ihm schenkte niemand auch nur die leiseste Beachtung. Ihm ging auf, dass seine Klauen noch immer ganz ausgefahren waren, bereit, jeden möglichen Angreifer in Stücke zu reißen, und beim Anblick der ringsum tobenden Kämpfe spürte er unvertraute Angriffslust in sich aufsteigen. Er wollte nicht nur einfach seine eigene Haut verteidigen, er wollte töten, und er spürte, wie sich seine Muskeln spannten, als plötzlich das Wissen seinen Verstand erfüllte, wie man tötete. Er atmete tief durch, versuchte, diese Impulse in den Griff zu bekommen, und ließ schließlich die Arme sinken.
Wie lange er so dagestanden hatte? Er wusste es nicht. Mit einem Mal erfüllte ein süßer, verlockender Geruch die Luft und lenkte ihn ab. Die Kämpfe kamen zum Erliegen, und die Wesen ringsum bewegten die Köpfe, als würden sie einen Albtraum abschütteln. Runde Stahltüren, die ihm bis zu diesem Moment nicht aufgefallen waren, schoben sich zur Seite, dahinter lag ein langer Tunnel. Er versuchte, darüber nachzudenken, sich einen Reim darauf zu machen, aber irgendetwas brachte seine Gedanken durcheinander. In seinem Verstand erklang ein Zischen, wurde lauter. Es war kein natürliches Geräusch, aber trotzdem verlockend. Eins der Wesen setzte sich langsam in Bewegung, Richtung Tunnel. Einer nach dem anderen folgte, schließlich auch er selbst. Zuerst machte er noch zögerliche Schritte auf den starken Hinterbeinen, aber in ihm wuchs der Drang, sich schneller zu bewegen, und da ließ er sich auf alle viere fallen, wie ein Tier.
Was bin ich?
Aus dem Dahintrotten wurde ein Rennen, und kurz darauf rasten sie wie verrückt durch das Dämmerlicht dahin, einer jagte dem anderen hinterher. Er war schnell, viel schneller als je zuvor, rannte viel schneller, als ein Mensch es je vermocht hätte. Seine eigene Geschwindigkeit berauschte ihn.
Sie schossen ins Licht hinaus, und als sich die heißen Sonnenstrahlen in seine Haut brannten, verspürte er angenehmen Schmerz. Noch immer war da jener Sog in seinem Verstand, aber er widersetzte sich ihm und zwang sich anzuhalten. Richtete sich auf, während die anderen an ihm vorbeihetzten. Sah Gebäude, viele Gebäude, sie erstreckten sich bis zum Horizont, tiefschwarz gegen den rötlich gelben Sand. Die Luft war heiß und trocken, jeder Atemzug brannte in seiner Kehle, aber er achtete nicht darauf. Seine Umgebung kam ihm vage vertraut vor.
Wo bin ich?
Im hellen Sonnenlicht sah er sogar noch missgestalteter und abstoßender aus. Und geschlechtslos, soweit er es erkennen konnte. Er nahm es gleichmütig hin. Es war einfach zu viel in einer sehr kurzen Zeitspanne geschehen, um jetzt wegen fehlender Genitalien in Panik zu geraten.
Der Sog in seinem Verstand war noch immer da, aber direkt dahinter lag noch etwas anderes, eine andere Stimme, ein Flüstern. Er sah den Letzten der anderen zwischen den Gebäuden verschwinden und machte sogar einige Schritte in dieselbe Richtung. Aber nein. Da war noch etwas anderes.
Er zwang sich zum Anhalten, richtete sich auf und konzentrierte sich, bis das Zischen verklang und mit ihm auch der Drang, seinen Ursprung zu finden. Stattdessen wurde ein anderes Geräusch deutlicher. Und dieses Geräusch hatte Klang und Bedeutung.
Intelligenz.
Es wurde lauter. Vibrierte in seinem Schädel, kreiste durch seinen Körper. Dann verwandelte es sich in einen Satz, der in seinem Verstand widerhallte.
»Komm zu mir.«
Kurz zögerte er. In ihm brannte der Drang, zwischen den Gebäuden entlangzujagen und sich ihnen anzuschließen, den … seinen? Wie rasch hatte er sich diesen Monstern verbunden gefühlt? Wie schnell würde er sich wohl vollständig in eins von ihnen verwandeln? Vielleicht sollte er …
»Komm zu mir, bitte.« Es war eine helle Stimme, die Stimme eines Kinds an der Schwelle zur jungen Frau, aber sie klang zutiefst eindringlich.
»Komm zu mir.« Vor seinem geistigen Auge entstand ein Bild. Rote Locken, graue Augen … im Hintergrund sah er eine Bergkette mit weißen Gipfeln. Der Drang, diese neue Richtung einzuschlagen, wurde zu einem fast schmerzhaften Ziehen in seinen Eingeweiden.
Er drehte sich um und lief los, in die genau entgegengesetzte Richtung, die seine Gefährten eingeschlagen hatten. Zuerst langsam und auf zwei Beinen, aber schon bald ließ er sich auf alle viere nieder und nahm Tempo auf. Warum nicht nutzen, was dieser monströse Körper ihm an Möglichkeiten bot?
Er folgte der Stimme.
»Meister.«
Der alte Mann ließ sich Zeit, ehe er von den Bildschirmen aufblickte. Der Soldat, sein Soldat, stand angespannt in Habachtstellung vor ihm. Meister, König, Gott – seit wann kamen ihm all diese Anreden eigentlich so normal vor? Seit Ewigkeiten. Aber verlangt hatte er nie, dass man ihn so nannte. Es war einfach so geschehen, erst hatte sein Team ihn ganz von allein so genannt, dann seine Armee und jetzt sein Volk, seine Herde aus lauter mörderischen Schafen.
»Meister …« Der Soldat wirkte zögerlich.
Die Kopfschmerzen waren wieder da. Das leise Pochen, das jenen Schmerz ankündigte, an den er sich auch nach all den Jahren nie hatte gewöhnen können. Er widerstand dem nutzlosen Impuls, sich die Schläfen zu massieren. Stattdessen bedachte er den Soldaten mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln, und sobald sich ihre Blicke begegneten, platzte der Soldat sofort nervös mit seinem Anliegen heraus.
»Sie versammeln sich draußen, Meister, um die hundert Leute aus dem Dorf im Osten.«
»Ich weiß«, antwortete er langsam. »Und es sind einundsiebzig, um präzise zu sein.« Natürlich wusste er es. Die Bildschirme auf seinem Tisch waren zum Leben erwacht, sobald die Menschenmenge auf dem Gelände aufgetaucht war, und sogar die einfache KI, die er installiert hatte, vermochte zu zählen.
Er sah zu, wie sie sich versammelten, umringt von Wachen. Sie waren durch und durch seine Leute, in jeder Hinsicht, und nicht zum ersten Mal wunderte er sich darüber, wie verrückt sich Menschen aufführten.
Ja, er beschützte sie, half ihnen hin und wieder oder versorgte sie mit Nahrung, aber es kam immer wieder der Zeitpunkt, da er sich von ihnen nähren musste. Und doch kamen sie zu ihm, primitive Geschenke in den Händen statt Fackeln und Mistgabeln. Manchmal richteten sie Bitten an ihn, manchmal brachten sie ihm der Jahreszeit entsprechende Gaben dar oder Versprechungen. Diesmal waren sie gekommen, um Zeugen eines Wunders zu werden.
»Es ist ja nur, weil der Captain sagte, dass sich ein Sturm zusammenbraut, und …«
»Ich weiß über den Sturm Bescheid«, unterbrach er den Soldaten und erhob sich langsam, verbarg mit einer Hand die schmerzerfüllte Grimasse, zu der sich selbst bei dieser schlichten Bewegung sein Gesicht verzerrte. Die Kopfschmerzen waren am schlimmsten, aber seit einigen Monaten litt er bei jeder Bewegung Schmerzen am ganzen Leib. Norma versuchte, ihn zu behandeln, verabreichte ihm Medikamente, aber es half immer nur kurz und machte ihn schwach und verwirrte seinen Verstand. Nicht unbedingt der Geisteszustand, in dem er vor die Menschen treten wollte, zu deren Anführer er sich gemacht hatte. Statt sich selbst mit Drogen ins Jenseits zu befördern, hatte er einfach gelernt, es hinzunehmen; der Schmerz war nun Teil seines Lebens. Er zog sogar eine Art masochistischer Befriedigung daraus. Wie war noch gleich der Name des alten Manns aus den Legenden seines Volks? Methusalem, ja, richtig. Nun, der Schmerz war ein Beweis dafür, dass er noch immer am Leben war, noch immer menschlich. Zumindest ein wenig.
Der Soldat glitt geschickt beiseite und trat hinter ihn, während er langsam ins Nebenzimmer ging, wo mehrere seiner Wissenschaftler arbeiteten – wenn man sie denn so bezeichnen wollte. Als er hereinkam, richtete sich sofort ihre geballte Aufmerksamkeit auf ihn. Radovitch kam auf ihn zu und verneigte sich. Ja, verdammt, er verneigte sich, und als er sich wieder aufrichtete, strich er mit einer fetten Hand das dünne, strähnige Haar über die schimmernde kahle Stelle auf seinem Schädel.
»Bericht.«
»Ein Sturm zieht auf.«
Am liebsten hätte er den Mann geohrfeigt. Es war kaum zu fassen, dass er Radovitch mitgenommen hatte, den ganzen langen Weg vom alten Kontinent bis hierher. Es war schmerzlich offenkundig, dass das Potenzial, das er in dem jungen Radovitch einst gesehen hatte, nicht zur vollen Blüte gelangt war. »Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß. Ist die Sternensäule bereit?«
Radovitch zögerte, kratzte sich am kahl werdenden Schädel. »Ein paar weitere Sonnentage würden die Hilfsgeneratoren sehr entlasten.«
»Der Sturm wird Tage anhalten, vielleicht sogar Wochen. Ich gehe heute rüber und lasse die nächste Sequenz durchlaufen. Sag den Wachen Bescheid, damit sie wissen, dass ich komme.«
Kurz schien Radovitch ihm widersprechen zu wollen, überlegte es sich aber noch einmal anders. Gut für ihn. Er wird immer nachlässiger, was es wahrscheinlicher macht, dass ihm Fehler unterlaufen. Und ich könnte eine neue Lunge wirklich gut gebrauchen.
»Was ist mit der Angelegenheit, über die wir uns unterhalten haben?«
Radovitch sah aus, als wüsste er nicht, wovon er redete. Japp, definitiv eine neue Lunge. Ich weiß ja, dass sie zu meinem Körper passen, was der zweite Grund dafür ist, dass du noch immer am Leben bist.
Plötzlich erinnerte sich der Mann, und sein Blick hellte sich sichtlich auf. Vorsichtshalber wechselte er zu seiner Muttersprache, die man auf dem alten Kontinent sprach. »Ah, ja, natürlich. Wir konnten eine Agentin ausfindig machen, aber die Verbindung ist schwach.«
»Umso besser, dann entdeckt man uns nicht so leicht. Weißt du, wer diese Agentin ist?«
»Nein, aber wir hatten Glück. Der Seriennummer nach zu urteilen ist sie schon alt und von hohem Rang – aber sagen wir es mal so: Sie war tief vergraben. Ich bin fast sicher, dass wir sie rausholen können, ohne dass irgendwer es merkt.«
»Fast sicher?«
»Ich habe einen Notbunker mit sehr schwacher Energiesignatur gefunden«, sagte Radovitch unsicher. »Selbst wenn die ihr Verschwinden bemerken, haben sie keine Ahnung, wo sie geblieben ist.«
»Na schön.« Dann darfst du noch ein bisschen länger leben. »Ich werde eine Weile unterwegs sein. Ich will, dass sie geweckt wird, ehe ich zum Knoten aufbreche, aber falls ich in einer Woche noch nicht wieder da bin, leitet ihr die Traumsequenz ein. Das war das Standardvorgehen bei den Tarakanischen Schläfern.« Soweit ich weiß jedenfalls. Den letzten Gedanken sprach er nicht laut aus – er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass niemand einem Anführer folgen wollte, der freimütig solche Schwächen eingestand.
Radovitch nickte.
»Das ist sehr wichtig, Radovitch.« Nur mit Rücksicht auf seine körperliche Schwäche verzichtete er darauf, den Mann am Jackenkragen zu packen. »Ich muss diesen Puzzler haben, und das hier ist seit einem Jahr unsere erste und einzige Spur. Ab sofort hat diese Angelegenheit für dich oberste Priorität. Ich setze auch Sergiu darauf an.«
»Ja, Meister.« Bei der Erwähnung dieses Namens verzog Radovitch das Gesicht. Die gegenseitige Abneigung zwischen den beiden Männern war mindestens so stark wie ihre Loyalität zu ihm. Mit einer knappen Handbewegung entließ er ihn, und Radovitch verneigte sich steif erneut und ging zurück an seinen Posten.
Möge die Vorstellung beginnen.
Als er die Tür nach draußen erreichte, hatten sich schon sechs Soldaten um ihn gruppiert, alle in ordnungsgemäßen Schutzanzügen mitsamt Masken. Als sich einer der Soldaten mit dem schweren Rad abmühte, das die verschlossene Tür öffnete, erhaschte er einen kurzen Blick auf sein eigenes Spiegelbild. Sein Körper war von Alter, Krieg, Strahlung und zahllosen Operationen so übel zugerichtet, dass er wie ein Monster aussah, knorrig, voller Narben und Falten wie eine uralte kranke Eiche.
Oh, Professor Vitor. Wenn Sie mich jetzt sehen könnten … würden Sie mich wiedererkennen, Ihren früheren Schüler, Ihren Kollegen, Ihren apokalyptischen Engel?
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er heute in einem besseren Zustand wäre, wenn er sich damals den Erwartungen gebeugt und seinen Körper gegen ein neueres Modell ausgewechselt hätte, ehe die Katastrophe zuschlug. Und wie jedes Mal tröstete er sich damit, dass es vermutlich keinen großen Unterschied bedeutet hätte. Vielleicht hätte er mehr von seinen ursprünglichen Organen behalten können oder weniger Haut von anderen Menschen auftragen müssen, aber früher oder später geht nun einmal alles vor die Hunde und stirbt. Und außerdem war sein körperlicher Zustand verglichen mit dem, was mit seiner Seele geschehen war, ohnehin nur die Spitze des Eisbergs.
Die vorderste Wache öffnete ihnen die Außenluke. Wie gewöhnlich machte er sich nicht die Mühe, Strahlenschutzkleidung anzulegen. Sich nicht mit dem Anzug herumschlagen zu müssen war ihm die häufigeren Strahlenbehandlungen wert, und zudem trug es eindeutig zu seinem Ruhm bei. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Nichts.
Auch die draußen versammelte Menschenmenge steckte in echter oder vermeintlicher Schutzkleidung. Einige hatten sich in Alufolie oder altes Plastik gewickelt, hier und da trug sogar jemand eine uralte Gasmaske. In gewisser Weise war es ganz schön lustig.
Nach all den Jahren war der radioaktive Fallout hier in der Gegend nicht mehr so schlimm wie einst, und das Gleiche galt für die Bodenbelastung, aber trotzdem wurden noch immer viele tote oder entstellte Babys geboren. Die Menschen hatten sich angepasst, aber ohne ihn, ihren Wunderwirker, ihren Herrn, läge die durchschnittliche Lebenserwartung dennoch in den unteren Dreißigern.
Er schritt auf sie zu. Hinter ihm ragte in all ihrer gewaltigen Pracht die Sternensäule auf. Das machte sich gut. Das letzte verbliebene Wunder dieser Welt, die größte Errungenschaft der Menschheit, die aus der grauen Staubwolke emporragte und die Nächte erhellte; den Menschen Hoffnung machte, aber auch Angst.
Angst ist besser als Hoffnung.
Als er vor sie trat, verneigten sie sich tief, manche knieten sogar nieder. Es gab eine Zeremonie. Es gab immer eine verdammte Zeremonie, und natürlich brachten sie ihm Opfer dar: eigenhändig angebautes Gemüse, eine kränkliche Ziege und mehrere Gallonen mit aufbereitetem Wasser. Er hoffte, dass der Leutnant, der die Geschenke an seiner statt entgegennahm, nicht vergaß, dass alles gründlich dekontaminiert werden musste, auch die Ziege, damit sie nicht noch mehr Leute verloren.
Als die Zeremonie vorüber war, teilte sich die Menge, um ein Paar durchzulassen. Die beiden waren angespannt, so wie es sein sollte, und in den Augen der Frau standen Angst und Kummer. Ihr Mann sah aus, als hätte er sich in Jauche gewälzt, und roch vermutlich entsprechend. Ein Bauer also. Auch er zitterte sichtlich, als er dem Leutnant ein Bündel überreichte: Eine tragbare Wiege, eingewickelt in halb durchsichtiges Plastik. Es war ein Wunder, dass das Baby darin nicht erstickte. Es war ein Mädchen.
Der Leutnant scannte die Eltern und das Baby mit einem Handgerät, dann wickelte er vorsichtig die Plastikfolie ab, nahm das Baby heraus und brachte es zu seinem Meister.
Er nahm das Kind entgegen. Es lag schlaff in seinen Armen, vermutlich litt es unter Mangelernährung und schwerer Strahlenbelastung. Es war ein Wunder, dass die kleine Kämpferin überhaupt noch am Leben war.
Er war der Einzige, der sich zum Gehen wandte. Es war ja nicht nötig, dass er dem Dekontaminierungsprocedere seiner Wachen beiwohnte. Hinter der Tür warteten Dienna und die anderen bereits auf ihn. Sie nahm ihm das Baby ab und eilte damit zur Krankenstation. Er folgte ihr in würdevollem Tempo. Niemals rennen. Nicht dass ich es überhaupt noch könnte.
»Hallo, Norma«, sagte er, als er die Krankenstation erreichte. »Bericht, aber nur an mich.«
Nach so vielen Jahren klang die Stimme der KI so brüchig und verzerrt, dass es unangenehm war, ihr zu lauschen, vor allem dann, wenn sie direkt in seinem Kopf erklang. Ihre Stimm-Subroutinen gehörten dringend mal komplett neu aufgesetzt, aber niemand in seinem Team besaß dafür die notwendigen Fähigkeiten, und er selbst hatte weder die Zeit noch die Geduld für eine derart frickelige Operation. Außerdem erinnerte ihn der verzerrte Klang daran, dass ihm die Zeit davonlief. Alles fiel auseinander. Er fiel auseinander. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihn die Kräfte der Entropie niederstreckten. Es war an der Zeit für einen weiteren kühnen Schritt. Er plante einen großen Abgang.
Die Werte des kleinen Mädchens waren schlecht, aber nicht haarsträubend. Gut möglich, dass es am Leben blieb – oder zumindest den bevorstehenden Prozess überlebte, was ja das Wichtigste war.
»Fang mit den Strahlungsspülungen und der Zellerneuerung an«, wies er die KI an. Die anderen waren bereits hinausgeschlurft und hatten ihn allein gelassen. Als Norma seine Stimme hörte, antwortete sie ebenfalls laut.
»Ich darf Sie daran erinnern, dass es sich um ein kostspieliges Procedere handelt, und angesichts unserer begrenzten Ressourcen und der Überlebenschancen des Babys …«
»Fang an.« Das Schöne an Norma war, dass sie inzwischen nicht mehr wütend wurde, wenn er sie mitten im Satz unterbrach, vor allem, seit er gewisse Änderungen in ihrem Programmcode vorgenommen hatte. Das Baby durch die Dekontamination zu schicken bedeutete, dass einer seiner Soldaten auf die monatliche Strahlenbehandlung verzichten musste, aber im Ergebnis würde es sich auszahlen. Hoffte er.
»Nimm auch eine DNA-Probe«, sagte er, als die Maschinen ringsum anfingen zu summen. Der Prozess verschlang eine Menge Energie und war immer ausgesprochen kostspielig, das fing schon bei den Scans an. Inzwischen war er vollkommen weggetreten, blind für den Rest der Welt. Er betete, dass die Kühlung nicht versagte – es wäre ein höllisches Desaster, wenn mittendrin die Energiezufuhr ausfiel, so wie vor zwei Jahren.
»Ich darf Sie daran erinnern, dass unsere Speicherkapazitäten zu dreiundneunzig Prozent ausgelastet sind.« Diesmal klang Norma deutlich schärfer und kälter als zuvor. »Das wären zusätzliche null Komma sechs acht Prozent, was ein hohes Risiko mit sich bringt, dass …«
Er sah auf das bewusstlose Baby hinunter, und Normas Stimme wurde zu einem bloßen Hintergrundrauschen. So lange hatte er nicht mehr an Deborah gedacht, aber jetzt, da die Erinnerung wieder emporstieg, war ihm zumute, als träfe ihn ein Hammerschlag mitten vor die Brust. Früher hatte er einige ihrer überschwänglichen Sprachnachrichten und ein paar Aufnahmen von ihr beim Springreiten in seinem Hirnspeicher gehabt, aber sie waren nun schon so lange ausgelöscht, dass er nicht einmal ganz sicher war, dass das Gesicht, das er vor seinem geistigen Auge sah, wirklich das seiner Tochter war. Das machte ihn wütend.
»Wie steht es um ihre genetische Diversität?« Er achtete darauf, dass man seiner Stimme nichts anhörte.
Eine Pause entstand. Es war ein Anzeichen für Normas fortschreitenden Verfall, dass sie eine Weile brauchte, um die Antwort zu berechnen.
Ja, die Entropie ist ein Miststück.
»Sieben Komma zwei«, antwortete das empfindungsfähige Programm endlich.
Er traf eine Entscheidung. »Nimm ihre DNA und wirf dafür eine Probe von sieben oder weniger aus. Hast du die Eltern schon analysiert?«
»Natürlich habe ich das.«
Fand Norma seine Bemerkungen kränkend? Es war ihm schon lange gleichgültig, ob er durch das, was er tat oder sagte, irgendwen verletzte, aber irgendetwas an diesem Baby erweckte eine lang verlorene Empfindsamkeit in ihm wieder zum Leben. Das gefiel ihm gar nicht.
»Welcher Elternteil ist besser kompatibel?«
»Beide könnten funktionierende Organe spenden.«
Das war keine große Überraschung, sein ganzes Volk war bis zu einem gewissen Grad kompatibel; dafür hatte er Sorge getragen.
»Die Frau«, fuhr Norma fort, »ist in erheblich besserer Verfassung als der Mann und hat eine um siebzehn Prozent höhere Chance, einen medizinischen Eingriff zu überleben. Vorausgesetzt, dass Sie keine lebenswichtigen Organe entnehmen, versteht sich.«
Ach, die gute alte Zeit, als man benötigte Organe einfach im Labor züchten konnte. Heutzutage musste er dafür seine Herde dezimieren.
»Wie ist mein Zustand?«
Diesmal gab es keine Pause. Norma behielt seine Werte stets im Blick.
»Sie sind derzeit zu dreiundsiebzig Prozent funktionstüchtig.«
Dreiundsiebzig? Um ehrlich zu sein, fühlte es sich nach weniger an. Einmal war er bei siebenundvierzig gewesen, die reinste Hölle; danach war er noch monatelang am Stock gegangen. Nie wieder.
Er wandte sich wieder der Gegenwart und den anstehenden Entscheidungen zu. Die Mutter zu töten würde das Kind zum sicheren Tod verurteilen, das wusste er, aber selbst wenn die Strahlenbehandlung erfolgreich war, wäre es ein Wunder, wenn das Kind lange genug lebte, um das Erwachsenenalter zu erreichen.
Während die Prozedur weiterlief, grübelte er, was er tun sollte. Als die Behandlung durch war, verabreichte er dem Baby per Injektion einen Booster und Impfstoffe. Angesichts ihres schlechten Zustands nicht die gesündeste Mischung, aber es würde reichen müssen.
Ihre Haut war noch immer blass, hatte aber nicht mehr die fiebrige gelbliche Färbung wie zuvor, und sie atmete eindeutig weniger flach. Sie wachte nicht auf, als er sie auf den Arm nahm. Selbst nach all den Jahren schnupperte er unwillkürlich an ihrem Kopf, ein ganz nutzloses Unterfangen, denn seinen Geruchssinn hatte er schon vor Ewigkeiten verloren.
Deborah …
Es gab ein Sprichwort in einer der alten Religionen – aus welcher genau es stammte, wusste er nicht: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Selbst wenn das stimmte, standen die Zahlen nicht zu seinen Gunsten.
Als er wieder unter freien Himmel trat, war die Sonne bereits untergegangen, und die Wolken waren schwer von kontaminiertem Regen. Der versammelten Menschenmenge stand ein langer, nasser Heimweg bevor. Sie würden nicht warten, um dem zweiten Teil der Zeremonie beizuwohnen. Der Teil, bei dem der Preis fällig wurde.
Er zwickte das Baby, und es erwachte und gab ein erschrockenes gesundes Protestgeheul von sich. Das entlockte der wartenden Menge Jubelschreie, und sobald sie ihn erblickten, knieten sie alle vor ihm nieder. Und so begründet sich eine weitere Legende, ein weiteres Wunder. Eine Geschichte, die von Familie zu Familie weitergetragen wird und von Dorf zu Dorf, die man sich wieder und wieder erzählen wird in diesen kalten, trockenen Nächten. Mit jeder Version wird meine Rolle darin größer, und der Preis wird immer kleiner, bis man ihn ganz vergisst. Eine Nahaufnahme der menschlichen Natur.
Die Mutter des Babys erhob sich und nahm ihre Tochter entgegen. Sie weinte vor Dankbarkeit und Erleichterung.
»Nimm die hier.« Er drückte ihr die eingewickelten Tabletten in die Hand. »Lös immer eine davon in etwas kochendem Wasser auf, lass es abkühlen und flöß es ihr nach dem Trinken ein. Eine Woche lang, zweimal am Tag.«
Sie wagte nicht, ihn anzusehen, aber sie nickte, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Ihr Mann kam ebenfalls nach vorn und blieb neben ihr stehen. Jetzt war offensichtlich, wer den Preis bezahlen würde, und er war blass und zitterte sichtlich. Trotzdem küsste er seine Tochter auf die Stirn und legte seiner Frau kurz eine Hand auf die Schulter. Die Menge wurde still und ernst, aber sie akzeptierten den Tauschhandel. Es muss ein Preis gezahlt werden, so lautete die Regel. Wenigstens leistete der Bauer keinen Widerstand. Er ließ sich von den Soldaten fortbringen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Wenn er den Mann zum nächsten Mal sah, wäre er auf der Krankenstation mit Gurten an eine Liege geschnallt. Das war der Augenblick, in dem die meisten von ihnen ihr Versprechen vergaßen und um Gnade flehten.
Hoffen wir um deiner Frau und deiner Tochter willen, dass du überlebst. Aber ich brauche allermindestens eine neue Niere.
Er wandte sich ab, aber wie immer veranlasste ihn der Anblick der Sternensäule, die über der Militärbasis aufragte, zum staunenden Innehalten. Zwar war sie mehrere Fahrstunden weit entfernt, aber diese größte Leistung Tarakans, ein wahres Weltwunder, war so gewaltig, dass es ihm vorkam, als stünde er direkt darunter.
Dort hat alles angefangen. Ich nehme an, dort wird es auch enden.
Als er dastand, tief in Erinnerungen versunken, erhob sich aus der hinter ihm stehenden Menge ein Ruf. Zunächst nur ein Flüstern, doch rasch schwoll es zu einem dröhnenden Crescendo an. Sie riefen seinen Namen, voller Dankbarkeit, Ehrfurcht und Gehorsam.
Sein Name war Mannes.