Die definitive Biografie
Andy Warhol ist der bekannteste Künstler der Pop-Art. Seine knallbunten Bildserien von Suppendosen, Bananen oder Hollywood-Stars wie Marilyn Monroe sind bis heute stilprägend, die Gemeinde aus Musen, Celebritys, Drag Queens und Intellektuellen, mit denen er sich in seiner New Yorker »Factory« umgab, ist legendär. In seiner monumentalen Biografie taucht Blake Gopnik tief in das Leben dieser ebenso radikalen wie rätselhaften Kunstfigur ein. Eindrucksvoll zeigt er, wie Warhol nicht nur in seinem Werk die Trennung zwischen Kunst und Leben auflöste und dadurch die Kunstwelt ebenso nachhaltig faszinierte wie revolutionierte. Eine akribisch recherchierte und umfassende Biografie einer der schillerndsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Mit zahlreichen Abbildungen.
Blake Gopnik, Jahrgang 1963, zählt zu den führenden Kunstkritikern Nordamerikas. Nach seiner Promotion in Kunstgeschichte in Oxford schrieb er für »Newsweek« über Bildende Kunst und Design, bei der »Washington Post« und der kanadischen »Globe and Mail« war er Ressortleiter für Kunst. 2015 war er Fellow am Leon Levy Center for Biography an der City University of New York, 2017 dann Cullman Center Fellow in residence an der New York Public Library. Er schreibt regelmäßig in der »New York Times«.
»Ein monumentales Porträt des Superstars.« The Telegraph
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Blake Gopnik
Warhol
Ein Leben
als Kunst
Die
Biografie
Aus dem Amerikanischen von Marlene Fleißig, Hans Freundl, Ursula Held, Hans-Peter Remmler, Dr. Andreas Thomsen und Violeta Topalova
C. Bertelsmann
Für Lucy Hogg,
ohne die es dieses Buch – und seinen Autor – kaum geben würde.
Und zum Gedenken an Matt Wrbican,
eine menschliche Fundgrube für alles Warholianische.
Für ihn hätte dieses Buch vor allem noch … länger sein sollen.
INHALT
VORSPIEL: TOD
1 (1928–1934)
Geburt | Pittsburgh | Die Karpato-Ruthenen | Kirche und Glaube
2 (1934–1945)
Familienleben | Schule | Krankheit | Carnegie Institute | Schenley High School | Auf dem Weg zum College
3 (1945–1947)
Kunststudium am Carnegie Tech | Kommilitonen und Dozenten | Ein Quantum Scheitern | Schaufensterdekorationen | Homosexuelles Leben und seine Gefahren | Künstlerische Vorbilder
4 (1947–1949)
Dada und Filmkunst am Tech | Die Outlines Gallery und die Avantgarde | Der Starstudent | Die Ursprünge der »Blotted Line« | New Yorker Horizonte
5 (1949)
Erste Bleiben und Verträge in New York | Modemagazine und Plattencover
6 (1949–1951)
Franziska Boas und das Künstlerleben | Eine Kommune armer Künstler | Tommy Jackson und ein erster Flirt | Eigene Wohnung und Auftragsjagd
7 (1951–1952)
Neuer Luxus | Otto Fenn | Besessen von Capote | Julia Warholas Ankunft | Kommerzieller Erfolg | Skurrile Gedichtbände
8 (1952–1954)
Die Hugo Gallery und eine Hommage an Capote | Lower Lexington | Die Katzen | Der erste Freund | Das erste Toupet
9 (1954–1955)
Das Serendipity | Ausmalpartys | Camp | The Loft Gallery
10 (1955–1956)
Schaufenster | Schuhe, Schuhe, Schuhe | Nathan Gluck macht mit | Die Bodley Gallery
11 (1956–1959)
Freigiebigkeit | Charles Lisanby | Weltreise | Kaufsucht | Edward Wallowitch | Ray Johnson | The Foot Book | Silberne Theaterkulissen | 1000 Names and Where to Drop Them
12 (1960–1961)
Das neue Stadthaus | Krankheit | Kunstsammeln | Die Judson-Memorial-Church | Emile de Antonio | Bedrohung durch die Fotografie | Boom am Kunstmarkt
13 (1961)
Schaufensterdekor wird zu Pop-Art | Yves Klein | Ivan Karp und Henry Geldzahler besuchen das Atelier
14 (1961–1962)
Jugendkultur | Falsche Unschuld | Kritische Rezeption der Pop-Art
15 (1962)
Warhol, ein »Neues Talent« | Suche nach einer Galerie | Geld malen | Suppendosen in Los Angeles | Martha Jackson sagt eine Ausstellung ab | Die Stable Gallery tritt auf den Plan
16 (1962)
Die Geburt des Siebdrucks | Liz Taylor und Baseball | »New Realists« und die Erschaffung des Pop | Marilyn in der Stable Gallery
17 (1963)
Die Feuerwache | Death and Disasters | Theaterkostüme | Fotoautomatenporträts | Ein Porträt von Ethel Scull | Mona Lisa
18 (1963)
Gerard Malanga beginnt mit der Arbeit | Downtown-Dichter | Amphetamine | Downtown-Filmemacher | Amateurfilme mit Jack Smith in Old Lyme | John Giorno in Sleep | Kiss | The Put-On
19 (1963)
Elvis und Liz Taylor in Los Angeles | Die Fahrt nach L.A. | Aufnahme in Hollywood und Marcel Duchamp | Taylor Mead und Naomi Levine in Tarzan | Trauer um J.F.K. | Jackie | Haircut
20 (1964)
Die Entdeckung der Factory | Screen Tests / Billy Name | Die Factory in Silber | Boxen in der Stable Gallery
21 (1964)
Die erste Factory-Party | Most Wanted Men für die Weltausstellung | Eine anzügliche Couch und Blow Job | Das Empire State Building unter Beobachtung | Flowers
22 (1964)
Von Eleanor Ward zu Leo Castelli | Stabiles Einkommen | Baby Jane Holzer, Girl of the Year | Soap Opera | Pop-Art wird Mainstream
23 (1965)
Ein Anti-Weihnachtsbaum | Filmpreise | Speed Freaks | Henry Geldzahler raucht eine Zigarre | Philip Fagan, der erste Liebhaber, mit dem Warhol auch zusammenlebte | 30 Filme in einem Jahr | Der Film und der Tod der Malerei
24 (1965)
Edie Sedgwick | Mit Freunden nach Paris | Superstars | Andy und Edie im Partnerlook | Das Streifenhemd | Der Anfang der Videokunst: Outer and Inner Space | Warhol-Fanclubs | Endlich berühmt
25 (1965)
Rivalitäten in der Factory | Neuzugänge: Paul Morrissey, Brigid Berlin, Bibbe Hansen | Zu viel Party | My Hustler | Danny Williams zieht ein und wieder aus
26 (1965)
Andymanie in Philadelphias ICA | Warhol formt sich seine Persönlichkeit
27 (1966)
The Velvet Underground | Psycho-Dinner | Ingrid Superstar löst Edie ab
28 (1966)
The Exploding Plastic Inevitable | Neue Warholianer: Mary Woronov, Susan Bottomly, Susan Pile | Das Ende der Werbegrafik | Geldsorgen und Hoffnungen | Ein Velvet-Underground-Album
29 (1966)
Silver Clouds und Kuhtapete | Julia Warhola kränkelnd zu Hause | Richard Rheem zieht ein und wieder aus
30 (1966)
Die Kunst der Wiederholung | Ein Porträt von Holly Solomon | Kühe und Wolken im ganzen Land | Eine Bostoner Retrospektive | Die Velvets auf Tour | »You’re In«-Parfüm | Jane Heir, der gescheiterte Spielfilm | Die Geburt der Chelsea Girls
31 (1967)
Max’s Kansas City | Nacktes Fleisch im Film: Bike Boy und Nude Restaurant | Bröckelnde Factory | Rod la Rod | The Andy Warhol Story | Russisches Roulette der Superstars
32 (1967)
Sackgassen-Kunst | Drucke als neue Einkommensquelle | The Chelsea Girls im ganzen Land und in Cannes | Thirteen Most Wanted Men in Paris | Ende der Velvets
33 (1967)
Four Stars – 25 Stunden Film | A: A Novel – 24 Stunden Gespräch | Andy Warhol’s Index (Book) | Vorgetäuschte Vortragsreisen | Gerard Malangas Ausstieg | Die Silver Factory schließt
34 (1968)
Ein neues Studio am Union Square | Lonesome Cowboys in Arizona | Aus Chaos wird Ordnung | Die Überbleibsel der Factory-Clique | Der feine Fred Hughes | Eine Ausstellung in Schweden
35 (1968)
Valerie Solanas | Scum Manifesto | I, a Man | Der Anschlag | Das Krankenhaus | Die Verhaftung
36 (1968)
Genesung | Security im Studio | Midnight Cowboy | Solanas und die Feministinnen | Flesh und das Filmgeschäft | Neue (SUPER-)STARS: Joe Dallesandro und das Transgender-Trio
37 (1968)
Zurück aus dem Krankenhaus | Bearbeitung von Lonesome Cowboys | Hundert glückliche Rockefeller | Mit Julia geht es abwärts | Jed Johnson zieht ein | Wieder im Sattel, aber noch angeschlagen | Pat Hackett, die ideale Ghostwriterin | Krankenhausrechnungen, Klagen und ungedeckte Schecks | Profitable Porträts
38 (1968–1969)
Fuck, ein Blue Movie | Vorstöße in die Konzeptkunst: Staubsauger und Superstars zum Mieten | Raid The Icebox und das Museum als Kunst | Treibende Stühle und Regenmaschinen | Video-Abenteuer | Ein Eisbecher für Schrafft’s
39 (1969)
Valerie Solanas auf freiem Fuß | Weitere Operationen | Cover für Rolling-Stones-Album | Hollywood-Filmpläne scheitern (zweimal) | Male Parade von Gerard Malanga | Die Geburt von Interview | Business-Art, der nächste Schritt nach Pop-Art | Tiefkühlgerichte aus dem Andy-Mat
40 (1970–1971)
Eine (weitere) Warhol-Retrospektive | Bob Colacello und Vincent Fremont kommen an Bord | Andy Warhol, der Super-Shopper | Neue Förderer: Sandy und Peter Brant | L’amour und die Leute darin | Das Leben als Vip | Scheitern am Theater: Andy Warhols Pork und Man on the Moon
41 (1971–1972)
Finanzielle Schummeleien | Nobelkarossen und Immobilien | Leben auf dem Land und Berühmtheiten als Mieter: Lee Radziwill und die Kennedy-Kinder, Mick und Bianca Jagger
42 (1972–1973)
Julia Warhola kehrt zum Sterben nach Hause zurück | Der Vorsitzende Mao und die untote Malerei | Unterwegs in Europas Hautevolee | Große Gesichter mit der Polaroid Big Shot | Gallenstein-Warnschuss | Frankenstein und Dracula in Rom | Mit Liz Taylor in Identikit
43 (1974)
Warhols Pariser Hauptquartier | Interview, Mode und Gesellschaft | Halston und der Glamour | Die verdrehten Geschlechter von Ladies and Gentlemen | Die Philosophie des Andy Warhol (und seiner Ghostwriter) | Popism, eine (Nicht-)Autobiografie
44 (1974–1975)
Ein neues Zuhause | Jed Johnsons richtet ein | Brigid Berlin kehrt zurück | Time Capsules und die hohe Kunst des Mülls | Erlauchte Praktikanten | Einen Rolls-Royce ins Diamantenviertel | Lunchtreffen bei Interview und deren Ausbeute
45 (1975–1977)
Porträtjagd: Iranische Herrscher und Imelda Marcos | Mit Gerald Ford im Weißen Haus | Mit Jimmy Carter in Georgia | Kommerzielle Kunst: Sportler, Haustiere, Autos und Häuser | Victor Hugo und der Akt als Landschaft | Piss Paintings
46 (1977–1980)
Studio 54 | Shadows | Porträts im Whitney | Bad, der letzte Film | Jed Johnson geht
47 (1981)
Warhol als Model | Exposures: Gesellschaftsleben | Ronald Feldmans Business-Projekte | Externe Dienstleistung durch Rupert Smith
48 (1982–1983)
Die New Art Kids | Warhol und Basquiat | Rorschach-Bilder | Shoppen und Sammeln
49 (1982–1986)
Das Coned-Studio | Andy Warhol TV | Stress mit Fred Hughes | Werbung | The Love Boat | Camouflage-Gemälde | Jon Gould | Aids | Wohltätigkeit à la Warhol
50 (1986–1987)
Kristalltherapie | Letzte Abendmahle in Mailand | Zusammengenähte Fotos | Der letzte Laufsteg | Probleme mit der Gallenblase | Die verhängnisvolle Operation
Nachspiel: Das Leben nach dem Leben
Ein Wort zu den Quellen
Dank
Bildnachweis
Bildteil
Warhol zeigt seine Operationsnarben nach dem Attentat.
VORSPIEL
TOD
Das erste Mal starb Andy Warhol am 3. Juni 1968 um 16.51 Uhr. So jedenfalls lautete die bittere Einschätzung der Assistenzärzte in der Notaufnahme des Columbus-Krankenhauses in New York. Rund zwanzig Minuten zuvor war der Künstler von Valerie Solanas niedergeschossen worden, einer verstörten Mitläuferin der Factory, seinem berühmten Studio, mit dem er erst kurz zuvor an den Union Square umgezogen war. Bis zum Eintreffen des Rettungswagens war Warhol langsam, aber sicher am Verbluten gewesen. Als der Patient in das nur wenige Häuserblocks entfernte Krankenhaus eingeliefert wurde, konnten die jungen Ärzte in der Notaufnahme weder einen Puls noch einen nennenswerten Blutdruck ausmachen. Der Patient war leichenblass, mit einer Spur ins Blaue. Nach allen geläufigen Maßstäben lag es nahe, diesen 39-jährigen Weißen, der 1,80 Meter groß und 66 Kilo schwer war, beim Eintreffen ins Krankenhaus für tot zu erklären.
Als der augenscheinlich tote Patient auf der Trage hereingeschoben wurde, kontrollierte ein begabter Chirurg namens Giuseppe Rossi gerade einen Patienten, der sich auf der Intensivstation erholte. Rossi bekam die Ankunft über die Lautsprecheranlage mit und eilte in die Notaufnahme, um zu sehen, ob er gebraucht wurde. Vor ihm lag allem Anschein nach ein Leichnam, regungslos und mit geschlossenen Augen, auf einer Trage voller Blut. Während die jüngeren Kollegen dem Vierzigjährigen den Fall erläuterten, hob er ein Augenlid an und bemerkte, dass sich eine noch lebende Pupille im grellen Licht des Krankenhauses zusammenzog. Es gab Arbeit.
Rossi suchte zunächst nach der Ursache für den tiefen Schockzustand, in den sein Patient – er hielt ihn zunächst für einen der Penner vom Union Square – gefallen war. Er fand die saubere Eintrittswunde einer einzigen Kugel an der rechten Körperseite Warhols, etwa auf mittlerer Höhe des Brustkorbs, und er sah heftiges Bluten an der zerfetzten Austrittswunde am Rücken links. Die Ärzte brachten einen Thoraxkatheter an, um den kollabierenden rechten Lungenflügel in den Griff zu bekommen, schoben einen Beatmungsschlauch in Warhols Luftröhre und begannen, Sauerstoff in den Körper zu pumpen. Sie forderten Blutkonserven an und schoben den Patienten rasch durch die Korridore und in den Aufzug, um ihn noch lebend in den OP-Raum zu bekommen.
Es sollte sich für Warhol als Glücksfall erweisen, dass Rossi an diesem Tag der zuständige Arzt war. Der Chirurg war nach dem Krieg aus Italien in die USA eingewandert. Damals bot ihm das expandierende amerikanische Gesundheitssystem die Möglichkeit, sich auf dem neuen Gebiet der Operation am offenen Herzen weiterzubilden. Da es allerdings für einen Migranten wie Rossi noch immer schwierig war, eine Festanstellung zu finden, arbeitete er mal hier, mal da in Notaufnahmen in ganz New York – unter anderem in Harlem, wo er es mit jeder Menge Schussverletzungen zu tun hatte. Jahre bevor die Krankenhäuser Traumaspezialisten hatten, war Warhol durch puren Zufall in den Händen eines hochqualifizierten Thoraxchirurgen gelandet, der alles über Schussverletzungen wusste.
Die Assistenzärzte schnitten Zugänge in Warhols Ellbogenvenen und brachten Schläuche für die Versorgung mit Blut und anderen Flüssigkeiten an; dabei hinterließen sie Narben, die in den Armen eines Mannes, der zeitlebens in die Kirche ging, auch als Wundmale seines christlichen Glaubens hätten durchgehen können. Ohne sich die Zeit für das übliche fünfminütige Händewaschen vor der OP zu nehmen, machte sich Rossi augenblicklich auf die Suche nach der Quelle der Blutung, die kurz davor war, den vor ihm liegenden Körper in eine Leiche zu verwandeln. Er schnitt in Warhols linken Brustkorb – das zuerst eingeschnittene Gewebe war bereits zu trocken, um noch nennenswert zu bluten – und fand einen bösen Riss im unteren Lungenlappen, den er für den Moment mit einer riesigen Metallklammer schloss. Noch während Rossi am Werk war, stellte der Anästhesist einen Herzstillstand fest. Rossi schnitt in Warhols Herzbeutel, der von der Kugel verschont geblieben war, und massierte das Organ von Hand. Wieder haarscharf am Tod vorbei.
Nun schnitt Rossi in Warhols rechte Seite, von nahe der Eintrittswunde bis fast zum Brustbein, um nach weiteren Verletzungen Ausschau zu halten. Es kursierten Geschichten, dass Warhols Körper von drei oder vier Kugeln durchlöchert wurde oder dass ein einzelnes Projektil einer teuflischen Flipperkugel gleich in seinem Torso hin- und hergeprallt wäre. Rossi stellte fest, dass nur ein einziges Projektil in den vor ihm liegenden todgeweihten Mann eingedrungen und in gerader Linie wieder ausgetreten war. Er sah, wo das Geschoss die vena cava inferior gestreift hatte, eine riesige Vene in der Brust- und Bauchhöhle, die für den Rückfluss des Blutes aus den Beinen zum Herzen zuständig ist. Genau dort hatte sich ein Blutpfropf gebildet, der ein unmittelbares Verbluten des Patienten verhinderte. Rossi setzte einen weiteren Schnitt in die Brust des Sterbenden, vom Brustbein tief durch Warhols Bauchmuskulatur bis hinab zum Nabel. Mit einer Sperrvorrichtung hielt er das ganze Durcheinander geöffnet, um sich einen Überblick über den angerichteten Schaden verschaffen zu können. »Ich habe noch nie im Leben so viel Blut gesehen«, erinnerte sich Maurizio Daliana, der Oberarzt zu jener Zeit.
Rossi fand noch mehr Verwüstung: zwei Löcher im Bogen des Zwerchfellmuskels, den die Kugel auf dem Weg durch Warhols Körper rechts und links durchschlagen hatte; die Verbindung von der Speiseröhre zum Magen war abgetrennt, sodass Nahrungsbrei und Magensäure von unten austreten konnten; der linke Leberlappen war gequetscht; und aus der vollkommen zerstörten Milz floss mehr Blut als aus jedem anderen Organ. Solanas Kugel hatte auch in Warhols Därmen schreckliche Löcher hinterlassen, was dazu führte, dass Exkremente austraten und die Gefahr einer tödlichen Infektion erhöhten.
Was von der Milz noch übrig war, war nicht mehr zu retten, und auch der verletzte Leberlappen war ein hoffnungsloser Fall. Rossi isolierte ihn mit groben Stichen vom Rest des Organs, damit er ohne weiteren Blutverlust herausgeschnitten werden konnte. Noch immer wurden Bluttransfusionen in Warhols Körper gepumpt, die aus den neu angebrachten Öffnungen wieder hinausliefen. Am Ende der Operation hatte er zwölf Transfusionseinheiten erhalten; in einen unbeschädigten Körper passen normalerweise zehn.
Als die Dinge wieder halbwegs unter Kontrolle zu kommen schienen, kam erneute Unruhe im OP auf: Die medizinischen Spitzenkräfte der Klinik statteten dem Ort des Geschehens einen Besuch ab. Sie sagten den behandelnden Chirurgen, der Mann, dessen Leben sie gerade zu retten versuchten, wäre der Superstar der Kunstszene, Andy Warhol – der Mann, durch den der Begriff »Superstar« erst seine Berühmtheit erlangte –, und unten würden jede Menge Reporter und Anhänger warten. »Er darf nicht sterben«, sagten die Besucher.
Rossi hatte bis dahin kaum etwas von dem Künstler oder seinen Extravaganzen gehört.
Er widmete sich wieder dem geöffneten Körper und nahm die komplizierten Eingriffe vor, die noch zu erledigen waren. Er kümmerte sich um die perforierten Därme, schnitt die beschädigten Teile heraus und nähte die sauberen Enden wieder zusammen. Dann musste die abgetrennte Speiseröhre wieder mit dem Magen verbunden werden, die heikelste Prozedur an jenem Abend. Rossi musste die Stelle mit hochfeinen Seidenfäden vernähen und sicherstellen, dass der Anschluss an den Magen absolut perfekt war. Der kleinste Versatz oder eine zu starke Narbenbildung hätte die Schluckfähigkeit massiv beeinträchtigen und für Warhol katastrophale Folgen haben können. Ein mit ihm befreundeter Arzt erinnerte sich, dass er später in der Tat Probleme mit dem Essen hatte.
Erschöpft von der langen und anstrengenden Operation schloss Rossi sämtliche Kanülen zum Absaugen an und nähte den Körper wieder zu, mit dessen Innenleben er sich so intensiv beschäftigt hatte. Aus Gründen der Bequemlichkeit und Sicherheit – vielleicht hatte er auch seine Zweifel, ob der Patient lange genug leben würde, um sich überhaupt daran zu stören – setzte Rossi riesige Nähte, die Warhols Rumpf mit einem frankensteinhaften Netz von Narben überzogen. Er sollte sie in den Jahren danach immer wieder stolz vorzeigen.
… mit Julia Warhola und seinem großen Bruder John.