Über das Buch

1956. Die junge Leni aus dem ländlichen Hebertshausen kann ihr Glück kaum fassen: Die Anstellung bei dem vornehmen Friseur Keller in München ist der erste Schritt zur Verwirklichung ihres großen Traums – ein eigener Salon in der Stadt. Unterdessen hadert ihr Bruder Hans mit seinem Medizinstudium. Seine Leidenschaft gilt der Jazzmusik – und Lenis Freundin Charlotte, die in einer unglücklichen Ehe gefangen ist. Während sie alle darauf hoffen, ihr Glück zu finden, stellt ein Schicksalsschlag ihre Zuversicht auf eine harte Probe …

Über die Autorin

Julia Fischer ist eine deutsche Schauspielerin, Sprecherin und Schriftstellerin. Die Mutter dreier Kinder und Tochter des Komödienstadel-Regisseurs Olf Fischer und der Schauspielerin Ursula Herion lebt mit ihrer Familie in München und hat schon als Kind auf Pumuckel-Schallplatten und im Kinderfunk mitgewirkt, später den Beruf der Schauspielerin ergriffen sowie verschiedene Magazine im Bayerischen Fernsehen moderiert. In den letzten Jahren kamen unzählige Hörbuchproduktionen hinzu (unter anderem als deutsche Stimme von Agatha Raisin). Außerdem hat Julia Fischer seit einigen Jahren das Schreiben für sich entdeckt und seit 2014 bereits vier eigene Romane veröffentlicht, für die sie zahlreiche begeisterte Feedbacks erhalten hat.

J U L I A   F I S C H E R

Der

S A L O N

Wunder
einer neuen
Zeit

R O M A N

 

Für Gunda und Franz,
die sich für mich erinnert haben

Prolog

Juli 1951

In der Schlafkammer nebenan knarrten die Dielen. Draußen war es längst hell, die Vögel zwitscherten im Garten um das alte Haus, die Wiesen erwachten, und Lenis innere Uhr sagte ihr, dass es halb sechs war. Sie hörte, wie ihre Mutter Käthe nebenan mit dem Waschkrug hantierte und mit beiden Händen das kalte Wasser aus der großen Porzellanschüssel schöpfte. Dann war es wieder still. Leni wusste, dass ihre Mutter sich jetzt anzog – immer noch eines der alten Vorkriegskleider, die neben den verwaisten Sachen des Vaters im Schrank hingen. Und dass sie dann ihre dunklen Haare, in denen sich immer mehr weiße Strähnen zeigten, im Nacken zusammensteckte, ohne in den Spiegel zu sehen. Ehe ihre Mutter ihre Schlafkammer verließ, würde sie noch in eine Kittelschürze schlüpfen, um ihr Kleid bei der Hausarbeit zu schonen, und wie immer vergessen, sie auszuziehen, wenn sie um halb acht gemeinsam mit ihr das Haus verließ, um ihr Geschäft aufzusperren.

Der Frisörsalon Landmann war dienstags bis samstags von acht bis zwölf und von vierzehn bis neunzehn Uhr geöffnet, montags machte Lenis Mutter Hausbesuche. Es gab nur zwei Stühle, und die Ausstattung war spärlich, aber die Frauen hier im oberbayerischen Hebertshausen waren nicht anspruchsvoll – Waschen, Schneiden, Legen und hin und wieder Ohrlöcher stechen, sehr viel mehr wurde nicht nachgefragt. Und die Männer fuhren ohnehin lieber in das nahe Dachau zum Kölbl, weil sie sich von einem Herrenfriseur bedienen lassen wollten, der auch rasierte – die meisten zumindest. Leni und ihre Mutter hatten trotzdem alle Hände voll zu tun, denn auch die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Baracken an der Münchner Straße kamen zu ihnen. Die Familien aus dem Sudetenland, aus Schlesien und Ungarn, die seit Jahren in den zugigen Bretterverschlägen wohnten, in denen der Schwamm hauste. »Menschenunwürdig«, sagte Leni über die Provisorien, die der Zeit trotzten, aber ihre Mutter meinte, dass sich die Würde der Menschen seit dem Krieg anders definiere.

Jetzt hörte Leni, dass sie die Treppe hinunterstieg, Pantoffeln an den Füßen. Ich sollte auch aufstehen, dachte sie, und ihr zur Hand gehen. Aber die Tage waren auch so schon lang. Bis vor einem Jahr war Leni noch auf die »höhere Schul«, die Volksschule hier oben auf dem Weinberg, gegangen, in der die Kinder von der ersten bis zur achten Klasse in nur zwei Klassenzimmern unterrichtet wurden – Buben und Mädchen natürlich getrennt. Sie hatte sie im letzten Jahr abgeschlossen und machte seitdem bei ihrer Mutter eine Friseurlehre. Einmal die Woche fuhr sie mit dem Zug nach München in die Berufsschule in die Hirschbergstraße, an den anderen Tagen stand sie mit ihrer Mutter zusammen im Salon. Das Zupfen, Hecheln und Stumpfziehen von Rohhaaren, um daraus kleine Haarteile zu knüpfen, und den Umgang mit Montierbändern, Gaze und Haartüll – allesamt Arbeiten eines Perückenmachers, die Bestandteil der Ausbildung waren – musste sie abends zu Hause üben. Und noch bevor sie zu Bett ging, schrieb sie ihr Werkstattwochenbuch mit den Facharbeitsblättern.

Die Schule fiel Leni leicht, auch wenn jetzt noch anatomische und physiologische Grundlagen, Chemie und Mathematik dazukamen. Als Friseur musste sie schließlich die genaue Zusammensetzung der Haarfarben, Dauerwellwasser und Fixierlösungen kennen, Mischungsverhältnisse berechnen oder in der ebenfalls zur Ausbildung gehörenden Schönheitspflege Hautanalysen erstellen können, auch wenn sie vieles davon im Salon ihrer Mutter gar nicht brauchte. Sie hatten ja nicht einmal einen Heiß- oder Thermwell-Apparat! Leni würde deshalb zur Prüfungsvorbereitung ein paar Tage im Friseursalon Kölbl arbeiten dürfen, der moderner ausgestattet war. Sie selbst experimentierte schon länger mit der Herstellung von Kosmetikprodukten. Nach Rezepturen ihrer Großmutter, der Landmann-Oma, siedete sie Seifen, setzte Gesichtswasser an und mischte Cremes, doch ihre Mutter hatte kein Interesse daran, in ihrem Salon Kosmetikbehandlungen anzubieten: Gesichtsmassagen, Pflegepackungen oder Maniküren. »Geh, Leni, wer will denn des bei uns?«, sagte sie.

»Die Frauen aus den Baracken zum Beispiel, da sind einige nämlich viel moderner als wir hier. Mehr so wie die aus München.«

»Die jungen vielleicht, die Ang’strichenen, die mit unseren Burschen poussieren.«

»Na und? Die sind doch auch Kundschaft. Und des Schminken ist heutzutag ganz normal. Alle tragen doch jetzt Lippenstift.«

»Alle net und du schon gar net!«

Ihre Mutter war eine strenge Ausbilderin, aber Leni lag die Arbeit. Sie hatte schon als Kind stundenlang im Salon Puppen frisiert und den Mädchen die Haare geflochten. Hatte hinter der Verkaufstheke gesessen, jeden Handgriff ihrer Mutter verfolgt und mit schöner Schreibschrift die Termine in das Auftragsbuch eingetragen, das dort lag. Die Kundinnen kamen persönlich vorbei, um sie zu vereinbaren, denn es gab im Salon kein Telefon. Die wenigsten Hebertshausener hatten eines, und wenn, dann einen Doppelanschluss, wie der Metzger Herzog, dessen Apparat in seinem Gasthof stand, mit dem Rabl, der Fahrräder und Motorräder verkaufte und eine eigene Werkstatt hatte. Wer von den beiden zuerst den Hörer abhob, wenn es klingelte, nahm das Gespräch entgegen, und war es nicht für ihn, musste der Anrufer eben ein zweites Mal durchklingeln.

Leni schlüpfte unter ihrer Bettdecke hervor. Sie richtete sich ebenfalls für den Tag her, zog sich an und flocht ihre langen kupferroten Haare zu Zöpfen. Die ungewöhnliche Farbe hatte sie aus der mütterlichen Linie, von der Bürglein-Oma, die sie nicht mehr kennengelernt hatte.

Die Haustür fiel ins Schloss. Leni sah durchs Fenster, dass ihre Mutter die Handtücher von der Leine nahm, die Leni gestern noch aufgehängt hatte. Die Hebertshausener hatten ein gemeinsames Waschhaus hinter der Feuerwehr unterhalb vom Hansbauer. Dort wusch Leni nicht nur die Leibwäsche der Familie, sondern auch die Handtücher für den Salon. Jeden Montag kochte sie sie aus, stampfte und rieb sie, spülte sie mit klarem Wasser nach und wrang sie mühsam aus. Und dann hievte sie die schwere feuchte Wäsche auf einen Leiterwagen und zog ihn den Berg hoch. Frau Kopp, der ihre Mutter immer samstags die Haare machte, besaß eine eigene Waschküche und sogar eine Schleuder – Leni hatte diese einmal gesehen. Man musste sich draufsetzen, wenn sie eingeschaltet wurde, weil sie sonst wie ein Geißbock herumsprang.

Leni öffnete ihre Zimmertür und horchte in den Flur. Ihr Bruder schlief noch. Kein Wunder – seit er letzte Woche sein Abitur bestanden hatte, schlug er sich die Nächte im Club der Amerikaner um die Ohren. Im Hinterzimmer des Gasthofs am Walpertshofener Bahnhof, in dem eine Jukebox stand, die Jazz und Rock ’n’ Roll spielte. »Negermusik«, sagte ihre Mutter, wenn Hans den Rundfunkempfänger anstellte – »Good morning! This is AFN Munich …« – und dann versuchte, die Stücke auf seiner Trompete nachzuspielen.

»Die GIs haben die Decke im Hinterzimmer vom Domini mit Fallschirmseide abgehängt«, hatte Hans Leni begeistert erzählt, »das sieht aus wie ein Himmel, und da gibt’s Cola und Whisky.«

»Den darfst du noch gar net trinken, weil du noch net volljährig bist!«, hatte sie ihm geantwortet. »Und rein darfst du da auch net. Des is nur für die vom Militär.«

»Die Liesl, mit der ich in die Schule gegangen bin, ist auch oft da.«

Aber über die Liesl redeten die Leute in der Gemeinde, das wusste Leni, die Kundinnen im Salon ihrer Mutter nannten sie »Ami-Flitscherl«.

Leni ging hinunter in die Küche. Das war ihr liebster Moment: wenn sie das Frühstück herrichtete, der Tag noch unberührt war und voller Möglichkeiten. Während sie den Ofen anschürte und einen Topf mit Wasser aufsetzte, das Geschirr auf den Tisch stellte und das Butterfass und das Brot aus der Speisekammer holte, träumte sie davon, dass sie sich bald verlieben würde, in einen jungen Mann, der durch Zufall in den Salon käme und sich von ihr die Haare schneiden lassen würde. Einen, der nicht aus dem Ort stammte und den sie nicht schon ihr halbes Leben lang kannte. Und sie träumte, dass ihre Mutter den Salon vergrößern und modernisieren würde und plötzlich eine bekannte Schauspielerin in der Tür stünde – »Arbeitet hier das Fräulein Landmann? Sie ist mir empfohlen worden« – und,dass sie eines Tages einen eigenen Salon haben würde, den Salon Marlene, modern eingerichtet und mitten in München.

Leni mahlte den Ersatzkaffee – den guten Kathreiner – und wartete, bis das Wasser kochte. Ihre Mutter war noch immer im Garten, aber jetzt stand sie wie jeden Morgen am Gartentor und wartete auf ein Wunder.

*

Er wird einen Koffer in der Hand haben, so wie die anderen, die zurückgekommen sind, dachte Käthe und sah zur Kirche hinüber. Nicht den, mit dem er fortgegangen ist, aber auch einen aus Pappe, die Ecken mit Stahlblech verstärkt und mit einem Lederriemen zusammengehalten oder einer Schnur. Dabei wird gar nicht viel drin sein in seinem Koffer, ein Kamm vielleicht, ein Stück Seife und ein kleiner Spiegel, ihre Briefe, die sie ihm ins Feld geschickt hatte, ein Hemd und Wechselsocken, die Fotos der Kinder. Was besitzt einer schon, wenn er aus einem russischen Kriegsgefangenenlager entlassen wird? Gerade genug, dass sich der letzte Rest Leben daran festklammern kann.

Ihr Otto galt seit der Schlacht um die Krim als vermisst, aber Käthe war davon überzeugt, dass er noch lebte. Sie hatte im März 1944 seinen letzten Brief bekommen, der ihr schier das Herz gebrochen hatte, so entmutigt war ihr Mann gewesen. Aber wegen der Kinder – Hans war damals erst elf und Leni acht gewesen – hatte sie weitergemacht und sich die Zweifel am Sinn dieses Krieges nicht anmerken lassen. Sie hatten sich hier alle nichts anmerken lassen, um sich und die Ihren zu schützen.

Die Köpfe der Spalierrosen schaukelten im warmen Sommerwind, die Obstbäume trugen schwer an ihren Früchten. Bald würde es frische Äpfel, Birnen und Quitten geben, aus deren Kernen Käthe Haarfixierer kochte. In den Gemüsebeeten, die Ottos Mutter zwischen den Kriegen angelegt hatte, waren die Kohlköpfe und der Sellerie schon reif. Was nicht gleich gegessen wurde, machte Käthe ein. So waren sie immer gut versorgt und hatten auch die Zeit der Rationierungen überstanden, als gleich zwei Flüchtlingsfamilien aus Lokut bei ihnen einquartiert worden waren. Die Landmann-Oma, wie sie Ottos Mutter genannt hatten, hatte sogar Hühner und Hasen gehalten, um den Speiseplan hin und wieder mit etwas Fleisch aufzubessern, und Tabak angebaut. In der Zeit, in der eine Schachtel Zigaretten zwanzig Reichsmark gekostet hatte, war er als Tauschware begehrt gewesen.

Die Morgensonne fiel auf das kleine Gewächshaus, in dem Käthe ihren Salat vorzog, ehe sie ihn ins Freie setzte. Aber erst, wenn die Nachtfröste vorüber waren und das Wasser in ihrer Waschschüssel auf der Kommode in der Schlafkammer nicht mehr gefror. Sie bemerkte, dass eine Scheibe gesprungen war, die musste sie ersetzen, doch es gab so viel zu reparieren – das Dach, den Zaun –, dass sie kaum nachkam.

Käthe hielt weiter Ausschau. Otto würde von der Bahnhofstraße über die alte Friedhofstreppe, am Pfarrhaus und an Sankt Georg vorbei, heraufkommen, von wo aus man an klaren Tagen vom Watzmann bis zur Zugspitze die ganze Alpenkette sah. Und dann würde er stehen bleiben, den Koffer abstellen und winken. Und sie würde ihm entgegenlaufen, sich ärgern, dass sie schon wieder vergessen hatte, die Kittelschürze auszuziehen, und ihn umarmen. Genauso lange wie an dem Tag, an dem er fortgegangen war.

Jetzt lehnte sie sich an den Stamm der großen Kastanie, in die Otto das Baumhaus gebaut hatte. Sämtliche Kinder aus der Nachbarschaft hatten schon darin gespielt. Oft waren sie gleich nach dem Unterricht von der Schule herübergekommen, die nur einen Steinwurf weit entfernt lag.

Das Küchenfenster ging auf, und Käthe roch den Duft des Malzkaffees, den Leni gekocht hatte. »Guten Morgen, Mama!«, rief ihre Tochter.

»Morgen, Leni, hast gut g’schlafen?«

»Schon.«

Das zarte Kind rührte sie. Wie ein junges Fohlen sah sie aus mit ihren fünfzehn Jahren, dabei war sie genauso zäh wie sie selbst und arbeitete für zwei.

»Frühstück is fertig.«

Käthe versank kurz in Lenis blauen Augen, die immer so fröhlich leuchteten. Die hatte sie von ihrem Vater geerbt, genau wie ihr Bruder. Sie hatten die Farbe des Wassers in dem kleinen Tümpel der Amper hinter dem Wehr. Da, wo der Fluss nur mit halber Kraft weiterfloss, weil er in den Mühlbach umgeleitet wurde, der die Turbinen der Holzschleiferei antrieb, in der Otto früher gearbeitet hatte und sein Vater auch.

Sie war ihm das erste Mal auf der Wiesn begegnet, auf dem Münchner Oktoberfest, wo Käthe mit ihren Eltern hingegangen war. Damals hatte sie schon ihre Friseurlehre im Geschäft ihres Vaters in Freising absolviert und – weil es nicht danach ausgesehen hatte, dass sie je einen Mann finden würde – ihren Meister gemacht. So konnte sie wenigstens einmal das elterliche Geschäft übernehmen, wenn sie schon keine eigene Familie gründen würde. Als Otto und sie sich verliebt hatten, war Käthe schon siebenundzwanzig Jahre alt gewesen und das, was viele eine alte Jungfer nannten. Drei Jahre später war Hans zur Welt gekommen.

»Ich komm gleich, Leni, ich hab nur …«, erwiderte Käthe.

»Ich weiß, Mama.«

Käthe setzte sich an den Küchentisch und schenkte den Malzkaffee ein.

»Soll ich den Hans wecken?«, fragte Leni und schmierte sich Butter und selbst gemachte Marmelade auf ihr Brot. Seit die Lebensmittelkarten letztes Jahr abgeschafft worden waren, hatten sie alle wieder mehr auf dem Teller, und Käthe musste den Pfannkuchenteig nicht mehr mit Wasser strecken.

»Nein, lass ihn schlafen, er hat sich’s verdient«, sagte sie.

»Wir hätten’s uns auch verdient! Nur weil er sein Abitur g’schafft hat, darf er doch net auf der faulen Haut liegen.«

Hans war in den letzten acht Jahren an sechs Tagen die Woche mit dem Zug nach München gefahren und dort aufs Humanistische Gymnasium gegangen, weil es in Dachau erst seit diesem Jahr eine Oberschule gab. Im Krieg war der Unterricht oft ausgefallen, da hatten sie Trümmer weggeräumt, trotzdem war letzte Woche seine Abschlussfeier gewesen. Käthe hatte ihr Sonntagsgwand angezogen – ein Dirndl mit reinseidener Schürze –, und Leni hatte sie frisiert. »Jetzt siehst aus wie die Magda Schneider«, hatte sie zu ihr gesagt. Käthe hatte sich im Spiegel betrachtet, aber die Ähnlichkeit mit Romy Schneiders Mutter beim besten Willen nicht erkannt. Seit Otto fort war, nahm sie sich als Frau gar nicht mehr wahr, in ihrem Leben gab es nur noch die Arbeit und ihre Kinder. Leni würde in zwei Jahren ihre Gesellenprüfung ablegen und Hans im nächsten Sommer sein Medizinstudium beginnen. »Du wirst amal a Doktor, damit du vor niemandem buckeln musst, Hans«, hatte sein Vater früher oft zu ihm gesagt.

»Im Garten gibt’s jede Menge Arbeit, Mama«, stichelte Leni. »Und den Zaun hat der Hans auch noch net repariert.«

»Ich weiß, ich hab’s ihm schon zweimal g’sagt.« Käthe seufzte. »Räum zamm, Leni, wir müssen los.«

Sie nahmen die Abkürzung zum Ortskern hinunter, wo der Metzger Herzog und der Bäcker Schaller mit dem Kramerladen schon geöffnet hatten. Der Rabl war auf dem Weg zu seiner Werkstatt. Erst gestern hatte er Käthe erzählt, dass er plane, eine Tankstelle in Hebertshausen zu bauen. »Eine ganz moderne, damit ich den Sprit für die Motorradl nimmer aus’m Fassl pumpen muss.«

»Glaubst du, des rentiert sich, Schorsch?«, hatte sie ihn gefragt und an den Schmiedschorle gedacht, der schräg gegenüber vom Rabl noch immer die Pferde der umliegenden Bauern und Fuhrunternehmer beschlug.

»Freilich, Käthe, die Zulassungen wern immer mehr. Seit der Währungsreform geht’s bergauf.«

Ja, es ging bergauf, die Geschäfte in der Gemeinde florierten, und es kamen immer noch Flüchtlinge, die sich hier bei ihnen niederlassen wollten. Die Schule platzte aus allen Nähten, und Käthes Friseursalon konnte sich vor Terminen kaum retten. Kein Wunder, die Zeit der Kopftücher war vorüber, in der es für die Frauen außer Arbeit gar nichts gegeben hatte. Jetzt wollten sie sich wieder mit gepflegten Frisuren sehen lassen und in Kleidern, deren Schnitt nicht mehr am Stoff sparte. Wer nicht gerade in der Landwirtschaft arbeitete oder in der Fabrik, der schaute auf sich.

Dank Lenis Hilfe legte Käthe nun Monat für Monat ein paar Mark für Hans’ Anmeldegebühren an der Universität zurück, für seine Bücher und die Miete für ein Zimmer im Studentenwohnheim. Die meisten waren zwar noch nicht wiederaufgebaut, aber es würde sich schon etwas Passendes finden.

Käthe sperrte ihren Salon auf und prüfte mit einem routinierten Blick, ob Leni am Vorabend auch den Boden, die Spiegel und die Waschbecken gründlich gewischt hatte. Die Einrichtung stammte noch von ihrem Vorbesitzer, der im Winter 1939 gefallen war, und Käthe hatte seither kaum etwas verändert. Sie hatte lediglich das Schild über dem Schaufenster übermalt, auf dem nun Frisörsalon Landmann stand, die eingedeutschte Schreibweise, wie im Salon ihres Vaters, nicht die aus dem Französischen abgeleitete. Tradition und Bodenständigkeit, das war ihre Devise.

»Magst die Handtücher für mich einsortieren?«, fragte sie ihre Tochter.

»Gleich.«

Leni studierte die Termine für den Tag.

»Was schaust denn?«

»Wer heut als Erstes kommt.«

»Na, die Frau Brunner und die Frau Brandl, wie jeden Dienstag um acht.«

»Es hätt ja sein können, dass mal jemand anderer kommt.«

»Und wer soll des sein?«

»Vielleicht die Sonja Ziemann oder die Liselotte Pulver«, sagte Leni und grinste.

Warum nicht, dachte Käthe und musste selbst schmunzeln, manchmal passierten auch Wunder – dass ihr Otto wieder heimkam zum Beispiel oder dass Hans endlich den Zaun reparierte.

*

Als die Haustür ins Schloss gefallen war, hatte Hans sich noch einmal umgedreht und versucht, wieder einzuschlafen, aber die Nachbarin hatte ihre Teppiche im Garten ausgeklopft. Ein dumpfer Klang wie Granatwerfereinschläge, und nur zwei Häuser weiter war das häusliche Störfeuer erwidert worden. An Schlaf war also nicht mehr zu denken, doch das schlechte Gewissen, weil seine Mutter und seine kleine Schwester arbeiten gingen, während er noch im Bett lag, hätte ihm ohnehin keine Ruhe gelassen. Die beiden schufteten für die Pläne seines Vaters, dessen größter Wunsch es gewesen war, dass Hans einmal Medizin studierte, dabei würde er viel lieber auf die Musikhochschule gehen.

»Diese musische Begabung muss man fördern, Herr Landmann, die ist ein Geschenk«, hatte der Lehrer Laut zu seinem Vater gesagt, als Hans in der zweiten Klasse gewesen war, »und im Musikverein mangelt es uns an guten Blechbläsern.«

»Wenn’S meinen, Herr Lehrer, aber beim ersten Vierer ist’s vorbei mit der Trompeterei!«

Das Lernen war für Hans immer eine Qual gewesen. Er hatte am liebsten Völkerball und Fangen gespielt und mit seinem besten Freund, dem Wegener Rudi, im Baumhaus gesessen. Sie waren im Sommer an die Amper zum Baden gegangen und im Winter Schlitten gefahren und nie vor dem Betläuten heimgekommen. Bis Hans aufs Gymnasium gemusst hatte und er den Rudi nur noch an den Wochenenden und in den Ferien sehen konnte, weil er mit dem Lernen kaum nachkam. Diese Jahre waren schwer für ihn gewesen, und hätte er den Musikunterricht und seine Trompete nicht gehabt, wäre er vollends verzweifelt.

Hans setzte sich in seinem Bett auf und schaute zu seiner Kommode hinüber – da stand sie. »Ah, look at you, lad. You’re playing like Chet Baker«, hatte gestern ein Offizier im Club zu ihm gesagt, als er ein Stück gespielt hatte, das er von einer der Victory Discs kannte, die die GIs in ihrem Marschgepäck mitgebracht hatten: Freeway – extrem schnelle Tempi, scharf, laut und voller Lebensfreude. Jazz war Hans’ Lebenselixier, der floss ihm im Viervierteltakt durch die Adern und erzählte ihm Geschichten von Selbstbestimmung und Freiheit. Dem Aus- und Aufbruch. Allem, wonach er sich sehnte.

Du bist zu alt für solche Flausen!

Hans glaubte schon wieder, die Stimme seines Vaters zu hören. Sie begleitete ihn durchs Leben. Er stand auf und nahm seine Trompete in die Hand, strich zärtlich darüber und betrachtete sie. Das Mundrohr war aus Goldmessing, und die Ventile waren aus Edelstahl.

Verkauf sie, sagte die Stimme in ihm, die nur selten schwieg, und konzentrier dich auf dein Studium. Du brauchst jetzt einen Praktikumsplatz, sonst wird das mit der Zulassung nix.

Hans hätte sich längst danach umsehen sollen, und er hatte sich auch vorgenommen, zu Hause mit anzupacken. Der Zaun fiel ihm wieder ein, er hatte versprochen, ihn zu reparieren, aber dazu musste er erst Latten besorgen. Das Werkzeug seines Vaters stand im Schuppen, aber das Sägeblatt der Holzsäge war verrostet, und Nägel waren auch keine mehr da. Er würde nach Dachau müssen, um sie zu kaufen, und dafür brauchte er Geld. Er hatte seine letzte Mark für Zigaretten ausgegeben.

Der Frühstückstisch war noch für ihn gedeckt, als Hans in die Küche trat. Er trank den lauwarmen Malzkaffee, dann wickelte er seine Trompete in ein Tuch, legte sie in den selbst gebauten Holzkasten und schnallte ihn – die Stimme seines Vaters noch immer im Ohr – auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Er würde sie in der Musikalienhandlung in Dachau verkaufen. Sich von den Träumen, die an ihr hingen und ihn ablenkten, trennen und den Zaun reparieren.

1

Juli 1956

Leni sah sich die Termine für den heutigen Dienstag an, während ihre Mutter frische Handtücher zurechtlegte. Frau Brunner und Frau Brandl erschienen um acht – so wie immer. Ein Tag war wie der andere, seit sie vor drei Jahren ihre Lehre abgeschlossen und die Gesellenprüfung bestanden hatte. Sie bediente die immer gleichen Kundinnen, die sich die immer gleichen Frisuren wünschten, und schnitt hin und wieder ein paar Handwerkern, die in ihrer Frühstückspause in den Salon kamen, oder Kindern nach der Schule die Haare. Dabei benutzte sie die ewig gleichen Produkte – »Bei uns bekommen die Kunden eine Seifenwäsche, Leni, und dann kommt die Essigspülung von der Landmann-Oma drauf« –, und es gab praktisch keine Beratung. Als sie noch auf der Berufsschule gewesen war, hatte Leni von den Lehrlingen aus anderen Friseurgeschäften gehört, dass den Damen dort die neuesten Schnitte und Frisuren aus Magazinen empfohlen wurden. Damals hatte sie noch stundenlang die verschiedenen Kopfformen in ihr Werkstattbuch gemalt und die passenden Ausgleichslinien, die runde Gesichter schmaler und schmale runder wirken ließen, eckige weicher oder lange kürzer. Die richtige Frisur schuf Ebenmäßigkeit und Harmonie, und Leni hatte einen guten Blick dafür entwickelt.

»Wir sollten renovieren, Mama«, hatte sie letztes Jahr zu ihrer Mutter gesagt, »das ganze alte Holz rausreißen, streichen und Linoleum verlegen.« Dann wäre wenigstens einmal ein Anfang gemacht, und der Salon sähe nicht mehr so altbacken aus.

»Bist narrisch! Wie soll ma denn des bezahlen?«

»Der Skrobanek tät’s uns günstig machen.«

»Aber dann müsst ma ja zusperren.«

»Höchstens eine Woch.«

»Nix da, Leni, solang der Hans studiert, brauch ma jeden Pfennig. Und unser G’schäft läuft doch. Ich wüsst nicht, wie wir noch mehr arbeiten könnten.«

Damit hatte ihre Mutter recht. Fünf Tage die Woche neun bis zehn Stunden am Tag im Salon stehen, gerade genug Zeit, um zwischendurch etwas zu essen, und dann kamen am Montag für Lenis Mutter auch noch die Hausbesuche dazu und für Leni die große Wäsche. Der Sonntag war ihr einziger freier Tag, da erledigten sie die liegen gebliebene Hausarbeit und kümmerten sich um den Garten. Gleich nach dem Kirchgang schlüpften Leni und ihre Mutter aus ihrem Sonntagsgwand und werkelten los, so wie die meisten Frauen, während ihre Männer am Stammtisch saßen. Noch mehr Arbeit würden sie nicht bewältigen können, aber darum ging es Leni auch nicht. Sie wollte den Friseursalon verschönern, um etwas Farbe in den grauen Alltag zu bringen und aus dem tristen Salon einen Ort zum Wohlfühlen zu machen, an dem sich die Kundinnen entspannen und ein wenig träumen konnten. So wie sie träumte, wenn sie in den Zeitschriften blätterte, die ihr Frau Reischl, die Wirtin vom Waldfrieden, schenkte, sobald sie sie ausgelesen hatte: die Neue Illustrierte oder die CONSTANZE, in denen junge Mädchen mit hohen Pferdeschwänzen und kurzen Ponys in Caprihosen abgebildet waren und Damen mit festlichen Steckfrisuren, in die allerlei Schmuck und Haarteile eingearbeitet worden waren – je größer der Anlass, desto höher die Frisur! Elegante, gepflegte Frauen, die wie Filmstars aussahen, wenn sie Suppenextrakt und Waschpulver anpriesen.

Seit ihre Mutter ihre Idee zu renovieren mit einem kurzen »Auf gar keinen Fall!« abgelehnt hatte, schnitt Leni die Werbeanzeigen aus und hängte sie im Salon auf. Am besten gefiel ihr die Anzeige für ein französisches Parfum – CHANEL N°5 –, auf der eine Frau, deren rabenschwarzes Haar in weichen Wellen über ihre Schultern fiel, im großen Abendkleid mit Pelzstola zu sehen war. Sie hielt einen Flakon in der Hand und küsste ihn wie die Königstochter aus dem Märchen den Frosch. Außerdem dekorierte Leni das kleine Schaufenster mit den Seifen, Cremes und Gesichtswassern, die sie immer noch selbst herstellte, wobei sie die Rezepturen ihrer Großmutter weiterentwickelt hatte.

»Und du glaubst wirklich, dass unsere Kundinnen so was kaufen?«, hatte ihre Mutter sie skeptisch gefragt. »Selber g’machte Kosmetik? Wo’s doch jetzt wieder so schöne Sachen in der Drogerie gibt.«

»Solang du ihnen die Haar mit Seife wäschst und die Pomaden und des Haarwasser selber machst, kann ich ihnen auch meine Kosmetik verkaufen«, entgegnete ihr Leni.

Ihre Freundin Ursel hatte eine Ausbildung zur Schaufensterdekorateurin im Kaufhaus Rübsamen in Dachau gemacht. Sie hatte eine Preistafel für sie entworfen und ihr kleine Podeste gebaut, auf denen Leni ihre Produkte präsentierte. Die Podeste waren wie die Rückwand des Schaufensters mit Stoff bespannt, den die Ursel bei Rübsamen abgezweigt hatte. Eine schöne Komposition in Rosa und Lindgrün, die einen betörenden Duft verströmte.

»Mei, des riecht immer so gut da herin«, sagte jetzt auch Frau Brandl, als sie in den Salon kam und ihren Einkaufskorb abstellte. »Darf ich den da stehen lassen, Frau Landmann? Ich war nämlich schon beim Herzog, bei dem is der Tafelspitz heut im Angebot.«

»Natürlich, Frau Brandl.« Lenis Mutter deutete auf einen der beiden Stühle. »Die Leni wäscht.«

Leni legte Frau Brandl einen Frisierumhang um, drehte ihren Stuhl zum Waschbecken um und kippte die Lehne nach hinten, was immerhin eine kleine Neuerung im Frisörsalon Landmann war, denn bis vor wenigen Jahren hatten sich die Kunden noch mit dem Gesicht nach vorn ins Waschbecken beugen müssen und den Seifenschaum in den Augen ertragen.

»Net so schwungvoll, Leni«, mahnte ihre Mutter.

»Des macht doch nix, Frau Landmann, des is wie auf der Wiesn in der Schiffschaukel. Mei, bin ich da früher mit meinem Mann gern drauf g’fahren.«

»Grüß Gott, Frau Landmann.« Frau Brunner erschien nun ebenfalls, ihre Promenadenmischung an der Leine. »Leni, Gusti.«

Leni grüßte höflich zurück, nur Frau Brandl hörte gerade nichts, weil das Wasser lief und Leni ihr die Haare einseifte.

»Is die Frauenmantelcreme schon fertig?«, fragte Frau Brunner. »Batzi, sitz!«

»Was für eine Frauenmantelcreme?«, wollte Lenis Mutter wissen.

»Die Leni hat mir versprochen, dass sie mir eine macht. Sie hat g’sagt, dass ihre Oma die auch benutzt hat.«

»Ja, des stimmt.«

»Und die hat doch mit ihre Achtzig noch ausg’schaut wie ich heut mit meine Sechzig!«, sagte Frau Brunner anerkennend.

Leni wickelte Frau Brandl ein Handtuch um den Kopf und klappte ihre Stuhllehne wieder hoch. Der feine Duft der Seifen aus der Auslage war mittlerweile dem stechenden Aroma der Essigspülung gewichen.

»Ja, die Theres!«, sagte Frau Brandl, als sie sie sah. »Warst schon beim Metzger? Der Tafelspitz is heut im Angebot.«

»Den mag mein Mann nicht. Aber ich geh nachher noch hin und frag nach ein paar Resten für meinen Batzi.«

»Ich hab die Creme dabei«, kam Leni auf Frau Brunners Frage zurück. »Schauen’S, da im Regal steht sie.«

»Darf ich?« Frau Brunner hob den Deckel des kleinen Einmachglases an und schnupperte. »Wunderbar!«, sagte sie.

»Ich geb ein bisserl Rosenöl mit dazu, weil der Frauenmantel eigentlich nach nichts riecht. Und die Tropfen, die sich in der Früh in den Blättern sammeln, verarbeite ich auch in der Creme.«

»Nein, so was!«

»Die Oma hat g’sagt, dass die Alchimisten früher versucht ham, Gold daraus zu machen, weil sie so schön funkeln«, erzählte Leni.

Frau Brunner trug die Creme auf ihren Handrücken auf und verrieb sie. »Vielleicht is sie deshalb so geschmeidig?«, überlegte sie.

»Nein, des macht des Lanolin, des Wollwachs«, erklärte Leni. »Ich bekomm’s von dem Schäfer, der seine Schafe auf den Wiesen hinter Deutenhofen stehen hat.«

»Himmelstau!«, sagte Frau Brandl unvermittelt.

»Bitte?«

»Meine Mutter hat den Frauenmantel Himmelstau genannt, wegen der Tropfen, die sich da drin sammeln. Jetzt weiß ich’s wieder.«

»Und meine hat Marienblümerl dazu gsagt«, meinte Frau Brunner, »nach der Heiligen Jungfrau«, und bekreuzigte sich.

Lenis Mutter bat Frau Brunner, Platz zu nehmen, und legte ihr nun auch einen Frisierumhang um. »So wie immer?«, fragte sie sie pro forma, und Frau Brunner nickte.

»Wollen Sie Ihren Mann nicht amal mit was Neuem überraschen, Frau Brunner?«, hakte Leni nach und sah dabei ihre Mutter herausfordernd an.

»Ich hab ihn am Samstag schon mit dem neuen Puddingpulver von Mondamin überrascht«, gab Frau Brunner zurück, »weißt, des ma nur so einrührt, und der Pudding liegt ihm heut noch im Magen.«

»Ja, des neumodische Sach, wo alles schnell gehen soll, des is nix«, stimmte Frau Brandl ihrer Bekannten zu, während Leni ihr Wasserwellen ins feuchte Haar legte. Sie verzichtete dabei auf das Fixativ, das ihre Mutter aus Quittenkernen kochte, weil es einen grauen Schleier im Haar hinterließ und die Trocknungszeit verlängerte.

»Mei, du bist a Künstlerin«, lobte Frau Brandl Leni und verfolgte im Spiegel, wie sie ihre Haare mit einer Hand abwechselnd von rechts nach links kämmte und die Wellenberge beim Richtungswechsel zwischen dem Zeige- und Mittelfinger der anderen festhielt. Die Spitzen drehte Leni in Sechserform auf und steckte sie mit Lockennadeln fest.

»Also ich kann die Wasserwellen nicht ohne Kämmchen legen«, stimmte ihre Mutter Frau Brandl zu.

»Aber die Kämme verziehen die Welle gern«, sagte Leni.

»Beim Kölbl nehmen’s für die kurzen Haar im Nacken Wickler«, wusste Frau Brandl.

»Mit denen wird die Frisur aber viel zu wulstig.«

»Vielleicht sollt ich auch lieber wieder Wasserwellen machen lassen«, überlegte Frau Brunner. »Des Ondulieren strapaziert die Haare ja schon sehr.«

»Die Mama macht des ganz schonend, da brauchen Sie sich keine Sorgen machen. So gut wie sie temperiert keine des Eisen«, sagte Leni, obwohl sie im Stillen kein Freund des Ondulierens war. Die Hitze schädigte das Haar, und es verlor mit der Zeit seinen natürlichen Glanz. Immer.

»Ja, des glaub ich gern. Und meinem Mann g’fallen halt die Locken besser«, sagte Frau Brunner.

»Ich könnt Ihnen die Haar amal papillotieren, des sieht dann ähnlich aus und ma braucht keine Brennscher«, schlug Leni vor und band Frau Brandl ein Haarnetz um, bevor sie die Trockenhaube holte.

»Magst mir noch die Abendzeitung geben, Leni? Die is in meinem Einkaufskorb«, bat Frau Brandl sie. »Sonst is es immer so langweilig unter der Haube.«

»Ja, davon kann die Heller Luise ein Lied singen«, bemerkte Frau Brunner, »die kommt schier um vor Langeweile, seit sie unter der Haube is!«, und die Damen lachten herzlich.

»Geht’s Haareschneiden?«, fragte ein Bub, der ohne Termin hereinkam. Der kurzen Lederhose, die er trug, sah Leni an, dass sie in der Familie schon länger durchgereicht und nicht geschont worden war, genau wie die abgewetzten Haferlschuhe.

»Hast du net Schul?«

»Na, wir teilen uns doch des Klassenzimmer mit die Zwergerl aus der ersten und zweiten Klass. Die san am Vormittag drin und wir am Nachmittag, weil die Oberstuf vom Lehrer Lieb des andere Zimmer braucht.«

Herrn Lehrer Lieb mussten jeden Tag zwei Buben in der Pause die Brotzeit holen: eine Schachtel Astor-Zigaretten und einen Riegel Blockschokolade. Daran erinnerte sich Leni noch gut.

»Dann setz dich da drüben hin«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl neben der Tür. »Ich schieb dich kurz dazwischen.«

»Ganz die Mama«, lobte Frau Brunner Leni, »immer in Bewegung, des Mädel.«

Als Leni an diesem Abend gegen sieben den Boden im Salon fegte, war ihre Mutter bereits zu einer weiteren Kundin in den Baracken unterwegs, einer jungen Ungarin, die ihre kleinen Kinder nicht allein lassen konnte und gestern, am Montag, keine Zeit gehabt hatte. Leni wischte durch die Waschbecken und Regale und reinigte anschließend die Kämme und Bürsten in warmem Seifenwasser. Ihre Effilierschere klemmte, sie hatte es bemerkt, als sie dem Buben am Vormittag die Haare geschnitten hatte. Sie ölte das Schloss, legte sie zu den anderen Scheren und sah sich noch einmal um. Frau Brandl hatte vor Schreck ihre Zeitung vergessen, als sich Frau Brunners Hund über den Tafelspitz in ihrem Einkaufskorb hergemacht hatte. Leni nahm sie und begann, sie klein zu schneiden – das Zeitungspapier brauchte sie, um die rußgeschwärzte Brennschere zwischendurch abzuwischen –, als ihr Blick auf die Stellenanzeigen fiel. Der Salon Keller am Hofgarten, eine der besten Adressen in München, suchte eine Friseuse, wie die weiblichen Friseure neuerdings genannt wurden, da nun immer mehr Frauen diesen Beruf ausübten. Verlangt wurden eine abgeschlossene Ausbildung und Berufserfahrung. Leni setzte sich und las die Anzeige ein zweites Mal durch. Aber so sehr ihr der Gedanke auch gefiel, in einem Salon wie Keller zu arbeiten, in dem Stars und Ministerialangestellte bedient wurden, konnte sie doch ihre Mutter nicht mit ihrem Geschäft allein lassen. Oder doch?

Hans stand kurz vor seinem letzten Studienjahr. Er hatte nach einem sechsmonatigen Krankenpflegedienst vor vier Jahren die Aufnahmeprüfung an der Ludwig-Maximilians-Universität bestanden und seitdem kein Semester wiederholt, auch wenn er seine Prüfungen nur mit Mühe und manchmal erst im zweiten Anlauf schaffte. Bald würde er die finanzielle Unterstützung von zu Hause nicht mehr brauchen, überlegte Leni, und dann könnte sie ihren Meistervorbereitungskurs und die Prüfung machen und auf einen eigenen Salon sparen. Doch dazu musste sie zuvor bei einem renommierten Friseur Erfahrungen sammeln, der mit den neuesten Produkten und Techniken arbeitete. Einem, der mit der Zeit ging – so wie der Salon Keller.

Sie schnappte sich einen Lappen und putzte durch die Regale, die sie schon am Tag zuvor sauber gemacht hatte. Egal, sie musste irgendetwas tun, das half ihr beim Nachdenken. Wenn sie die Stelle bei Keller bekäme, trennten sie nur noch ein paar Jahre von ihrem eigenen Salon, in dem sie dann keinen Haarlack mehr verwenden würde, sondern das neue »flüssige Haarnetz«, das Taft zum Sprühen, und in dem ihre Kundinnen unter einer Steckfrisur keine Gretelfrisur verstanden, wie sie die Frauen hier auf dem Land trugen: die Haare zu Zöpfen geflochten und einmal um den Kopf gelegt. Auf dem Hochzeitsfoto ihrer Großmutter, das um die Jahrhundertwende aufgenommen worden war, hatte die Landmann-Oma ihr Haar auch schon so frisiert und ihre Mutter vor ihr ebenfalls.

Der Salon Keller am Hofgarten …

Leni betrachtete sich in dem breiten Spiegel über den Waschbecken, der am Rand schon blinde Flecken hatte, und versuchte, sich vorzustellen, wie sie dort arbeitete. Wie sie Schauspielerinnen, Mannequins und den Ehefrauen der Offiziere der US-Armee die Haare machte. In einem blütenweißen Kittel, auf dem ihr Name eingestickt sein würde – Marlene.

Gedankenverloren blätterte sie durch das Auftragsbuch mit den Terminen. Frau Brunner und Frau Brandl würden auch am nächsten Dienstag wieder um acht erscheinen. Und danach Frau Reischl und Frau Schaller um neun. Waschen, Schneiden, Legen und sich über die Angebote vom Metzger austauschen. Kochrezepte, Dorftratsch und zwischendurch Laufkundschaft. Ein Tag war wie der andere in der kleinen Gemeinde am Rande vom Dachauer Moos, während sich der Rest der Welt neu erfand.