© Kathrin Murrins

Dr. med. Daniela Dotzauer ist praktizierende Ärztin, Eltern-Säuglings-/Kleinkindberaterin und seit 30 Jahren mit der Kinderheilkunde befasst. Sie arbeitete am Kinderzentrum München in der „Münchner Sprechstunde für Schreibabys“. Dieses „Münchner Modell“ ist die Basis für ihre Beratungspraxis. Daniela Dotzauer ist zudem als Dozentin für viele Themen rund um die frühe Kindheit und auch in der Hebammenfortbildung für den Bayerischen Hebammenverband tätig.
http://dr-dotzauer.de/

Dr. med. Daniela Dotzauer

Babyschlaf

Fundiertes Wissen und konkrete Handlungsvorschläge aus der Beratungspraxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Lektorat: Birgit Laue, Spalt, und Bettina Salis, Hamburg

Satz und Gestaltung: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen

Umschlaggestaltung: Franziska Brugger, Frankfurt am Main

Umschlagabbildung: © istockphoto.com/FamVeld

ISBN: 978-3-86321-548-4

eISBN: 978-3-86321-590-3

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1
Grundlagen

1Frühkindliche Regulation – Was Kind und Eltern mitbringen

1.1Entwicklungsaufgaben für das Neugeborene und seine Eltern

1.2Intuitive elterliche Kompetenzen

1.3Eltern-Kind-Kommunikation

1.4Elterliche Co-Regulation

1.5Kindliche Selbstregulation

2Entwicklungsaufgaben gemeinsam bewältigen

2.1Die Anfangszeit: Säuglinge von null bis drei Monaten

2.2Erster bio-sozialer Reifungsschub um den dritten Lebensmonat

2.3Das halbe Jahr: Säuglinge von vier bis sieben Monaten

2.4Zweiter bio-sozialer Reifungsschub um den neunten Monat

2.5Die Einjährigen: Säuglinge von acht bis dreizehn Monaten

2.6Das Wichtigste in Kürze: frühkindliche Regulation und Entwicklungsaufgaben

3Frühkindliche Regulationsstörung – Exzessives Schreien

3.1Definition

3.2Prävalenz

3.3Persistierendes Schreien

3.4Diagnostik

3.5Schlafauffälligkeiten exzessiv schreiender Kinder

3.6Konzept der „Münchner Sprechstunde für Schreibabys“

3.7Das Wichtigste in Kürze: exzessives Schreien

4Konkrete Empfehlungen für die Eltern-Säuglings-Beratung bei exzessivem Schreien

4.1Schlafprotokoll

4.2Unterstützung für kleine Säuglinge

4.3Nur satte Kinder können schlafen

4.4Die Morgenstunden nutzen und jeden Tag neu beginnen

4.5Der Umgang mit dem Zwischenerwachen

4.6Abendliche Schreistunden umschiffen

4.7Gefahr eines Schütteltraumas: Notfallplan

4.8Das Wichtigste in Kürze: Empfehlungen für das beratende Umfeld

5Schlaf im frühen Kindesalter

5.1Schlaf-Wach-Regulation

5.2Schlafarchitektur

5.3Schlafbedarf

5.4Wachzeiten

5.5Die Bedeutung der Eltern-Kind-Interaktion

5.6Warum sind Schlaflernprogramme problematisch?

5.7Schlafstörungen

5.8Beurteilung durch die Eltern

5.9Das Wichtigste in Kürze: Schlaf im frühen Kindesalter

5.10Plötzlicher Säuglingstod, SIDS

6Werkzeuge für Eltern: Schlaf-Wach-Organisation unterstützen

6.1Gewusst wann: Co-Regulation zurücknehmen

6.2Selbst steuerbare Einschlafhilfen

6.3Einschlafroutinen

6.4Selbstständiges Einschlafen lehren

6.5Durchschlafen unterstützen und Weiterschlafen lehren

6.6Weiterschlafsprache – Aufwachen ist kein Problem

6.7Was Eltern ihren Kindern zutrauen

Teil 2
Mein Konzept
Die alters-, entwicklungs- und
kommunikationsbezogene Beratung

Einstimmung

7Der praxiserprobte Leitfaden

7.1Der gute Plan

7.2Sichere Bindung

Kleine Säuglinge
null bis drei Monate

8Kleine Säuglinge: null bis drei Monate

8.1Alterstypische Phänomene: Bedürfnisse

8.2Schlafbesonderheiten: Schlafanfänger:innen mit Leichtschlafphasen

8.3Altersgemäßes Schlafen und Tagesstruktur: kurze Wachzeiten

8.4Einschlafhilfen Eltern

8.5Einschlafroutinen: erstes Erkennen von Zusammenhängen

8.6Abendroutine: zur Schlafenszeit geborgen, satt, ruhig und nicht zu müde

8.7Vorgehen in der Nacht: Aufwachen ist kein Problem

8.8Ernährung: Hast du Hunger oder bist du müde?

8.9Altersgemäße Tagesprojekte

8.10Herausforderungen der Beratung: gleiche Sprache, unterschiedliches Verständnis, fixierte Vorstellungen

8.11Das Wichtigste in Kürze: kleine Säuglinge

Halbjährige Kinder
vier bis sieben Monate

9Halbjährige Kinder: vier bis sieben Monate

9.1Alterstypische Phänomene: Gewohnheiten

9.2Besonderheiten: häufiges nächtliches Erwachen

9.3Altersgemäßes Schlafen und Tagesstruktur: drei Tagesschläfchen

9.4Einschlafhilfen: selbst steuerbar?

9.5Einschlafroutine: Einschlafsprache und neue Gewohnheiten

9.6Abendroutine: zur Schlafenszeit geborgen, satt, ruhig und müde

9.7Vorgehen in der Nacht: Aufwachen ist kein Grund zum Essen

9.8Ernährung: Beikost

9.9Altersgemäße Tagesprojekte und neue Entwicklungsaufgaben

9.10Herausforderungen der Beratung: Veränderung braucht kleine Schritte

9.11Das Wichtigste in Kürze: halbjährige Kinder

Einjährige Kinder
acht bis dreizehn Monate

10Einjährige Kinder: acht bis dreizehn Monate

10.1Alterstypische Phänomene: Gewohnheiten, Trennungsangst und motorische Entwicklung

10.2Besonderheiten: Autonomie leben

10.3Altersgemäßes Schlafen und Tagesstruktur

10.4Einschlafhilfen: selbst steuerbar und von den Eltern unabhängig

10.5Einschlafroutine: mit Geborgenheit schrittweise selbstständiger einschlafen

10.6Abendroutine: zur Schlafenszeit geborgen, satt, ruhig, müde und schlafbereit

10.7Vorgehen in der Nacht: Aufwachen gehört dazu

10.8Altersgemäße Tagesprojekte: Trostkultur, Autonomie und gemeinsames Spiel

10.9Ernährung: Beginn des selbstständigen Essens

10.10Herausforderungen der Beratung

10.11Das Wichtigste in Kürze: einjährige Kinder

Ausklang

Glossar

Anhang

Literatur

Bildquellen

Vorwort

Einschlafen ist manchmal schwer und geht nur über Entspannung! Wie genau ein Mensch einschläft, ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Jeder einzelne Mensch hat seine Gewohnheiten und nicht selten wurzeln diese in der Kindheit: ob hell oder dunkel, Ablenkung bis zum Schluss oder Wiedereinschlafen per Getränk – ganz gleich, welche äußeren Bedingungen wir uns schaffen, wir alle müssen zum Einschlafen ruhig werden und die Augen schließen. Beides ist manchmal sehr schwer, insbesondere wenn man klein ist und noch nicht viel von der Welt kennt.

Hebammen und Kinderärzt:innen werden in der Eltern-Kind-Begleitung schon früh mit Nachfragen zum zeitlos brisanten Thema Babyschlaf konfrontiert; sie nehmen eine präventive Schlüsselrolle ein. Die im ersten Lebensjahr rasant voranschreitende Entwicklung des Kindes fordert nicht nur die Eltern, sondern auch die Beratenden müssen Schritt halten und ihre Empfehlungen präzise am jeweiligen Alter und Entwicklungsstand orientieren. Mit diesem Buch möchte ich allen Beratenden (insbesondere Hebammen) und Interessierten Zugang zu wissenschaftlich anerkannten Informationen geben. Vor allem möchte ich sie teilhaben lassen an konkretem praxisbezogenem Fachwissen, das nicht nur ihnen Sicherheit gibt, sondern in der Folge auch den Eltern und deren Kindern.

Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit den Grundlagen der frühkindlichen Regulation, den spezifischen Eigenheiten des Babyschlafs und der Eltern-Kind-Dynamik. Im zweiten Teil werden diese Grundlagen, in Verbindung mit jahrelangem Praxiswissen, auf die verschiedenen Altersgruppen im ersten Lebensjahr angewandt. Auf dieser Grundlage entsteht eine bindungs- und entwicklungsorientierte Beratung mit dem Fokus auf der Eltern-Kind-Interaktion, welche die Bedürfnisse des Babys und seiner Eltern berücksichtigt. Leicht verständliche Erklärungen, logische Schlüsse und vor allem konkrete, kindgerechte und altersgemäße Handlungsempfehlungen werden zum Rüstzeug der Beratenden. Oft zeigen schon kleine, unscheinbare Veränderungen eine große Wirkung. Lassen Sie sich überraschen.

Teil 1

GRUNDLAGEN

Eltern wollen und geben das Beste für ihr Kind. Aber was ist das Beste? Ist es das, womit sich Beratende oder die Eltern oder das Kind gut fühlen?

Optimalerweise sind es altersentsprechende, individuell auf die jeweiligen Eltern und ihr Kind abgestimmte Empfehlungen, mit denen sich alle Beteiligten wohlfühlen. Dies ist keine leichte Aufgabe, denn jeder Mensch hat eigene Vorstellungen vom Wie.

Für eine gesunde Entwicklung ist es notwendig, dass die körperlichen und psychischen Bedürfnisse eines Kindes erfüllt werden. Ein Baby soll sich wohl, geborgen, satt und ausgeschlafen fühlen. Dass dazu körperliche Nähe und gefühlvolle Zuwendung gehört, ist den meisten Eltern klar. Der Weg dahin jedoch mag den Unerfahrenen einfach erscheinen, ist in der Realität aber oft sehr holprig. Denn sich gegenseitig zu erreichen und sich zu verstehen ist ein vielschichtiger Prozess.

1Frühkindliche Regulation – Was Kind und Eltern mitbringen

So wie manche Säuglinge ein spezielles Temperament mitbringen und schwer zu lesen sind, gibt es auch Eltern, die aufgrund ihrer eigenen Geschichte, Vorstellungen und Erwartungen unsicher sind. Deshalb sollten Beratende über die frühen Entwicklungsaufgaben, die kindliche Regulation und die Eltern-Kind-Beziehung Bescheid wissen und auch über die Fallstricke, über die Eltern und Beratende immer wieder stolpern.

Grundlegende Fragen treiben junge Eltern um, wie „Wie gelingt es, ein aufgeregtes Kind zu beruhigen?“, „Wie kann dem Baby das Einschlafen erleichtert werden?“, „Wird es satt?“, „Hat es genug Nähe?“, „Fühlt es sich geborgen und zufrieden?“, „Welches Bett ist das Richtige?“ Mit all diesen Fragen suchen sie im Zweifel bei ihrer ersten Instanz Hilfe – bei der Hebamme oder in der kinderärztlichen Praxis. Den Eltern hilft es dann wenig, wenn diese Fragen global und orientiert an dem gerade herrschenden Mainstream beantwortet werden, denn es kommt auf die richtige Haltung an. Diese müssen Eltern mit jedem neuen Baby jedes Mal neu für sich entdecken und sich aneignen. Und genau dabei hilft eine unterstützende Orientierung durch eine Fachkraft. Durch fundiertes Hintergrundwissen lässt sich Babyverhalten leichter verstehen und einordnen – und es hilft den interessierten Eltern. Wenn sie wissen, was sie tun können, erleben sie sich in ihrer Erziehungskompetenz selbstwirksam.

Diese Sicherheit erleichtert es nicht nur ihnen selbst, sondern auch dem Kind, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Eine Welt, in der es nicht um das korrekte, konsequente und ehrgeizige Umsetzen von Handlungsempfehlungen oder Schlafprogrammen geht, sondern um ein Sich-Einfühlen und Bezug-Nehmen, ein Sich-leiten-Lassen vom Kind, dessen Bedürfnissen und von der eigenen Intuition.

Diese frühen Entwicklungsaufgaben gemeinsam zu lösen, stärkt die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung beträchtlich, und das begleitende und beratende Umfeld hat es in der Hand, daran mitzuwirken.

Um diese gemeinsame Aufgabe besser zu verstehen, erscheint es sinnvoll, die Fähigkeiten des neugeborenen Kindes sowie auch die unterstützende Rolle der Eltern genauer zu betrachten.

1.1Entwicklungsaufgaben für das Neugeborene und seine Eltern

Das Neugeborene kommt mit einem genetisch vorbestimmten und physiologisch unreifen Gehirn auf die Welt. Wird das Kind älter und macht es wiederkehrende Erfahrungen reift sein Gehirn und verändert sich in Struktur und Funktion; es passt sich also an und entwickelt sich.

Neben Genetik, Temperament, Familie und Umwelt spielt die kindliche Selbstregulationsfähigkeit (wie es in der Fachsprache heißt) eine zentrale Rolle. Mindestens ebenso wichtig ist dabei die elterliche Co-Regulation, beides verdient ein besonderes Augenmerk.

„So bieten Eltern ihrem Baby in den Interaktionen und Zwiegesprächen des Alltags einen Rahmen, in dem es seine heranreifenden Fähigkeiten zur Selbstwirksamkeit und Selbstregulation erproben und einüben kann“ (Papoušek 2001). Nur durch seine Bezugspersonen lernt das Baby sich selbst kennen und seine inneren Zustände einzusortieren. Es wird vertraut im Umgang mit sich und seiner Umwelt, und es lernt durch seine Eltern, sich in der Welt zurechtzufinden.

Mit ihrem „Kreis der Sicherheit“ beschreiben der Familientherapeut Bert Powell und seine Kolleg:innen den Wunsch eines Kindes an seine Eltern: „Denke immer daran: Durch die Art, wie du mich behandelst, lerne ich etwas über mich. Deshalb lehre mich, indem du größer, stärker, weiser und gütig bist“ (Powell 2015).

Beratende können den Eltern helfen, größer, stärker, weiser und gütig zu sein.

1.2Intuitive elterliche Kompetenzen

Bei dieser anspruchsvollen Aufgabe helfen allen Eltern angeborene Verhaltensbereitschaften, also die Fähigkeit, die Bedürfnislage eines Säuglings zu erkennen und adäquat zu reagieren. Mechthild Papoušek, eine Koryphäe bezüglich der frühen Eltern-Kind-Beziehung, etablierte den Begriff der „intuitiven elterlichen Kompetenzen“, welche Eltern befähigen, ihr Verhalten im Austausch mit dem Baby intuitiv auf dessen Bedürfnisse abzustimmen (Papoušek 2004).

So veranlasst dieses biologisch angelegte, nicht bewusst gesteuerte Verhalten die Eltern dazu, in Ammensprache mit ihrem Baby zu sprechen, und sie wenden intuitiv ihr Gesicht den kindlichen Augen zu, in genau dem Abstand, indem Neugeborene scharf sehen können; oder sie öffnen beim Löffelfüttern des Kindes gleichzeitig den eigenen Mund als ideales Modell zum Nachahmen.

Damit diese Kompetenzen zum Tragen kommen, müssen Eltern bereit und in der Lage sein, sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf das Baby einzulassen, sich also emotional verfügbar und affektiv schwingungsfähig (gefühlsbetont) von seinen Signalen leiten zu lassen (Papoušek 2004).

EXKURS: ENGELSKREIS UND TEUFELSKREIS

Konkret heißt das zum Beispiel, dass das Schreien eines Säuglings die Eltern in Alarmbereitschaft versetzt und intuitive Beruhigungshilfen auslöst, die dem Baby helfen, sich anzuschmiegen und zu beruhigen. Dies wiederum bringt die Eltern zur Ruhe und bestärkt sie in ihrem Vertrauen auf ihre eigenen Fähigkeiten und intuitiven Kompetenzen. So entsteht der von Mechthild Papoušek beschriebene „Engelskreis positiver Gegenseitigkeit“ (Papoušek 2004).

Grundsätzlich verfügen alle Eltern über diese intuitiven Kompetenzen. Sie können aber unter bestimmten Umständen abgeschwächt, gehemmt oder blockiert werden – und dann vertrauen die Eltern ihrer eigenen Intuition nicht mehr und verlieren den Zugang beziehungsweise das Vertrauen zu ihrem Bauchgefühl. Zum Beispiel bei lange bestehenden Ausnahmesituationen wie Schlafentzug, Erschöpfung, Wochenbettdepression, traumatischem Geburtserleben oder Verlusterlebnissen. Oder eben auch wenn ein Baby in den ersten drei Monaten exzessiv und scheinbar untröstlich schreit.

Zwar löst das unstillbare Schreien zunächst Alarmierung und intuitive Beruhigungshilfen aus, wenn ein Baby diese aber mit taktiler Abwehr und verstärktem Schreien beantwortet, dann reagieren viele Eltern mit Versagensgefühlen, sie steigern die Beruhigungsversuche, worauf das Baby noch mehr außer sich gerät und noch exzessiver schreit – bis die Eltern schließlich dekompensieren. Das kann so weit gehen, dass Eltern ihr Baby anschreien oder im Extremfall sogar schütteln.

So entsteht ein „Teufelskreis eskalierender Erregung und negativer Gegenseitigkeit“ (Papoušek 1995).

Langandauernde Ausnahmesituationen (wie exzessives Schreien) können elterliche Intuition blockieren.

Wenn Teufelskreise zur Normalität werden und vielleicht noch lange Zeit andauern, gefährdet dies nicht nur die Entwicklung des Kindes, sondern es kommt auch zu einer Belastung der Eltern-Kind-Beziehung mit negativen Auswirkungen auf die Bindungsentwicklung.

Im Alltag ist es völlig normal, dass die Kommunikation zwischen Eltern und Kind nicht immer störungsfrei abläuft und es immer wieder zu Missverständnissen kommt, aber wenn die positiven Erfahrungen mit regelmäßig gelingenden Interaktionen überwiegen, können gelegentliche Missverständnisse leicht verkraftet werden (Benz 2015).

1.3Eltern-Kind-Kommunikation

„Feinfühligkeit bedeutet, die Signale eines Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und entwicklungs- und situationsangemessen sowie prompt zu reagieren“ (Ainsworth 1977). „Dies zeigt sich in täglichen Interaktionen: beispielsweise wenn Eltern – geleitet durch Signale ihres Kindes – ihr Baby beruhigen, wenn es noch nicht in der Lage ist, es selbst zu tun. Oder sie seine Bedürfnisse nach Nähe und Rückversicherung erkennen und adäquat beantworten. Auf diese Weise kompensieren die Eltern das, was das Kind noch nicht allein schafft. Es lernt, dass es sich auf die Unterstützung seiner Eltern verlassen kann, und erlebt mögliche Antworten auf innere Zustände. Ein hohes Maß an Feinfühligkeit vonseiten der Bezugsperson führt zu emotionaler Sicherheit des Kindes“ (Benz 2015).

Je feinfühliger die Bezugsperson agiert, desto größer die emotionale Sicherheit des Kindes.

Babys können also von Anfang an mit ihren Eltern durch unterschiedliche Signale in Kontakt treten. Dabei hilft ihnen nicht nur die Stimme (zum Beispiel das Schreien), sondern sie haben ein ganzes Repertoire an Möglichkeiten: Durch Bewegungen, Körperhaltung und -spannung sowie Mimik und Blickverhalten verraten sie den Eltern ihre entsprechende Befindlichkeit und Bedürfnislage. Im besten Fall verstehen die Eltern diese Signale intuitiv und können ihren Kindern helfen, diese Gefühle einzuordnen, denn die Babys haben von vielen dieser Befindlichkeiten noch gar keine Ahnung. Interpretieren die Eltern die Signale falsch, kann es dazu führen, dass ein müdes Baby sein Unwohlsein mit unpassenderen Antworten (zum Beispiel Aktivität oder Essen) verbindet.

EXKURS: EIN KLEINES BABY WEISS NOCH NICHT, WAS „MÜDE“ IST (BENZ 2015)

Wenn ein sattes, schon länger waches Baby den Blick abwendet, unruhig wird und strampelt, fühlt es sich zunächst „diffus unwohl“ (zum Beispiel müde). Wie das Kind dieses Gefühl einordnet, daran haben die Eltern entscheidenden Anteil. Sie können dem Baby passende Erfahrungen ermöglichen und damit die Selbstregulation im Laufe der Zeit unterstützen.

Version 1: Das Baby lernt, seine Gefühle einzuordnen

Wird dieses Gefühl („diffus unwohl“) von der Bezugsperson als Müdigkeit interpretiert und werden entsprechend Maßnahmen eingeleitet, die den Schlaf unterstützen, ermöglicht dies dem Baby im Laufe der Zeit, seinem „diffus unwohl“-Gefühl die Qualität „müde“ zuzuordnen. Und zu verinnerlichen, dass „Schlafen“ die passende Antwort auf dieses Gefühl ist.

Bedürfnisse kleiner Babys: müssen sie erst kennenlernen. Eltern sollten sie sehen, richtig interpretieren und prompt und angemessen reagieren.

Version 1: Die Eltern erleben einen Engelskreis

Der Elternteil, welcher bei dem Beispielbaby die Müdigkeitszeichen rechtzeitig erkennt und entsprechend Einschlafunterstützung anbietet, fühlt sich beim prompten Einschlafen des Babys in seiner elterlichen Kompetenz gestärkt. Das elterliche Selbstvertrauen und die Sicherheit im Umgang mit dem Baby steigen – das Kind erlebt sichere Eltern, die wissen, was zu tun ist.

Abb. 1:Passende Unterstützung

Passende Angebote geben Sicherheit – Eltern und Kind!

„Machen Eltern die Erfahrung, passende Unterstützungsangebote für ihr Kind zur Verfügung zu haben, entwickeln sie zunehmend Vertrauen in dessen wachsende Fähigkeiten. Sie können differenzieren, ob und wie viele Regulationshilfen ihr Kind benötigt und welche Situationen es möglicherweise schon allein bewältigen kann. Kinder, die feinfühlig in der Regulation von Verhaltenszuständen unterstützt werden, können so das Erfahrene zunehmend selbstständig umsetzen und Situationen selbstwirksam meistern. Die Eltern erhalten dadurch das Signal, dass sie ihre Hilfen mehr und mehr zurücknehmen können“ (Benz 2015).

Version 2: Das Baby kann sein unklares Gefühl nicht richtig einordnen

Natürlich kann die Unruhe des strampelnden Babys in diesem Beispiel auch anders, zum Beispiel als Langeweile interpretiert werden. Bekommt das Baby dann ein Unterhaltungsangebot, wird es sich gerne ablenken lassen. Doch mit voranschreitender Zeit und Müdigkeit wird sich schnell eine noch größere Unruhe einstellen. Darauf bieten viele Eltern verschiedenste Beruhigungsangebote – mit zunehmender Bewegungsintensität. Häufig kehrt erst durch ein Nahrungsangebot (Stillen/Flasche) kurzfristig Ruhe ein. Das Baby bekommt Nahrung und natürlich Zuwendung – und mit Glück schläft es dabei ein. Was aber, wenn nicht?

In jedem Fall fehlt dem Baby die Verknüpfung des ursprünglichen Gefühls mit der richtigen Antwort. Das primär diffuse Gefühl (müde) wurde erst mit Unterhaltung, Ablenkung, dann mit verschiedenen Beruhigungsstrategien (Bewegung) und schließlich mit Nahrung (Essen) „beantwortet“. Das Baby kann keinen Zusammenhang herstellen zwischen dem Gefühl „müde“ und der Lösung „schlafen“. Denn die elterlichen Antworten wechselten und die Lösung des Problems erfolgte eher zufällig – und ist deshalb für das Baby nicht einzuordnen (Benz 2015).

In diesem Fall wurde das Baby wenig in seinen selbstregulatorischen Fähigkeiten unterstützt, und die intuitiven elterlichen Kompetenzen werden in Mitleidenschaft gezogen (Papoušek 1995).

Version 2: Die Eltern erleben einen Teufelskreis

Zwar erkennen diese Eltern den Handlungsbedarf beim unruhigen Kind, aber sie liegen mit der Interpretation seiner Befindlichkeit daneben. Sie vermuten Langeweile. Diese Interpretation wird gestärkt, da das Baby auf neue Reize mit einer Orientierungsreaktion antwortet: Anschauen und Innehalten. Es wird also minimal ruhiger.

Dementsprechend wird das eigentlich müde Baby weiter stimuliert, unterhalten und abgelenkt. Es versucht, sich optisch stabil zu halten, schaut und wirkt interessiert, aber auf einem hohen Erregungslevel, der noch mehr steigt. Die Eltern verleitet dieses immerwährende Interesse zu noch mehr Stimulation, welche das Baby von seiner Müdigkeit kurzfristig ablenkt, seine Überreizung jedoch verstärkt. Plötzlich kippt die Situation, denn die Müdigkeit nimmt im Verlauf der Zeit weiter zu. Das Kind schreit nun, wirkt aufgelöst und muss beruhigt werden. Die sich nun steigernden Beruhigungsstrategien (wie Federwiege, Pezziball) enden oft in beruhigendem Saugen beim Stillen oder an der Flasche – ganz gleich, ob Hunger besteht oder nicht.

An dieser Stelle ist erneut Raum für Fehlinterpretationen und Unsicherheit. Hatte das Baby Hunger oder konnte es durch das beruhigende Saugen und Nuckeln getröstet werden (Benz 2015)?

Das beim Trinken einschlafende Baby wacht oft beim Ablegeversuch wieder auf. Es schreit erneut, ist immer noch unausgeschlafen, nun aber auf einem noch höheren Erregungsniveau, aus dem heraus ein friedliches Einschlafen undenkbar ist.

Abb. 2:Unpassende Unterstützung

Die Eltern sind verunsichert in ihrem Selbstvertrauen, verzweifelt und ihre Hilflosigkeit steigt. Damit liegt ein typischer „Teufelskreis“ vor, mit wechselseitiger eskalierender Erregung (Papoušek 1995).

Wenn ein kleiner Säugling seine Eltern also fragt: „Mama/Papa, warum fühle ich mich so komisch?“, ist es gut, wenn die Mutter oder der Vater darauf die passende Antwort weiß (zum Beispiel müde) und zur Lösung (schlafen) verhelfen kann. Denn nur dann kann das Baby diesem „komischen Gefühl“ im Laufe der Zeit einen Zustand (müde) zuschreiben, auf den es irgendwann die Lösung (schlafen) selbst kennt und diese künftig auch eigenständig herbeiführen kann.

Braucht es die perfekten Eltern?

Eindeutig nicht! Darauf wies der 1886 geborene Psychoanalytiker Donald Winnicott hin. Er zeigte, dass die Mütter, die anfangs prompt und zügig ihr Kind zufriedenstellten, sich beim heranwachsenden Baby mehr Zeit ließen. Sie tolerierten deren Quengeln und Unzufriedenheit in dem gleichen Maße, in dem die Babys lernten, sich selbst zu regulieren. Babys können so lernen, mit negativen Gefühlen umzugehen. Genau dies ist der Antrieb für die kindliche Weiterentwicklung und Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit. So ist nach Winnicott die „good-enough-mother“ (gut-genug-Mutter, hinreichend gute Mutter) der „too-good-mother“ (zu gute Mutter) vorzuziehen. Die „good enough-Eltern“ kümmern sich auch um negative Gefühle und deren Einordnung. Hingegen möchte die „too-good-mother“ alle negativen Gefühle von ihrem Kind fernhalten und nimmt ihm damit unbeabsichtigt die Möglichkeit, den Umgang damit zu erlernen.

Zum Trost für alle Eltern: Eltern sollen gar nicht perfekt sein – hinreichend gute Eltern sind das Beste, was einem Kind passieren kann (Winnicott 1990).

Das Streben nach Perfektionismus (stringent, konsequent und mit eiserner Disziplin ein Ziel verfolgen) mag in der modernen Arbeitswelt für den Einzelnen förderlich sein, beim Elternwerden ist es hinderlich. Beim Übergang zur Elternschaft sind permanente Abstimmungsprozesse notwendig, ein Sich-Einlassen auf das Kind, ein Hinfühlen und flexibles Agieren in Abhängigkeit von der kindlichen Befindlichkeit. Da sind viele Kurskorrekturen und Kompromisse nötig, denn weder das Schwarz noch das Weiß der entsprechenden Wunschvorstellungen, sondern nur die gesamte Farbpalette mit allen Bunt- und Graustufen sowie die kleinen Schritte führen die Eltern ans Ziel.

Beratende können Eltern ermutigen …

… auf ihre Intuition zu vertrauen,

… die kindlichen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu versuchen, diese feinfühlig zu beantworten,

… die eigenen elterlichen Bedürfnisse ernst zu nehmen,

… den Kindern wachsende selbstregulative Fähigkeiten zuzutrauen,

… nicht nach Perfektion zu streben, sondern die Begleitung, den Weg und die kleinen Schritte zu feiern.

Dann können sich Eltern als hinreichend gute Eltern wohlfühlen!

1.4Elterliche Co-Regulation

Eltern und Kind bewältigen gemeinsam – im Sinne einer Co-Regulation – die Herausforderungen der frühen Kindheit. Voraussetzung dafür ist eine gelingende Verständigung von Eltern und Kind (vorsprachliche Kommunikation). Dies wird im alltäglichen Miteinander, beim Beruhigen, Schlafenlegen, Füttern, Wickeln, Zwiegespräch und Spiel eingeübt (Papoušek 2004).

Das beinhaltet den Aufbau einer sicheren Bindung, die Grunderfahrung einer positiv-belohnenden Eltern-Kind-Bezogenheit, frühe Integration von Erfahrungen und die Sprachentwicklung (Papoušek 2002).

Das Ehepaar Papoušek hat die frühen Lern- und Integrationsprozesse intensiv erforscht und das Modell der basalen adaptiven Verhaltensregulation entwickelt, das die Anpassung an die Umwelt durch das ausbalancierte Zusammenspiel aktivierend-erregender und hemmend-beruhigender Prozesse beschreibt (Papoušek 2009), so zum Beispiel:

Wachheit – Schläfrigkeit

Erregung – Beruhigung

Zuwendung – Abwendung

selbstständiges Erkunden – Rückversicherung bei sicherer Basis

Autonomiebestrebungen – Hilfesuche

Bei einem Missverhältnis von Aktivierung und Hemmung kann es zu Fehlanpassungen kommen: Auf der einen Seite zu einem erhöhten Erregungsniveau wie exzessivem Schreien, Ablenkbarkeit, Überreiztheit, ängstlicher Abwehr, Schlafstörung, Trotz und aggressivem Verhalten. Oder andererseits zur Blockierung der Reaktivität wie allgemeiner Unzugänglichkeit, Blickvermeidung, sozialem Rückzug und Vermeidungsstrategien, exzessivem Klammern, Hemmung der Explorationsbereitschaft, Unselbstständigkeit und raschem Aufgeben bei Misserfolg (Papoušek 2004).

In den alltäglichen Eltern-Kind-Interaktionen wirken die Initiativen und Kompetenzen von Kind und Eltern im Sinne einer Co-Regulation und einer „affektiven Abstimmung“ zusammen (Stern 1985, Papoušek 1999, Papoušek 2002).

1.5Kindliche Selbstregulation

Selbstregulation beschreibt die Fähigkeit eines Kindes, das eigene Verhalten entsprechend den kognitiven, emotionalen und sozialen Anforderungen in einer bestimmten Situation zu steuern (Posner 2000).

Ein kleiner Säugling muss seine Gefühle und Bedürfnisse, seine inneren Zustände erst kennenlernen und einen Zusammenhang mit deren Befriedigung erfahren, bevor er lernen kann, sich zu regulieren.

Dies geschieht im täglichen Miteinander in unterschiedlichsten Alltagssituationen. Die Eltern unterstützen die Entwicklung selbstregulatorischer Fähigkeiten, indem sie ihr Kind dort, wo es notwendig ist, co-regulatorisch unterstützen. Diese Unterstützung sollte aber im weiteren Verlauf rechtzeitig und kleinschrittig wieder reduziert werden, und zwar in dem Maße, wie das weiterentwickelte Kind schon selbst versucht, alleine zurechtzukommen.

Dabei braucht jedes einzelne Kind seine eigene Co-Regulation – und die wiederum unterscheidet sich je nach Kontext. Hat ein Kind Probleme, sich selbst zu regulieren (Regulationsschwierigkeiten), müssen die Beteiligten (mithilfe von Beratenden) herausfinden, wo es bei der elterlichen Co-Regulation hapert.

Inwieweit ein Kind lernt, sich selbst zu regulieren, hängt einerseits von der elterlichen Interaktion und andererseits von der elterlichen Erziehungshaltung ab.

Für gelingende Co-Regulation sind feinfühlige Eltern notwendig, welche ihrem Kind wiederkehrend positive, kontingente Erfahrungen ermöglichen, es in seiner Regulation unterstützen, spiegeln und ein passendes Modell anbieten. Ebenso wichtig ist es, dass die Eltern ihre Bemühungen rechtzeitig wieder zurücknehmen, wenn das bereits weiter entwickelte Kind versucht, sich selbstständig zu regulieren (Kapitel 6.1).

Beispiel: Einschlafroutine – elterliches Verhalten

Ein Beispiel dafür ist die Einschlafroutine, welche Eltern etablieren können, um ihrem Kind den Weg zur Entspannung und zum Einschlafen zu zeigen. Diese positiv besetzte Verhaltenskette signalisiert dem Kind beim inneren Gefühl der Müdigkeit: „Jetzt geht es um Ruhigwerden und Schlafen.“ Wenn das Kind damit regelmäßig positive Erfahrungen macht, wird es eine Schlaferwartungshaltung aufbauen, das heißt, es trägt selbstständig etwas zu seiner eigenen Beruhigung bei und überlässt sich dem Schlaf. Das Kind macht mit und lernt im Laufe der Zeit: Einschlafen geht ganz leicht. Dann besteht seitens der Eltern keine Notwendigkeit mehr, den Einschlafprozess dauerhaft zu begleiten, denn das Kind hat bereits eine positive Verknüpfung und weiß längst, wie Einschlafen geht. Genau das wäre der Zeitpunkt des Vertrauens in die kindliche (Selbst-)Regulation und es sollte eine Welt erschaffen werden, in der es völlig normal ist, sich selbstständig und vertrauensvoll dem Schlaf zu überlassen.

Gewöhnen die Eltern das heranwachsende Kind dauerhaft an spezielle Bedingungen, zum Beispiel ausschließlich mit oder auf den Eltern, beim Trinken oder nur mit Bewegung einzuschlafen, wird dies für das Kind zur Normalität. In dieser Welt gelingt das Einschlafen dann nur in der gewohnten Konstellation. Eine Hilfe, welche im kleinen Babyalter durchaus nötig und sinnvoll war, wird der Einfachheit halber oft beibehalten und ist dann essenzieller Bestandteil des Einschlafprozesses – tagsüber, abends und vor allem auch nachts! Unter Umständen bleibt dies über Jahre unverändert, manchmal bis ins Erwachsenenalter hinein.

2Entwicklungsaufgaben gemeinsam bewältigen

Je nach Alter unterscheiden sich die Aufgaben, die sich Eltern und Kind stellen.

2.1Die Anfangszeit: Säuglinge von null bis drei Monaten

Abb. 3:0–3 Monate

In den ersten Monaten stehen neben den psycho-emotionalen Aspekten physiologische Anpassungsprozesse im Vordergrund. Das Baby erlebt ganz Neues, wie Nahrung und Verdauung, Tag- und Nachtrhythmus oder auch Schlafen und Wachen, Aufregung und Beruhigung, Energiehaushalt, Thermoregulation oder die Schwerkraft. Das sind grundlegende – auch körperliche – Erfahrungen. Mithilfe seiner Eltern kann sich das Kind an all diese Faktoren anpassen und durch wiederkehrende Erfahrungen Zusammenhänge verinnerlichen.

Wesentlich dabei ist, dass das Kind mit Hilfe seiner Eltern lernt, seine Verhaltenszustände zu regulieren, z. B. das Wachsein, das Schlafen sowie den Übergang zwischen beidem (Schlaf-Wach-Organisation).

Im Alltag junger Familien zeigt sich allerdings, dass die ersten Monate oft gar nicht so leicht sind und positive Erfahrungen zwar angestrebt, aber manchmal nur schwer erreicht werden. Die tägliche Versorgung, das Einfinden in die neuen Rollen, das Erkennen von Bedürfnissen und deren Befriedigung sind große Herausforderungen. Und bei allem soll das Paar nicht auf der Strecke bleiben.

Für etliche Paare prägt Frust diese Zeit, Eltern lesen Ratgeber, um besser zu verstehen, das Baby reagiert mit häufigen Schreiattacken und am Ende steht die Erkenntnis, dass die Wunschvorstellung aus der Schwangerschaft mit der erlebten Realität wenig zu tun hat.

2.2Erster bio-sozialer Reifungsschub um den dritten Lebensmonat

Älterwerden ist zwar ein kontinuierlicher Prozess, Entwicklung und Reifung geschehen allerdings in Stufen, in sogenannten Reifungsschüben. So ist es dem ersten bio-sozialen Reifungsschub um den dritten Lebensmonat zu verdanken, dass sich die manchmal sehr schwierige Anfangszeit zum Guten verändert. Die kindliche Lernfähigkeit nimmt zu und es entstehen neue Fähigkeiten zur Selbstberuhigung. Das Kind entwickelt seine Kommunikationsfähigkeiten weiter, es beginnt gezielt zu lächeln und zu lautieren, hält länger Blickkontakt, imitiert und richtet Gestik und Mimik nun zunehmend auf bestimmte Personen. Der Kinderpsychiater Emde beschrieb 1984 diese Phase der gerichteten sozialen Verhaltensbereitschaften als das Erwachen der sozialen Kommunikation („awakening of sociability“) (Emde 1984).

Die Kinder können nun ihre Bedürfnisse zielgerichteter äußern, die Eltern sie besser verstehen und zufriedenstellen. Zudem haben viele Eltern sich besser in ihr neues Leben und in ihre neuen Rollen eingefunden.

Die Schreiattacken, die aufgrund der beschriebenen Reifungsprozesse oft nach den ersten drei Monaten spurlos verschwinden, werden bis heute teilweise immer noch „Dreimonatskoliken“ genannt – obwohl sich die Idee der Koliken, also des „unklaren Bauchwehs“ und damit das unstillbare Schreien, als Folge dieses Bauchwehs, mittlerweile nicht mehr halten lässt (Kapitel 3.2).

2.3Das halbe Jahr: Säuglinge von vier bis sieben Monaten

Abb. 4: 4–7Monate

Mit circa sechs Monaten interessieren sich Kinder für alles und sind daher leicht ablenkbar, andererseits können sie auch schon ausdauernd Blickkontakt halten, zeigen prompt ihr soziales Lächeln und lautieren mit den Bezugspersonen. Zudem kommt es zur Reorganisation des Schlafs, die Lernfähigkeit nimmt zu und damit auch die Fähigkeit zur Selbstberuhigung. In dieser Phase der vorsprachlichen Kommunikation üben die Eltern mit dem Kind im Zwiegespräch und beim Spiel die gemeinsame Regulation von Aufmerksamkeit und positiver Erregung (Papoušek 1987). Das Kind erlebt sich zunehmend selbstwirksam – vor allem beim selbstgesteuerten Erkunden seiner Umwelt mit Mund, Hand und Augen (Largo 2014).

Im Zusammenhang mit dem Schlafenlegen ist es Aufgabe der Eltern, ihr Kind zu erreichen und ihm Entspannung und Wohlgefühl zu vermitteln. So zeigen sie ihm beim gemeinsamen Ruhigwerden den Weg zur Entspannung.

Auch beim Schlafen kommt es durch die voranschreitende Reifung und die Ausbildung der Schlafphasen und Schlafzyklen zu Veränderungen (Kapitel 5.2). Das Einschlafen am Tag gelingt jetzt leichter, aber die Nächte werden jetzt wieder unruhiger.

Eltern können nun die Selbstberuhigung des Säuglings unterstützen, indem sie berücksichtigen, dass ihr Kind sich zunehmend selbst regulieren kann. Sie sollten also ihr Kind befähigen, sich selbst zu helfen. Das heißt zum Beispiel, dass sie ihr Kind nicht ausschließlich beim Trinken einschlafen lassen, sondern ihm einen anderen Weg zur Entspannung zu zeigen.

2.4Zweiter bio-sozialer Reifungsschub um den neunten Monat

Abb. 5:8–13 Monate