LYNN H. BLACKBURN

Verdeckte

GERECHTIGKEIT

Deutsch von Dorothee Dziewas

Die Bibelstellen sind der Übersetzung Hoffnung für alle®
entnommen, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

© 2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Für Brian

Dieses Buch gäbe es ohne deine Ermutigung
und Unterstützung gar nicht. Danke dafür, dass du
an mich geglaubt hast, sogar – und gerade dann –
als ich dachte, dieser Traum würde niemals
wahr werden.

Ich liebe dich sehr!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Brief an die Leserinnen und Leserinnen

Dank

Denn der Geist, den Gott uns gegeben hat,
macht uns nicht zaghaft, sondern er erfüllt uns
mit Kraft, Liebe und Besonnenheit
.

2. Timotheus 1,7

1

Blake Harrison zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und rannte durch den sintflutartigen Regen. Ein kalter Wolkenbruch im November hatte ihm als Krönung einer zermürbenden Woche gerade noch gefehlt.

Er glitt auf den Fahrersitz seines BMWs und schob sich die Kapuze aus dem Gesicht. Wegen mehrerer fehlerhafter Posten hatte er diese Woche jeden Abend länger arbeiten müssen.

Wenn sie die Probleme mit der Herstellung nicht bald in den Griff bekamen, liefen sie ernsthaft Gefahr, nicht rechtzeitig liefern zu können und Kunden zu verlieren. Der Verlust von Kundschaft bedeutete Verlust von Arbeitsplätzen und Harrison Plastics International hatte seit dreiundsechzig Jahren niemanden mehr entlassen. Blake wollte nicht der erste Harrison in drei Generationen sein, der seine Angestellten im Stich ließ. Ihre Freunde.

Er schüttelte die düsteren Gedanken ab. In der Vergangenheit hatte es gelegentlich Probleme gegeben und die hatten sie bewältigt, ohne Stellenstreichungen vornehmen zu müssen. Er vertraute seinen Ingenieuren. Sie würden die Dinge wieder ans Laufen bringen. Nach einer vernünftigen Mahlzeit, einer Gutenachtgeschichte mit seiner kleinen Tochter Maggie und einer achtstündigen Verabredung mit seinem Kopfkissen konnte er sich bestimmt wieder entspannen.

Blake fuhr vom Firmenparkplatz und machte sich auf den Heimweg von nicht mal einem Kilometer. Bei dem Regen konnte man die Markierungen auf dem Asphalt kaum sehen, also fuhr er langsam, als er die scharfe Kurve nach der Hälfte der Strecke nahm.

In seinem Rückspiegel leuchteten Scheinwerfer auf, die viel zu schnell näher kamen. War der Typ nicht gescheit genug, um langsamer zu fahren? Zumindest würde er ihm nicht lange an der Stoßstange kleben.

Ohne Vorwarnung blendeten die Scheinwerfer im Spiegel auf und ein plötzlicher Aufprall schleuderte Blake nach vorne, bevor der Sicherheitsgurt ihn unsanft wieder zurückriss. Er versuchte zu lenken, während der BMW über die Straße rutschte, aber auf der nassen Fahrbahn verlor er die Kontrolle und landete mit dem Heck zuerst im Graben auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Blake wusste nicht, wie lange er dort saß, die Hände ums Lenkrad geklammert. Während sein Atem sich beruhigte, machte er eine kurze Inventur. Er konnte sowohl Arme als auch Beine bewegen. Sein Hals und Rücken würden ihn morgen umbringen, aber er hatte nicht das Gefühl, dass er irgendeine größere Verletzung erlitten hatte. Er stieß ein Dankgebet aus, während er auf dem Beifahrersitz nach seinem Handy tastete, um einen Abschleppwagen zu rufen.

Doch bevor er das Telefon gefunden hatte, wurde die Beifahrertür aufgerissen. Er blinzelte im grellen Licht der Deckenleuchte und versuchte, sich auf die dunkle Gestalt zu konzentrieren, die sich in sein Auto beugte. Einen Moment lang sah er große grüne Augen mit besorgtem Blick, bevor sich ein schmaler Finger vorstreckte und das Licht löschte.

„Können Sie sich bewegen?“ Wegen des trommelnden Regens konnte er die Worte kaum verstehen. Eine kleine Hand packte seinen Arm. „Blake? Sie müssen sich konzentrieren.“

Was sollte das?

Sie kam näher und löste seinen Sicherheitsgurt. „Können Sie sich bewegen?“

„Ja. Was machen Sie –“

„Dann bewegen Sie sich!“ Sie griff um das Lenkrad herum, stieß die Fahrertür auf und schob ihn in den strömenden Regen. Blake rutschte auf der Böschung aus und hatte sich gerade wieder aufgerappelt, als sie seine Hand packte. „Gehen wir. Wir müssen hier weg.“

„Hey.“ Er schüttelte sie ab. „Ich gehe nirgendwo mit Ihnen hin. Ich kenne Sie nicht. Ich muss mein Handy finden und –“

„Sind Sie lebensmüde?“

„Was?“

„Die drehen um. Wir müssen von dem Wagen weg.“

Umdrehen? Ihm wurde bewusst, was ihre Worte bedeuteten. Jemand hatte ihn absichtlich gerammt?

„Hier entlang.“ Als ihre Hand seine umfasste, ließ Blake sich von dem Wrack fort- und die Böschung hinaufziehen. Sie waren gerade zwischen den Bäumen abgetaucht, als Scheinwerfer um die Kurve kamen und das unverkennbare Geräusch auf dem Asphalt schleifender Metallteile durch die Luft tönte.

Er drehte sich um und sah voller Entsetzen, wie ein riesiger Pick-up an den demolierten Überresten seines Autos vorbeiraste.

„Das war knapp.“ Die geheimnisvolle Frau hatte ihr Mobiltelefon am Ohr. „Schicken Sie einen Krankenwagen.“

„Ich brauche keinen Krankenwagen“, sagte Blake. „Ich brauche Erklärungen.“ Warum tat jemand so etwas? Er hatte keine Feinde. Na gut, den einen oder anderen, aber niemand würde ihn von der Straße drängen und versuchen, ihn zu töten. „Wer sind Sie?“

Der schrille Klang von Sirenen zerriss die Luft und sie trat einen Schritt zurück. „Wer ich bin, spielt keine Rolle. Am besten wäre es sogar, Sie würden den Behörden gar nichts von mir erzählen.“

Sie verschwand schneller im Wald, als er es für möglich gehalten hätte. Er könnte versuchen, ihr zu folgen, aber im Dunkeln und bei diesem Regen hatte er nicht die geringste Ahnung, in welche Richtung sie gelaufen war. Blake starrte auf die Stelle, an der er sie aus den Augen verloren hatte, und rief „Danke“, bevor er wieder die Böschung hinunterrutschte, während der erste Streifenwagen neben ihm hielt, die Lichter blau und unheimlich in der düsteren Nacht.

Die nächsten Stunden vergingen wie in einem Nebel aus Bildern. Die Scheinwerfer der Polizei- und Rettungswagen, die den umliegenden Wald erleuchteten. Der Beamte, der ihm sagte, der Unfall sei mit einem anonymen Anruf gemeldet worden. Sein Vater, der mit ungläubigem Kopfschütteln neben dem Autowrack stand. Der Geruch von Diesel, gemischt mit dem Duft aufgewühlter Erde. Die Sanitäter, die darauf bestanden, ihn mit dem Krankenwagen zum Krankenhaus zu fahren. Seine Schwester Caroline, in leuchtend pinkfarbene Gummistiefel und Regenjacke gekleidet und mit tränenüberströmtem Gesicht, als sie ihn in der Notaufnahme sah. Die erleichterte Stimme seiner Mutter, als Blake mit ihr und seiner Tochter Maggie sprach und ihnen versicherte, er würde bald nach Hause kommen.

Ein CT und mehrere Untersuchungen später entließen sie ihn, als der Samstagmorgen kalt und wolkenlos anbrach. Caroline fuhr besonders vorsichtig, für ihre Verhältnisse jedenfalls, und brachte ihn gleich zum Haus seiner Eltern, um Maggie abzuholen. Und die ganze Zeit äußerte nicht eine einzige Person den Verdacht, er könnte Opfer eines versuchten Mordes gewesen sein. Die Polizei behandelte es als einen Fall von Fahrerflucht. Angesichts der Tatsache, dass er kaum verletzt war, und in dem Wissen, dass das Fahrzeug gut versichert gewesen war, bezweifelte er, dass es umfangreiche Ermittlungen geben würde.

Blake wusste nicht, warum er die Rolle der mysteriösen Frau nicht erwähnt hatte. Nicht einmal seinem Vater gegenüber. Irgendwie schien nie der richtige Zeitpunkt dafür gewesen zu sein.

Aber sie war dort gewesen. Sie war aus dem Nichts gekommen, war in seinen Wagen gesprungen und hatte ihn in Sicherheit gebracht und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. Und aus irgendeinem Grund hatte sie gewusst, dass sein Angreifer umdrehen und es noch einmal versuchen würde.

Was zwei brennende Fragen aufwarf.

Wenn der Fahrer – wer auch immer er war – herausbekam, dass er überlebt hatte, was dann?

Und wer war diese Frau?

FBI Special Agent Heidi Zimmerman hielt gerade noch rechtzeitig vor dem Drive-in-Schalter des Schnellrestaurants, um ein Frühstück bestellen zu können. Sie hatte die Nacht beim Krankenhaus verbracht und auf die Harrisons aufgepasst, während einige Kollegen vom Tactical Operations Einsatzkommando im Regen arbeiteten, um bei allen drei Häusern der Harrisons Überwachungskameras zu installieren.

Niemand verstand sich so auf Überwachungen wie die TacOps, aber zu ihrem Auftrag hatte nicht gehört, die Harrisons im Auge zu behalten.

Bis jetzt.

Als sie Kyle Richards, den zuständigen Agenten des TacOps-Teams, angerufen und ihm erklärt hatte, was geschehen war, hatte er angeboten, ihre Überwachung auf die Harrisons zu erweitern.

Wenn jemand beschloss, auf ihrem Grundstück herumzuschleichen, würden die TacOps-Jungs ihr Bescheid sagen.

Heidi saß an dem kleinen Schreibtisch in ihrem Hotelzimmer, ihr Frühstück vor sich ausgebreitet. Gerade hatte sie den ersten Bissen gegessen, als ihr Telefon klingelte.

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“ Der leitende Special Agent, Frank Cunningham, ihr Boss und Patenonkel, klang so, als wollte er sie erwürgen.

„Soll ich etwa tatenlos zusehen, wie jemand ihn umbringt?“

„Du bist ohne Verstärkung reingegangen –“

„Ich habe Max angerufen.“

„– hast deine Tarnung auffliegen lassen –“

„Blake Harrison ist der Einzige, der mich gesehen hat.“

„– hättest umkommen können –“

„Als wäre das nicht jeden Tag so!“

„– und hast dich einem klaren Befehl widersetzt.“

Jemand anders sprach im Hintergrund, aber sie konnte die Worte nicht ausmachen. Onkel Frank seufzte. „Jacobs verteidigt dich. Sagt, er hätte genauso gehandelt wie du.“

„Ich habe gesagt, ich hoffe, ich hätte es getan“, sagte ihr Partner, Max Jacobs. Er musste näher ans Telefon getreten sein. „Bist du okay?“ Trotz ihrer Frustration musste Heidi lächeln. Max war der Bruder, den sie nie gehabt hatte. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihr später die Leviten lesen würde, aber wie die meisten Geschwister würde er nicht einfach zusehen, wie jemand anders ihr den Kopf abriss. Absolut immer, wenn sie unter Beschuss war, gab er ihr Rückendeckung.

„Ich brauche Schlaf.“ Sie gähnte. „Aber sonst geht es mir gut.“

„Und Blake Harrison?“

„Keine Gehirnerschütterung und keine gebrochenen Knochen. Würde mich nicht wundern, wenn er ein Schleudertrauma hätte.“

„Besser als die Alternative.“

Zweifellos.

„Wer hat dich gesehen?“ Onkel Franks Stimme klang immer noch streng.

„Niemand.“

„Sie haben deinen Wagen nicht bemerkt?“

„Ich bin doch keine Anfängerin!“ Zu Onkel Franks Fähigkeiten gehörte auch, dass er sie im Nullkommanichts auf die Palme bringen konnte. Mit keinem anderen Agenten würde er so reden. Niemals. Diese besonders raue Art der Fürsorge hatte er nur für sie übrig. „Mein Auto hatte ich in einer überwucherten und verlassenen Auffahrt abgestellt. Und der Regen war wirklich heftig. Man konnte kaum die Straße sehen, geschweige denn einen Wagen, der ein paar Meter weiter im Gebüsch geparkt ist. Und beim Wegfahren hat mich auch niemand gesehen.“

„Würdest du das Fahrzeug wiedererkennen?“

„Pick-up. Groß. Dunkel. Kennzeichen total verdreckt. Was so ziemlich auf die Hälfte aller Pick-ups im County zutrifft. Es müssten Lackspuren von dem anderen Fahrzeug dran sein, aber ich vermute, die wischen sie ab und entsorgen den Wagen dann. Außerdem bezweifle ich, dass sie ihn überhaupt auf legalem Weg gekauft haben.“

„Wir werden die Gegend auf gestohlene Pick-ups überprüfen“, sagte Max. „Vielleicht landen wir ja einen Treffer.“

Es war nett von Max, dass er versuchte, die angespannte Stimmung etwas zu verbessern.

„Kannst du mir eigentlich erklären, was du überhaupt da gemacht hast? Oder warum um alles in der Welt jemand versucht hat, Blake Harrison umzubringen?“

Jetzt hatte Heidi genug. „Ich habe keine Ahnung, warum jemand versucht hat, ihn zu töten, Onkel Frank. Vielleicht hat er mehr Feinde, als uns bewusst war. Aber ich kann ihn gerne fragen.“ Erwartete er, dass sie den Fall aufklärte, noch bevor sie mit den Ermittlungen angefangen hatte? „Und was ich da gemacht habe, nennt man Observation, glaube ich. Das ist mein Job, wenn ich undercover arbeite. Ich bin ziemlich sicher, dass du mir das selbst beigebracht hast.“

Onkel Frank schwieg.

„Ich habe auf dem Parkplatz gesessen und gesehen, wie ein Wagen zu einer ungewöhnlichen Zeit wegfuhr. Die Schicht war erst eine Stunde später zu Ende. Also dachte ich, ich hätte genug Zeit, um dem Fahrer zu folgen, zu sehen, ob er etwas Verdächtiges tut, und rechtzeitig zum Schichtwechsel wieder zurück zu sein. Ich wollte sehen, ob jemand freitagabends länger macht.“

„Gute Idee, Zimmerman.“ Danke, Max.

„Der Regen war so stark, dass ich Blake Harrison erst erkannt habe, als ich direkt hinter ihm war. Er ist auf die Straße abgebogen und da wäre ich beinahe wieder umgedreht, aber dann kam dieser Pick-up angeschossen und –“

„Und was?“

„Und ich weiß nicht, warum ich den beiden gefolgt bin. Ich hab’s einfach gemacht.“

„Sie hat den besten Instinkt, den ich bei einem Agenten jemals erlebt habe“, sagte Max. „Dieser Instinkt hat mir schon mehr als einmal das Leben gerettet.“

„Na ja, für Blake Harrison ist es ja gut, dass du deinem Bauchgefühl gefolgt bist“, gab Onkel Frank endlich nach.

Heidi wusste, dass dies das Höchste der Gefühle war, was sie an Entschuldigung von ihm bekommen würde.

„Du musst ihn einweihen. Bald. Er muss wissen, mit wem er über die Sache reden kann und mit wem nicht.“ Wenigstens war Onkel Franks Stimme jetzt wieder auf einem normalen Lautstärkepegel angekommen.

„Ich kümmere mich darum.“

„Super“, sagte Max mit einer Begeisterung, der einem Cheerleader in der Highschool gut angestanden hätte. „Und du musst dich ausruhen, Zim. Wir sagen dir Bescheid, falls wir etwas über den Pick-up in Erfahrung bringen.“

„Denk an das, was du mir versprochen hast, Heidi.“ Onkel Franks Worte ließen all ihren Groll gegen ihn schwinden. Seine Verärgerung galt nicht ihr. Sie spiegelte nur seine Angst um ihre Sicherheit wider.

„Ich werde aufpassen.“

Sie beendete das Gespräch, aß ihr Frühstück auf und duschte lange, bevor sie auf ihr Bett fiel. Im vergangenen Monat war ihr die billige Matratze zu hart gewesen, aber heute spielte das keine Rolle.

Das Läuten des Telefons ließ Heidi aus dem Schlaf hochschrecken. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte an, dass es halb sechs war. Sie hatte sieben Stunden geschlafen?

„Hallo.“ Sie räusperte sich und streckte sich ein wenig.

„Habe ich dich geweckt?“ Max lachte.

„Nein.“

„Lügnerin.“

„Was willst du?“ Heidi setzte sich auf und sah sich im Zimmer um. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie allein war, sank sie wieder auf ihr Kopfkissen.

„Erstens lässt Sara dir ausrichten, wenn du noch mal so was Bescheuertes tust, ist sie nicht mehr deine beste Freundin.“

„Sara hat schon Schlimmeres überlebt. Da mache ich mir keine Sorgen.“

„Sie macht sich aber welche.“

„Woher weiß sie überhaupt davon?“ Sara war seit der ersten Nacht in ihrem gemeinsamen Zimmer im Studentenwohnheim ihre beste Freundin. Als sie schreiend aus dem Schlaf hochgefahren war, hatte sie gedacht, Sara würde die Flucht ergreifen. Und sie hätte es ihr nicht übel genommen.

Aber Sara war geblieben. Sie hatte Heidis Geheimnisse für sich behalten. Sie hatte Heidi wieder lachen gelehrt. Und sie hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass eine Mitbewohnerin mit einer traumatischen Vergangenheit zu ihrer Entscheidung geführt hatte, sich auf posttraumatische Belastungsstörungen zu spezialisieren. Und jetzt war sie Dr. Sara Elliot, praktizierende klinische Psychologin, die oft mit FBI, CIA und anderen Behörden und Geheimdiensten zusammenarbeitete. Ihre Sicherheitseinstufung war noch höher als die von Onkel Frank.

Heidi hatte nie verstanden, warum Sara und Max einander nicht leiden konnten. Ihr Leben wäre viel einfacher, wenn ihre besten Freunde sich besser verstünden, aber wie es schien, war sie der einzige Punkt, an dem die beiden sich einig waren.

„Sie kam eine Viertelstunde, nachdem Frank aufgelegt hatte. Er hat dich verpetzt. Nicht ich.“

„Gut. Dann spare ich Zeit, wenn ich das nächste Mal mit ihr rede.“

„Aber im Ernst, Zim. Wir machen uns alle Sorgen um dich. Mit den Kovacs ist nicht zu spaßen.“ Jetzt lachte Max nicht mehr.

„Das weiß ich besser als jeder andere.“

Max antwortete nicht.

Heidi ließ ihn eine Weile schmoren. Er machte sich Sorgen. Sara machte sich Sorgen. Onkel Frank machte sich Sorgen. Sie wusste ihre Besorgnis zu schätzen, aber auf keinen Fall konnte sie sich die Chance entgehen lassen, die Kovacs zu Fall zu bringen. So dicht war sie noch nie dran gewesen.

„Hattest du noch einen anderen Grund, mich zu wecken, außer mit mir zu schimpfen?“

„Ich rufe an, weil ich dachte, du würdest vielleicht gerne wissen, dass ein Förster zwei Countys weiter im Pisgah National Forest einen ausgebrannten Ford F-150 gefunden hat. Die Beschreibung passt zu einem Fahrzeug, das am Mittwoch gestohlen wurde.“

„Okay.“

„Zim?“

„Ja?“

„Ich bin nicht sicher, ob das Ganze so unkompliziert wird, wie wir gehofft hatten.“

„Das ist es doch nie.“

„Du musst herausfinden, was Blake Harrison getan hat, um die Kovac-Familie zu ärgern.“

„Ich glaube nicht, dass er das weiß.“

„Wie kommst du darauf?“

„Einfach sein Gesichtsausdruck gestern Abend. Er hat nicht damit gerechnet, auf einer regennassen Straße abgedrängt zu werden, und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass jemand das absichtlich getan haben könnte. Ich habe die Familie den ganzen Abend im Krankenhaus beobachtet. Der Vater, Jeffrey, und die Schwester Caroline haben sich Sorgen gemacht, aber sie hatten keine Angst.“

„Sollten sie aber.“

„Werden sie auch.“

„Hast du dir schon überlegt, wie du ihm sagen willst, was los ist?“

„Ich hoffe, ich kann ihn allein erwischen. Die TacOps-Kollegen überwachen sein Haus.“

„Das ist gar nicht so einfach.“

„Wem sagst du das?“

Den Harrisons gehörte ein riesiges Anwesen. Das Land war seit mehr als hundert Jahren im Besitz der Familie. Das Familienunternehmen, Harrison Plastics International, überall in der Gegend als HPI bekannt, befand sich auf einer Seite der Straße im Tal zwischen zwei kleinen Bergen. Ein Berg war nicht erschlossen und diente den Mitarbeitern von HPI als Naherholungsgebiet. Die Häuser der Harrisons waren auf dem Hügel gegenüber verteilt.

Blakes Haus stand auf der Rückseite des Berges, während das seiner Eltern mitten am Hang einen Blick auf Tal und Fabrik hatte. Carolines Zuhause thronte oberhalb ihres Elternhauses, fast ganz oben am Berg. Am Beginn der gewundenen Zufahrt zu den Häusern befand sich ein Tor, aber das würde niemanden abhalten, der entschlossen war, auf das Grundstück zu gelangen.

„Richards leitet das TacOps-Team“, fuhr Heidi fort.

„Guter Mann.“

„Er soll mir Bescheid sagen, wenn die Gelegenheit günstig ist, Blake Harrison allein zu Hause zu erwischen. Wenn er sich nicht bald meldet, muss ich wohl einfach an seine Haustür klopfen.“

2

Es war 19:28 Uhr. Blake schluckte noch drei Ibuprofen. Bevor er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte man ihm ein Rezept für stärkere Schmerzmittel angeboten. Aber die wollte er nicht. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu verschreibungspflichtige Medikamente einen Menschen bringen konnten, und dieses Zeug wollte er nicht noch einmal im Haus haben.

Er versuchte, sich zu bücken, um Maggies Puppe unter dem Sofa hervorzuziehen, aber sein Rücken spielte nicht mit. Das Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren und er richtete sich ruckartig auf. Ein Schmerz schoss durch seine geschundenen Muskeln, als er nach dem Baseballschläger griff, den er ausgegraben hatte, als er an diesem Morgen nach Hause gekommen war.

Gestern Abend hatte jemand versucht, ihn umzubringen. Er hätte es niemals zugegeben, aber als die Eltern seiner Ex-Frau angeboten hatten, seine Tochter könne bei ihnen übernachten, war er heilfroh gewesen. Die Reaktion der fünfjährigen Maggie auf seine Verletzung war, dass sie wie eine Klette an ihm hing, um sich zu vergewissern, dass er da war. Sein schmerzender Rücken konnte eine Auszeit von der Verwendung als Kletterbaum gebrauchen. Und überhaupt war Maggie bestimmt bei ihren Großeltern sicherer als bei ihm.

Moment mal. Was war, wenn sie sein Telefon verwanzt hatten? Sie könnten ihn abgehört haben und dann wussten sie, dass er allein war. Wenn er durch den Spion in der Tür sah, würden sie ihn dann erschießen?

Reiß dich zusammen, Mann. Er hatte eindeutig zu viele Filme gesehen.

Wieder klopfte es.

„Mr Harrison?“

Diese Stimme kannte er.

Er riskierte einen Blick und sah vor dem Guckloch lockige braune Haare. Die Frau trat von der Tür zurück, während Blake versuchte, sie mit dem Bild, das er im Kopf hatte, in Einklang zu bringen. Die klatschnassen Haare, die ihr im Gesicht klebten. Funkelnde Augen. Ein bisschen rechthaberisch, aber das war ja durchaus gut gewesen.

„Mr Harrison?“

Die Stimme. Ja. Diese Stimme würde er überall wiedererkennen. Obwohl sie ihn gestern Abend mit dem Vornamen angesprochen hatte. Das war ihm lieber. Er öffnete die Tür, bevor er es sich anders überlegen konnte.

„Hi.“

Ja, dieselben Augen, die jetzt belustigt funkelten, als sie ihn musterte.

Er folgte ihrem Blick zu dem Baseballschläger in seiner Hand. Er überlegte, ob er den Schläger weglegen sollte, aber was wusste er eigentlich über sie?

Abgesehen von der Tatsache, dass sie ihm das Leben gerettet hatte.

„Kann ich reinkommen?“

Er zögerte und sah an ihr vorbei. Ein kleines SUV stand in der Auffahrt. „Wie sind Sie hier reingekommen?“

„Ihr Code ist nicht sehr kompliziert.“

Seine Gedanken überschlugen sich. Sie wusste, wo er wohnte. Sie hatte keine Mühe gehabt, durch das Tor an der Einfahrt zu gelangen. Und sie hatte aus beidem keinen Hehl gemacht.

„Mr Harrison?“

Er erwiderte ihren Blick.

„Ich würde lieber nicht den ganzen Abend auf Ihrer Veranda stehen. Wenn Sie nicht wollen, dass ich reinkomme, können wir uns auch gerne an einem öffentlichen Ort treffen.“

„Nein.“ Auf keinen Fall konnte er sie gehen lassen, bevor sie ihm irgendeine Erklärung für das gegeben hatte, was gestern passiert war. Obwohl er bezweifelte, dass er sie aufhalten könnte, wenn sie gehen wollte.

Er streckte die Hand aus. „Blake Harrison.“

Sie grinste und ergriff die Hand. „Freut mich, Mr Harrison. Heidi Zimmerman.“

„Ganz meinerseits. Kommen Sie rein. Und bitte nennen Sie mich Blake.“ Er öffnete die Tür weiter und trat zur Seite. „Setzen Sie sich.“

Ihm entging nicht, wie ihr Blick durch den Raum huschte, während sie über die Schwelle trat, und auch nicht, dass sie einen Sessel wählte, von dem aus sie die Tür und den Rest des Raumes im Blick hatte.

„Danke“, sagte sie. „Wie geht es Ihnen?“

„Gut.“ Ihr spöttisches Lächeln verriet ihm, dass sie ihm das nicht abkaufte. „Ich bewege mich etwas langsam, aber es ist nichts Schlimmes passiert. Was ich Ihnen zu verdanken habe.“

Einen Moment lang starrten sie einander an. Er hatte den Eindruck, dass sie alles, was er sagte, und jede seiner Bewegungen analysierte, aber er wusste nicht, welche Schlüsse sie daraus zog. „Kann ich Ihnen eine Cola anbieten? Oder Mountain Dew? Tee? Wasser?“

„Wasser wäre toll.“

Während er in die Küche ging, versuchte Blake, sich nicht anmerken zu lassen, wie steif er war.

Ihre Stimme folgte ihm. „Sie haben ein schönes Haus.“

„Danke. Es hat früher meinen Großeltern gehört. Nach ihrem Tod habe ich es geerbt.“

Warum hatte er das denn jetzt gesagt? Er nahm ein Wasser für sie und eine Flasche Mountain Dew für sich selbst aus dem Kühlschrank. Dann ging er ins Wohnzimmer zurück, gab ihr die Wasserflasche und ließ sich auf dem Sessel ihr gegenüber nieder. Er hatte ganz viele Fragen, aber keine Ahnung, wo er anfangen sollte.

Heidi Zimmerman griff in die Gesäßtasche ihrer Jeans und zog ein kleines Ledermäppchen heraus. Das klappte sie auf und schob es über den Couchtisch. „Vielleicht hilft das hier.“

Er las die Worte auf der Dienstmarke. FBI? War das ihr Ernst?

„Wollen Sie sich das Ding genauer ansehen? Sie können auch gerne in der Zentrale anrufen, wenn Sie überprüfen wollen, ob es echt ist.“

FBI? Eine bleierne Schwere legte sich auf seine Brust, als die schwache Hoffnung, die Ereignisse des vergangenen Abends könnten ein dummer Zufall gewesen sein, sich in Luft auflöste. „Ich glaube, vorher würde ich gerne hören, was Sie zu sagen haben.“

„Kann ich verstehen“, nickte die Frau. „Ich selbst hatte übrigens bis gestern Abend auch keine Ahnung, dass Sie in Gefahr sind.“

Wie sie ihn ansah, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Stirn gerunzelt, die Lippen zusammengepresst, konnte er die Ernsthaftigkeit und Besorgnis hinter ihren Worten nicht leugnen.

Andererseits könnte es auch sein, dass das FBI ihren Agenten Schauspielunterricht gab.

Er war schon einmal auf ein hübsches Gesicht hereingefallen. Und Heidi Zimmerman war eindeutig mehr als ein hübsches Gesicht. Ihre Haare fielen in Spiralen aus Blond- und Brauntönen über ihre Schultern und eine kleine Locke sprang immer wieder heraus, wenn ihre Besitzerin sie sich hinters Ohr schob. Lange Wimpern umrahmten große grüne Augen über einer niedlichen Nase.

Niedliche Nase? Niemand hatte eine niedliche Nase. Er musste sich zusammenreißen. Was hatte sie gesagt? Sie hatte nicht gewusst, dass jemand ihn töten wollte? Was antwortete man darauf? Super?

Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. „Ich bin sicher, ich muss das nicht erwähnen, aber wenn Sie jemandem erzählen, was ich Ihnen gleich sage, werde ich es leugnen und Sie werden wegen Behinderung der Justiz angezeigt.“

„Klingt lustig.“

Ihre Lippen zuckten. Mrs FBI-Agentin hatte Humor. Interessant.

Als sie fortfuhr, war von diesem Humor allerdings nichts mehr zu spüren. „Vor fünfzig Jahren ist Viktor Kovac aus Ungarn nach Amerika ausgewandert. Es dauerte nicht lange, bis er sich in New York City niedergelassen hatte, und innerhalb weniger Jahre gesellten sich mehrere Angehörige zu ihm. Keine zehn Jahre nach seiner Ankunft hatten die Kovacs sich in Verbrecherkreisen einen Namen gemacht. Die Polizei verdächtigte sie aller möglichen Dinge von Geldwäsche bis Drogenhandel.“

Heidi Zimmerman trank einen Schluck Wasser. „Wie die meisten Verbrecherfamilien konzentrierten sie sich darauf, ihre eigenen Leute zu schützen, koste es, was es wolle, und so viel Geld wie möglich zu machen. In den letzten Jahren sind die jüngeren Kovacs in dunklere Gefilde vorgedrungen. Statt in Geldwäsche und Schutzgelder sind sie jetzt in Menschenhandel und Waffenschmuggel verwickelt und versuchen, den Markt in Bezug auf bestimmte rezeptpflichtige Medikamente zu beherrschen.“

„Ich habe noch nie von diesen Leuten gehört.“

„Das ist kein Wunder. Abgesehen von einem gelegentlichen Mittelsmann oder Möchtegernmafioso wurde nie einer von ihnen angeklagt.“

„Nie?“

Sie schüttelte den Kopf und der Abscheu in ihrer Miene war offensichtlich. „Sie wurden mit mehreren Morden in Verbindung gebracht, aber trotz außerordentlicher Anstrengungen der Ermittler, FBI-Agenten und sogar Informanten gab es nie genügend Beweise, um sie vor Gericht zu bringen, geschweige denn für eine Verurteilung.“

Ihre Stimme brach und einen Augenblick lang sah Blake den Schmerz in ihren Augen. Heidi wandte schnell den Blick ab und als sie Blake wieder ansah, lag stattdessen eiserne Entschlossenheit darin.

„Die jüngeren Kovacs sind Opportunisten. Sie haben keine Moral und kein Gewissen und sind nichts und niemandem gegenüber loyal außer der Familie.“

„Sie brauchen mich nicht zu überzeugen. Mit solchen Leuten will ich nichts zu tun haben. Ich werde mich von ihnen fernhalten.“

„Ich fürchte, das ist nicht ganz so einfach, wie Sie glauben.“

„Wovon reden Sie? Ich kenne keine Kovacs.“

Als sie ihn jetzt ansah, entdeckte er in ihren Augen nicht die Intensität, die gerade noch darin gelegen hatte, sondern Mitgefühl. Mit dem gleichen Blick hatte seine Mutter ihn angesehen, als sie ihm vom Krebs seiner Großmutter erzählt hatte. Ein Blick, der mit schlimmen Nachrichten verbunden war.

„Wollen Sie etwa behaupten, ich kenne doch irgendwelche Kovacs?“

Die FBI-Agentin nickte. „Einer Ihrer Angestellten.“

„Ich kenne alle meine Mitarbeiter. Kein Kovac dabei.“

„Vor zwei Monaten haben Sie einen Mann namens Mark Hammond eingestellt, oder?“

„Stimmt.“

„Mark Hammond ist nicht sein richtiger Name.“

Blake fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Das konnte nicht wahr sein. „Ich lasse bei allen meinen Angestellten den Hintergrund überprüfen.“

„Wenn Sie genug Geld und Beziehungen haben, ist es nicht schwierig, eine falsche Identität zu erfinden, die man nur mit den gründlichsten Methoden knacken kann.“

„Also …“

„Mark Hammond heißt eigentlich Markos Kovac. Er ist der jüngste Enkel des ursprünglichen Kovac und muss sich erst noch beweisen. Er ist mit einigen Jahren Abstand das Küken in der Familie und die meisten seiner großen Brüder haben ihre Rolle in der Organisation schon gefunden.“

Blake beugte sich vor. „Woher wissen Sie das?“

„Die Kovac-Familie ist mein Job.“

Sie führte ihre Antwort nicht aus und daraus, wie sie die Lippen zusammenpresste, schloss er, dass sie nichts hinzufügen würde, doch dann schluckte sie und sprach weiter: „Ich weiß mehr über die Kovacs als jeder andere beim FBI. Als Markos und seine Frau Katarina nach North Carolina geflohen sind, bin ich ihnen gefolgt. Ich bin seit vier Wochen hier und beobachte sie, folge ihnen, belausche sie – und versuche herauszufinden, was Markos vorhat.“

„Ich habe Sie gar nicht gesehen.“

„Ich bin Undercoveragentin. Da soll das so sein.“

Etwas an der ganzen Unterhaltung ergab für Blake keinen Sinn. „Was hat das alles denn mit mir zu tun? Mark mag mich vielleicht nicht, aber ich glaube nicht, dass er mich von der Straße drängen würde. Außerdem enttäusche ich Sie nur ungern, aber er war noch bei der Arbeit, als ich gestern weggefahren bin.“

Heidi Zimmerman wollte etwas erwidern, aber er kam ihr zuvor. „Sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, dass dieser Typ sich vielleicht ändern will? Vielleicht will er ja aus dem Familiengeschäft aussteigen und ein ehrliches Leben führen.“

Sie biss sich auf die Innenseite der Wange. „Keiner verlässt die Kovacs. Keiner hat das in den letzten fünfzehn Jahren auch nur versucht.“ Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Sie sah zu ihm auf und er beugte sich weiter vor, als er den Schmerz in ihrem Blick sah. Er wollte diese Frau irgendwie trösten, dabei kannte er sie ja nicht einmal.

Dann war der Augenblick verstrichen. „Was meinten Sie damit, dass Markos Sie nicht mag.“

Blake fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. „Es hat bestimmt nichts zu bedeuten. Wir hatten nur ein paar kleinere Meinungsverschiedenheiten.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne selbst entscheiden, ob Ihre Meinungsverschiedenheiten klein waren oder nicht.“

Ach ja. Das rechthaberische Auftreten, an das er sich erinnerte. „Gut. Es gab einige Ungereimtheiten in Sachen Qualität, die bei keinem anderen Abteilungsleiter aufgetreten sind. Die letzten etwa zwanzig fehlerhaften Posten, die wir produziert haben, sind unter seiner Aufsicht passiert. Ich habe ihm Fragen gestellt und mich sogar während seiner Schicht umgehört. Ich konnte ihm keine Fahrlässigkeit bei der Arbeit nachweisen, aber ich habe Dad und Caroline gesagt, dass ich ihn im Auge behalten will. Wir haben uns gefragt, ob er vielleicht ein Spion von einer anderen Firma ist.“

„Haben Sie öfter Probleme mit Unternehmensspionage?“

Blake konnte der Gelegenheit zum Angeben nicht widerstehen. „Wir produzieren Dinge, die sonst niemand herstellt. Klar produzieren wir auch viele Gegenstände, die Standard sind – normale Wasserflaschen, Lebensmittelbehälter, Medikamentenverpackungen –, aber im Laufe der letzten zehn Jahre haben wir uns einen Namen gemacht mit Spezialcontainern, die andere gar nicht erst versuchen. In diesem Jahr haben wir einen riesigen Auftrag für Wasserflaschen in Form von Bällen erhalten – Football, Basketball, Baseball. Unser Kunde hat sie schon an mehr als dreißig Profimannschaften vermarktet. Im Sommer sollen sie in Baseballstadien verkauft werden. Dieser Auftrag allein hat die Produktion unserer Spezialfertigung verdoppelt.“

Sie schien nicht so beeindruckt, wie sie sein sollte.

„Wir haben einige Konkurrenten, die sich liebend gerne ansehen würden, was wir machen.“

Heidi hob die Hände. „Okay. Okay. Ihr seid die Nummer eins, dagegen sage ich ja gar nichts. Aber ich kenne die Kovacs und Unternehmensspionage ist nicht ihr Stil“, sagte sie. „Er ist nicht nur hier, um irgendwelche Geschäftsgeheimnisse zu stehlen.“

„Können Sie das ein bisschen genauer sagen?“

Heidi senkte den Blick. „Kann ich nicht.“

„Wie bitte?“

„Ich kann es nicht genauer sagen, weil ich es nicht weiß. Deshalb bin ich ja hier – um das herauszufinden.“

Blake lehnte sich in seinem Sessel zurück. Heidi sah an seinem Gesicht, wie er sich bemühte, ihre Worte zu verdauen. Mehrere Minuten saßen sie schweigend da, bevor er sich räusperte. „Was hat all das damit zu tun, dass jemand mich gestern Abend von der Straße gedrängt hat?“

Da war sie. Die Frage, auf die sie gewartet hatte und die sie nur ungern beantwortete. „Ich weiß nicht. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen.“

Seine Miene war voller Skepsis. „Ich?“

„Von Anfang an habe ich mich gefragt, warum er sich HPI ausgesucht hat.“

„Ich bin nicht sicher, was Sie damit sagen wollen.“

„Sie stellen Plastikbehälter her. Was ist an Plastik gefährlich? Klar, Sie lagern Chemikalien in großen Mengen, aber an die würde er auch woanders herankommen – wo Leute am Werk sind, die nicht Ihre hohen ethischen Standards haben. Ich verstehe nicht, was die Produktion bei HPI mit dem zu tun haben könnte, was er vorhat. Aber eins weiß ich nach gestern Abend.“

„Und zwar?“

„Er glaubt, dass Sie ihm im Weg sind.“

Blake stand auf und ging in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab. Er hatte die Sache viel besser aufgenommen, als sie erwartet hatte. Er hatte nicht mit irgendwas um sich geworfen. Er hatte sie nicht aufgefordert zu gehen. Er hatte sich nicht geweigert, ihr zu glauben. Sein Kopf musste sich drehen, aber er wirkte nicht verängstigt. Eher sah er wie ein Mann aus, der überlegt, was er tun soll.

Nein, das hatte sie wirklich nicht erwartet.

Er drehte sich zu ihr um. „Haben Sie Hunger?“

„Hunger?“

„Ja. Ich bin kurz vorm Verhungern. Was halten Sie von Pizza?“

„Wenn es was mit Käse ist, bin ich immer dafür zu haben.“

Ein echtes Lächeln huschte über Blakes Gesicht und Heidi sah ihn zum ersten Mal ganz bewusst an. Dunkle Haare mit leichten Wellen. Dunkelbraune Augen. Ein markantes Kinn. Er erinnerte sie an die melancholischen Filmstars der 40er-Jahre. Bis er lächelte. Sein Lächeln löste etwas Merkwürdiges in ihr aus, aber sie hatte weder Zeit noch Lust, das Gefühl näher zu untersuchen.

Er hielt inne, sein Smartphone in der Hand. „Ist es sicher, wenn ich eine Pizza liefern lasse?“

Sie merkte, dass er versuchte, die Sache locker zu nehmen, während er zugleich dem Ernst der Lage gerecht wurde. „Müsste es eigentlich, aber um auf Nummer sicher zu gehen, können Sie mein Telefon nehmen.“

Blake nahm es und wählte aus dem Gedächtnis die Nummer. „Was möchten Sie auf der Pizza?“

„Schinken. Je mehr, desto besser.“

Einen Moment lang starrte er sie mit großen Augen an. „Ich hätte Sie für eine Vegetarierin gehalten.“

„Dann würde ich verhungern.“

Er bestellte und gab das Handy zurück, bevor er wieder auf seinen Sessel sank. Es musste wehtun.

Er atmete tief ein und zog erneut eine Grimasse. Er könnte den Unfall als Ausrede benutzen. Er könnte sagen, es gehe ihm nicht gut und er müsse sich ausruhen. Die meisten Menschen würden genau das tun.

Aber nicht Blake Harrison. „Ich würde gern darüber sprechen, was diese Situation bedeutet, aber zuerst muss ich mehr über Sie wissen.“

Heidi war nicht sicher, worauf er hinauswollte, aber es war eine verständliche Bitte. „Okay. Was wollen Sie wissen?“

„Wer sind Sie?“ Seine Worte trieften vor Frustration. Sie durfte nicht vergessen, dass er keine halbe Stunde Zeit gehabt hatte, ein paar Neuigkeiten zu verdauen, die sein Leben verändern würden.

„Mein Name ist Heidi Zimmerman. Ich bin FBI-Agentin und die Kovac-Familie ist seit zehn Jahren meine Hauptaufgabe.“

„Zehn Jahre? Wie alt sind Sie denn?“

„Das geht Sie eigentlich nichts an, aber ich bin zweiunddreißig. Zum FBI bin ich gleich nach dem College gegangen. Virginia Tech. Ich habe einen Abschluss in Maschinenbau, Nebenfach Buchhaltung.“

„Interessante Kombination.“

„Die Kovacs besitzen mehrere Fertigungsbetriebe. Ich habe mehrmals als Ingenieurin verdeckt ermittelt.“

„Wie sind Sie ursprünglich auf das FBI gekommen?“

Heidi gab ihm die Antwort, die sie jedem gab, der sie fragte. „Ich habe mich schon immer für die Polizeiarbeit interessiert. Schien mir aufregend und sinnvoll. Also habe ich mich beworben.“

Harrison musterte sie und schüttelte dann den Kopf. „Bis jetzt habe ich so ziemlich alles geglaubt, was Sie gesagt haben, aber ich glaube nicht, dass das der wahre Grund ist.“

Heidi erstarrte. Woher wusste er …?

„Wenn Sie es mir nicht sagen wollen, kein Problem. Aber ersparen Sie mir die aalglatte Geschichte, die ein Werbespot für die FBI-Ausbildung sein könnte. Das passt nicht zu Ihnen.“

Heidi antwortete nicht sofort. Sie hatte nicht erwartet, dass Blake Harrison so ein gutes Gespür hatte. Aber die Wahrheit? Die Wahrheit sagte sie niemandem. Und würde es auch nie tun. Das konnte sie nicht. Nicht, wenn ihr das Leben lieb war.

„Ich habe nicht gelogen“, sagte sie. Blake wollte ihr widersprechen, aber sie schnitt ihm das Wort ab. „Ich hatte eine harte Kindheit. Es gab ein paar Polizeibeamte, die großen Einfluss auf mich hatten. Dann hat ein FBI-Agent mir das Leben gerettet.“ Jetzt befand sie sich auf gefährlichem Terrain, deshalb hielt sie es vage. „Als ich mit der Highschool fertig war, wollte ich zum FBI, aber mit meinem Hintergrund wusste ich nicht, ob sie mich nehmen würden. Dann habe ich studiert, damit ich im Zweifelsfall einen Plan B hatte, falls aus dem Polizeijob nichts wurde.“

Sie hatte Blake bei Weitem nicht die ganze Wahrheit erzählt, aber nichts von dem, was sie gesagt hatte, war gelogen. Sie gab ihm Zeit, das Gehörte zu verdauen.

„Warum ist Ihnen Ihre Kindheit peinlich?“, fragte er schließlich.