Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
Copyright ® 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Katharina Runden
Covergestaltung: Kristin Pang unter Verwendung von Motiven von
© J614 / DigitalVision Vectors / gettyimages
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-1841-7
www.one-verlag.de
www.luebbe.de
Für René.
Weil es viele richtige Wege und viele richtige Zeitpunkte gibt.
Hey – Pixies
Bleeding Love – Ni/Co
Sprung ins Blau – Exclusive
Beginners – Slow Club
Here comes your Man – Pixies
City Lights – The Sweet Serenades
Sommer in der Stadt – Spider Murphy Gang
Katchi – Ofenbach, Nick Waterhouse
La La Love You – Pixies
Neue Farbe – Exclusive
Zuhause – Fynn Kliemann
Wenn möglich, bitte wenden
Es gibt diese bestimmten Momente im Leben. Die, die sich gut anfühlen und uns zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Doch davon bin ich gerade leider Tausende Kilometer entfernt, und anstatt dem Glück entgegenzurennen, laufe ich in die entgegengesetzte Richtung. Meine ganz persönliche Folter.
Heute, genau jetzt, werde ich von all diesen negativen Gefühlen eingeholt. Eigentlich sollte dieser Tag für das Ende meiner Schulzeit stehen und all die schönen Erinnerungen, die ich damit verbinde. Doch wie soll ich mich bloß von etwas verabschieden, wenn ich nicht weiß, was danach folgt?
Die Abifeier ist in vollem Gange, der offizielle Teil der Zeugnisvergabe schon seit Stunden vorbei. Bunte Scheinwerferlichter tanzen durch den Saal und bringen die überall hängenden goldenen Girlanden zum Glitzern. Der dumpfe Bass eines Chart-Hits pulsiert durch meinen Körper. Ich lasse meinen Blick abwesend durch den Raum schweifen und nestele an einem kleinen Gesteck aus blauen Hortensien herum, das vor mir auf dem runden Tisch steht.
»Wie cool ist das denn bitte?«
Ich zucke leicht zusammen, als mich meine Freundin Clara aus meinen Gedanken reißt.
»Endlich ist die Schulzeit vorbei, und das Studienleben wartet auf uns!« Sie prostet mir mit einem strahlenden Lächeln und ihrem Sektglas zu. Claras Augen wirken glasig, und ihre Wangen sind gerötet. »In ein paar Jahren sind wir wie Rachel aus Suits, nur dass wir keine Anwaltsgehilfinnen sind, sondern heiße Anwältinnen. Frauenpoweeer!«
Meine Mundwinkel zucken angestrengt, als ich versuche, einen fröhlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen und mein eigenes Glas hebe. Der Sekt schmeckt abgestanden und prickelt nicht länger auf der Zunge.
Da schallt ein mir nur zu gut bekanntes Lachen herüber, und mein Blick heftet sich auf meinen besten Freund Daniel, der ein paar Meter entfernt bei ein paar Klassenkameraden steht und breit grinst. Sofort spüre ich ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend.
»Huhu, Erde an Leni! Was is'n los mit dir?«, fragt Clara. »Du bist heute schon den ganzen Tag so komisch.«
Ich seufze, reiße mich von Daniel los und sehe wieder zu ihr.
Seit unsere Mütter uns vor siebzehn Jahren gemeinsam in den Sandkasten gesetzt haben, sind wir beste Freundinnen. Wir waren immer zusammen, haben jede Lebenslage miteinander durchgestanden, und doch hat sich in unserem letzten Schuljahr etwas verändert. Während Clara schon so lange weiß, welchen Weg sie einschlagen will, und voller Freude darauf hinarbeitet, fühle ich mich, als würde ich ziellos im Weltraum herumschweben und immer mehr die Orientierung verlieren.
»Alles gut«, sage ich schnell. »Es ist nur so unglaublich, die Schule hinter sich zu lassen.« Eine Standardantwort, die ich diese Woche bestimmt schon mindestens fünfmal gegeben habe. Ich wollte mich zusammenreißen, wollte heute Abend – wie man so schön sagt – die Sau rauslassen und wenigstens diese eine Nacht meine Gedanken abschalten und vergessen, dass ich nichts zu feiern habe.
»Ja, oder?«, juchzt Clara. »Aber jetzt fängt das Leben erst richtig an! Wir beide, unsere WG, Partys und gemeinsame Vorlesungen. Das wird so toll!«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Plötzlich werde ich mir der stickigen warmen Luft hier im Saal deutlich bewusst, und Schweiß sammelt sich in meinem Nacken. Jetzt ist der falsche Zeitpunkt, ihr zu sagen, dass es niemals dazu kommen wird. Denn auch wenn ich noch vor ein paar Tagen gehofft habe, ihr Weg würde auch der meine sein, ist mir heute endgültig bewusst geworden, dass ich niemals Jura studieren werde.
Meine Eltern meinen, sie hätten mir das Jura-Gen vererbt, das natürliche Interesse für Recht und Gesetz. Doch dem ist nicht so. Es gibt nichts, was mich weniger interessiert, obwohl ich mir das lange Zeit nicht eingestehen wollte. Und nun sitze ich da, mit meinem Abiturzeugnis in der Hand, ohne die geringste Ahnung, was ich damit anfangen soll.
Als das Lied I will survive aus den Lautsprecherboxen ertönt, stellt Clara ihr Glas unsanft auf dem Tisch ab, sodass der Inhalt gefährlich schwappt. Sie jubelt und springt auf. »Los, lass uns tanzen!«
Aber ich winke ab. »Ich muss erst noch aufs Klo, ich komm dann nach«, verspreche ich ihr, als sie das Gesicht verzieht und ihre Mundwinkel traurig nach unten hängen.
Mit Zeige- und Mittelfinger deutet sie erst auf ihre Augen, dann auf meine. »Ich zähl auf dich!«
»Logisch«, sage ich lachend und ignoriere das schlechte Gewissen, das sich wie auf Kommando meldet. Heute nicht, ich werde später mit ihr sprechen. Nur weil mein Tag scheiße läuft, möchte ich ihren nicht gleich auch noch versauen.
Clara verschwindet in der tanzenden Menge, und ich bleibe allein zurück. Warum kann ich nicht einfach glücklich sein und mich genauso freuen wie der Rest meines Abi-Jahrgangs, wie jeder dieser ausgelassenen Feierwütigen auf der Tanzfläche?
»Hey!«
Ich zucke zusammen, als sich Daniel auf den gerade frei gewordenen Stuhl neben mir fallen lässt.
»Schon genug von der Feier?«, fragt er und nickt in die Richtung, in die Clara gerade verschwunden ist.
»Aber hallo«, murmle ich so leise, dass er es nicht hören kann.
»Was?« Er beugt sich näher zu mir, und der frische Duft einer sanften Meeresbrise steigt mir in die Nase. Er trägt das Parfüm, das ich ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt habe.
»Bin nur müde«, antworte ich etwas lauter.
»Soll ich dich heimbringen?«
Ich schüttle den Kopf. »Passt schon, danke.«
Daniel ist nicht der klassische Schönling, er hat nichts mit den Typen gemein, die muskelbepackt und selbstbewusst ein Mädchen nach dem anderen abschleppen. Daniel ist so groß – oder mit 1,65 Metern besser gesagt so klein – wie ich, er hat schokobraune Haare und eine schlanke drahtige Figur. Er schreibt Gedichte und kleinere Geschichten, hört dieselbe Musik wie ich und hegt eine Leidenschaft für Cricket und die Fantasy-Football-League. Ach ja, und vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich ihn liebe. Seit zwei verdammten Jahren und ohne dass er davon die geringste Ahnung hat.
Daniel sieht auf die Uhr. »Bist du dir sicher? Ich lasse dich ungern allein nach Hause fahren, es ist echt schon spät.«
Habe ich schon gesagt, dass er unglaublich nett und verantwortungsvoll ist? Dass er den gleichen Humor wie ich besitzt und wir so viel miteinander lachen können? Ich schlucke schwer, denn der Kloß in meinem Hals wird immer größer. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass es nicht nur darum geht, dass ich nicht Jura studieren möchte. Der zweite Grund für meine kleine Lebenskrise sitzt vor mir und sieht mich erwartungsvoll an.
»Nein, schon gut«, antworte ich widerstrebend. »Bleib du ruhig hier.«
Daniel und ich sind seit der fünften Klasse beste Freunde. In den ersten Monaten auf dem Gymnasium waren Clara und ich – wie immer – ein eingeschworenes Zweiergespann gewesen. Doch als sie von ihrem Pferd gefallen war und mit einem komplizierten Armbruch im Krankenhaus und danach wochenlang zu Hause lag, musste ich mich bei Gruppenarbeiten zwangsläufig auf andere Mitschüler einlassen. Und da war er gewesen. Daniel. Wir hatten vom ersten Moment an eine Verbindung zueinander, oder wie auch immer man das damals nennen konnte. Es war nicht so, dass ich mich sofort in ihn verknallt hätte, nein, ganz sicher nicht. Zu diesem Zeitpunkt habe ich an Jungs noch nicht so gedacht. Aber je älter wir wurden, desto mehr nistete sich ein bestimmtes warmes Gefühl in mir ein, das sich immer genau dann bemerkbar machte, wenn ich Daniel ansah und er mich ansah, wenn ich ihn berührte und er mich berührte. Ich konnte dieses Gefühl zuerst nicht einordnen und dachte, es wäre mit Geschwisterliebe zu vergleichen. Warum sollte ich mich nach so langer Zeit in ihn verlieben? Aber scheiße, ich hatte es getan, und das Schlamassel nahm seinen Lauf.
»Soll ich dir noch was zu trinken holen?«, fragt Daniel mit Blick auf mein Glas. »Was Gescheites und nicht so ein Blubbergesöff?« Er verzieht gespielt angeekelt das Gesicht.
Ich lache. »Versuchst du mich gerade zu überreden, doch noch etwas hierzubleiben?«
»Was hat mich nur verraten?«, fragt er und grinst mich spitzbübisch an.
»Vielleicht die Tatsache, dass du nicht allein hier rumsitzen willst, während alle tanzen?«
»Mich will sicher niemand tanzen sehen.«
Ich funkle ihn an. »Oh doch, ich.«
Daniel zieht die Augenbrauen hoch. »Du tanzt doch selbst nicht.«
»Und wie ich tanze!«, verteidige ich mich empört.
Er rollt mit den Augen. »Sorry, ich wollte sagen: Du tanzt doch selbst nicht, solange du nicht betrunken bist.« Er beäugt mein Sektglas. »Und das ist nach deinem halben Schluck von dem Zeug da ganz sicher nicht der Fall.«
Ja, so gut, wie ich ihn kenne, kennt er mich leider auch.
»Okay«, gebe ich zu. »Erwischt.«
Daniel grinst zufrieden und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Leiste mir wenigstens noch eine Stunde Gesellschaft. Dann lass ich dich gehen.«
»Wow, sehr großzügig von dir«, entgegne ich belustigt. Dennoch sinke ich in die Stuhllehne zurück, genieße den Moment mit ihm, obwohl mein Herz gleichzeitig so schmerzt, als hätte er mir gerade an den Kopf geworfen, wie unerträglich er mich findet.
»Der Michi hat einen ziemlich gewagten Tanzstil«, bemerkt Daniel nach ein paar Minuten belustigt.
Ich folge seinem Blick und beobachte, wie unser Klassenkamerad die halbe Tanzfläche mit wellenartigen Armbewegungen und einem schlecht ausgeführten Moonwalk einnimmt. Ich verkneife mir ein Grinsen. »Stell dir mal vor, du siehst deinen Arzt so auf einer Party tanzen.«
»Wieso Arzt?«
»Na, Michi will doch Medizin studieren.«
Daniels Augen werden groß. »Nicht dein Ernst?!«
»Doch, hat er mir heute erst erzählt«, bestätige ich.
»Alter, das hätte ich ja nie erwartet! Ich kann mir echt nicht vorstellen, dass er das schafft. Das wäre ja so, als würdest du Mathe studieren.« Da hat er recht. Ich hasse Mathe.
»Der da drüben«, ich nicke zu einem langhaarigen Typen aus der Nebenklasse, »der wird bestimmt irgendwas Naturwissenschaftliches studieren. Ich hab gehört, dass er den besten Schnitt in Mathe hat.«
Die nächste halbe Stunde machen wir uns einen Spaß daraus, unseren – ehemaligen – Mitschülerinnen und Mitschülern jeden erdenklichen Studiengang anzudichten. Die Anspannung in meinen Schultern lässt etwas nach, weil ich mir ausnahmsweise keine Gedanken über meine eigene Zukunft mache, sondern diesen gruseligen Teil des Lebens einfach ausblende.
»Mensch, hier seid ihr.«
Ein schwarzhaariges Mädchen mit glühenden Wangen hüpft auf uns zu. Akira hat die Mittlere Reife bereits vor drei Jahren abgeschlossen, wollte sich unseren Abiball nach eigener Aussage aber ›nicht nehmen lassen‹. Sie beendet diesen Sommer ihre Ausbildung zur Buchhändlerin und wird im Herbst dann so richtig ins Berufsleben starten. Wenn ich einen Rat brauche, dann gehe ich zu ihr, denn sie ist über die Jahre hinweg eine sehr enge Freundin geworden und der neutrale Gegenpol zu Clara und Daniel. Sie ist nicht nur sehr klug und einfühlsam, sondern noch dazu eine furchtbar liebe Person. Nur wie es das fiese Schicksal so will, ist Akira leider auch der Grund dafür, warum aus Daniel und mir niemals ein Paar werden wird.
»Du hast mir einen Tanz versprochen, Schatz«, erinnert sie Daniel und grinst ihn frech an. Ich habe Akira vor etwas über zwei Jahren kennengelernt, damals, als Daniel mir stolz seine neue Freundin vorgestellt hat.
Er wendet sich an mich. »Zu diesem Versprechen wurde ich gezwungen!«
»Das würde ich jetzt auch behaupten«, schnaubt Akira, packt ihn an beiden Armen und zieht ihn zu sich hoch. »Du hast keine Chance, wir gehen hier nicht raus, bevor du nicht mit mir getanzt hast.«
Daniel sieht mit zusammengekniffenen Augen zu mir zurück. »Wehe, du erzählt irgendwem davon.«
»Keine Angst«, beteuere ich, doch dann zücke ich mein Handy. »Ich filme es, sonst glaubt mir das keiner.«
Entsetzt verzieht Daniel das Gesicht und will sich mit einem Hechtsprung mein Telefon schnappen, doch Akira zerrt ihn mit aller Kraft in Richtung Tanzfläche davon.
Ich sehe ihnen lächelnd hinterher, so beseelt von der Gewissheit, dass sie zu den Pärchen gehören, die sich gesucht und gefunden haben und bei denen niemand besser zum jeweils anderen passen könnte. Gleichzeitig wird mein Herz bei dieser Vorstellung schwer, immer schwerer, weil ich mein Gefühlschaos nicht mehr ertragen kann.
Ich weiß nicht, was ich meinem Leben angetan habe, aber heute zeigt es mir mal wieder deutlich, dass es nichts, rein gar nichts von mir hält. Niente. Nada. Nothing. Und so weiter.
Seufzend stecke ich mein Handy zurück in die Tasche. Daniel ist mein bester Freund, und ich würde ihn nie beim Tanzen filmen, wenn er das nicht möchte ... auch wenn es sich definitiv lohnen würde.
Doch für mich ist der Abend jetzt endgültig gelaufen, und ich stehle mich unbemerkt aus dem Saal. Ich kann einfach nicht mehr dabei zusehen, dass so ziemlich jeder mehr mit seinem Leben anzufangen weiß als ich.
Ein Hamsterrad, nur ohne Hamster
»Alles auf Anfang!«, ruft der Regieassistent durch den Raum.
Innerlich verdrehe ich die Augen. Noch ein Take? Ich setze eine neutrale Miene auf, als die Regisseurin auf mich zukommt.
»Ich brauche mehr Gefühl, Jonas«, weist sie mich ohne Umschweife an. »Du hast gerade erfahren, dass Saliah für dich alles stehen und liegen gelassen hat. Zeig das auch!«
Ich nicke und versuche mir ihre Kritik zu Herzen zu nehmen, doch je angestrengter ich mich in die Leiden und Freuden meiner Figur hineinzuversetzen versuche, desto mehr stelle ich die gesamte Szene in Frage.
»Na komm, einer geht noch.« Saliah grinst kokett. Sie wiederum scheint sich über die Ansage der Regisseurin zu freuen.
Ich seufze und bringe mich wieder in Position. Saliahs warmer Atem streicht über meinen Hals.
»Ruhe, bitte!«, ruft der Aufnahmeleiter, und am Set ersterben die letzten Gespräche.
»Ton ab!«, höre ich die Stimme des Regieassistenten.
»Läuft!«, bestätigt der Tonmann.
»Kamera ab!«
»Läuft!«, bestätigt wiederum der Kameramann.
Ich räuspere mich ein letztes Mal und sehe zu Saliah hinunter, versuche so viel Liebe und Verständnis über meinen Gesichtsausdruck zu transportieren wie nur irgend möglich. Mehr ist jetzt aber wirklich nicht drin.
»Drei-Sieben, die Vierte!« Der Kameraassistent schlägt die Klappe.
Die Regisseurin gibt uns das Zeichen. »Und bitte!«
Saliah spricht ihre Zeilen. »Richard und ich ... wir sind nicht mehr zusammen«, stammelt sie. »Ich habe mit ihm Schluss gemacht.«
»Aber letzte Woche meintest du noch ...«, fange ich an, doch sie unterbricht mich.
»Letzte Woche! Da wusste ich ja auch noch nicht, dass du mich liebst!« Saliah sieht mich mit großen verzweifelten Augen an. Wenn die Kamera und der Scheinwerfer nicht auf uns gerichtet und ungefähr ein Dutzend Crew-Mitglieder um uns versammelt wären, würde ich ihr die Gefühle glatt abnehmen. Schauspielern kann sie wirklich.
Ich nehme ihren Kopf in meine Hände, sehe ihr noch einmal tief in die Augen, und dann küsse ich sie. Schon das vierte Mal an diesem Tag, und egal wie oft ich die Szene noch spiele, ich kann mich einfach nicht für diese Entwicklung zwischen ihrer und meiner Rolle erwärmen.
Ich habe mit den Drehbuchautoren gesprochen, wollte sie davon überzeugen, mehr Ernsthaftigkeit und Authentizität in die Serie miteinfließen zu lassen, echte Probleme zu behandeln, mit denen sich die Zuschauenden identifizieren können – aber sie haben abgelehnt. So etwas wolle doch niemand sehen, meinten sie. Warum etwas verändern, das erfolgreich ist?
»Danke, aus!«
Saliah und ich lösen uns voneinander, und ich sehe zur Regisseurin hinüber. Sie nickt zufrieden. Erleichtert atme ich auf, denn damit war das die letzte Aufnahme für heute.
»Und, was hast du noch so vor?«, will Saliah wissen, als um uns herum die Crew-Mitglieder den Weichstrahler abbauen und die Kamera vorsichtig in einer gepolsterten Kiste verstauen.
»Nichts«, entgegne ich. Wir verlassen das Set und machen uns zusammen auf den Weg in die Maske, um uns umzuziehen.
»Das kann ich mir kaum vorstellen.« Sie zwinkert mir zu. »Ein paar von uns gehen noch was trinken, kommst du mit?«
Normalerweise bin ich gern dabei, wenn sich das Team nach einem langen Drehtag verabredet, doch zum einen bin ich heute nicht in Stimmung, und zum anderen habe ich so das leise Gefühl, ich könnte Saliah falsche Signale senden, wenn ich ihr jetzt zusage.
Schon bevor sich unsere Rollen dank der engagierten Drehbuchautoren angenähert haben, hat sie nicht lockergelassen und wollte mich ständig überreden, mit ihr auszugehen. Zugegeben, ich bin nicht ganz unschuldig an dieser Situation, denn nach einer durchzechten Nacht sind wir vor zwei Monaten zusammen im Bett gelandet. Das sieht mir eigentlich nicht ähnlich, und umso weniger möchte ich weiter dazu beitragen, dass sie sich Hoffnungen macht.
»Nein, ich hau mich gleich aufs Ohr«, lehne ich entschieden ab.
»Ach, komm schon«, versucht sie mich zu überreden. »Wir gehen alle.« Doch ihr Blick sagt mir, dass sie mit alle nur sich selbst meint.
Eigentlich müsste ich mit ihr reden, ihr erklären, dass sich unsere Nacht nicht wiederholen, sondern für immer ein One-Night-Stand bleiben wird. Das wäre fair – aber damit würde ich für eine Konfrontation sorgen, die sich durch die nächsten Wochen ziehen und das Arbeiten vor der Kamera umso schwerer machen würde. Also lasse ich es bleiben, auch wenn mein Gefühl etwas anderes sagt.
Ich schüttle den Kopf. »Heute nicht, beim nächsten Mal dann wieder.«
»Ich nehm dich beim Wort«, sagt sie leicht schmollend, als wir vor dem Wohnwagen ankommen, in dem sich die Maske befindet.
»Jonas?«, höre ich da eine Stimme hinter mir.
Erleichtert, dem Gespräch zu entkommen, drehe ich mich um. Ich verabschiede mich mit einem halbherzigen Winken von Saliah, während mir die Aufnahmeleiterin Jillian mit schnellen Schritten entgegenkommt.
»Du hast dein Handy vergessen.« Jill reicht mir mein Mobiltelefon, das ich ihr während des Drehs anvertraut hatte.
Ich runzle die Stirn. »Wolltest du es mir nicht vorhin einfach in meinen Wohnwagen legen?«
Sie lächelt ertappt und streicht sich ihre weinrot gefärbten Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst haben. »Ich möchte noch kurz mit dir reden.«
Jetzt bin ich neugierig. »Klar, schieß los.«
»Irgendwie hab ich das Gefühl, dass du zurzeit nicht so ganz bei der Sache bist«, fängt sie an. »Gibt's irgendwas, über das du reden möchtest?«
Ich zögere kurz. »Nein, passt alles«, sage ich dann.
»Wirklich?« Jill zieht ihre rechte Augenbraue hoch.
»Ja. Das heißt ... nein.« Ich winke ab, denn es hat ohnehin keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen. Dazu kennt sie mich inzwischen zu gut. »Aber es ist immer das gleiche verdammte Thema. Ich will dich nicht langweilen, also ...« Ich lasse den Satz in der Luft hängen.
»Wir können uns gern noch mal zusammensetzen.« Im Gegensatz zu Saliah geht es Jill nicht um ein romantisches Date, sondern um unsere Freundschaft.
Ich lächle. »Ein andermal, okay?«
»Bist du sicher?«, fragt sie, und ihre grünen Augen beobachten mich skeptisch.
»Jap, bin ich«, versichere ich ihr. »Aber danke trotzdem.«
Ihre Hand fährt plötzlich hoch zum Headset, über das das Team während des Drehs in Kontakt bleibt. »Okay, mach ich«, sagt sie zu niemand Bestimmten und sieht dann wieder zu mir. »Ich muss los. Wir sehen uns morgen.«
Ich schaue Jill nach, wie sie eilig in die Richtung verschwindet, aus der sie gekommen ist.
Dann folge ich Saliah und springe die wenigen Stufen zur Maske empor, um die Tonnen an Puder, die mir während des Drehs verpasst wurden, wieder loszuwerden.
Als ich zwanzig Minuten später die Garderobe betrete und mich an einem Schauspielkollegen und dem Kostümbildner vorbeiquetsche, um zu meiner Kleiderstange zu gelangen, werfe ich zum ersten Mal einen Blick auf mein Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit. Alle von meinem Vater. Ich weiß genau, weshalb er mit mir reden will, und stöhne genervt, während ich das Telefon auf einen Hocker lege und mir das feine Leinenhemd aufknöpfe. Keine Frage, wer heute Abend vor meiner Wohnungstür stehen wird, um mir den Feierabend zu versauen. Das werde ich mit einem Rückruf nicht ändern können.
Beim Umziehen überlege ich, wie ich bei meinem Vater das leidige Thema ansprechen soll, das jedes Mal in einem Streit endet. Ich habe es schon zigmal versucht, aber er ist ein alter Sturschädel, der ganz plötzlich taub wird, wenn ihm etwas nicht passt. Ich hasse es, wenn er mir nicht zuhört, und genauso hasse ich es, dass er damit ganz bewusst verhindert, dass ich endlich das mache, was ich wirklich will: mich weiterentwickeln und endlich wieder Spaß am Schauspielern haben.
Wie lange soll ich denn noch Teil dieser endlosen Streaming-Serie Reset sein, die Staffel für Staffel unglaubwürdiger wird? Nach drei Jahren war mein Charakter mittlerweile mit fast jeder weiblichen Rolle mindestens einmal zusammen, es gab Intrigen, Mordverwickelungen und in jeder Folge mindestens eine Superreichen-Party mit überteuerten schicken Kostümen und Skandalen. Die Geschichte ist schon längst auserzählt, jedenfalls meiner Meinung nach. Aber die will leider niemand hören. Vor allem nicht mein Vater.
Es ist nicht so, dass ich nicht dankbar bin. Als ich mit sechzehn die Hauptrolle ergattert habe, hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie groß die Sache werden würde. Reset ist nicht nur in Deutschland bekannt, sondern feiert inzwischen auch international große Erfolge. Über Nacht bin ich durch diese Serie ein gefragter Schauspieler geworden, dem die Angebote fast nachgeschmissen werden. Wer kann das schon von sich behaupten?
Aber die Anfragen kommen und gehen, ohne dass ich davon auch nur eine annehmen darf. Dafür sorgen mein Vater, der gleichzeitig mein Manager ist, und der Knebelvertrag der Produktionsfirma mehr als zuverlässig. Wenn das so bleibt, werde ich ganz sicher sehr bald für andere Projekte uninteressant, weil mein Gesicht zu stark mit meiner Reset-Rolle des schnöseligen Finlay Scott verknüpft sein wird. Klassisches Macaulay-Culkin-Phänomen ...
Ich habe wirklich Angst davor, dass ich mich dann von meinen Träumen verabschieden kann – und dass meine Karriere so schnell endet, wie sie begonnen hat.
Doch das Schlimmste ist, dass ich nicht den Mumm habe, daran etwas zu ändern.
Was du heute kannst besorgen,
das verschiebe stets auf morgen!
(Ich bin mir ganz sicher,
dass es dieses Sprichwort gibt.)
Es ist unglaublich heiß, und die Sonne brennt mir auf die Schultern, als ich am späten Montagnachmittag, zwei Tage nach der Abifeier, an die Wohnungstür meines großen Bruders klopfe.
Justus wohnt ganz in der Nähe in einer gepflegten, ruhigen Wohngegend, in der sich ein Einfamilienhaus an das nächste reiht und die Rasen der Gärten stets akkurat gestutzt sind. Es gibt hier nur wenige Mehrparteienwohngebäude. Ich habe den kurzen Weg zu ihm in wenigen Minuten mit dem Fahrrad zurückgelegt. Trotzdem bin ich bei meiner Ankunft völlig durchgeschwitzt.
»Leni! Dich habe ich gar nicht erwartet«, werde ich von meinem Bruder begrüßt.
Im Gegensatz zu mir schrecken Justus die Interpretation von Gesetzestexten und das Auslegen von Richtlinien nicht ab, sondern begeistern ihn zur Freude unserer Eltern schon seit seiner Kindheit. Er befindet sich in den Endzügen seines Jurastudiums, und schon jetzt könnte ich ihn als das Klischee eines Juristen beschreiben: immer ordentlich und geradlinig gekleidet, humorbefreit, wenn es um die Einhaltung von Recht und Gesetz geht, und vom Wesen her irgendwie ... verstaubt. Selbst zu Hause trägt er nie eine Jogginghose, sondern Polohemd und Stoffhose.
Das komplette Gegenteil hingegen ist seine langjährige Freundin Jill. Ihre Haarfarben ändern sich schneller als das Wetter im April, und ihre farbenfrohen Tattoos an beiden Armen erzählen so viele Geschichten, dass ich bei jedem Besuch etwas mehr über sie erfahre. Die beiden sind wie Feuer und Luft. Völlig verschieden, und doch brauchen sie einander, um zu leuchten.
»Hallo, Bruderherz.« Ich umarme ihn zur Begrüßung. »Hast du was Kaltes zu trinken für mich? Ich glaub, ich sterbe sonst.«
»Klar, komm rein.« Er winkt mich durch die Tür, und ich folge ihm in die Küche.
Die Wohnung ist nicht groß, sie hat nur zwei Zimmer. Dafür wurde das Gebäude erst vor zwei Jahren erbaut, und durch die bodentiefen Fenster ist die Wohnung zu jeder Tageszeit sehr hell und bietet einen idyllischen Blick ins Grüne. Jill hat einen festen Job, und Justus arbeitet neben dem Studium in einer Anwaltskanzlei. Trotzdem reicht das Gehalt der beiden für so eine Wohnung im Osten Münchens nicht ganz, aber Mama und Papa überweisen Justus monatlich einen Teil der Miete ... weil er sie so stolz macht, wie sie immer zu sagen pflegen.
Justus holt eine Flasche Sprudelwasser aus dem Kühlschrank und schenkt mir ein großes Glas ein, während ich den Blick durch die Küche schweifen lasse. Die Küchenzeile ist aus hellem Holz gefertigt, die Fliesen sind von cremigem Weiß, und auf dem Fensterbrett wachsen die verschiedensten Kräuterarten in kleinen bunten Töpfen.
»Hab ich dich beim Lernen gestört?«, frage ich ihn, als er mir das Glas Wasser reicht. Eine rein rhetorische Frage, denn der runde Küchentisch ist über und über mit Gesetzesbüchern und Kommentaren beladen. Außerdem ist es schwierig, Justus nicht beim Lernen zu stören, weil er gefühlt jeden Tag stundenlang in seinen Büchern versinkt.
Er winkt ab. »Ach was.«
»Kommst du gut voran?«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Du schaust doch sicher nicht bei mir vorbei, um dich nach meinem Lernfortschritt zu erkundigen, oder?«
»Wahrscheinlich nicht ...« Ich grinse ertappt und lasse mich auf einen der vier Küchenstühle fallen. Wie sehr würde ich mir wünschen, mit klugen und sinnvollen Bemerkungen das folgende Gespräch aufzuschieben. Doch Small Talk war noch nie meine Stärke. Mein Herz flattert unangenehm, als ich überlege, wie ich am besten anfange, und mein Mund ist ganz trocken vor Aufregung. Schnell nehme ich einen kühlenden Schluck von meinem bisher unberührten Wasser. Und jetzt – Augen zu und durch. »Ich muss mit dir über meine Zukunft reden«, falle ich mit der Tür ins Haus.
Justus nimmt mir gegenüber Platz und sieht mich aufmerksam an. »Dann raus damit.«
Auch wenn ich mir mit meiner Entscheidung sicher bin, ist es noch einmal etwas anderes, sie laut auszusprechen. Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und überlegt, wie ich meinen Eltern schonend beibringen kann, dass ihre Tochter nicht in ihre Fußstapfen treten möchte. Letztendlich bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es am klügsten ist, erst einmal Justus mit ins Boot zu holen.
Ich atme tief durch. »Ich möchte kein Jura studieren.« Puh. Jetzt ist es raus.
Mein Bruder schnaubt. »Und das ist was Neues?«
»Wie meinst du ...?« Ich starre ihn perplex an und klammere mich mit beiden Händen an das kalte Wasserglas.
Er schüttelt den Kopf. »Es ist ja ziemlich offensichtlich, dass du daran kein Interesse hast.«
»So offensichtlich, dass es Mama und Papa auch schon wissen?«, frage ich hoffnungsvoll.
»Eher nicht«, überlegt er. »Selbst wenn du es ihnen erzählst, werden sie es wohl erst glauben, wenn du dich für einen anderen Studiengang eingeschrieben hast.«
Ich beiße mir auf die Lippe. »Aber das ist es ja gerade«, fange ich vorsichtig an. »Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt studieren möchte.«
Bei meinen Worten werden seine Augen groß. »Findest du nicht, dass diese Überlegung etwas spät kommt?«
»Ja, verdammt, das weiß ich doch selbst«, seufze ich mutlos und stelle mein Glas auf den Tisch. »Aber für Mama und Papa stand einfach immer fest, was aus uns werden soll. Und so blöd es sich auch anhört: Ich habe nie groß darüber nachgedacht, dass es auch andere Wege gibt außer diesen.«
»Und was willst du dann machen?« Mein Bruder klingt auf einmal fast geschäftsmäßig. »Für eine Ausbildung bist du zu spät dran, da kannst du dich höchstens für nächstes Jahr bewerben.«
Unbeholfen zucke ich mit den Schultern. »Erst mal mit Mama und Papa reden. Und mit Clara. Ich glaub kaum, dass das mit unserer WG noch was wird.«
»Na ja, du könntest dir fürs Erste einen Job suchen, neben dem Studium hättest du ja auch gearbeitet.«
Ich raufe mir die Haare. Niemand in meiner Klasse ist unentschlossen, alle wissen, was sie nach dem Sommer machen werden, egal ob eine Ausbildung oder ein Studium.
Alle. Wissen. Was. Sie. Wollen.
Nur ich nicht.
»Wusstest du schon immer, dass Jura das Richtige für dich ist?«, frage ich Justus und werfe ihm einen verzweifelten Blick zu.
Er überlegt kurz, und seine Augen schweifen über seine Lernsachen. »Es ist das Eine, sich für etwas zu interessieren, aber das Andere, es in dieser Tiefe zu erfahren. Weißt du, was ich meine? Das Thema verliert dadurch seinen Zauber.«
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Jura auch nur ansatzweise zauberhaft sein kann, aber das sage ich ihm lieber nicht. »Du meinst, im Studium wird man auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt«, fasse ich zusammen.
»Ja, aber das ist nicht zwangsläufig etwas Schlechtes. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich habe meine Entscheidung nie bereut.«
»Siehst du?«, seufze ich sehnsüchtig. »Genau dieses Gefühl möchte ich auch mal haben.«
»Ach, mach dir da mal keine Gedanken. Ein paar meiner Kommilitonen wissen bis heute nicht, ob sie sich für das richtige Studium entschieden haben, und überlegen, ob sie danach etwas anderes machen. Das ist ganz normal.«
Ich spüre ein klein wenig Hoffnung in mir erwachen. Zu erkennen, dass nicht jeder mit achtzehn weiß, welchem Bereich er sich für den Rest seines Lebens widmen möchte, beruhigt mich ein bisschen, auch wenn es meinen eigenen Zweifeln nicht weiterhilft. Vielleicht suche ich mir tatsächlich erst mal einen Job, so würde ich etwas Zeit gewinnen.
»Kann ich dir denn irgendwie helfen?«
»Ja.« Ich schlucke. »Könntest du mit dabei sein, wenn ich mit Mama und Papa rede?«
Er lächelt. »Klar, kein Problem.«
»Danke, Justi!« Ich springe auf und umarme ihn so stürmisch, dass ich ihn fast vom Stuhl befördere.
»Kein Problem«, wiederholt er röchelnd.
»Wo ist eigentlich Jill?«, frage ich, nachdem ich ihn losgelassen habe, und sehe mich unnötigerweise um.
»Sie ist noch bei der Arbeit, aber sie meinte, der Dreh geht heute nicht so lange. Willst du mit uns essen?«
Ich nicke. »Voll gern.« Damit habe ich die perfekte Ausrede, warum ich heute noch nicht mit Clara sprechen kann. Immer schön alles auf morgen verschieben. Darin bin ich richtig gut.
Um kurz nach sieben kommt Jill nach Hause, und auf ihrem Gesicht breitet sich ein überraschtes Lächeln aus, als sie mich auf der Couch liegen sieht.
»Leni! Schön, dich zu sehen!« Sie ist mit blauen Jeans, schwarzem T-Shirt und Turnschuhen zweckmäßig gekleidet, und ihre weinroten Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst haben und ihr locker ins Gesicht fallen.
Ich springe auf. »Ich freu mich auch! Justi meinte, ich könnte mit euch essen.«
Jill schnuppert Richtung Küche. »Es riecht jedenfalls schon phänomenal. Ich sag ihm schnell Hallo.«
Mein Bruder ist ein leidenschaftlicher Koch, und außer ein paar Schnippelarbeiten für den Couscoussalat durfte ich nichts zum Abendessen beitragen. Ich folge Jill in die Küche, wo Justus gerade bedächtig den Lachs in der Pfanne wendet. Während Jill ihn von hinten umarmt und ihm einen Kuss auf den Hals drückt, öffne ich den Küchenschrank, um den Tisch zu decken.
Eine Viertelstunde später sitzen wir zusammen am Küchentisch, der mittlerweile von der schweren Last des Gesetzes befreit wurde.
»Und, wie war deine Abifeier?«, fragt Jill interessiert und schiebt sich eine große Gabel Couscous in den Mund. »Tut mir übrigens leid, dass ich bei der Zeugnisverleihung nicht dabei sein konnte, aber wenn wir drehen, hab ich keinen Spielraum«, fügt sie schmatzend hinzu. Jill arbeitet beim Film, oder besser gesagt ist sie Teil einer Serienproduktion, und deshalb unterscheiden sich ihre Arbeitszeiten enorm von denen einer normalen Bürotätigkeit.
»Das weiß ich doch«, beruhige ich sie lächelnd. »Außerdem hast du nicht viel verpasst.«
»Natürlich hab ich das! Mit deinem Abschluss hast du ja einen neuen Lebensabschnitt begonnen.«
»Nur dass Leni noch nicht weiß, wie dieser neue Abschnitt aussehen soll«, gibt Justus zu bedenken.
Jill sieht erst meinen Bruder und dann mich an. »Du meinst, wegen deines Jurastudiums?«
»Das mit Jura ist nicht mehr aktuell«, kommentiert mein Bruder weiter.
Ich verdrehe die Augen. »Wie wär's, wenn du mich das selbst erzählen lässt?«
Jill mustert mich abwartend.
»Ich weiß noch nicht so ganz, wo ich hinwill«, versuche ich ihr mein Dilemma zu erklären. »Aber Jura ist es ganz sicher nicht. Keine Ahnung, ob ich überhaupt studieren soll.«
Auf Jills Gesicht erscheint ein breites Grinsen. »Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis!«, sagt sie zu meiner Überraschung. »Gesetze sind nichts für dich, das habe ich mir von Anfang an gedacht. Der Stoff ist viel zu trocken, aber du bist so lebendig.« Sie wirft einen schnellen Blick zu Justus. »Sorry, Baby.«
Er winkt ab. »Schon gut. Ich bin's ja gewohnt.«
»Und was willst du dann machen? Arbeiten? Pause? Reisen?«
Von ihrer plötzlichen Euphorie verunsichert, schüttle ich den Kopf. »Ehrlich gesagt ... keine Ahnung. Ich werde erst mal mit unseren Eltern sprechen.«
»Aber wie werden sie reagieren, wenn du gar nichts in der Hand hast?«, überlegt Jill laut.
»Was meinst du?«
»Na ja, stell dir mal vor, du erzählst ihnen, dass du im Herbst nicht zu studieren beginnst.«
Ich nicke. »Sie werden schwer enttäuscht sein.«
»Ganz genau. Aber was, wenn du ihnen gleichzeitig sagst, dass du ein Praktikum in der Tasche hast und nicht einfach auf der faulen Haut liegst?«
»Ja, kann schon sein, dass sie es dann besser ertragen«, sage ich mit gerunzelter Stirn. »Aber dafür bräuchte ich erst mal ein Praktikum. Ich meine, klar, ich könnte mir eins suchen, bevor ich mit ihnen spreche, aber so lange wollte ich eigentlich nicht warten.«
Jills Grinsen wird noch breiter. »Du hast doch einen Führerschein?«
»Äh, ja«, antworte ich skeptisch. »Warum?«
Sie legt ihr Besteck auf den leeren Teller. »Weil das Schicksal es gut mit dir meint! Einer unserer Setrunner hat sich heute den Knöchel gebrochen. Üble Sache, das sah echt schlimm aus. Jedenfalls ...«, sie zwinkert mir zu, »... ich hätte da ein Praktikum zu vergeben.«
Schwer von Begriff starre ich Jill an. So schnell bin ich da jetzt nicht mitgekommen. »Ein Praktikum? Wo? Und als was?«
»Na, bei unseren Dreharbeiten«, hilft sie mir auf die Sprünge. »Als Setrunnerin.«
Meine Augen werden groß, und das Stück Lachs, das ich mir gerade in den Mund schieben wollte, fällt von meiner Gabel zurück auf den Teller. »Aber ich kenn mich doch damit gar nicht aus.«
»Das lernst du alles in ein paar Tagen. Als Setrunner bewerben sich viele Quereinsteigerinnen und -einsteiger, die gerne mal Filmluft schnuppern möchten und noch keine Erfahrung haben.«
»Und was macht man als Setrunnerin?«, frage ich ein wenig überfordert.
»Im Grunde bist du das Mädchen für alles. Du bist eine Organisationshilfe, stehst dem Drehteam für kleine und große Aufgaben zur Verfügung und bleibst während der Aufnahmen in Bereitschaft, falls Mitarbeitende ausfallen. Das ist ein harter Job, so ist es nicht, aber auch sehr interessant. Man lernt viel, knüpft Kontakte, und du würdest mal was völlig anderes sehen.«
»Warum eigentlich nicht?«, sagt Justus in die Stille hinein.
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein, und ich spüre ein leichtes Kribbeln in meiner Magengegend. Jill hat gerade die perfekte Stellenbeschreibung skizziert. Vielleicht komme ich mit diesem Praktikum auf neue Ideen, die ich an die Fragezeichen in meinem Kopf verfüttern kann, und vielleicht geben sie sich damit zufrieden – oder drängen sich wenigstens nicht mehr so vehement in den Vordergrund.
Außerdem hat Jill recht. Auch wenn sich meine Eltern mit der Kreativität der Filmwelt vermutlich nicht wirklich identifizieren können, werden sie aber erkennen, dass ich nicht tatenlos rumsitze. Das Praktikum könnte die Lösung meines Problems sein – oder zumindest eine Zwischenlösung.
Und da ist noch etwas ... ein leiser Gedanke nähert sich zaghaft.
Möglicherweise schaffe ich es dabei sogar, mir Daniel endlich aus dem Kopf zu schlagen. Unvermittelt zieht sich alles in mir zusammen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich ihn nicht lieben könnte, wie ich nicht jeden Tag an ihn denken sollte. Trotzdem muss ich es wenigstens versuchen, denn eines weiß ich ganz gewiss: Es zehrt an meinen Nerven, mich jeden Tag in eine Parallelwelt zu träumen, weil ich nur in meiner Vorstellung mit Daniel zusammensein kann. Ich will endlich ausbrechen und in der realen Welt glücklich sein. Das will ich aber nicht schaffen, indem ich mir einen anderen Jungen zur Ablenkung suche, nein, das muss ich ganz alleine hinkriegen. Und ich werde nicht warten, bis das Glück mich findet, sondern ich werde es suchen. Am besten, ich schicke einen ganzen Suchtrupp raus.
Es gibt für alles eine Lösung:
ja, nein, vielleicht?
»Was zum Teufel ist bloß in dich gefahren?« Mein Vater quetscht sich durch die Tür in meine Wohnung, noch ehe ich ihm ganz geöffnet habe.
»Hallo, Vater. Es ist auch schön, dich zu sehen«, sage ich und verdrehe die Augen.
Er schnaubt und stürmt an mir vorbei durch den kurzen dunklen Flur. »Lass den Schmarrn und sag mir lieber, warum du schon wieder zu den Drehbuchautoren gelaufen bist, um über ihre Arbeit zu meckern!«
Ich schüttle den Kopf, während ich ihm in mein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer folge. »Das bin ich gar nicht, okay? Ich habe ihnen nur Vorschläge gemacht.«
»Warum? Ein Schauspieler beschwert sich nicht über das Drehbuch, sondern spielt einfach seine verdammte Rolle!« Er stemmt seine Hände in die Seiten und funkelt mich wütend an.
»Ein guter Schauspieler darf sich einbringen und eigene Vorschläge machen«, berichtige ich ihn ruhig. »Das nennt man Eigeninitiative.« Auch wenn ich seinen Ärger vorhergesehen habe und vorbereitet bin, kostet mich dieser Streit viel Kraft. Immer dasselbe Thema, immer dieselben Argumente und jedes Mal der gleiche Ausgang: keine Lösung.
»So eine unüberlegte Aktion kann dich den Job kosten, das ist dir doch wohl klar, oder? Ich hab bei deiner Schauspielerei schon genug Zugeständnisse gemacht. Versau es dir jetzt nicht«, sagt er mit bedeutungsschwerer Stimme und lockert seine grau glänzende Krawatte.
»Du reagierst total über«, antworte ich müde und gehe zur Eckcouch.
»Ach ja? Und was war mit Kai Zimmermann? Wie du weißt, ist er den Serientod gestorben, weil er sich immer wieder beschwert hat.«
Ich lasse mich aufs Sofa fallen. »Na, dann sollen sie mich halt auch sterben lassen«, seufze ich genervt. »Ich bitte darum.«
»Hörst du dir eigentlich selbst zu?« Mein Vater baut sich vor mir auf und gestikuliert aufgebracht mit seinen Händen. Nur wenn ich sitze, ist er größer als ich, ansonsten reicht er mir gerade mal so bis zum Kinn. »Du bist so undankbar!« Er läuft bis zu seinen nicht mehr vorhandenen Haarspitzen dunkelrot an.
Ich könnte ihm mindestens genauso viel an den Kopf werfen wie er mir, könnte ihm vorwerfen, dass er sich zu stark in mein Leben einmischt und ich ihn deshalb als meinen Manager am liebsten feuern würde. Aber ich mache es nicht. Stattdessen lehne ich mich erschöpft in die weichen Sofakissen zurück.
»Lass uns nicht streiten, ja?« Ich reibe mir die Schläfen. »Ich werde den Drehbuchautoren keine Vorschläge mehr machen, es hat sowieso keinen Sinn.«
Mein Vater nickt kurz, bevor er seine Anzugjacke auszieht, sie über die Sofalehne legt und sich dann, zufrieden über seinen Sieg, neben mich setzt. »Sieh mal, ich bin ja nur so streng, weil ich dein Bestes will. Und da bringt es nichts, wenn du die Serie aufgibst und so Kleinkram-Angebote von Steven Port annimmst.«
»Ja, ich weiß, das hast du mir schon oft ge...«, fange ich an, doch dann stoppe ich. »Warte mal. Hast du gerade Steven Port gesagt? Der Regisseur aus London?«
Mein Vater zuckt mit den Schultern. »Ja.«
»Steven Port hat mich für eines seiner Projekte angefragt?« Ich versuche ruhig zu bleiben, aber meine Stimme zittert.
»Ja«, bestätigt er wieder. »Aber das wäre nur ein kleiner Film gewesen, und außerdem fangen da parallel die Dreharbeiten zur fünften Staffel an, also hätten wir das Projekt gar nicht in deinem Terminkalender unterbringen können.« Selbstgefällig lehnt er sich nach hinten und legt einen Arm auf die Sofalehne.
»Ist dir klar, was du da sagst?« Mein Vorsatz, nicht auf Konfrontationskurs zu gehen, ist dahin. Ich balle meine Hände zu Fäusten, sodass sich meine Fingerknöchel weiß färben. Das Blut rauscht in meinen Ohren. »Ich liebe Steven Ports Arbeit! Hast du mir gerade wirklich in einem Nebensatz mitgeteilt, dass du ein Angebot von ihm ausgeschlagen hast, ohne mir Bescheid zu geben?«
»Das war keine große Sache«, sagt mein Vater ungerührt. »Und wie gesagt: Es hätte ohnehin nicht in deinen Terminplan gepasst.«
»Ich hab dir doch schon so oft gesagt, dass ich da aussteigen will!«, schleudere ich ihm entgegen, während ich ihn wütend anstarre.
»Und was ist mit deiner Karriere? Wenn du die Rolle hinschmeißt, ist dein Ruhm bald Geschichte. Was machst du dann?« Mein Vater verschränkt die Arme. Jegliche Argumente prallen an seiner Überzeugung ab.
»Die Frage ist wohl eher, was du dann machst.« Die Worte verlassen meinen Mund, bevor ich sie zurückhalten kann. Mit dieser Bemerkung habe ich eine neue Ebene betreten, und ich sehe förmlich, wie mein Vater vor mir anschwillt.
»Was hast du gesagt?«, fragt er mich bedrohlich leise, und seine Augen verengen sich zu Schlitzen.
Ich könnte das Gesagte zurücknehmen, mich entschuldigen. Aber warum? Es ist die Wahrheit, auch wenn er sie nicht hören will.
Ich stehe auf und überrage ihn damit wieder. »Du hast mich schon richtig verstanden. Ein erfolgloser Schauspieler braucht keinen Manager.«
»Deine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie hören könnte, wie du mit mir sprichst!« Seine Worte fühlen sich an wie eine Ohrfeige.
»Es ist besser, wenn du jetzt verschwindest«, knurre ich, gehe an ihm vorbei durch den Flur zur Tür und öffne sie. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Mein Vater packt sein Sakko und schnaubt. »Das Thema ist ganz sicher noch nicht beendet, klar?« Er wirft mir einen letzten wütenden Blick zu, als er an mir vorbei aus der Wohnung rauscht.
Ich schlage die Tür fester hinter ihm zu als nötig. Mein Puls rast, und ich atme schwer. Ziellos renne ich im Wohnzimmer umher, packe das Handtuch, das ich vorhin nach dem Duschen achtlos auf meine Couch geworfen habe, und schmeiße es mit aller Kraft durchs Zimmer. Aber es hilft nicht. Noch immer könnte ich brüllen vor Wut, also trete ich gegen den nächstbesten Stuhl, der krachend umkippt. Das Holz ächzt, als ein Bein abbricht.
Keuchend stehe ich da und starre den kaputten Stuhl an. Warum muss mein Vater immer diese Karte ziehen, warum erwähnt er in jeder Auseinandersetzung meine tote Mutter? Er weiß ganz genau, dass er mich damit trifft, weil ich nie wissen werde, ob er recht hat. Ich werde nie wissen, ob sie stolz auf mich wäre oder nur den Kopf schütteln würde, wenn sie mich heute sehen könnte.
Schwer atmend lasse ich mich auf das Sofa fallen, liege auf dem Rücken und drücke mir die Handballen auf die Augen. Warum kann ich nicht ich selbst sein? Warum akzeptiert er mich nicht so, wie ich bin?
»Habt ihr Biologie zurückbekommen?«, fragt mich mein Vater über den Küchentisch hinweg.
Ich nicke langsam und ziehe mit zittrigen Fingern die Extemporale aus meinem Schulranzen, die wir vorige Woche unerwartet geschrieben haben. Den ganzen Schulweg über hat es mir davor gegraut, nach Hause zu kommen, und ich habe ernsthaft überlegt, den Test in die Isar zu werfen.
Wortlos überreiche ich ihm das Stück Papier.
Mein Vater überfliegt kurz die vielen roten Verbesserungen meiner Lehrerin, dann bleibt sein Blick an der mangelhaften Note hängen, und seine Augen weiten sich ungläubig. »Eine Fünf?«, donnert er, klatscht die Ex auf den Küchentisch und verfehlt damit nur knapp unser Mittagessen.
Ich zucke zusammen. »Ich habe wirklich gelernt, aber ich verstehe Bio einfach ni...«
Doch mein Vater unterbricht mich. »Du hast gelernt? Offensichtlich nicht genug!« Er schnaubt frustriert. »Weißt du, ich reiß mir für uns wirklich den Arsch auf! Ich arbeite und arbeite, nur um dir ein besseres Leben zu ermöglichen. Und was trägst du dazu bei, hm?« Er weist mit einer abfälligen Handbewegung auf meinen Test. »Rein gar nichts!«
»Es tut mir leid«, murmle ich.
»Von deiner Entschuldigung können wir uns nichts kaufen!« Er reibt Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen aneinander. »Geld. Darum geht es! Und das bekommst du nur mit guter Bildung! Ich rufe gleich morgen bei deiner Schule an und nehme dich aus der Theater AG. Es ist Zeit, dass du dich mit deinen zwölf Jahren endlich auf das Wesentliche konzentrierst.«
»A-Aber Herr Schmidt hat gestern gesagt, dass ich die Hauptrolle spielen darf«, stottere ich, und Tränen sammeln sich in meinen Augen. Schule war schon immer blöd, doch auf die Nachmittagsstunden meines Wahlfachs freue ich mich jede Woche.
»Schauspielerei ist brotlose Kunst«, stellt mein Vater entschieden klar. »Wenn du deine Nudeln aufgegessen hast, gehst du in dein Zimmer und arbeitest den Test durch. Ende der Diskussion.«
Ich schiebe die Erinnerung beiseite und setze mich wieder auf, denn gerade ist mir ein Gedanke gekommen: Die Beziehung zu meinem Vater ist einseitig. Egal, was ich mache, er hört mir nicht zu. Auch wenn ich mich an seine Anweisungen halte und alles dafür gebe, meine – oder besser gesagt seine – Ziele zu erreichen, rede ich gegen eine undurchdringbare Wand. Er glaubt zu wissen, was gut für mich ist. Er ist überzeugt, den richtigen Weg zu kennen.
Aber mein Weg ist nicht seiner, und meine Wünsche stehen seinen Vorstellungen entgegen. Warum höre ich dann nicht damit auf, seinem Weg zu folgen? Warum finde ich nicht meinen eigenen?
Dann könnte ich vielleicht endlich glücklich werden ... den Grund wiederfinden, warum ich mit dem Schauspielern begonnen und so viel Herzblut in meine Arbeit gesteckt habe.
Nur: Wie soll ich meine Vorstellungen in die Tat umsetzen? Vor einem Monat habe ich für die fünfte Staffel von Reset unterschrieben, und so ohne Weiteres komme ich da nicht wieder raus. Wenn ich den Vertrag kündige, werde ich eine hohe Strafe zahlen müssen, und obwohl ich derzeit finanziell nicht klagen kann, werde ich jeden Cent benötigen, um meiner Karriere eine neue Richtung zu geben.
Es sei denn ...
Ich zucke zusammen, als mein Handy klingelt, aber der Blick auf das Display lässt mich lächeln.
»Alter, du kommst wie gerufen«, begrüße ich meinen besten Freund Tobias. »Wir müssen einen Schlachtplan erstellen, wie ich so schnell wie möglich gefeuert werde.«
Wir haben doch für alles eine App –
warum gibt es kein Warnsystem für besch****** Tage?
Als ich am nächsten Tag aufwache und mit verstrubbeltem Haar in die Küche schlurfe, ist Mama, die im Gegensatz zu mir bereits ein elegantes beiges Kostüm trägt und ihre dunkelbraunen Haare zu einem Dutt gebunden hat, gerade dabei, einen Smoothie zu mixen. Der dunkelgrünen Farbe nach zu urteilen, ist eine der Zutaten Spinat.
»Gibst du mir einen Apfel, Liebes?«, bittet sie mich und wirft mir einen kurzen Blick zu.
Ich nehme einen Apfel aus der Obstschale und reiche ihn ihr.
»Nicht den grünen, den roten«, sagt sie in einem Tonfall, als müsste mir klar sein, welches Obst sie für ihren Smoothie bevorzugt.
Ich gebe ihr den nächsten Apfel. »Wo ist Papa?«, frage ich. Normalerweise trinkt er um diese Uhrzeit seinen ersten Kaffee.
Meine Eltern haben eine gemeinsame Anwaltskanzlei für Familienrecht, fangen meist erst gegen zehn Uhr an zu arbeiten und bleiben dafür bis spät abends im Büro.
»Er hat heute einen Gerichtstermin«, klärt Mama mich auf, nimmt zwei Gläser aus dem Küchenschrank und füllt sie gleichmäßig mit ihrem dickflüssigen Smoothie. »Wo warst du denn gestern Abend?«
Ich nehme mein Glas voll grüner Gesundheit entgegen und hoffe, dass sie mit dem Spinat nicht übertrieben hat. »Bei Justi.«