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© Piper Verlag GmbH, München 2022
Covergestaltung: Jan Lukat
Covermotiv: Lukas Schrall
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Ab und zu sucht man etwas.
Vielleicht sogar mehr oder weniger verzweifelt.
Manchmal findet man »es« dann auch.
Ist vielleicht – oder vielleicht auch nicht – zufrieden damit.
Es ist die Musik, die mich immer begleitet hat. Es sind all diese einzelnen Lieder, die nur einen einzigen Ton, einen einzigen Wimpernschlag brauchen, um mich wieder in die Situationen von damals zurückzuversetzen. Zu diesem Song habe ich mir die Seele aus dem Leib getanzt. Jener legte sich wie eine warme Decke um meine Schultern, während ich bitterlich geweint habe. Ein anderer dröhnte aus den Boxen meines alten Autos, als ich im Sommer nach Mörtschach zurückgekehrt bin.
Zu jedem dieser Songs gibt es eine Geschichte.
Und alle zusammen bilden sie den Soundtrack zu dieser – – Geschichte.
Zum Soundtrack hier entlang:
https://open.spotify.com/playlist/2gbqcQlaf472OZkUXptVjP?si=_Fs8sHXkT4qzEXZznk5gcw
Hold On, We’re Going Home – Nick Mulvey
Crystalised – The xx
Waves – Dean Lewis
Hold My Girl – George Ezra
Auf und davon – Casper
I Of The Storm – Of Monsters and Men
Speechless (feat. Erika Sirola) – Robin Schulz
Seasons Run – The xx
Hinter klugen Sätzen – AnnenMayKantereit
Small Bump – Ed Sheeran
Blood – The Middle East
Get Away – George Ezra
Wicked Game – Parra For Cuva
Wasting My Young Years – London Grammar
The Sun – Parov Stelar
Loud Places – The xx
Pauken – Lotte
Hurricane – MS MR
Edge Of The Ocean – Ivy
Alles muss raus – Lina Maly
Das Leichteste der Welt – Kid Kopphausen
Fantasy – MS MR
Youth – Daughter
Storm – Mighty Oaks
Dunkelblau – Fynn Kliemann
& Jay-Z singt uns ein Lied – Thees Uhlmann, Casper
Safe – Bay Ledges
In meinem Bett – AnnenMayKantereit
Brave – Riley Pearce
Lottery – Jade Bird
One Foot – Walk the Moon
Chicago – Clueso
Um 5:45 Uhr klingelte der Wecker. Mir entfuhr ein Stöhnen. Wenn ich die Geräuschkulisse von draußen richtig deutete, regnete es. Ich hob meinen Kopf und blickte aus dem Fenster. Es regnete nicht, es schüttete.
Mit einem weiteren Ächzen quälte ich mich aus dem Bett. In 45 Minuten würde ich bei Katharina vor der Tür stehen. Sie musste selbst zeitig ins Büro und kam daher nicht umhin, sich eine zusätzliche Kinderbetreuung zu leisten. Ich würde ihre drei Sprösslinge für den Kindergarten und die Schule fertig machen und danach direkt die Vormittagsschicht im Café übernehmen. Ich griff nach meinen Klamotten, stapfte ins Bad und hielt mein Gesicht unter das kalte laufende Wasser. Rasch anziehen, die beiden bettelnden Kaninchen in meiner Küche mit etwas Heu und Grünzeug versorgen, die Tasche packen, den Regenschirm suchen und nach der wärmsten Jacke greifen, die ich hatte.
Um kurz nach sechs verließ ich meine Wohnung. Genau 25 Minuten später steckte ich den Schlüssel in Katharinas Wohnungstür. Frühstück für die Kinder herrichten, anziehen, Schulbrote schmieren. Die Jüngste davon überzeugen, dass mein liebevoll geschnittener Apfel dem der Mama in nichts nachsteht. Um 7:25 Uhr verließen wir das Haus. Zehn Minuten später erreichten wir den Kindergarten, weitere 15 Minuten später die Grundschule. Um 7:50 Uhr hatte ich die Kinder alle abgeliefert, also blieben mir noch ganze zehn Minuten, um mit einem kleinen Umweg zum Bäcker pünktlich im Café anzukommen.
Nachdem ich die Kaffeemaschine zum Laufen gebracht, die Tische und Stühle abgewischt und sämtliche Kerzen angezündet hatte, hatte ich noch einen kleinen Moment Zeit, bevor wir um 9:00 Uhr die Tür für die ersten Gäste öffneten. Ich griff also in meine Tasche und holte das trockene Brötchen hervor, das ich zuvor beim Bäcker um die Ecke noch hatte ergattern können. Im Café durften sich die Aushilfen nichts nehmen. Selbst die Sachen vom Vortag waren tabu. Ich kaute auf meinem doch auch recht pappigen Brötchen herum, als plötzlich die Chefin vor mir stand.
»Ich erwarte, dass ihr gefrühstückt habt, wenn ihr hier ankommt. Du wirst von mir nicht fürs Essen bezahlt!«
Ich schluckte meinen Ärger mitsamt der zähen Backware herunter. »Sechs Stunden, dann bist du hier wieder raus. Sechs Stunden nur …«, beruhigte ich mich. Wenig später war das Café – wieder einmal – völlig überfüllt. Das Personal war – wieder einmal – katastrophal unterbesetzt. Wir rannten uns alle die Hacken wund. Erst gegen 13:30 Uhr kehrte Ruhe ein. Ich griff nach einem Glas Wasser, lehnte mich an die Theke und atmete tief durch.
Natürlich kam just in diesem Moment meine Chefin ums Eck. Es ging – wieder einmal – um die Sonntagsschichten. Sonntags war im Café immer die Hölle los und normalerweise sollte jeder Mitarbeiter gleich viele Sonntagsschichten übernehmen, doch das war bei mir einfach nicht möglich. An den Wochenenden arbeitete ich auf Hochzeiten und – wie Hochzeiten das eben so an sich haben – das dauert auch gern mal etwas länger. Wenn ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag bis morgens um drei Cocktails mixte und Getränke servierte, ging meine Motivation für eine Sonntagsschicht im Café gegen null. Wir diskutierten eine Weile hin und her, doch ich blieb stur. Auch in den nächsten Wochen würde ich bei den Sonntagsschichten raus sein.
Meine Chefin schürzte die Lippen und machte auf dem Absatz kehrt. Nach zwei Schritten drehte sie sich nochmal um und sagte: »Wenn dir gerade eh langweilig ist, kannst du gerne noch die Regale ausräumen, auswischen und wieder neu einsortieren!« Ich seufzte.
Meine Ablösung kam pünktlich, sodass ich es problemlos zu dem Termin mit meinem Professor um 14:30 Uhr schaffen würde. Wir besprachen meine Abschlussarbeit und die entsprechenden Seminare. Es dauerte eine schiere Ewigkeit. Gegen 16 Uhr waren Katharinas Kinder wieder abzuholen und nach Hause zu bringen. Um 17:30 Uhr war ich endlich wieder zurück in meiner Wohnung. Ich fühlte mich müde und gestresst. Mein erster Impuls schrie nach einer gemütlichen Jogginghose, etwas zu essen und meinem Bett. Doch die Vernunft siegte. Also packte ich meine Sporttasche und eilte los, um es noch pünktlich zum 18-Uhr-Yoga zu schaffen. Schließlich sollte ich mich nach so einem Tag dringend entspannen.
Doch entspannt war an dieser Stunde rein gar nichts. Ich kam völlig abgehetzt an, schaffte es gerade noch so, pünktlich meine Yogamatte auszurollen, und war dann die folgenden 60 Minuten angestrengt damit beschäftigt, endlich zur Ruhe zu kommen. Aber meine Gedanken kreisten nur wieder um die nächsten Termine und die endlose To-do-Liste. Eigentlich war es gut so. Ich bin ein bestens organisierter Mensch. Das Abhaken eines Punktes auf der To-do-Liste verschafft mir eine innerliche Befriedigung. Aber trotzdem – ich war müde. Sehr müde.
Frustriert trat ich den Heimweg an, schaffte es kurz vor Ladenschluss gerade noch so in den Supermarkt und konnte mich am Ende doch nicht dazu durchringen, richtig zu kochen. Es gab also Nudeln mit Fertigsoße. Nachdem ich diese lieblos zubereitete Mahlzeit verputzt hatte, warf ich mich in mein Bett. Endlich.
Ich konnte noch ein halbes Jahr so weitermachen. Vielleicht sogar zehn Monate. Doch dann würde ich meinen Abschluss in der Tasche haben und mich für einen Weg entscheiden müssen. Für einen Weg, für eine Aufgabe, für einen Beruf. Die meisten meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen hatten einen Plan. Sie wollten Geschichtslehrer oder Geschichtslehrerin werden, im Archiv arbeiten, an der Uni bleiben und promovieren oder eine politische Laufbahn einschlagen. Mich reizte nichts davon. Ich wollte keine große Karriere, hatte nicht das Bedürfnis, Unmengen Geld zu verdienen oder in wenigen Jahren noch einen Doktortitel auf meine Visitenkarten drucken zu können. Während ich also genau wusste, was ich nicht wollte, konnte ich meine Wünsche und Vorstellungen von der Zukunft nur schwerlich in Worte fassen. Irgendwo im Nirgendwo einen kleinen Bauernhof besitzen, sich weitestgehend selbst versorgen und einfach nur sein Leben leben – ja, das wär’s. Aber das konnte man doch nicht laut aussprechen. Der Gedanke war einfach nur utopisch. Denn wie sollte mir das gelingen?
Es war genau 5:30 Uhr, als der Wecker klingelte. Ich drückte nicht wie gewöhnlich die Schlummertaste, nur um mich nochmal umzudrehen und den Wecker weitere fünfmal in die Warteschleife zu schicken. Nein – heute war ich sofort hellwach. Es war einer dieser Tage, auf die man sich schon seit Wochen freut. Die man so herbeigesehnt hat, dass man im Geiste (und ja, tatsächlich auch auf Papier) seit 98 Tagen einen Countdown abzählt und nun endlich beim Tag aller Tage angekommen ist.
Ich sprang aus dem Bett und erledigte alles, was noch zu tun war. Im Grunde war das nicht viel, denn ich hatte bereits am Vortag sämtliches Gepäck im Auto verstaut, die Wohnung aufgeräumt und mir ein kleines Proviantpäckchen für die Fahrt hergerichtet. Bevor ich die Wohnungstür hinter mir schloss, drehte ich mich noch ein letztes Mal um. Ich ließ den Blick durch meine Wohnung schweifen. Kurz kam mir die Idee, dass ich vielleicht doch zumindest eine meiner Pflanzen mitnehmen könnte. Eine einzige Stellvertreterpflanze für die restlichen 76, die in meiner Wohnung verbleiben würden. »Blödsinn«, schimpfte ich mit mir. Zu Recht, schließlich hatte ich vermutlich schon mehr als genug Gepäck dabei. Das Auto war zum Bersten voll.
Ich schüttelte den Gedanken ab, kontrollierte ein letztes Mal, ob auch alle Fenster geschlossen waren, und griff nach meiner Jacke. Auf der Kleiderstange herrschte gähnende Leere. Auch wenn sich an der Wohnung nach außen hin nichts verändert hatte, so war zumindest meine Garderobe der ultimative Beweis dafür, dass dies ein etwas längerer Ausflug werden würde. Als ich die Tür endlich hinter mir schloss und den Schlüssel zweimal herumdrehte, wurde ich für einen kurzen Moment etwas wehmütig. Doch das Gefühl war schnell verflogen.
Keine 20 Minuten nach dem Klingeln meines Weckers saß ich im Auto. Vor mir lagen rund sieben Stunden Fahrt. 618 Kilometer von Jena nach Mörtschach. Mörtschach, ein 800-Seelen-Dorf in Österreich. Eine der kleinsten Gemeinden in Kärnten. Ich hatte vorab stets nur fragende Blicke geerntet, wenn ich das Ziel meiner Reise kundtat.
»Mörtschach? Nie davon gehört …«
Doch das störte mich herzlich wenig. Vor mir lag ein ganzer Sommer auf dem Lindlerhof: biologische Landwirtschaft und Campingplatz in einem. Als Praktikantin würde ich mindestens bis August dortbleiben. Wenn ich Glück hatte, vielleicht sogar bis Ende September. Für das Danach gab es keinen Plan. Doch auch das war mir egal. Was zählte, war dieser Sommer in den Bergen. Dieser Sommer, auf den ich so lange hingearbeitet und noch länger hingefiebert hatte.
Um kurz nach sechs fuhr ich auf die Autobahn Richtung München. Ich musste lächeln. Nun würde ich meinem Ziel von Minute zu Minute näher kommen.
Wenn ich auch nur den Hauch einer Ahnung davon gehabt hätte, was dieser Sommer alles mit sich bringen würde, tja, ich hätte wohl vor Freude ins Lenkrad gebissen. Doch so weit dachte ich in diesem Moment nicht. Im Geiste lauschte ich den mahnenden Worten meiner Mama: »Wünsche soll man nicht laut aussprechen, sonst gehen sie nicht in Erfüllung.«
Also schwieg ich.
Und grinste.
Wie aus zwei Nächten plötzlich zwei Wochen wurden
Das ganze letzte Jahr war ich der Meinung gewesen, ich hätte viel zu wenig von der Welt gesehen. Während alle anderen im Rahmen eines Work-and-Travel-Trips durch Neuseeland zogen, als Au-pair in den USA arbeiteten, irgendwo in Europa ein Auslandssemester machten oder sich auf dem ultimativen Selbstfindungstrip auf Bali befanden, mimte ich den Stubenhocker. Nach dem Abitur ging es direkt an die Uni. Im Anschluss an den Bachelor machte ich sofort mit dem Master weiter. Für ein Auslandssemester irgendwo dazwischen fehlten mir sowohl der Mut als auch die Motivation.
Doch irgendwann hatte ich den Kanal voll. Ich beschloss, ein ganzes Semester an der Uni auszulassen und mein Konto auf den Kopf zu stellen. Ich fuhr mit meiner Schwester in die USA, aß Burger in New York und holte mir einen heftigen Sonnenbrand am Strand von Miami. Kaum einen Monat später flog ich mit einer Freundin für knapp zwei Wochen nach Island. Das Kontrastprogramm zu den USA hätte kaum extremer ausfallen können. Es folgten ein Kurztrip nach London sowie ein Strandurlaub auf Korfu mit meinem damaligen Freund.
In den Wochen dazwischen war ich kaum zu Hause (wo auch immer mein damals eigentlich gewesen sein mag). Stattdessen pendelte ich zwischen meiner Familie und meinem Freund in Köln, meinen Großeltern in der Pfalz und meiner Studentenwohnung in Jena hin und her. Ich war überall, aber nirgendwo ganz und in Ruhe. Mein ökologischer Fußabdruck dieser Zeit lässt mich immer noch beschämt zu Boden schauen. Damals beschäftigte mich der Klimawandel noch herzlich wenig. Meine Rastlosigkeit dafür umso mehr. Es war jedes Mal das Gleiche: Kaum saß ich im Flieger zurück nach Deutschland, brauchte ich schon das nächste Ziel vor Augen.
All diese Reisen waren wundervoll, jede auf ihre eigene Art und Weise, und doch hatten sie alle eines gemeinsam: Ich war nie allein unterwegs. Dabei hatte ich immer die Menschen bewundert, die einfach ihre Sachen packten und loszogen. Einfach so, ganz allein. Mir machte der Gedanke Angst. Doch, wie sagt man so schön, wenn einem etwas Angst macht, ist es ein Grund mehr, es zu tun. Es musste also noch eine Reise her. Eine Reise ganz allein. Im Nachhinein weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr so recht, wem ich etwas beweisen wollte. Vermutlich am allermeisten mir selbst. Mein Mut war jedoch nicht so groß, dass ich mich für diesen Trip noch einmal in ein Flugzeug setzen und in ein vollkommen fremdes Land reisen wollte. Ich wollte meine Komfortzone verlassen, zweifellos, aber ein kleines Sicherheitsnetz erschien mir dabei schon recht angenehm.
So lautete das Ziel also schnell Österreich. Österreich war mit dem Auto gut zu erreichen, bot alles, was das Naturliebhaberherz begehrt, und ich war vor allem mit Sicherheit vor größeren Kommunikationsproblemen aufgrund der gemeinsamen Sprache gefeit. Trotzdem, ein Roadtrip (so ganz allein) durch das schöne Österreich – das klang nicht nur cool, sondern fühlte sich auch ziemlich lässig und unabhängig an. So warf ich also ein wildes Sammelsurium an Campingutensilien in den Kofferraum und zog an einem spätsommerlichen Sonntagmorgen los. Allen Zweiflern und besorgten Bekannten zum Trotz.
Das erste Ziel war ein kleiner familiärer Campingplatz irgendwo in Kärnten. Dort war ich vor einigen Jahren mal mit Freunden für eine Nacht auf der Durchreise gewesen und der Platz war mir sauber und gepflegt in Erinnerung geblieben. Ich wollte ein oder zwei Nächte bleiben und dann weiterfahren. Schließlich hatte ich jede Menge toller Orte auf meiner To-do-Liste und wollte an jedem maximal zwei Nächte verweilen. Kärnten sollte sozusagen der Testlauf sein: Packe ich das so ganz allein? Oder fühlt es sich nicht gut an?
Ich erreichte den Campingplatz am frühen Abend und stellte überrascht fest, dass nirgendwo ein Zelt stand. Ich hatte freie Wahl und entschied mich für ein kleines, aber feines Plätzchen mit direktem Blick auf die Berge. Das Zelt war schnell aufgebaut (was zugegebenermaßen weniger an meinen unglaublichen Fähigkeiten lag, als mehr der Tatsache geschuldet war, dass es sich um ein Wurfzelt handelte …), und so konnte ich die Zeit bis zum Einbruch der Dämmerung damit verbringen, mich mit meiner Luftmatratze herumzuärgern. Der Gedanke daran, diese Chose nun alle zwei Tage an einem anderen Ort wiederholen zu dürfen, nagte etwas an meiner Zuversicht. Aber als es dunkel wurde, stand das Zelt und irgendwann war auch die Luftmatratze aufgeblasen.
So kam es also, dass ich an meinem ersten Abend auf dem stockfinsteren Zeltplatz saß, mit der Handytaschenlampe den Gaskocher beleuchtete und mir eine opulente Portion Nudeln zum Abendessen kochte. Mein Timing war zweifellos ausbaufähig. Als ich spätabends, todmüde von der Fahrt, in mein Zelt kroch, wurde mir schließlich bewusst, warum neben einer Handvoll Wohnmobile kein einziges Zelt auf dem gesamten Campingplatz zu sehen war: Es war bitterkalt. Während es untertags noch angenehme 20 Grad hatte, sackten die Temperaturen des Nachts auf weniger als 5 Grad ab. Zwei Paar Wollsocken, einen Pullover, einen Schal und eine weitere Decke später schlief ich ein. Am Morgen danach wurde ich mit einem wundervollen Ausblick auf die Lienzer Dolomiten belohnt. Ich hatte mir wahrhaftig ein schönes Plätzchen ausgesucht.
Voller Tatendrang wollte ich den ersten Tag direkt für eine schöne Wanderung nutzen. Hierfür interviewte ich zunächst den Chef des Campingplatzes – Peter. Peter ist ein groß gewachsener Mann in den späten Fünfzigern. Man findet ihn meist bei irgendwelchen Arbeiten auf dem Hof. Er kurvt dabei mit seinem bereits etwas in die Jahre gekommenen E-Bike von einer Ecke zur nächsten und ist dabei trotzdem immer für einen Plausch zu haben.
Peter nahm sich also die Zeit, mir verschiedene Routen und die entsprechenden Anfahrtswege zu den Ausgangspunkten der jeweiligen Wanderungen genau zu erklären. Falls er ob der Tatsache, dass ich allein reiste, etwas irritiert war, so verbarg er dies geschickt.
»Was ist mit einer Freundin? Oder deinem Freund? Haben die alle keine Lust?«, fragte er bloß.
»Ich halte es mit mir selbst auch ganz gut aus, da brauche ich nicht zwingend Gesellschaft«, antwortete ich nur.
Peter schien das als Erklärung zu genügen. Allerdings ließ er mich an diesem und an jedem weiteren Tag nicht vom Hof fahren, ehe er meine geplante Route in Erfahrung gebracht hatte. »Damit ich weiß, wo man im Zweifel nach dir suchen muss«, murmelte er.
Ich fand das sehr sympathisch, und als ich an diesem ersten Abend auf den Hof zurückkehrte, wusste ich, dass diese Reise kein Fehler war. Dass ich wunderbar allein zurechtkam und dass ich es offen gestanden irgendwie total cool fand. Peter kochte jeden Abend in seinem Restaurant und gesellte sich zwischendurch gern für ein paar Worte zu mir an den Gemeinschaftstisch. Er ist ein sehr redseliger Mensch. Und so berichtete er mir von besonderen Erlebnissen auf dem Campingplatz, von seiner Zeit als Landwirt damals und von seiner gesamten Familie. Binnen kürzester Zeit erfuhr ich eine ganze Menge. Zwischendurch gab es einen Schnaps aufs Haus. Dann kamen Bekannte von ihm vorbei, und wir saßen alle in freundschaftlicher Runde beisammen. Einfach so – obwohl mich eigentlich niemand wirklich kannte. Das schien allen herzlich egal zu sein.
Am zweiten Tag schnupperte ich dann zum ersten Mal Stallluft. Morgens und abends zur Melkzeit stand der Kuhstall allen neugierigen Gästen offen. Ich befand mich inmitten einiger Kinder, während ich von der Stalltür aus Peters ältesten Sohn Philipp und dessen Freundin Ella bei der Arbeit beobachtete. Sie waren die Pächter des landwirtschaftlichen Betriebes. Es dauerte nicht lange, bis ich mit den ersten kleinen Aufgaben betraut wurde und mich mit enormem Eifer an die Arbeit machte. Ich fütterte die Kühe mit Heu und gab den Hühnern eine Handvoll Körner. Die Mistgabel habe ich auch geschwungen. Am Nachmittag zeigte mir Peters jüngster Sohn, Lukas, die kleinen Kälber und den Hasenstall am anderen Ende des Hofes, und ich kam aus dem Streicheln gar nicht mehr heraus. Ich war wohl ein wandelndes Klischee: Touristin, Stadtmensch, begeisterte »Ohhh«- und »Ahhh«-Quietscherin. Doch auch das schien niemanden zu stören.
Es dauerte kaum mehr als 48 Stunden, bis ich absolut angekommen war. Ich bin überhaupt keine Freundin von Kitsch in jeglicher Form, aber an dieser Stelle kann man die Realität leider nicht weniger rosarot darstellen, ohne dabei am Ende zu lügen: Am dritten Tag saß ich mit der gesamten Familie an einem Tisch, als am Nachmittag in der Grillhütte der Geburtstag des Ältesten gefeiert wurde.
Ich verschob meine Abreise um einen Tag. Und dann um noch einen. Ausritte mit Ella, Schmusestunden mit Kalb, Kaninchen und Co. und lange Abende am Gemeinschaftstisch des Campingplatzes verhinderten immer wieder den Aufbruch. So blieb ich noch einen Tag. Und noch einen. An einem Morgen packte mich Lukas um halb sechs in der Früh ein und fuhr mit mir die Großglockner Hochalpenstraße hinauf, wo wir gemeinsam eine wunderschöne Wanderung machten. Als die zahlreichen Busse voller Touristen anrollten, waren wir bereits auf dem Heimweg. Meine eigenen Ausflüge orientierten sich mittlerweile an den allabendlichen Stallzeiten. Egal, wohin ich unterwegs war – spätestens um 17:30 Uhr stand ich im Stall bereit.
Ich war schon über eine Woche hier, als Philipp und Ella mich eines Abends zum Dank auf eine Brotzeit zu sich ins Haus einluden. Vor einigen Tagen kannten wir uns noch gar nicht, und jetzt saßen wir zusammen beim Abendessen und unterhielten uns, als würden wir das schon ewig so tun. Mittlerweile durfte ich im Stall sogar schon »an der Kuh« arbeiten. Ich säuberte ihr Euter und molk einige Tropfen Milch, bevor die Pächter sie an die Maschinen anschlossen. Ganz dem Stadtmenschklischee entsprechend, war ich stolz wie Bolle. Zu diesem Zeitpunkt war wohl allen klar, dass ich bis zum Ende meines Roadtrips, der nun gar keiner mehr war, hierbleiben würde. Für die letzten Nächte wechselte ich schließlich aus Komfortgründen von meinem Zelt in das kleine Übernachtungsfass, das Peter auf dem Campingplatz vermietete. Hier war es nachts wesentlich wärmer als in meinem winzigen Wurfzelt.
Einen Tag vor meiner Abreise bot mir Ella schließlich an, dass ich sie gern mal wieder besuchen könne. Gegen ein paar Stunden Arbeit am Hof könnte ich freie Kost und Logis im Haus bekommen. Ich war sprachlos und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Es war kaum zu glauben. Noch am gleichen Abend informierte ich mich über die Bahnverbindungen von Jena nach Mörtschach.
Am Tag meiner Abreise war das Herz sehr schwer. Und ja, da ist er wieder, der Kitsch, der sich nicht vermeiden lässt, weil er nun einmal einfach wahr ist. Die Rückkehr nach Jena ließ sich leider nicht länger hinauszögern, weil ich einige unaufschiebbare Termine und schließlich auch noch so etwas wie ein Studium zu bewältigen hatte. Doch es fühlte sich alles falsch an. Zum ersten Mal in diesem Jahr plante ich auf dem Weg nach Hause nicht den nächsten Trip, sondern die Rückkehr nach Kärnten. Ich hielt den Kontakt zu Ella und auch zu Lukas. Schließlich ergab sich die Möglichkeit, im Dezember für elf Tage nach Österreich zurückzukehren. Diesmal würde ich tatsächlich mit dem Zug anreisen, da ich weder mir noch meinem Auto die hiesigen Schneemengen zumuten wollte. Ich konnte es kaum erwarten.
Am 10. Dezember 2018 war es so weit. Dachte ich. Die Deutsche Bahn dachte da jedoch anders. Natürlich fiel der bundesweit größte Bahnstreik der letzten Jahre genau auf diesen Montag. Fast der gesamte Fernverkehr war lahmgelegt. An sich kein Problem, die Tickets würden alle ihre Gültigkeit behalten und könnten am darauffolgenden Tag ohne Schwierigkeiten verwendet werden. Doch in meinem Kopf hallte nur: »Ein Tag später fahren heißt einen Tag weniger in Kärnten verbringen. Du verlierst einen ganzen Tag…« Ich weigerte mich, die Situation einfach so hinzunehmen.
Um 5:45 Uhr stand ich wie geplant in Jena am Bahnhof. Um 5:47 Uhr fuhr der Regionalzug nach Erfurt ein – ganz wie geplant. Und um 5:59 Uhr kam der Regionalzug kurz hinter Jena zum Stehen, da sogar die Streckenposten in den Streik getreten waren. Anders als geplant. Das Ende vom Lied war, dass ich kaum eine Stunde nach meiner Abreise wieder in Jena am Bahnhof stand. Doch auch das wollte ich nicht akzeptieren. Ich versuchte im Stundentakt, mit irgendeinem Zug nach Erfurt zu kommen. Jeder sagte mir, ich solle einfach nach Hause gehen und es morgen wieder versuchen. Aber das war in diesem Moment keine Option. Ich würde an diesem Tag noch irgendwie in Mörtschach ankommen – koste es, was es wolle. Madeleine vs. Deutsche Bahn.
Zunächst kostete mich der Spaß jede Menge Nerven. Irgendwann kam ich tatsächlich nach Erfurt. In einem völlig überfüllten Regionalexpress mit völlig überforderten Mitarbeitern. Aber ich kam an. Als ich schließlich im ICE nach München saß, machte ich drei Kreuze. In München würde ich schließlich die Hälfte der Strecke geschafft haben, und von dort aus ist es ja nicht mehr weit bis über die Grenze.
Doch weit gefehlt. Aufgrund der Tatsache, dass mich allein die Reise bis nach München den gesamten Tag gekostet hatte, verpasste ich dort den letzten Direktzug zu meinem Zielbahnhof Mallnitz-Obervellach. Nach viel Gezeter am Münchener Bahnschalter und vehementen »Ich muss heute noch dort ankommen«-Forderungen stand der Plan, der weniger etwas von einem Plan hatte als vielmehr wie eine Auflistung aller möglichen Umwege wirkte, schließlich fest: Von München reiste ich mit einem Zug der Österreichischen Bundesbahn nach Salzburg. Dort würde es mit einem kleinen Regionalzug weiter bis nach Bad Gastein gehen, wo ich mit einem Taxi vom Bahnhof zur Tauernschleuse nach Böckstein fahren sollte. Und von Böckstein aus könnte ich mit viel Glück noch den letzten Zug der Autoschleuse nach Mallnitz erreichen. Mit der Autoschleuse ans Ziel – ich fühlte mich wie der McGuyver unter den Bahnreisenden. Das Ganze klingt nicht nur wie ein Himmelfahrtskommando, es war auch eines. Um 5:45 Uhr hatte es begonnen, und um 23:42 Uhr kam ich schließlich in Mallnitz-Obervellach an. Aber ich kam an – und das war das Wichtigste.
Natürlich waren diese elf Tage viel zu kurz. Sie waren großartig, keine Frage. Ich erlebte seit Jahren endlich wieder einmal richtigen Schnee. Fror mir im Stall die Zehen ab und wärmte sie am Kamin wieder auf. Meine Tage begannen um 5:30 Uhr, ich stank den ganzen Tag über nach Kuhstall und war noch nie in meinem Leben körperlich derartig erschöpft, doch auch selten so glücklich gewesen.
Die Abreise fühlte sich wieder einfach nur grundlegend falsch an. Zumal ich nun wirklich nicht sagen konnte, wann ich wieder zurückkehren würde. Doch wenige Tage später sollte es eine entscheidende Wendung geben.
Während der Weihnachtsfeiertage beschloss mein damaliger Freund, dass er sich seiner Sache bezüglich unserer Beziehung nicht mehr so sicher war. Es vergingen einige qualvolle Tage der blanken Panik und Ungewissheit, bis er sich kurz vor Silvester schließlich dazu durchringen konnte, die Beziehung per Videotelefonie zu beenden. So nüchtern ich auch davon erzähle – ich war am Boden zerstört. Liebeskummer ist ein Arschloch. Es vergingen Tage und ganze Wochen, in denen ich nicht so recht wusste, wohin mit mir.
In einer von vielen schlaflosen Nächten lauschte ich einer geleiteten Meditation zum Thema Liebeskummer. Ich bin kein großer Freund von Meditationen, das muss ich an dieser Stelle ehrlich gestehen. Doch diese löste etwas in mir aus. Dabei war es viel weniger die Meditation selbst als ein bestimmter Satz daraus: »Denken Sie sich zurück an den Ort, an dem Sie zuletzt richtig glücklich mit sich selbst gewesen sind.« Ich griff nach meinem Handy und tippte um 4:38 Uhr eine Nachricht an Ella, in der ich sie fragte, ob ich irgendwann ganz bald wiederkommen könnte, da mir hier liebeskummerbedingt die Decke auf den Kopf fiel.
Es dauerte sechs zermürbend lange Tage, bis ich nach einigem Hin und Her endlich die erlösende Antwort erhielt: »Du kannst kommen.« Von da an lief alles besser. Ich war zwar immer noch Welten von einem guten Zustand entfernt, doch es ging langsam bergauf. Jeden Tag mehr. Am 28. Januar setzte ich mich in den Zug und fuhr (diesmal ohne eine einzige Reisekomplikation) auf unbestimmte Zeit nach Kärnten zurück. Es hatte ein bisschen was von . Peter umarmte mich herzlich, als ich ihn bei meiner Ankunft begrüßte. Auch Lukas’ älterer Bruder Fabian und dessen Freundin Anna-Lena nahmen mich wie eine gute Freundin in Empfang. Lukas selbst lenkte mich in den ersten Tagen mit Ausflügen in den Schnee und Besuchen bei den Kälbern von meinem Kummer ab.
Es war, als wäre ich nie wirklich fort gewesen. Irgendwie ist ein Teil von mir wohl immer in Kärnten geblieben. Nach knapp einem Monat war ich wieder ganz bei mir. Lachte, tanzte, kraulte Kühe und schmiedete Pläne für das Jahr. Nur dass sich die Pläne für dieses Jahr deutlich von denen des vorangegangenen unterschieden. Ich plante keine einzige Reise, buchte keinen einzigen Flug. Alles drehte sich darum, wie ich es hinbekommen könnte, die meiste Zeit des Jahres in Österreich zu verbringen. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen Plan hatte, war ich doch mindestens ebenso fest entschlossen, das durchzuziehen, wie bei meiner Himmelfahrtskommando-Bahnreise im Dezember davor. Und das wollte was heißen.