Das Buch

Die Nachricht, der Bruder liege im Sterben, aber auch die pure Lust aufs Abenteuer rufen Vigoleis und Beatrice auf die spanische Insel Mallorca. Bei ihrer Ankunft erweist sich Beatrices vermeintlich todkranker Bruder jedoch als quicklebendig; er bringt das Paar statt im Hotel in der Wohnung von Pilar, seiner temperamentvollen Geliebten, unter – und mit der Flucht vor ihr, die Vigoleis mit dem Messer verfolgt, beginnt das burleske, wilde Leben auf der »goldenen Insel«. Mit schier unerschöpflicher Fabulierlust schildert A. Vigoleis Thelen die Wanderung von Vigoleis und Beatrice von einer kuriosen Unterkunft zur nächsten, das Leben zwischen Schauspielern, Möchtegern-Anarchisten und einem unflätigen Kakadu, zwischen Opiumschmugglern und Huren, Künstlern und Bettlern. Jede Begegnung, ob bei Vigoleis’ Arbeit als phantasievoller Fremdenführer oder bei Beatrices Sprachunterricht, gebiert neue Bildwelten und phantastische Geschichten, die an Balzacs Romane und die Narren von Cervantes und de Coster denken lassen.

1953 schrieb ein Kritiker, dieses Buch sei »auf die ausgedörrte deutsche Literaturlandschaft wie ein Platzregen auf vertrocknete Beete« niedergegangen. Und auch heute noch gilt Die Insel des zweiten Gesichts als glückliche Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur.

Der Autor

Albert Vigoleis Thelen, am 28. September 1903 in Süchteln am Niederrhein geboren, lebte 1931 bis 1936 mit seiner späteren Frau Beatrice auf Mallorca. Nach Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs flüchtete er in die Schweiz, 1939 ging er nach Portugal, wo er bis 1947 als Schriftsteller und Übersetzer im Exil lebte. Von 1947 bis 1954 hatte er seinen Wohnsitz in Amsterdam, später wohnte er in der Schweiz, ehe er 1986 nach Deutschland zurückkehrte. Albert Vigoleis Thelen starb am 9. April 1989 in Dülken am Niederrhein.

Albert Vigoleis Thelen

Die Insel
des zweiten Gesichts

Aus den angewandten
Erinnerungen des Vigoleis

Mit einem Nachwort
von Jürgen Pütz

List Taschenbuch

Wissenswertes über Albert Vigoleis Thelen unter
www.vigoleis.de

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Ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch

umbrarum hic locus est, somni, noctisque soporae

VERGIL, ›AENEIS‹

für Beatrice

Weisung an den Leser

Alle Gestalten dieses Buches leben oder haben gelebt. Hier treten sie jedoch nur im Doppelbewußtsein ihrer Persönlichkeit auf, der Verfasser einbegriffen, weshalb sie weder für ihre Handlungen noch auch für die im Leser sich erzeugenden Vorstellungen haftbar gemacht werden können. Im gleichen Maße, wie die Spaltung der ichverlorenen Gestalten größer oder kleiner zu sein scheint, unterliegt auch der chronologische Ablauf der Geschehnisse einer Umschichtung, die bis in die Aufhebung des Zeitgefühls gehen kann.

In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit.

Prolog

Es hieße diese Aufzeichnungen mit Erdichtetem beginnen, wollte ich mich anheischig machen, nach zwanzig Jahren noch an den Tag zu bringen, wer mich auf der nächtlichen Meerfahrt mit ärgerer Tücke gequält hat: der gemeine Menschenfloh in dem von einem Matrosen entliehenen Schlafsack oder der garstige Traumalb, der mich in die Nicolaas Beets Straat nach Amsterdam entführte, wo sich das Grab über einer jungen Frau geschlossen hatte, deren Todesursache ich, Doppelgänger ihres treulosen Geliebten, geworden war. Ein schichtig-schauerlicher Anfang für ein Buch, könnte man meinen. Nun, es bleibt wohl bei diesem in der Ferne verzukkenden Wetterleuchten, und soweit ich als Autor ein Wörtchen mitzureden habe, glaube ich vorhersagen zu dürfen, daß es auf die lange Dauer gar nicht makaber hier zugehen wird, sehen wir von dem noch unabsehbaren Ende ab, wo Bomben platzen und der Haß, die Nacht, die Angst, kurz die Schießgewehre des spanischen Bürgerkrieges in Anschlag gebracht werden – lebt wohl, ihr Brüder, hier die Brust!

In diesem wie durch ein Wunder der María del Pilar von keinem Blei durchlöcherten Busen schlägt mein und meines Tragelaphen Vigoleis Herz noch unentwegt und unbewunden, heute wie zur damaligen Stunde, wo ich mich im Morgendämmer eines Sommertages von der Pritsche erhob und mit der zottigen Kotze auch das Geziefer und die Traumverstrickungen von mir tat, mich schüttelnd wie ein Pudel, der aus dem Wasser steigt. Meine Reisegefährten, die wie wir vor einer plötzlich einfallenden Nachtkühle Zuflucht gesucht hatten in den stickigen Verschlägen, wurden ebenfalls lebendig und gingen auf Kundschaft aus; diejenigen spanischer Zunge laut und sehr zu Hause auf den stampfenden Planken; ich und meinesgleichen indessen nur bedächtig, mit vorgestülpter Lippe gleichsam der neuen Welt den Geschmack abgewinnend. Und wer mir darin wieder am meisten glich, war Beatrice, die hiermit denn ihren sei es auch wenig feierlichen Einzug hält in dieses Buch, das sie bis auf seine letzte Seite nicht mehr verlassen wird. Allerdings wird sie sich erst in die neue Rolle einleben müssen, die ich ihr zuweisen will: Gestalt meiner Aufzeichnungen zu sein. Doch muß ich das, ehrlich gestanden, nicht selber auch? Unbeholfen im Leben, in das ich mich immer noch nicht eingelebt habe, des Lebens Untüchte wie ein Zeichen an der Stirn; Sterbling, dem jeder den Finger in die Wunde legen kann – soll ich da wendiger sein als »Held« eines Buches? Die Tatsache, daß ich 20 Jahre einen keineswegs alltäglichen Stoff mit mir herumgetragen habe, ohne ihn literarisch einzupökeln, könnte zu denken geben. Eingestanden: ich bin von nicht memoirenfähiger Geburt, und eine vielseitig verkrachte Existenz dazu – doch weniger noch war es die Angst vor dem bedruckten Papier, die mich abgehalten hat, wie jetzt hier übers Seil zu tänzeln. Wo aber Vigoleis mir zuweilen die Bürde tragen hilft, nimmt Beatrice alles allein auf ihre Schultern. Darum ist das Buch ihr auch gewidmet.

Auf größeren Meeren befahren, als es das mediterrane ist; der Sprache des Landes kundig und seit Jahren im Umgang mit Menschen vieler Stände und Rassen geschult; durch Inkablut zwiespältig und südlicher Art eben nahe wie überfremd, fand ich Beatrice nicht minder aus der Fassung geraten, als ich mich zu den Frauen wagte, die auf der Evangelienseite des Schiffes ihre Kombüsen hatten.

Mit Flöhen also und nach Geschlechtern getrennt, so segelten wir unter spanischer Flagge und spanischem Himmel der Insel entgegen.

Träume und Tierchen waren auch zu Beatrices Peinigern bestellt gewesen, aber nur die halbschlächtige Traumwelt hatte sich von der meinigen unterschieden, denn wo es sie sonst noch biß, biß es auch mich. Selbst in ihren Schlaf war der Tod gedrungen, wie er der Mutter auflauerte, die wir, erblindet und einer schnellen körperlichen wie geistigen Verwüstung anheimgegeben, in Basel dem Schicksal hatten überlassen müssen.

Zwei Telegramme hatten im Abstande von wenigen Tagen unser Amsterdamer Leben in Unordnung gebracht, um nicht zu sagen aufgerüttelt. Das eine kam aus Basel und rief Beatrice an das Bett der erlöschenden Mutter. Das andere war in Palma auf der Insel Mallorca aufgegeben worden und lautete ebenso beschwörend wie gottergeben: »Liege im Sterben, Zwingli«, auf welchen Namen Beatricens jüngster Bruder getauft worden war. Dem galt es nun auch beizustehen. Wenn so die Wege sich scheiden, ist es schwer für ein Herz, den richtigen einzuschlagen. Einer Rücksprache mit den behandelnden Ärzten war es vorbehalten, die Entscheidungen zu treffen. Sie lief schließlich darauf hinaus, daß die Mutter der Obsorge des zweiten Bruders anvertraut bliebe, den wissenschaftliche Bande sowieso in der Schweiz zurückhielten.

Mit diesem Entschluß war unser Inselschicksal besiegelt.

Erstes Buch

Gepriesen sei der Himmel nebst allen Heiligen, der uns endlich ein Abenteuer beschert hat, das etwas einträgt!

DON QUIJOTE DE LA MANCHA

Puta la madre, puta la hija, puta la manta, que las cobija.

EIN ALTSPANISCHES SPRICHWORT

Jeder wird mit seinem Norden oder Süden gleich geboren, ob in einem äußeren dazu – das macht wenig.

JEAN PAUL

I

Ringsum hatte sich die graue Schicht der Nacht gehoben, als wir das Achterdeck betraten, unausgeschlafen, wie aus der Naht getrennt, leicht fröstelnd in der Brise, die den Kimm reinfegte und uns bald schon das Schauspiel der näher rückenden Steilküste Mallorcas bot. Am Vorabend hatte eine Trübung des Himmels den in jedem Reisehandbuch anempfohlenen letzten Blick auf die ins Meer versinkende Kette des sagenhaften Monsalwatsch verwehrt. Nun wurden wir reichlich entschädigt, und ich um so mehr, je weniger mich die Landschaft, das Schöne in der Natur als ihr großes Los zu fesseln vermag. Denn daß mir die Welt so hin und wieder durch ihre Laterna magica eine berühmte Ansichtskarte in ihrer vorbildlichen Form vor die Augen stellt, ist nicht mehr als billig, sehe ich es von dem Standpunkte eines Beobachters, der sein Dasein immer noch nicht als eine kleine Vergnügungsreise mit Plaid und Parapluie auffassen kann. Ich bin kein Parvenu, ich wüßte ja nicht einmal, woraus und woran ich emporkommen könnte; aber so an der Reling neben Beatrice stehend, hatte ich alles an mir von einem eitlen Fant, der das, was ihm da geboten wird, schon tausendmal schöner und erhabener gesehen hat. Gesehen aber hatte ich in meinem Leben fast noch nichts. Ein paar Reisen in Deutschland, der Tschechoslowakei, in Holland und in der Schweiz, zu mehr hatte es nicht gelangt. Doch wäre das schon übergenug gewesen, hätte ich nicht ständig meine Augen nach innen gerichtet gehalten, auf die Landschaft meiner selbst. Da gab es fürwahr nicht viel zu besichtigen, verglichen mit der Loreley, den Tulpenfeldern in Lisse, dem Hradschin oder einem Luzerner Gletscherschliff mit Erklärungen von Professor Heim. Bei meiner Gletschermühle hätte auch der eingeschwätzteste Cicerone mit einem Mund voller Zähne dagestanden, denn da bot sich nur der Anblick einer Schlackenhalde, aus der freilich nie ein Escorial würde entstehen können.

Beatricens Begeisterung war groß und ungeteilt. Keine Vergleiche mit den Stationen ihrer weiten Reisen mischten sich in ihre Freude, die sich entzündete an jeder Farbenstrahlung, an einer Möwe, die einen Bissen Brot im kreischenden Taumel aus der Luft schnappte, am Spiel der Delphine und selbst am Kielwasser, das sich verbreiterte, je näher es dem Horizont kam, und dort eins wurde mit einem aufwärts gerichteten Streifen Licht.

Wie ich aber im akustischen Sinne amusisch bin, ist sie außerstande, sich mit der Feder ihrem musikalischen Gesetz entsprechend auszudrücken, sonst bäte ich sie, gleich hier eine Beschreibung des Sonnenaufgangs folgen zu lassen, die dem Grade ihrer damaligen Begeisterung entspräche, da vielleicht der eine oder andere Leser sie ganz am Platze fände. Sie wäre es und das um so mehr, wo jedem Mitfahrenden als einmalig erscheinen mußte, was sich bei einiger Gunst der Witterung allmorgendlich mit einer am Chronometer der Kommandobrücke zu überprüfenden Pünktlichkeit abspielte und Beatrice zu immer neuen Ausrufen der Ergriffenheit hinriß, bei einem sonst so verschlossenen Menschen eine merkwürdige Anerkennung der Leistungen unserer Allmutter Natur. Es gibt Orte auf der Welt, wo diese Mutter mit dem ihr eigenen, ob auch wenig mütterlichen schlechten Gewissen wettmacht, was sie an anderen Stellen dem Menschen an Schönheit vorenthält. Ein Sonnenaufgang zum Beispiel auf 9° 45' 16" nördlicher Breite und 2° 8' 28" östlicher Länge könnte mich für 365 alltägliche Sonneniinsternisse in dem Kleinleuteviertel der dritten Amsterdamer Helmersstraße entschädigen, wenn mir an einem Aufgang dieses Gestirns überhaupt etwas gelegen wäre. Von mir aus kann es ewig unter der Wasserhöhe bleiben, solange ich das Geld aufbringe, meinen Bullerofen zu stochen und die Ampel zu speisen.

Viel der Worte fürwahr, sich an der Schilderung eines mittelmeerischen Fiat Lux vorbeizudrücken, das sich inzwischen mit allen Aus-, An- und Überstrahlungen soweit vollzogen hat, daß man mit Fug sagen könnte: es ist Tag. Sogar die Siebenschläfer sind nun aufgewacht und an Deck geeilt. Es wimmelt von Passagieren, Rufe fliegen hin und her, und mancher Mund bleibt einfach offenstehen, das Wort des Erstaunens kommt nicht mal mehr aus ihm heraus. Das ist die kindlichste und darum wohl göttlichste Art der Teilnahme an einem Phänomen der uns umgebenden Welt. Wir haben nur nicht den Mut, sie uns immer zu leisten, denn der offene Mund gilt als nicht fein. Wer ihn nicht halten konnte, erläuterte das Schauspiel, von einer stillen Andacht keine Spur. Viele Sprachen klangen durcheinander, doch schien mir das Spanische vorzuherrschen, was wohl darauf zurückzuführen ist, daß es meinem Ohre noch fremd war. Auch Englisch und Amerikanisch, was ich schon unterscheiden gelernt hatte, mischte sich in den allgemeinen Jubel der Tagwerdung, und dann Deutsch.

Neben uns wurde diese Sprache von einem Pärchen gesprochen, das mit erzwungener Ungezwungenheit den Zustand zu verbergen suchte, wo man das Licht eher scheut als sucht, besonders wenn es wie hier in einer so majestätischen Freigebigkeit von dem rasch steigenden Sonnenball auf uns alle niedergegossen wurde. Die beiden im sichtlichen Glück noch Unglücklichen hatten wohl nicht mit den Schmarotzern gerechnet, die da unten ihr Wesen trieben. Er nannte sie Lissy, und sie nannte ihn Heiner. Mit Heinrich und Elisabeth werden sie sich heute traktieren, wenn sie noch nicht gestorben sind. Meine Aufmerksamkeit vermochten sie nicht länger in Anspruch zu nehmen, als ich Zeit nötig habe, ihrer hier zu gedenken. Ich tue es auch nur der kosmopolitischen Palette wegen, auf die ich noch schnell eine ältliche Engländerin auftupfen will, die mit Beatrice ins Gespräch geriet und selig war, ihre eingefleischten »sightseeing«- Phrasen gegen ein höfliches Verständnis zwanglos einzutauschen. Sie »täte« die Insel, ja, allein – und mit solchen schlotternden Baumwollstrümpfen und dem unrasierten Kinn würde sie wohl kaum mehr einen Partner finden, der über ein »yes« und »no« der Unterhaltung hinaus an ihrem Leben Anteil nehmen möchte, weder außen, die Rente schien kümmerlich zu sein, noch innen, wo es trotz ihres gefältelten Lächelns muffig roch nach kleinstem Glück. Aber Engländer sind ja nie und nirgend allein, solange ihr Empire ihnen anhängt wie die sich verbreiternde Kette der Glieder am Kopf eines Bandwurms. Ich habe solcher Spinster im späteren Leben mehr getroffen. Sie sind zeitlos, wie die Spatzen auch sie an keinen Strich gebunden, und sie werden selbst die Ära ihres schlimmsten Feindes noch überleben, der da heißt: Nylonstrumpf.

*

Ebenso wie in dem Abteil des Zuges, der uns von Port-Bou nach Barcelona gebracht hatte, führten auch hier an Bord die Spanier das große Wort, von dem ich allerdings nicht ein Wörtchen verstand, zu meinem Leidwesen, denn ich bin neugierig. Menschenscheu wie wenige und ein Stubenhocker mit einem selbst unter Brüdern beneidenswerten Sitzfleisch – das mich zum Langstreckenübersetzer vorbestimmte, der ich heute bin –, habe ich aus der Not eine Tugend zu machen verstanden: wenn ich mich unter Menschen begeben muß, kommt meist etwas Ersprießliches für mich dabei heraus. Nimmer natürlich so viel, daß es meine eingeborene Abneigung gegen die Berührung mit der Außenwelt vergölte, aber gerade genug, mich wie in einem Netz vom Sturz aus der Einsamkeit aufzufangen. Noch eine Weile schwanke ich dann hin und her, wie ein Stehauf-Fallum-Männchen, bis ich wieder in mir selber abgeschieden ruhe.

Taurollen, Pappschachteln, verbeulte Koffer, Kratten und Korbflaschen, was immer als menschenmögliche Sitzgelegenheit dienen konnte, war von einer an Zahl reichen spanischen Familie zu einer Art Wagenburg zusammengestellt worden. Dort hauste man, als gelte es eine Überfahrt von Wochen und nicht von zehn gezählten Stunden; das Kroppzeug lausefrech; die Frauen, verschiedenen Alters und wenn’s darauf ankäme einander noch mehr ausstechend hinsichtlich der weiblichen Reize, keifend und scheltend mit einem unermüdlichen Maulwerk; und ein Mann, der wie auf Todesanzeigen Vater und Bruder, Großvater, Schwager und Onkel, mit einem Wort, die ganze Versippung in einer und eigener Person zu sein schien, den Stamm überragend mit seinem Wuchs und einer sich in alle vier Winde geltend machenden Autorität. Das war ein Schauspiel, das mich mehr fesselte als die hochzeitlichen Bettgelüste des aus dem Flohsack vertriebenen Menschenpaares, die keiner Worte bedurften, oder der wortreiche Verzicht der einspännigen britischen Dame – von Sonne und Meer schon ganz zu schweigen.

Wie in einer kleinstädtischen Randarena wurde mir da eine Szene aus dem spanischen Familienleben vorgeführt, ich brauchte nur meinen Stehplatz zu beziehen. Eines erkannte ich auf den ersten Blick: das war alles ganz anders, als es in meinem elterlichen Hause gewesen war, dies Wohl und Wehe am offenen Herd, lauter, freier, aufgeschlossener in jeder Beziehung. So einen Vater hätte ich haben müssen, der mit zugeschnittener Eleganz und erstaunlicher Zielsicherheit im Kreise der Lieben herumohrfeigte, ohne auch nur bei einem einzigen Schlage so lächerlich zu wirken, wie es unsere Prügler im Norden immer sind. Denen fehlt nämlich das quijotische Wissen, daß jede Maulschelle, auch trifft sie mitten aufs Maul, einen Schlag ins Leere bedeutet. Während er so wie aus dem Stegreif seine Strafgerechtigkeit walten ließ, schüttete er sich aus einer besonderen Spritzflasche, von der noch die Rede sein wird, dem Porrón, roten Wein in die Gurgel, die den Strahl glucksend verschwinden ließ. Er erhielt aber einen Stoß aus dem Hinterhalt von einem Sproß, der Vater und Mutter sehr wenig ehrte, weshalb ihm wohl kein langes Leben beschieden sein konnte, und der Strahl ward aus seiner Richtung abgelenkt. Beispielhaft indes parierte die väterliche Kehle den Hieb, indem sie einen Teil des Gusses auffing wie ein Fliegenschnäpper die Fliege; der Rest verspritzte im Zuschauerraum, genau dahin, wo ich stand. Tosender Jubel begrüßte die Weintaufe des Zaungastes. Bei einer so deutlich an den Tag gelegten Gewandtheit im Umgang mit Sudelgut mußte es für mich damals rätselhaft sein, wie denn die tausend Flecken zu erklären seien, die den spiegelnd schwarzen Tuchanzug des Familienoberhauptes verunzierten. Die Lebensregel des Spaniers, nicht das Schlachtopfer seiner eigenen Kleidung zu werden (no hay que ser víctima de su traje), kannte ich natürlich nicht, sollte sie freilich bald an Rock, Weste und Beinkleid einer hinkenden Gestalt dieser Aufzeichnungen kennenlernen.

Und was alles hätte aus mir werden können, wäre ich gepäppelt und auferzogen worden von einer Mutter jener gleich, die da mit jedem gewatschten Sprößling Front machte gegen den despotischen Vater, ihrerseits wieder ohrensausende Backpfeifen austeilend, die zwar weniger trafen, dafür aber mit um so größerem Wehgeschrei eingesteckt wurden. Sie kamen aus anderen Gefühlen heraus, vielleicht sogar aus dem Herzen, und richteten sich an andere Grundsätze der Erziehung. Diese Spaltung schien also international zu sein, das heißt fast menschlich. Am Ton und der ganzen Pinselführung dieses Familienglückes gemessen, war die meine verkehrt gewesen, und darum bin ich auch das geworden, nur das, was sich hier auf dem Papier auslebt – kein Konquistador, kein Kathedralenbettler mit der Allüre eines spanischen Granden, kein Stiegenschuster mit mehr Weisheit im Pfriem, als Vigoleis sie im Schädel hat. Das soll kein Rechten mit dem Schicksal sein, noch auch mit Gott, der schon gewußt haben wird, warum er mich nicht als jenen frech gegen den Mast pinkelnden Knirps aus der schwimmenden Wagenburg auf seine Alltagswelt hat kommen lassen.

Gespeist wurde in diesem improvisierten Lager mit aller Ergiebigkeit. Dinge kamen da aus Körben und Felleisen hervor, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte. Öl wurde auf dunkles Brot geschüttet, ein grünes Gemüse benebst Zwiebeln darauf geschnetzelt, Oliven, Kichererbsen und kleine Krabben machten die Runde, ein Huhn wurde entzweigerissen und unter das nimmersatte Volk verteilt. Der Rest war namenlos, damals wenigstens, wo ich noch kaum über Mutters Topf hinausgeschaut hatte, der bei Gott nicht schlecht war, aber eben schrecklich teutsch und gut vaterländisch verankert in der Miete des Knollengewächses, von dem der zu Unrecht immer noch als Materialist verschriene Nahrungsmittelforscher Moleschott einmal gesagt hat, daß derjenige, der sich 14 Tage lang ausschließlich von ihm ernähren wollte, nicht mehr in der Lage sein würde, es sich zu verdienen. Das ist mir aus der Seele gesprochen, denn ich mag sie nicht, diese unbegeistete Tuberkel, die es fertiggebracht hat, die gesamte abendländische Kultur zu unterwühlen. Vielleicht gelingt es jetzt dem nach ihr benannten Käfer, ihrer Vorherrschaft ein Ende zu bereiten. »Ohne Phosphor kein Gedanke«, ich halte mich wieder an Moleschott, und ohne die Kartoffel? Immerhin ist es ihr gelungen, meine Aufmerksamkeit für eine Weile von dem iberischen Picknick abzulenken, das auf einer Küchenkunst aufgebaut war, die weit über das Maß meiner Dinge hinausging.

Hier aß man anders, hier sprach man anders, hier züchtigte man anders – ich würde umlernen müssen, das erkannte ich klar in der Stunde, wo ich einer Nation so unverblödet in den Haushalt sehen konnte, während die »Ciudad de Barcelona« die Nordwestküste der Insel umsegelte, um am Kap von Calafiguera vorbei in die Bucht von Palma einzulaufen, und Beatrice der Reisegefährtin unentwegt ihr als Gesellschafterin im tauben Zuhören geschultes Ohr lieh, ohne indessen den Anblick zu versäumen, den die immer schneller auf uns zuschießende Insel bot.

*

Mit dem entsagend liebenswürdigen Stolz vieler Jungfern Menschen gegenüber, die als Paar auftreten, und dem auch hier das Quentchen Mitleid den Stich ins Hochmütige lieh, entfernte sich die Engländerin, als ich an Beatrice herantrat, um sie mit in meine Freilichtbühne zu nehmen. Das würde sie mehr ablenken, denn was in ihrem Inneren vor sich ging, las ich mit einem Blick von ihren streng gewordenen Zügen ab. Je mehr wir uns von ihrer hinscheidenden Mutter entfernten, je näher rückte das Lager des im Sterben liegenden Bruders. Ob er noch lebte? Wir hatten telegraphische Nachrichten nach Basel und postlagernd nach Barcelona erbeten, doch hatte man uns die ganzen Tage im ungewissen gelassen über sein Schicksal. Mit »man« meine ich die Direktion des Hotels »Principe Alfonso« in Palma de Mallorca, dessen Erneurer, Manager und schweizerischer Allerweltsorganisator Zwingli geworden war. Dieses Hotel war darum auch der Endpunkt unserer Reise, obwohl uns deutlich war, daß der auf den Tod Erkrankte dort nicht mehr weilte. Er würde in einem Krankenhause liegen. Kein Hotel in der Welt kann es sich erlauben, einen Todeskandidaten unter seinem Dache zu beherbergen, und wäre es der Besitzer selbst. Die Gäste, sonst auf Rangunterschiede sehr bedacht, heben in solchen Fällen jede Trennung auf und machen ihre ungeschriebenen Rechte geltend: der Sterbende wird über die Hintertreppe durch die Tür für Lieferanten hinausgeschafft wie Müll und schmutzige Wäsche, woran sich nicht besaltern soll, wer vorne unter Bücklingen ein- und ausgelassen wird. – Kurz vor der Einschiffung hatte ich in Barcelona ein Telegramm an das Hotel aufgegeben und ein Doppelzimmer bestellt. Das Weitere würde sich finden.

Der Freilichtzirkus hatte sein Programm abgewickelt, man brach die Zelte ab, packte den Troß zusammen, alles drängte sich an die Reling, um keine Szene von dem erregenden Schauspiel zu verlieren, das jede Hafeneinfahrt bietet.

Ungefähr eine Stunde schon hatte die Kathedrale von Palma den Hintergrund des Bildes beherrscht, erst nur als großartiger Klotz, goldbraun, von der Sonne angeschienen, die Gliederung der Baute noch verborgen unter der alles gleichmachenden Lichtfülle. Je näher wir indessen kamen, um so deutlicher trat jedes Maßwerk in den Blick. Die mathematische Ordnung des Aufrisses wurde erkennbar. Der gotische Flug gen Himmel, ich entsinne mich gut dieses ersten Eindruckes, den ich näher kommend gewann, wird auf die Erde herabgezogen, er bleibt an den Stein und in den Stein gebannt, alswie auch selten der Vers eines iberischen Mystikers sich vom Wort loszulösen vermag. An die irdische Flur gebunden, steht diesem Geist der Himmel offener als in den sonnenarmen Zonen, wo Nebel schwelen und das Auge Dinge gewahrt und das Herz Dinge wähnt, die jenseits der Grenze von Erkenntnis und Liebe sind – wo man Gott nicht schaut. Kant wäre als Sproß meiner Wagenburg ein philosophierender Sattlergeselle geworden, der heilige Johannes vom Kreuz unter einem nordischen Himmelslicht nicht über ein barfüßiges Dasein als singender Minderbruder hinausgekommen. Zum Glück aber für beide gehen solch spekulative Umpflanzungen nur in meiner Einbildung auf – und auch da nur als Krüppelstaude, denkt der Leser, der nicht gerne mit den wilden Gänsen um die Wette lebt und das Kräutlein hütet, wo er’s trifft.

Das Gedränge an der Wallseite des Dampfers wurde ungemütlich. Auch wir hatten unsere Siebensachen zusammengestellt. Die Geschwindigkeit des Schiffes fiel ab, dafür bewirkte nun die optische Täuschung infolge der griffnahen Küste den Eindruck eines immer rascheren Nähergleitens. Der Schwarm der Möwen war größer geworden. Beutelüstern kamen die auf der Insel heimischen dem Schiff entgegengeflogen und lotsten es sicher in den Port. Es war sechs Uhr in der Früh, sieben nach meiner Zeitrechnung. Ich war den Spaniern also doch um etwas voraus, sei es auch einzig auf der Kommunionuhr meiner Großmutter.

Das Landungsmanöver war in vollem Gange, die Maschinen stampften bei jeder Umschaltung der Schraube, Schreie, die wohl Befehle waren, flogen hin und her, Ketten rasselten, Winden kreischten im Gezwänge, ein großes Chaos schien entstanden zu sein. Auch hier berührte es mich wieder eigentümlich, daß eine erfahrungsmäßige Verrichtung, zu der es keiner Einsicht in die Gründe mehr bedarf und die sich Tag für Tag in denselben Handgriffen und Hebelstellungen und um dieselbe Stunde wiederholt, alle Mann an Bord und unter Deck vor bislang nie gelöste Aufgaben zu stellen schien. Die Angst vor einer Mechanisierung der Welt ist unbegründet, solange der Mensch auf der eingefahrenen Bahn des Alltags noch entgleisen kann; und wenn er obendrein Verwünschungen ausstößt, ist beileibe nicht alles verloren. Der Erlegene flucht nicht mehr, denn wen sollte er mit seinen Fuhrmannsgebeten noch spornen? Hier aber wurde geflucht, daß Gott und dem Teufel die Ohren geklungen haben werden. Wie schade, daß ich den Sinn der Flüche nicht verstand, die immerhin bewirkten, daß die »Ciudad de Barcelona« nicht am Pier von Palma zerschellte. Ohne Zweifel aber würde ich den erprobten Wortschatz in Zwinglis Fluchlexikon finden, wenn dieser noch unter den Lebenden weilte oder denn sein Nachlaß mir zugänglich gemacht werden könnte. Seit vielen Jahren arbeitete der Schwager nämlich an einem internationalen »Compendium Maledictionum«, für das er schon ein umfangreiches Material zusammengetragen hatte. Meine erste Bekanntschaft mit ihm geht auf dieses fluchmäulige Unternehmen zurück. Als Student in Köln hatte ich ihm meine Mitarbeit für den deutschen Teil zugesagt, wobei ich dann auf dem Wege oder Umwege über den anderen Bruder an die Schwester geriet, ohne daß ich bis zur Stunde auch nur ein einziges Mal Gelegenheit gehabt hätte, diese Begegnung mit einer Vokabel aus Zwinglis Lexikon zu verwünschen.

Nun schwiegen die Maschinen, der Boden unter unseren Füßen erstarrte, er war fast schon festes Land. Das Schiff wurde an der Mole vertäut, die Laufplanke an Bord gezogen, Polizei und Zivilgarde mit den drolligen, hinten abgeplatteten Lackhüten, die ein Schläfchen im Stehen gegen die Wand ermöglichen, betraten das Schiff und sammelten die Pässe der Passagiere ein. Da wir niemanden am Hafen unser wartend wähnen durften, brauchten wir auch nach keiner Seele Ausschau zu halten, wodurch unser Landungsfieber nicht den hohen Grad erreichte, wie wir ihn bei anderen Mitfahrenden beobachten konnten, die mit Hilfe von Feldstechern nach den ihrigen Ausschau hielten. Unser Fieber war durch eine andere Dringlichkeit bedingt.

Seit der Abreise aus Basel hatten wir in endlosen Leerlaufgesprächen die Mittelmeerreise mit allen Stationen ausgebildet. In Palma an Land gesetzt, würden wir ein Taxi nehmen und gleich ins Hotel »Principe Alfonso« hinausfahren, falls wir nicht den Hotelwagen selbst erwischen könnten. Es mußte sich übrigens um ein Haus erster Klasse handeln, das außerhalb der Stadt irgendwo am Meere gelegen war. Weiter reichten unsere Kenntnisse nicht, denn Zwinglis spanische Briefe hatten sich fast ausschließlich mit Weibergeschichten befaßt. Obliegenheiten und neue Umstände seines Berufes, der ihn unerwartet aus Rom nach Mallorca verschlagen hatte, blieben Nebensache. Wo der äußere Beruf nicht mit dem inneren übereinstimmt, und das war bei Zwingli der Fall, ist es auch unwichtig, wie man sich seiner Verpflichtungen entledigt, die das tägliche Brot auf den Tisch bringen müssen, das nur der im Schweiße seines Angesichtes verzehrt, der es mit der linken Hand erntet.

Aber da, auf dem Wall, meiner Treu, ist das nicht – da müßte mich schon der ausgeschämteste Affe necken … Ich rieb meine Augen, aber warte, Beatrice hat bessere –

»Beatrice, sieh mal, da rechts, nein weiter, ja, wo der Mann mit dem weißen Kittel steht, neben der Handkarre und dem Stapel Körbe, das ist doch Zwingli, oder ich sehe Gespenster am hellen Tag!«

»Zwingli? Dann siehst du wirklich Geister, Vigo; oder Doppelgänger. Doch dünkt mich, du hättest an deinem aus Amsterdam genug. Muß nun der Ärmste auch schon einen haben? Komm, bemühen wir uns um unser Gepäck, winke einem Dienstmann, ›mozo‹ heißen sie hier, wir wollen keine Zeit verlieren. Mir ist so bange, hoffentlich kommen wir nicht zu spät. Das Gedränge wird widerlich. Nirgendwo kommt der Pöbel im Menschen so stark zum Ausdruck wie auf Bahnhöfen und an Schiffsländen.«

Während dieses Zwiegespräches hatte sich die am Pier gestaute Menge wieder verschoben, und so sehr ich auch meine Augen über die Köpfe gleiten ließ, ich konnte Zwingli nirgends mehr finden. Hatte ich doch eine Gespenstererscheinung gehabt? Mir blieb keine Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Das viele Gepäck, auf jeden von uns kamen etwa sechs nach Größe und Art verschiedene Kolli, schubste ich mühsam vorwärts, denn einen Träger hatte ich nicht erwischen können, obwohl ich mehrmals das Wörtchen ›mozo‹ über das Geländer gerufen hatte. Vermutlich sah ich den Gäuchen nicht zahlungsfähig genug aus, die sich jetzt mit geübten Beinen über die Bordwand schwangen. Vielleicht hätte Beatrice mehr Erfolg gehabt. Sie trug wieder ihr hochmütig-abweisendes Gesicht als Einspruch gegen die proletarische Welt, die hier alle guten Umgangsformen außer acht ließ, um so rasch wie möglich an Land zu kommen. Wo gestoßen wird, soll man zurückstoßen: wir können es beide nicht, richtiger wollen es nicht, sie aus überwiegend ästhetischen, ich aus überwiegend fatalistischen Bestimmungsgründen. Auf diese Weise verpaßt man Züge und andere Anschlüsse des Lebens, und bei einer Ausschiffung geht man als Letzter über die Planke – was einer gewissen Vornehmheit freilich nicht entbehrt.

Je mehr es um mich tobte, je mehr mich die quetschende Schar mit der Ellenbogentheologie der christlichen Nächstenliebe an den Schwanz des sich an Land würgenden Schubes drängte, um so tiefer sank ich in mich ein. Der Traum gewann plötzlich wieder die Oberhand. Flugs geleitete mich Zwinglis Doppelerscheinung über Länder und das Meer hinweg in die kleine Mansardenstube auf der Nicolaas Beets Straat in Amsterdam. Dort war ich Zimmerherr einer Madame Perronet gewesen, einer verwitweten Französin, die nach dem Tode ihres Mannes ihren Lebensunterhalt als Hospita verdiente. Dreizehn Wochen weilte ich als Hausgenosse unter ihrem sturmfreien Dach. Ein paar Tage vor unserer überstürzten Abreise nach Basel ereignete sich die in ihrem blinden Ungefähr so erschütternde Befahrnis mit meinem zweiten Gesicht.

Es war an einem Samstag, des Mittags gegen vier. Für den Abend erwartete ich Beatrice, welche die Nacht über bleiben würde. Madame Perronet war einkaufen gegangen, von den anderen Zimmerherren war keiner im Hause. Es klingelte, und in der heimlichen Hoffnung, es möchte Beatrice sein, ging ich an die Treppe, die Tür mit der langen Schnur aufzuziehen. Wer weiß, vielleicht hatte sie sich früher von den schwierigen Obliegenheiten ihres Berufes freimachen können, der darin bestand, die selten liebwerten Kinder im Ixschen Hause gegen den schauerlichen Ungeist der Eltern zu erziehen.

»Françoise!« klang es zu mir herauf, aber ich sah niemanden. Ich ging einige Stufen tiefer, um durch den Stiegenschacht sehen zu können, wer da unten stünde. Die holländischen Treppenverhältnisse, die dadurch entstehen, daß jeder seine eigene Vordertüre haben will – wo die hintere sowieso allen gemeinsam ist –, bringen es mit sich, daß man von oben kaum sehen kann, wer unten Einlaß begehrt. Ich selbst, durch das einfallende Licht geblendet, sah auch nicht deutlich, wer in der Leibung der Haustüre stand. Wohl hörte ich einen Schrei, und die Tür schlug zu.

Ich maß dem Vorgang keine Bedeutung bei und setzte mich wieder an die Maschine, um das letzte Kapitel eines Werkes zu übersetzen, das mich damals sehr beschäftigte, ich meine den ›Karneval der Bürger‹ von Menno ter Braak. Fragmente des Buches hatte ich in einer Zeitschrift gelesen, mich an der schriftstellerischen Technik geärgert und nicht viel von dem Ganzen begriffen. Dennoch kaufte ich das Buch, weil mich die romantische Grundhaltung ansprach, aus der heraus der ewige Streit zwischen Geist und Seele, Leben und Tod, Bürger und Dichter mit den einseitigen Mitteln einer glänzenden Dialektik behandelt wurde. Das Abenteuer fesselte mich um so mehr, wo es nach Nietzsche und, glaubte ich damals, Novalis hinüberwies. Um mir Rechenschaft von dieser Begegnung zu geben, beschloß ich, den ›Carnaval‹ in meine eigene Sprache zu übersetzen. Das Ergebnis war überraschend: in elf Tagen schrieb ich, was ich nicht zu verstehen glaubte, so vom Blatt in die Maschine hinein. Allerdings mußte ich die Nächte in meine Arbeit einbeziehen, was zu Reibungen mit der Hospita führte, da ein Zimmernachbar sich über den Radau meiner ausgeleierten Schreibmaschine beklagte. Nach zehn Uhr abends stellte ich darum die Maschine aufs Bett, zog schalldämpfende Wände aus Kissen um sie herum, kniete davor und schrieb bis zum Morgengrauen weiter. In solchen Nächten der Nachschöpfung merkte ich, daß mein Nachbar, ein Stellenvermittler für deutsche Dienstmädchen, sich auch im wahrsten Sinne des Wortes in seinen Beruf hineinkniete, wobei das Bett ebenfalls als Unterlage dienen mußte, nur daß sich der andere Vermittler nicht die Mühe nahm, con sordino mit seinem Original zu üben – eine Karnevalsmoral, die dem gelehrten Verfasser viel Spaß bereitete, als er von dem nächtlichen Werdegang der Übersetzung erfuhr.

Beatrice kam zur festgesetzten Stunde und eröffnete mir, sie habe sich genötigt gesehen, den Dienst bei der Familie Ix aufzusagen, da man ihr verweigert habe, ein paar Wochen einzig ihrer Sorge um Mutter und Bruder sich hinzugeben. Telegramme, die könne jeder schicken … Das änderte unsere Pläne dahin, daß wir Holland endgültig verlassen wollten, ein Land, wo auch Herrschaften sich der Hintertreppe zu bedienen schienen.

Mitten in der Nacht wurden wir aus dem Schlafe geweckt, an der Tür wurde geklopft. Mein erster Gedanke war: Sittenpolizei. Seit je hat Amsterdam den Ruf, eine unzüchtige Stadt zu sein, obwohl dieser Zweig einer nächtlich urbanen Betriebsamkeit sich nicht des Scharms rühmen kann wie in Paris. Und so schien mir meine Liebe in dem riesigen Bauernbett, das Madame Perronet eines Tages in meine Mansarde hatte stellen lassen, eine verbotene Handlung, wie ja Liebe überhaupt verboten ist, die nur die Wege des Herrgotts wandelt. Im selben Augenblick, die Tür war nicht verriegelt, betrat die Wirtin das Zimmer. Ihr Gehaben war seltsam, das Negligé zeugte von Bestürzung, verstört blieb sie vor unserem Bett stehen, Tränen flossen die Wangen hinunter. Sprechen konnte sie nicht. Dann brach sie zusammen. Ich schlug einen Mantel um ihre Schultern und wartete, bis sie unter Beatricens geübter Sorge wieder zu sich kann. »Oh, elle est morte«, stöhnte sie mehrmals, »morte, la pauvre fille.« Dann berichtete sie :

Als ich auf der Zimmersuche bei ihr angeklingelt hätte, sei der bare Schrecken in sie gefahren, denn aufs Haar gliche ich einem Schiffsoffizier, der auf einer ostindischen Linie fahre. Er sei einer Freundin anverlobt gewesen, die wenige Häuser weiter wohne. Vor einem Jahr habe er das Mädchen sitzenlassen, das heißt, er sei nie mehr zurückgekommen, auch kein Lebenszeichen habe er mehr geschickt. Sie, Madame, habe sich das Herzeleid der Freundin so zu Herzen genommen, daß sie auf eigene Faust nach dem Treulosen habe fahnden lassen, doch ohne Erfolg. Es hieße, er fahre noch bei derselben Kompagnie, aber ausschließlich in den indischen Gewässern. Als ich dann mit meinem vorstehenden Kinn – »un peu brutal, mais pas du tout de boxeur féroce« – die Treppe heraufgekommen sei, habe sie nur mit Mühe ihre Erregung meistern können – da komme er also, der Liebesflüchtige, in der befremdenden Vermummung von Lodenmantel und Schlapphut – meinem damaligen weltschmerzlich-intellektualisierenden Ornat – zu ihr, um sie wohl zur Vertrauten seiner Ränke zu machen, und dann hätte sie auf halber Treppe erkannt, das Opfer einer Täuschung geworden zu sein.

Ich sagte, mich zu erinnern, wie wenig freundlich sie mich empfangen habe, was ich indessen meinem linkischen Französisch zugeschrieben hätte. Nun sei es just mein Parlieren in ihrer Sprache gewesen, was sie für mich eingenommen habe, meinte sie; es sei in seiner abstrusen Verbogenheit und total unfranzösischen Sensibilität so charmant gewesen, »et l’est toujours, Monsieur!«, daß sie alle Bedenken des Augenblicks beiseite geschoben habe: den Doppelgänger einer hundsföttischen Kanaille zu beherbergen.

Das Ehebett anstelle des einschläfrigen Ledikants war nur ein kleiner Beweis der Zuneigung, die die Hospita für mich an den Tag gelegt hat.

Ich wußte, daß Madame seit dem Tode ihres »pauvre Perronet« nur noch zwei Wesen hatte auf dieser Welt, an denen sie hing, ihren gewaltigen Kater Melchisédech und eine Freundin, Trühs, die ich seltsamerweise nie zu Gesicht bekam, die sitzengelassene Geliebte. Unsere erste Begegnung hatte an jenem Mittag stattgefunden. Sie, Madame, hatte sich bei den Einkäufen verspätet, das Mädchen sei gekommen, ich hätte die Tür von oben wie üblich aufgezogen, und da habe Trühs im halben Dunkel der Treppe in mir den Verlobten gewähnt und denken müssen: aus Indien zurück in heimlicher Liebe der Freundin verbunden! Verrat! Zu Hause habe sie ein paar verstörte Worte des Abschieds an die Eltern geschrieben und dann den Gashahn geöffnet. Den Rest habe die Polizei und der städtische Sanitätsdienst erledigt. Man habe sie aus dem Bett geholt und zur Identifizierung der Leiche in die Wohnung der Freundin gebracht. Als mutmaßlichen Grund der Tat habe sie die Begegnung mit mir zu Protokoll gegeben, ich müsse mich sonach auf ein Verhör gefaßt machen. Tatsächlich kam am folgenden Tage ein Kriminalbeamter und nahm mich in Augenschein. Von vorne und im Profil verglich er meinen Kopf mit einer Anzahl photographischer Aufnahmen des Seemannes. Das Ergebnis fiel ganz zu seiner Befriedigung aus: ich hatte den Selbstmord des Mädchens auf dem Gewissen.

Dieses zweite Gesicht, frei von allen spökenkiekerischen Phänomenen, die unter diesem Begriff seit Samuel Johnson gemeinhin verstanden werden; das mich im Schlafsack schon bestürzt hatte: aufs neue betrat es mich, durch Beatricens Bemerkung über den Doppelgänger ausgelöst, als ich mich Schub für Schub der Laufbrücke näherte. Wieder sah ich mich auf den Albumblättern der Toten in der Hand eines Polizisten, einen Vigoleis im Offiziersrange der niederländischen Handelsmarine mit goldenen Tressen, Armaufschlägen und Tellermütze. Selbst meine Mutter hätte mich für ihren verlorenen Sohn gehalten, überglücklich, daß er es zwar nicht zum frommen Kaplan – den Bischofsstab schon unter der Soutane tragend, um der Tradition des Hauses gerecht zu werden –, wohl aber zu einer seetüchtigen Charge gebracht habe, die sich auch sehen lassen kann. Denn welche Mutter zeigt gerne einen Sohn herum, der, statt es zu etwas zu bringen, die Erzeugnisse seines Fleißes in den Ofen schmeißt? Als Seemann führe er auf allen Meeren, irdischen gewiß und ohne die Pensionsberechtigung auf die Ewigkeit – es wäre so übel nicht. Ach, liebe Mutter, für einen geistlichen Herrn war meine Brust zu eng und für einen Schiffer nicht rauh genug. Ein paar Verse, mehr ging nicht hinein, und ein paar Haare, mehr findet sich nicht darauf. Eine Tatauierung mit den Sinnbildern der göttlichen Tugenden hätte sie nicht einmal ausgehalten, ganz zu schweigen von der bläulichen mit dem nackten Weib … Meine spanischen Traum-Kameraden auf der Kommandobrücke der »Ciudad de Barcelona« waren ohne Zweifel eleganter, sie schienen auch bärbeißiger zu sein, als wir Milchgesichter es waren, und sie entsprachen ganz der Vorstellung, die ich mir, durch die Piratenlektüre meiner Jugend unterstützt, von meinem verfehlten Berufe herangebildet hatte. Daß ich nun weder ein spanischer noch ein holländischer Seefahrer war, hatte einem Menschen das Leben gekostet, in Vigoleisischer Logik denn, die um so weniger schließend ist, je mehr ich mit meiner Phantasie den Denkgesetzen ein Schnippchen schlage.

*

»Vigo! Olá! Vigoleis! Vigolo!«

Ich hatte Beatrice aus den Augen verloren und gewahrte sie erst, als ich meinen Namen rufen hörte. Aber die Stimme scholl von der Mole herüber, beide schauten wir gleichzeitig in die Richtung, aus der es wieder klang: »Vigoleis! Olá! Vigo, Vigolo!«

Weit hinten in einem Haufen Leute stand er wieder, unser sterbender Zwingli, oder sei es der Mensch, der sich für ihn ausgab oder den ich für ihn hielt. Ich muß vorsichtig sein, um nicht einem Geiste das Leben einzuhauchen, das einem anderen gehört. Aber der da, ein schmutziger Mensch übrigens, ist doch wohl nicht Zwingli, wie ich ihn aus Köln und von einem eleganten Besuch in meinem elterlichen Hause in Erinnerung habe, der lässig hoffärtige Dolmetscher von Kuoni und Cook, – und doch! Und doch!

»Beatrice, wenn der da hinten nicht dein Zwingli ist, dann will ich …«

Ja, was wollte ich damals sein, ich weiß es bei Gott nicht mehr. Immerhin etwas sehr Gewagtes, so sicher war ich mit einem Male, daß der Mensch – und dann hatte ich gerade noch Zeit, Beatrice aufzufangen, die taumelnd auf einen Koffer sank. Auch ich war erschüttert, nicht durch Zwinglis Auferstehung von den Toten, aber daß eine Frau, der ans Unwahrscheinliche grenzende Begegnisse widerfahren waren auf ihren Reisen, zumal als Gesellschafterin von Millionärsgattinnen, denen das vergoldete Ehebett nur noch als Sprungmatratze diente ins adulterale Vergnügen mit Giftmord und Erbschleicherei, daß so jemand aus der großen Welt, die ich nur aus Romanen kannte, hier nun wie das klassische Häufchen Elend auf einem Gepäckstück saß, es brachte mich aus der Fassung. Gewiß war der Abschied von der Mutter im Basler Spital schrecklich gewesen. Erst am Tage, wo ein Telegramm die Erlösung meldete, hat sie mir die letzte Stunde am Bett der Dahindämmernden mit einer bei ihr ungewöhnlichen Beharrung im Schmerz zu schildern gewagt – und mir nichts Neues berichtet. Danach die Reise, auf die sie sich innerlich nicht hatte einstellen können, einem neuen Abbruch entgegen: so löste sich die Familie Glied für Glied auf. Der Vater war in den Pampas von Argentinien am Flecktyphus gestorben; Mutter und Kinder mit der einbalsamierten Leiche im Packraum desselben Paketfahrers nach Europa zurückgekehrt. Dazu ein Dasein an der Seite ihres geliebten Vigoleis, der sie immer in einer Art Angstfieber hielt, seit sie ihn im heiligen Köln aus den Fluten des Vaters Rhein gezogen hatte, wo sich der unverbesserlich fröhliche Weltverneiner ertränken wollte, in einer rückfälligen Anwandlung, dem Schöpfer als leicht zu ersetzender Statist in dessen großem Welttheater kontraktbrüchig zu werden. Das heißt, genaugenommen kann von einer solchen Verfehlung nicht die Rede sein, sei es denn als theologisierende Schönrednerei, denn ich stehe in der Schöpfung drin wie ein in die stramme Haltung hineingeprügelter Gardist des Alten Friedrich, obzwar mit dem bemerklichen Unterschiede, daß Vigoleis eine bessere Miene zum bösen Spiele macht als jene historischen langen Kerls.

»Das Riechsalz!« – denken die Leser, »warum hält der Tölpel seiner Dame kein Prestonsalz unter die Nase?«

Lieber Leser, den Tölpel nehme ich im Augenblick ohne Widerwort hin, aber das Riechsalz ist eine Fehlleistung. Es steht nicht in meinem Taschenkalender unter »Erste Hilfe bei Unglücksfällen«, so daß ich auch nie welches bei mir habe. Und dann mußt du bedenken, daß Beatrice mir das Flakon höflich aus der Hand genommen hätte, um es ins Meer zu versenken. Du kennst sie noch zu wenig, sie ist eine zeitgemäße Frau mit Herrenschnitt und epilierten Augenbrauen, der wir die kleine Schwächeanwandlung schon zugute halten müssen, um so mehr, wo sie bei ihrer zuweilen ins Komische entartenden Höflichkeit – hinter der sich Verachtung verbirgt, aber das merkst du erst später – auch noch um Entschuldigung bäte für die Unpäßlichkeit, ahnte sie, daß man von ihr an dieser Stelle ihres Lebens, die auch eine meines Buches geworden ist, keine private Müdigkeit erwartet.

»Ja, es geht schon wieder. Wenn ich etwas Warmes in den Magen kriege, ist der Taumel behoben. Gehen wir an Land. Die Passage ist frei.«

Ein Träger hatte sich doch noch unseres Gepäcks angenommen. Ungerufen wie ein Kölner Heinzelmännchen schleppte er alles auf die Mole, wo der Mann Zwingli wieder stand und mit gebieterisch ausgestrecktem kleinem Finger der rechten Hand Weisungen unterstrich, die in einem klangvollen Spanisch erteilt wurden. Alles ging wie am Schnürchen, und dann standen Bruder und Schwester einander gegenüber.

Wir schreiben A.D. 1931, mit dem Sturz der Monarchie ein denkwürdiges Jahr in der Geschichte Spaniens, und mit seinem Sturz in die Welt Don Quijotes ein denkwürdiges Jahr in der Geschichte unseres Vigoleis. Und wir schreiben den 1. August, einen Tag, an dem alle Schweizer wo auch in der Welt Glanz in die eidgenössischen Augen kriegen und stolz sind, Kinder ihres Ländlis zu sein. Hier standen ihrer zwei, aber eine Fahne wurde nicht gehißt, auch kein Alphorn geblasen, nicht einmal ein Tüchli wurde ans Auge geführt, was man nach einer so rätselhaft gescheiterten Leichlege wohl hätte erwarten dürfen.

Vigoleis holte tief Atem. Er sog die Lungen voll mit der meergewürzten mallorquinischen Luft. Fünf Jahre wird er sie atmen dürfen, bis ihn das Finis Operis neuen Schicksalen in anderen Breiten und Höhenlagen von Leib und Seele zuführt.

Adelante! Vorwärts!

II

Bruder und Schwester standen einander gegenüber, doch brauchte ich nicht rücksichtsvoll auf die Seite zu treten und mich um unser Gepäck bemüht zu zeigen, noch ist der Leser gehalten, eben von der Lektüre aufzusehen, um den Gefühlsaustausch zweier Menschen nicht zu stören, die unter so fremdartigen Umständen ein Wiedersehen am Rande des Grabes feiern, dessen Stein wer weiß welcher Engel hinweggewälzt hatte.

»Salut, Bé, Salut, Vigo! Schön, daß ihr gekommen seid! Als ich euch nicht gleich aus dem Schwarm herausfand, der täglich unsere Insel überschwemmt, dachte ich schon, ihr wäret im ›Barrio Chino‹ von Barcelona ins Garn gegangen. Da verschwinden nämlich jährlich mehr Menschen, als die Polizei wahrhaben will. Gut gereist, Be, an der Seite deines weltfremden Kavaliers?«

Vier Jahre hatten wir einander nicht mehr gesehen, und nun gestaltete sich die Begrüßung so, als hätten wir am Vortage noch auf Zwinglis Bude im Hause des Totengräbers Firnich von Köln-Poll gesessen und Flüche in die Zettelkästen eingetragen oder über Dostojewskij philosophiert, der das Leib- und Magenthema des bildungswütigen Jünglings war.

»Aber Zwingli, was ist denn los mit dir? Und wie du aussiehst! Du bist ja am Verkommen! Was bedeutet dies alles, und das Telegramm, du lägest im Sterben! Weißt du, wie es um unsere Mutter steht? Ist Nachricht aus Basel da?«