Zum Buch

Die forensische Anthropologin Tempe Brennan durchlebt stürmische Zeiten. Ein schwerer Hurricane nimmt Kurs auf ihre Heimatstadt Charlotte. Sie leitet die Untersuchung zweier Skelette, die in einem Container an der Küste gestrandet sind. Die Art des Todes dieser jungen Frauen erinnert Tempe an einen fünfzehn Jahre alten Cold Case - ein grausamer Doppelmord. Und in Charlotte geht die Angst vor einem hochansteckenden Bakterium um, gegen das bestimmte Gene angeblich schützen sollen. Ihre Ermittlungen führen Tempe auf die Spur eines Mannes, der dubiose Geschäfte mit Gen-Analysen macht. Als Tempe und Ex-Detective Andrew Ryan knapp einem Mordanschlag auf offener Straße entkommen, wird klar: Jemand will um jeden Preis verhindern, dass die Forensikerin den Code dieses Falls entschlüsselt.

Zur Autorin

Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Anthropologie an der University of North Carolina und als eine von nur einhundert zertifizierten forensischen Anthropolog*innen für das Laboratoire de sciences judiciares et de médecine légale in Quebec, die American Academy of Forensic Sciences und das National Police Advisory Board in Kanada tätig. Ihre Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten und wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Für ihr erstes Buch »Tote lügen nicht« wurde sie 1997 mit dem Ellis Award for Best First Novel ausgezeichnet. Tempe Brennan ermittelt auch in der von Reichs mitkreierten und -produzierten Fernsehserie »Bones – Die Knochenjägerin«.

Web: KathyReichs.com
Twitter: @kathyreichs
Instagram: @kathyreichs

Kathy Reichs

Der Code der Knochen

Ein neuer Fall für Tempe Brennan

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Klaus Berr

Blessing

Originaltitel: The Bone Code
Originalverlag: Scribner, an Imprint of Simon & Schuster, Inc., New York


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Copyright © 2021 by Temperance Brennan, L.P.

Copyright © 2021 by Karl Blessing Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28364-3
V002

www.blessing-verlag.de

Für Paul Aivars Reichs
Danke

Karten

Die DNA weiß nichts und kümmert sich um nichts. Sie ist einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife.

Richard Dawkins

1

Dienstag, 5. Oktober

Das Mädchen war tot. Daran bestand kein Zweifel. Bereits mit dem Notruf war das gemeldet worden. Die Sanitäter hatten die Einlieferung einer Toten angekündigt. Der Toxikologe hatte die Todesursache aufgeführt. Der Medical Examiner hatte den Totenschein abgezeichnet.

Das Mädchen war tot. Das war nicht die Frage.

Das Telefon klingelte. Ich ignorierte es.

Der Himmel vor meinem Fenster war ein Chaos aus Stahlgrau, Rauch und Grün. Der Wind blies von Minute zu Minute heftiger.

Ich musste bald los.

Die Palette auf meinem Bildschirm spiegelte den Tumult draußen. Vor dem grauen Hintergrund des Fleisches brannten die Knochen weiß wie arktischer Schnee.

Schon seit fast zwei Stunden analysierte ich die Röntgenaufnahmen, und mein Frust steigerte sich mit dem Sturm.

Ein letzter Blick auf die letzte Aufnahme der Serie. Die Hände. Dann hieß es Ciao.

Ich zwang mich zur Konzentration. Handwurzelknochen. Mittelhandknochen. Fingerglieder.

Plötzlich beugte ich mich vor, die Sturmböen und die immer schwärzer werdende Dunkelheit waren vergessen.

Ich zoomte den rechten fünften Finger heran. Den linken.

Das Telefon klingelte. Wieder achtete ich nicht darauf.

Ich nahm mir wieder die Schädelansichten vor.

Eine Theorie nahm Gestalt an.

Während ich damit spielte und den Gedanken hin- und herwälzte, ließ mich eine Stimme hinter meinem Rücken plötzlich hochschrecken.

In der Tür stand eine Frau, die nicht viel größer war als das Motiv der Aufnahmen, die ich betrachtete. Nur gut eins fünfzig groß, hatte die Frau grausträhnige, schwarze Haare, die sie im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst hatte. Ein dicker Pony streifte den oberen Rand einer Schildpattbrille, die sie nicht aus modischen Gründen trug.

»Dr. Nguyen«, sagte ich. »Mir war nicht klar, dass Sie noch hier sind.«

»Ich habe eine Autopsie abgeschlossen«, antwortete sie mit diesem leichten Akzent, eindeutig aus Boston, aber mit einer Unterströmung von etwas Exotischerem.

Nguyen hatte erst vor Kurzem die Leitung des Mecklenburg County Medical Examiner’s Office übernommen, und wie wir beide zueinander standen, mussten wir erst noch sondieren. Sie war nicht gerade ein Ausbund an Enthusiasmus, wirkte aber organisiert, fair und ernsthaft. So weit, so gut.

»Ist das der Deacon-Fall?« Nguyens Blick war zu meinem Bildschirm gewandert.

»Ganz genau.«

»Sie beraten die Familie?«

»Ja.« Als ich ihre hochgezogenen Augenbrauen sah, fügte ich hinzu: »Die Anfrage kam von einem Anwalt namens Lloyd Thorn. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich mir die Aufnahmen hier ansehe.«

»Natürlich nicht.« Nguyen wedelte mit der Hand, als wollte sie den Gedanken wegwischen. Vielleicht um ihr den Themenwechsel zu erleichtern. »Inara ist jetzt ein Sturm der Kategorie 3 und bewegt sich schneller als vorhergesagt. Für alle Küstenbezirke ist die Evakuierung verbindlich angeordnet, und es wird erwartet, dass er sich landeinwärts bewegt.«

»Ist der Klimawandel nicht was Tolles?«

Nguyen ignorierte meinen Sarkasmus. »Ich schließe das Institut, Mrs Flowers ist bereits gegangen. Sie hat vor, zu einer Cousine in den Bergen zu fahren.«

Eunice Flowers ist die Empfangsdame des MCME, seit Gutenberg anfing, Bibeln zu drucken. Am Morgen ist sie immer als Erste da und am Abend die Letzte, die geht.

»In der Lobby ist eine Frau, die Sie sehen will. Mrs Flowers hat ihr gesagt, dass Sie unabkömmlich seien, aber sie besteht darauf zu warten.«

»Wer ist sie?« Ein flüchtiger Blick zum Telefon verriet mir, dass die Signallampe rot blinkte.

»Ich habe keine Ahnung. Auch nicht, warum sie bei diesem Wetter vor die Tür geht.«

»Ich rede mit ihr«, sagte ich, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, dass ich Mrs Flowers’ Anrufen keine Beachtung geschenkt hatte.

»Machen Sie nicht zu lange«, warnte mich Nguyen.

»Keine Angst.« Ich bewegte den Cursor, um die Röntgenbilderdatei zu schließen. »Meine Katze hat bestimmt schon eine Rettungshotline angerufen.«

»Ich bin mir sicher, dass Charlotte außer Gefahr ist.« Sie klang nicht sehr überzeugt. »Wir sind viel zu weit von der Küste entfernt.«

Ich sagte nichts, weil ich mich erinnerte, dass ich 1989 ähnlich gedacht hatte, bevor Hurricane Hugo kam.

Obwohl es erst 15 Uhr 20 war, fiel durch die Türen und Fenster der Lobby kaum noch Licht. Im Gebäude war alles still. Bis auf die Wachleute, die zwar nicht zu sehen, aber zweifellos da waren, schien ich der einzige Mensch im Haus zu sein.

Die Frau saß auf dem Stuhl gegenüber von Mrs Flowers’ Kommandoposten. Ihre Füße standen in zweckmäßigen Oxford-Halbschuhen ordentlich nebeneinander auf dem Teppichboden. Sie schien ihre Senkel zu inspizieren.

Mein erster Gedanke: die olle Tante aus der Mottenkiste. Ein schäbiger Umhang hüllte sie von den Schultern bis zu den Waden ein, und ein unter dem Kinn verknotetes Kopftuch mit Blumenmuster bedeckte ihre Haare. Ein Regenschirm mit gebogenem Griff hing ihr von einem Handgelenk, und eine Tragetasche aus ausgefranstem Tweed stand auf ihrem Schoß.

Mein zweiter Gedanke: Warum diese Kaltwetterkleidung, wo doch das Thermometer an diesem Tag völlig untypische siebenundzwanzig Grad zeigte?

Als die Frau meine Schritte hörte, hob sie das Kinn, und der betuchte Kopf drehte sich langsam in meine Richtung. Der Rest ihres Körpers blieb verkrampft.

Aus der Nähe sah ich, dass die Augen der Frau blass waren – nicht das übliche Blau oder Grün, sondern ein Farbton, der eher Honig in einem Glas ähnelte. Ich schätzte ihr Alter auf mindestens fünfundsechzig. Vor allem dank ihres Aufzugs. Das Kopftuch verdeckte fast ihr ganzes Gesicht.

»Ich bin Temperance Brennan. Bitte verzeihen Sie, dass Sie warten mussten.«

Sie hob eine Hand, um meine zu fassen. Die Finger sahen blau geädert und knotig aus, doch ihr Griff war erstaunlich fest.

»Vielen herzlichen Dank. Danke. Ich verstehe. Ja, natürlich. Ich habe schon so lange gewartet. Ein bisschen länger macht mir nichts aus.«

Auf den Regenschirm gestützt, erhob sich die Frau langsam. Ich bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. »Bitte. Behalten Sie doch Platz.«

Ich stellte meine Aktentasche auf den Boden und setzte mich auf die vordere Kante des Nachbarstuhls, lehnte mich absichtlich nicht zurück.

»Nun denn. Sie sind …?«

»O Gott. Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich hätte mich gleich vorstellen müssen. Mein Name ist Polly Susanne Beecroft.«

»Freut mich, Ms. Beecroft. Ich –«

»Miss, bitte. Titel sind mir ziemlich schnuppe.« Das gedoppelte P ließ die Seide um ihr Gesicht flattern. »Wenn man nie geheiratet hat, muss man das doch nicht verstecken. Finden Sie nicht auch?«

»Mm.«

»Aber bitte nennen Sie mich Polly.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Polly?«, fragte ich, weil ich es schnell hinter mich bringen wollte.

»Ich hoffe, Sie verzeihen mir mein ziemlich dreistes Vorgehen.« Die Honigaugen schauten tief in meine. »Ich bin hier, um Sie um Hilfe zu bitten.«

»Ich bin forensische Anthropo –«

»Ja, ja, natürlich. Deshalb glaube ich ja, dass Sie die Person sind, die ich brauche.«

»Ich höre.«

»Da müsste ich wohl etwas ausholen.«

Ich machte eine ermutigende Geste, ohne es aufrichtig zu meinen.

Beecroft atmete einmal schnell ein, als wollte sie anfangen. Sekunden vergingen. Über ihre Lippen kamen keine Worte.

»Sie brauchen nicht nervös zu sein«, versicherte ich ihr.

Ein knappes Nicken. Dann: »Letztes Jahr starb meine Zwillingsschwester, Gott sei ihrer Seele gnädig. Sie war dreiundsiebzig Jahre alt.«

Ich wusste, worauf das hinauslief. Dennoch unterbrach ich sie nicht.

»Harriet heiratete, wurde aber schon in jungen Jahren Witwe, deshalb hatte sie keine Kinder. In ihren Dreißigern fing sie an, Kunst zu studieren, und von da an war sie ganz auf ihre Malerei konzentriert. Ich fürchte, sie und ich waren nicht fruchtbar, wie die Bibel uns anweist.« Ein schnelles Grinsen. »Nach Harriets Tod –«

»Miss Beecroft –«

»Polly. Bitte.«

»Ihr Verlust tut mir sehr leid, Polly. Aber wenn Sie Fragen bezüglich des Hinscheidens Ihrer Schwester haben, müssen Sie sich an den Coroner oder Medical Examiner wenden, der den Totenschein ausgestellt hat.«

»O nein. Ganz und gar nicht. Harriet starb in einem Hospiz an Bauchspeicheldrüsenkrebs.«

Okay. Ich hatte mich also getäuscht, was den Grund von Beecrofts Besuch anging. Weil mir das jetzt klar wurde, und auch weil ich, wie ich zugebe, ein wenig neugierig war, sagte ich nichts.

»Als Harriets einzige Verwandte war es an mir, ihr Haus auszuräumen. Sie hatte in Virginia gelebt, in einer Kleinstadt in der Nähe von Richmond. Aber das ist unwichtig. Als ich ihre Sachen durchschaute, fand ich einige Dinge, die mir großes Kopfzerbrechen bereitet haben.«

Die Deckenlampen schwankten und beruhigten sich dann wieder.

»O Gott.« Eine braunfleckige Hand flatterte hoch und hing dann, wie eine Motte, frei und verwirrt in der Luft.

»Vielleicht hat das noch einen oder zwei Tage Zeit, bis der Sturm vorüber ist?«, schlug ich ihr behutsam vor.

Aber Beecroft ließ sich nicht abbringen. »Darf ich Ihnen zeigen, was ich gefunden habe? Es geht auch ganz schnell. Und dann bin ich schon wieder weg.«

Ein Bild schoss mir durch den Kopf. Meine fast achtzigjährige Mutter, die versucht, in einem Sturm einen Regenschirm zu bändigen.

»Sind Sie selbst hierhergefahren, Polly?«, fragte ich.

»Meine Güte, nein. Ich bin mit dem Taxi gekommen.«

Scheiße.

»Leben Sie in der Stadt?«

»Ich habe eine Eigentumswohnung in Rosewood. Kennen Sie das?«

Ich kannte es gut. Mama war erst kürzlich nach Richmond gezogen. Jetzt hatte ich so eine Ahnung davon, wie Beecroft auf mich gekommen war.

Außerdem ahnte ich, dass der schäbige Aufzug irreführend war. Rosewood ist ein knapp vier Hektar großer Wohnkomplex nach dem Vorbild von George Vanderbilts Zufluchtsort in Asheville aus dem 19. Jahrhundert. Das Leben in dem Fantasiebau ist nicht gerade billig. Beecroft hatte also Mittel.

»Taxis könnten in diesem Sturm rar werden.« Scheiße. Scheiße. »Wie wär’s, wenn Sie mir Ihr Anliegen schildern, während ich Sie nach Hause fahre?«

»Das kann ich doch nicht von Ihnen verlangen.«

»Es liegt auf meinem Weg.« Was nicht stimmte.

»Das ist schrecklich großzügig von Ihnen. Ich habe gewusst, dass Sie eine sehr freundliche Dame sind. Aber zuerst müssen Sie sich etwas ansehen.«

Die freundliche Dame sah zu, wie Beecroft einen Umschlag aus der Tragetasche holte und drei Fotos herauszog. Eins streckte sie mir hin, die anderen beiden hielt sie zurück.

»Das wurde 1966 gemacht. Ich mit meiner Schwester. Wir waren an diesem Nachmittag ein bisschen ausgelassen.«

Das Farbfoto war schon leicht verblasst. Eine Nahaufnahme und offensichtlich gestellt, aufgenommen an einem sonnigen Tag im Freien. Zwei Mädchen im Teenageralter standen hinter einer Mauer, sodass nur die Köpfe sichtbar waren. Kinne und Unterarme ruhten auf der obersten Ziegelreihe.

Beide Mädchen grinsten schelmisch und schauten genau in die Linse. Sie sahen identisch aus.

Als ich das Bild betrachtete, beschlich mich ein leichtes Unbehagen. Weil mir die Gesichter bekannt vorkamen? Aber das war unmöglich.

Beecrofts Worte durchschnitten meine Gedanken. »Damals machte man noch nicht so viele Fotos. Nicht so wie die jungen Leute heute, die jede Sekunde ihres Lebens festhalten und Bilder von sich posten, wie sie sich Zahnseide durch die Zähne ziehen oder die Speisekammer aufräumen oder ihre Katze quälen oder was auch immer. Also wirklich. Wen interessieren denn solche Belanglosigkeiten? Aber verzeihen Sie mir. Ich schweife ab.

Die Qualität ist nicht mehr die beste, aber unsere Gesichter sind noch klar zu erkennen. Ich bin links, Harriet rechts. Zu der Zeit waren wir achtzehn. Wir hatten eben die Highschool abgeschlossen und waren am Vassar College eingeschrieben. Aber auch das ist unwichtig. Ich muss zur Sache kommen.«

Beecroft zeigte mir nun ein zweites Foto, das in einer Schutzhülle steckte.

Ich legte das erste auf den Tisch neben mir, nahm das zweite und betrachtete es durch das Plastik.

Die Sepiatöne und die weißen Risse legten nahe, dass dieses Bild beträchtlich älter war. Wie auch die formelle Pose und der Bekleidungsstil.

Aber das Motiv war sehr ähnlich. Zwei Teenager-Mädchen schauten direkt in die Kamera, das eine sitzend, das andere stehend mit einer Hand auf der Stuhllehne. Beide trugen hochgeschlossene, langärmelige Kleider mit kompliziert drapierten knöchellangen Röcken. Keins der Mädchen lächelte.

Die Ähnlichkeit mit Polly und Harriet Beecroft war unheimlich.

Ich schaute fragend hoch.

»Das sind meine Großmutter und ihre Schwester«, sagte Beecroft. »Auch sie waren Zwillinge.«

Ich senkte den Blick wieder auf das Foto.

»Dieses Porträt wurde 1887 gemacht. Sie waren da siebzehn Jahre alt.«

»Sie sehen genauso aus wie –«

»Ja«, sagte Beecroft. »Tun sie. Taten sie.«

Dann gab mir Beecroft das letzte Foto.

Um uns herum hallte Stille, unterbrochen nur vom Grollen des herannahenden Sturms.

Ich hörte nichts. Sah nichts außer dem Bild in meiner Hand.

Ich schluckte, war zu erschüttert, um zu sprechen.

2

Dienstag, 5. Oktober

Beide Carolinas haben viele Meilen Küste aufzuweisen, Hurricanes sind deshalb nichts Ungewöhnliches. Wilmington. New Bern. Myrtle Beach. Charleston. Irgendwann wurden sie alle schon einmal getroffen.

Charlotte liegt im Vorgebirge, ist also größtenteils sicher, aber wenn eine Hurricane- oder Schneesturmwarnung ausgegeben wird, dreht die Queen City durch. Schulen und Gerichte schließen. Supermärkte leeren sich. Generatoren und Batterien verschwinden. Das Ganze verläuft dann meistens im Sand. Wir fegen auf und fangen wieder an, Lebensmittel einzukaufen, Kunden zu treffen und Fahrgemeinschaften zu bilden.

Ich bin keine Panikmacherin. Ganz und gar nicht. Aber an diesem Tag schien das Wetter der Hysterie gerecht zu werden. Der Regen hielt sich noch zurück, aber der Luftdruck wirkte wie Tonnen auf den Quadratzentimeter, und die Böen wurden sekündlich aggressiver.

Umhang und Kopftuch sind aerodynamisch nicht gerade windtauglich, aber die Oxford-Schuhe waren eine kluge Wahl. Der Fußmarsch zu Beecrofts Eingang war zwar eine Herausforderung, aber wir schafften es.

Normalerweise hätte ich nach Mama gesehen, aber sie war mal wieder unterwegs auf einem ihrer spirituellen Heilungsabenteuer. In Arizona? In den Catskill Mountains? Ich war mir nicht sicher. Nahm mir vor, sie anzurufen.

Von Rosewood aus waren es nur ein paar Minuten bis Sharon Hall, dem Herrenhaus aus der Jahrhundertwende, das man zu einem Komplex aus Eigentumswohnungen umgestaltet hatte und in dem ich eine zweistöckige Einheit mit dem Namen der Annex, der Anbau, besaß. Niemand weiß, wann das winzige Gebäude errichtet wurde. Oder warum. Der Annex taucht in keinem der alten Grundbücher und auf keiner Karte auf. Mir ist es egal, ob seine Historie für immer ein Rätsel bleibt. Tatsächlich macht dieses Mysterium mit den Reiz aus.

Ich war nach dem Zusammenbruch meiner Ehe in den Annex gezogen, und seitdem habe ich, bis auf den Austausch von Glühbirnen und Filtern, so gut wie nichts verändert. Bis vor Kurzem. Jetzt belegt ein schickes, neues Arbeitszimmer den Raum, der ewig als Dachboden gedient hatte.

Für einen kurzen Augenblick blitzte ein Bild auf. Zerfurchtes Gesicht, herzschmelzende, blaue Augen, sandblonde Haare, die langsam grau werden.

Mir wurde die Brust eng. Gedanken an meinen neuen Mitbewohner Andrew Ryan? Oder die heftige Böe, die mein Auto schwanken ließ?

Eine kurze Bemerkung zu Ryan, Section de Crimes contre la Personne, Sûreté du Québec. Da er für das Morddezernat der SQ, der Polizei der Belle Province, arbeitete und ich forensische Anthropologin am dortigen LSJML bin, dem Laboratoire de sciences judiciaires et de medicine légale, arbeiteten der lieutenant-détective und ich jahrzehntelang bei Mordermittlungen zusammen, im selben Zentralgebäude in Montreal. Irgendwann in dieser Zeit fingen wir mit gelegentlichen Dates an. Daraus wurden dann, na ja, mehr als Dates. Jetzt leben wir zusammen. In gewisser Weise.

Mehr dazu später.

Am Annex angekommen, wuchtete ich die Autotür auf. Sie fiel von selbst wieder zu. Ich beugte mich vor und eilte ins Haus, mit wehenden Haaren und einem Aktenkoffer, der hin und her schwankte.

»Birdie?«, rief ich und stellte Handtasche und Aktenkoffer auf die Anrichte.

Keine Antwort von der Katze. Keine Überraschung. Wetterextreme belasten die Katzenpsyche sehr.

»Ich bin zu Hause, Bird.«

Noch immer keine Reaktion.

Wie die Lobby des MCME war das Innere des Annex für einen Nachmittag sehr dunkel. Ich legte den Wandschalter um, schaltete die Lampe im Esszimmer an und stieg dann die Treppe zu meinem Schlafzimmer hoch. Als ich meine Nikes auszog, lugte ein kleines weißes Gesicht unter dem Bett hervor, die Ohren angelegt, so weit es ging.

»Bleib locker, mein Großer. Ist doch nur ein bisschen Wind.«

Birdie musterte mich argwöhnisch. Vielleicht verärgert. Das ist bei Katzen schwer zu sagen.

Vielleicht spürte er aber auch meine eigene Angst. Das Wetter sah wirklich schlimm aus. Sollte ich im Haus bleiben und es aussitzen? Oder in ein Hotel weiter oben in den Bergen fahren?

Ein Windstoß feuerte eine Kiessalve gegen die Seitenwand des Hauses. Das Katzengesicht zog sich wieder in seinen Zufluchtsort zurück.

»Na gut. Mal sehen, was die Experten sagen.«

Ich kehrte in die Küche zurück, suchte die Fernbedienung und schaltete den lokalen Nachrichtensender ein. Stellte auf stumm, solange ein Spot lief, in dem ein Kerl anbot, mir meine Regenrinnen zu reinigen. Dann noch einer für Bojangles-Hühnchen. Die Ankündigung eines bevorstehenden Spiels der Panthers.

Schließlich kam ein Sprecher, der hinter einem Schreibtisch mit Glasplatte saß, an deren Vorderkante winzige Lichter blinkten. John Medford. Ich hatte ihn ein paarmal bei Wohltätigkeitsveranstaltungen getroffen. Wusste, dass seine Schmalzlocke höher war als sein IQ.

Hinter Medfords rechter Schulter zeigte eine Grafik eine Regionalkarte, die von weiteren blinkenden Lichtern eingerahmt war. Ein beunruhigend grüner Klecks hing im Südosten von Charlotte. Ein Ticker am unteren Bildschirmrand meldete: Inara kommt!

Ich schaltete den Ton wieder an. Medfords Stimme war neutral, die Brauen gerade so zusammengezogen, dass angemessene Besorgnis ausgesendet wurde.

»– zumindest ein Modell zeigt, wie der Sturm auf Charleston trifft und dann eingequetscht wird zwischen der rechtsläufigen Rotation eines Hochdrucksystems über dem Atlantik und der gegenläufigen Rotation eines Tiefdrucksystems über dem Mississippi-Tal. Kommt das den alten Hasen unter euch da draußen bekannt vor? Sollte es. Das ist die Kombination, die uns ’89 Hugo beschert hat. Natürlich sagt das nur ein einziges Modell. Andere sehen den Sturm an der Küste entlangziehen und dann übers Meer verduften. Aber es immer besser, vorbereitet zu sein.«

Neben der Karte erschien eine Auflistung. Medford ging die einzelnen Punkte durch, jeden einzelnen auf seine joviale Art.

»Ich bin mir sicher, ihr alle kennt die Routine, aber eine Wiederholung kann nicht schaden. Sollte Inara in unsere Richtung steuern, bleibt im Haus, am besten in einem inneren Raum – vielleicht ein Wandschrank oder ein Bad – und weg von Fenstern, Oberlichtern und Glastüren.«

Okay. Birdie hatte recht.

»Wenn eurem Haus eine Überflutung droht, stellt den Strom am Hauptschalter ab. Bei Stromausfall schaltet alle Großgeräte aus – ihr wisst schon, Klimaanlage, Durchlauferhitzer – die teuren Sachen, die nicht kaputtgehen sollten. Und Kleingeräte solltet ihr auch nicht benutzen, auch den Computer nicht.«

Scheiße. Hatten mein Laptop und mein Handy genug Saft? Während ich die beiden Geräte aus meinem Aktenkoffer holte und sie zum Laden einsteckte, schwadronierte Medford weiter.

»Ich schätze, dass wir in Charlotte ziemlich sicher sind, aber an der Küste dürfte es ein ziemlicher Knaller werden.« Ermutigendes Lächeln. »Bleibt dran. In dreißig Minuten bin ich wieder bei euch.«

Der Sender schaltete wieder Werbung. Ich stellte wieder auf stumm und wollte eben zum Handy greifen, als es klingelte. Trällerte, um genau zu sein. Nachdem ich auf die Anruferkennung geschaut hatte, ging ich dran.

»Hey, Ryan.«

»Bonjour, ma chère.«

»Bist du immer noch in Yellowknife?«

Nachdem er bei der SQ den Dienst quittiert hatte, machte Ryan sich als Privatdetektiv selbstständig. Im Augenblick ermittelte er in einer Sache, die mit Diamantabbau und Schürfrechten zu tun hatte. Und einer unglücklichen Partei. Ich fragte nicht nach.

»Ja, Ma’am. Die heutige Höchsttemperatur liegt bei minus vierzehn.«

»Celsius.«

»C’est frette en esti.« Übersetzung: Arschkalt. »Ich höre Berichte über ein Windchen bei euch da unten.«

»Wenn’s nach den Modellen geht, landet der Sturm überall und nirgendwo auf der Karte. Wie immer. Manche sagen vorher, dass Inara auf die Carolinas treffen könnte. In anderen zieht er in westlicher Richtung nach Keokuk ab.«

»Wo ist das?«

»In Iowa.«

»Das stimmt nicht.«

»Doch. Das ist die südlichste Stadt in dem Staat.«

Ryan ging nicht darauf ein. »Besteht die Gefahr, dass Charlotte ins Fadenkreuz kommt?«

»Sehr unwahrscheinlich.«

»Passiert ist es aber schon.«

»Ja, schon.«

»Wie nimmt’s der Kater?«

»Schlecht. Hör zu, Ryan. Ich freu mich ja, dass du dich meldest, aber ich muss da noch eine Untersuchung abschließen, bei der es um eine potenzielle Kindsgefährdung geht. Vielleicht Mord.«

»Potenziell?«

»Ist kompliziert.«

»Ich war jahrelang Polizist.«

»So stand es auch auf deiner Marke.« Ich zitierte Ryans neuen Lieblingsspruch.

»Stimmt.«

»Okay.« Ich legte mir die wesentlichen Fakten im Kopf zurecht. »Das Opfer lebte hier in North Carolina. Letzte Woche wurde es tot in seinem Zuhause gefunden. Eine Autopsie ergab keine Hinweise auf äußere Verletzungen, aber die toxikologische Untersuchung wies einen tödlichen Blutalkoholpegel nach.«

»Wo waren die Eltern?«

»Beim Segeln in der Karibik.«

»Wie alt war das Opfer?«

»Der Detective kommt gleich zum Punkt.«

»Der ehemalige Detektive.«

»Richtig. Das Opfer – ihr Name ist Tereza – kam 2012 über eine bulgarische Adoptionsagentur in die USA. Zu der Zeit sagte man den Eltern, sie sei sieben Jahre alt. Aber sie behaupten, anschließend Unterlagen entdeckt zu haben, die Terezas Geburtsjahr als 2000 und nicht 2005 angeben. Damit wäre sie zum Zeitpunkt ihres Todes zwanzig gewesen und nicht fünfzehn.«

»Eine Erwachsene, keine Minderjährige.«

»Genau.«

»Also völlig legal, dass sie allein zu Hause war. Wo liegt das Problem?«

»Tereza erzählte jedem, sie sei 2005 geboren. Die Agentur besteht darauf, dass dies der Fall ist.«

»Das Mädchen hatte keine Freunde?«

»Sie kam ohne Englischkenntnisse in den Staaten an, die Eltern entschieden sich deshalb für häuslichen Unterricht. Im Lauf der Jahre wurde der wegen Verhaltensproblemen beibehalten. Ich weiß nicht so recht, welche das waren.«

»Also hatte dein Opfer kaum Kontakt zur Außenwelt?«

»Genau. Sie war sehr klein und behauptete zum Zeitpunkt ihres Todes, sie sei minderjährig. Sie zog sich wie ein Kind an und verhielt sich wie ein Kind. Die Eltern behaupten, es sei von Anfang an Betrug und Tereza eine Soziopathin gewesen, die sie jahrelang ausgenutzt habe.«

»Lass mich raten. Irgendein Staatsanwalt ist anderer Meinung und fest entschlossen, sie strafrechtlich zu verfolgen.«

»Kindsaussetzung, Kindsgefährdung, Mord durch Vernachlässigung. Wer weiß, was sonst noch. Der Anwalt der Eltern, ein Kerl namens Lloyd Thorn, besteht darauf, dass seine Mandanten sich nichts haben zuschulden kommen lassen außer Güte. Er sagt, sie hätten Tereza kostenlos ein Heim geboten. Und dass sie ihr missbräuchliches Verhalten einfach nicht länger ertragen hätten.«

»Und haben deshalb was getan?«

»Sie sind in einen verlängerten Urlaub gefahren, weil sie hofften, Tereza würde ausziehen, wie sie es ihr vorgeschlagen hatten. Sie dachten sich, sie würde schon alleine zurechtkommen.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Auf Saint Croix in Haft. Thorn rief mich gestern an, nachdem er Zugang zu Röntgenaufnahmen erhalten hatte, die gemacht worden waren, nachdem Tereza im letzten Jahr irgendeine Art von Sturz erlitten hatte.«

»Bringen dir die Aufnahmen was?«

»Sehr viel. Ich habe eine Theorie, aber ich will noch ein bisschen recherchieren, bevor ich mit Thorn rede. Er hat mich in den letzten beiden Tagen viermal angerufen. Der Kerl macht wirklich Druck.«

»Und ich weiß, wie du auf Druck reagierst.«

»Und das sollten Sie auch nicht vergessen, Detective.«

»Oui, Madame.«

»Hier könnte jederzeit der Strom ausfallen, deshalb will ich das abschließen.«

»Ist es so schlimm?«

»Stromausfälle sind hier an der Tagesordnung.«

»Rufst du mich in ein paar Stunden zurück?«

»Klar.«

»Und reden wir dann versaut?«

»Bis dann, Ryan.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, verifizierte ich online mehrere Punkte. Dann nahm ich mir meine Osteologie- und Genetik-Lehrbücher vor.

Hin und wieder stand ich auf und schaute zu einem Fenster hinaus. Oder lauschte unserem jovialen Wetterfrosch. Jedes Mal waren Medfords Brauen ein bisschen enger zusammengezogen.

Ich schaute mir eben die Röntgenbilder noch einmal an, als etwas Sperriges über den Rasen schlitterte und mit einem dumpfen Schlag gegen eine Wand krachte. Im Annex wurde es dunkel.

Und ich war mir so sicher wie nie, was Tereza anging.

Zeit für ernsthaftes Verbarrikadieren.

Inspiriert von Medfords zweitem Punkt auf der Liste und Birdies instinktiver Wahl eines Zufluchtsorts, schleppte ich Bettzeug in den innersten Raum des Annex, eine fensterlose Kammer mit niedriger, schräger Decke unter der Treppe. Ich fügte Handy und Laptop hinzu, eine Gallone Wasser, eine Schachtel mit Müsliriegeln, mein aktuelles Karin-Slaughter-Buch und Birdies Wasser- und Futterschüsseln.

Ein schnelles Sandwich im Licht einer Taschenlampe, ein kurzer Gang aufs Klo, und dann machte ich mich auf die Suche nach Birdie. Er war nicht sehr begeistert, als ich ihn unter dem Bett hervorzerrte.

Es fing an zu regnen, als ich die Treppe hinunterstieg. Keine furchtsame erste Welle zögerlicher Tropfen – der Wolkenbruch setzte sofort ein, mit voller Wucht und von der Seite, wie Wasser aus einem Hochdruckschlauch.

Ich lockerte meinen Griff und ließ die Katze von meiner Brust in den improvisierten Sturmkeller schnellen. Er schoss hinter eine Reihe aufgestapelter Schachteln, mit Augen wie Frisbees, das Fell gesträubt, den Schwanz aufgestellt, und aus seiner Kehle drang ein merkwürdiges Miauen. Ich kroch zu ihm hinein und schloss die Tür.

»Alles in Ordnung, Birdie. Wir haben genug Futter.«

Ich legte mich auf mein provisorisches Bett und versuchte zu entspannen. Nach einer Weile kam die Katze zu mir und rollte sich an meinem Knie zusammen. Ich streichelte ihn. Er zitterte am ganzen Körper.

In den nächsten Stunden lauschten Birdie und ich der Kakofonie aus prasselndem Regen und heulendem Wind, gedämpft zwar, aber unmissverständlich wild. Ich fragte mich, wie groß die Schäden wohl sein würden. Die Gedanken der Katze gingen mit Sicherheit in eine andere Richtung.

Irgendwann döste ich ein. Wurde geweckt vom Knall eines explodierenden Transformators.

Weil ich spürte, dass die Katze sich verkrampfte und wieder zu zittern anfing, kraulte ich sie, langsam und sanft. Während meine Hand wundertätig wirkte, wandten meine Gedanken sich wieder meiner nachmittäglichen Besucherin zu.

Polly Beecroft und ihre Schwester Harriet waren monozygote Zwillinge, was hieß, dass sie sich aus einem einzigen befruchteten Ei entwickelt hatten, das sich früh in der Embryonalentwicklung geteilt hatte. Da die Frauen identische DNA hatten, sahen sie gleich aus. Keine große Sache. Die Chance, identische Zwillinge zu bekommen, liegt bei drei bis vier pro tausend Geburten.

Ich spürte, wie die Anspannung in Birdies Körper sich ganz leicht lockerte. Meine Berührungen zeigten die gewünschte Wirkung. Oder ihm ging langsam die Puste aus.

Pollys Großmutter und ihre Großtante waren ebenfalls identische Zwillinge gewesen, geboren in London im Jahr 1870. Polly hatte mir ein Porträt der beiden gezeigt, die eine mit dem Namen Sybil, die andere Susanne Bouvier. Auch sie hatten ausgesehen wie Klone voneinander, und sie hatten genau so ausgesehen wie Polly und Harriet, die achtzig Jahre später geboren wurden.

Im Garten zersplitterte etwas. Birdies Zittern wurde wieder stärker. Ich beschloss, laut zu denken, um das Werk meiner Hände mit meiner Stimme zu ergänzen, zum Teil der Katze zuliebe, zum Teil, um den Tumult draußen zu übertönen.

»Susanne und Sybil reisten 1888 nach Paris, und nach einem Monat in der Stadt verschwand Sybil spurlos. Bis zum heutigen Tag weiß niemand, was mit ihr passiert ist.

Pollys Großmutter Susanne emigrierte schließlich in die USA, heiratete und bekam Kinder. Pollys Mutter wurde 1909 geboren. Polly und Harriet kamen 1948 auf die Welt.

Und jetzt kommt der komische Teil, Bird. Neben Sybils Verschwinden natürlich. Polly zeigte mir auch ein Foto von einer Totenmaske.«

Birdie drehte sich auf den Rücken. Ich interpretierte das als Zeichen von Interesse.

»Totenmasken waren im 19. Jahrhundert sehr populär, bevor die Leute Kameras hatten. Sie waren so eine Art keramisches Selfie, geschaffen, um bei Freunden und Verwandten die Erinnerung an die Verstorbenen wachzuhalten.«

Diesen Teil hatte ich mir ausgedacht, er klang aber einleuchtend. Birdie hinterfragte meine Erklärung nicht.

»Polly wusste nicht, woher Harriet dieses Foto hatte. Und sie hatte keine Ahnung, wo sich die Maske jetzt befindet. Bist du bereit für die Pointe? Die Totenmaske auf Pollys Foto sah genauso aus wie sie.« Als würde die Katze eine Klarstellung benötigen, fügte ich hinzu: »Die Gesichtszüge waren dieselben wie bei beiden Zwillingspaaren.«

Birdie streckte die Vorderläufe in die Höhe und ließ die Pfoten schlaff herabhängen.

»Warum Polly sich an mich wandte, willst du wissen? Ausgezeichnete Frage. Sie fragt sich, ob die mit der Totenmaske dargestellte Frau ihre Großtante Sybil sein könnte. Und falls ja, will sie wissen, ob ich herausfinden kann, was mit ihr passiert ist.«

Draußen auf dem Rasen zerbarst ein Baum mit einem dumpfen Knall. Weit über mir hörte ich ein Krachen, dann schlitterte etwas Großes über das Dach.

Die Katze suchte Schutz unter der Zudecke.

Wir blieben die ganze Nacht in unserem Versteck, Birdie zitterte, und ich zerbrach mir den Kopf darüber, welche Verwüstungen ich am Morgen wohl entdecken würde.

Ich ahnte nicht, dass die Sturmschäden rein gar nichts waren im Vergleich zu dem, was ein bevorstehender Anruf auslösen sollte.