Sandra Hintringer
Der Vagusnerv
Unser innerer Therapeut
Die Polyvagal-Theorie zur Selbsthilfe
bei Panik, Angst, Trauma und Depression
Einleitung
Teil 1Die Polyvagal-Theorie: Stressreaktionen und Traumafolgen verstehen und regulieren
1.1Was ist die Polyvagal-Theorie?
1.2Der ventrale Vagus: Das System der sozialen Verbundenheit
1.3Der Sympathikus: Das System der Kraft, des Handelns und der Abwehr
1.4Der dorsale Vagus: Notsystem für Schockstarre oder Unterwerfung
1.5Die normale Erregungskurve im Nervensystem
1.6Die Inflation der Traumata – Trauma geht uns alle an
1.7Was ist ein Trauma?
1.8Welche Arten von Traumata gibt es?
1.9Diagnose PTBS und andere Traumafolgestörungen
1.10Traumafolgen und Gesundheit
Teil 2Wege zur Veränderung: Die eigene Physis verstehen
2.1Die Körperreise beginnt
2.2Der innere Beobachter und wie wir ihn kreieren
2.3Wozu wir den inneren Beobachter brauchen
2.4Die Symptome autonomer Zustände im Einzelnen
2.5Sieben-Tage-Übungsprogramm für den inneren Beobachter
2.6Emotionale Erste Hilfe
Teil 3Regulierende Körperübungen: Der innere Therapeut
3.1Zur Durchführung der Übungen
3.2Entspannende Übungen, die das ventral-vagale System fördern
3.3Anregende und energetisierende Übungen gegen den Shutdown
3.4Notfallübungen gegen Panik und Dissoziation ..
Quellenverzeichnis
Impressum
Neugier bestimmt unsere Wahrnehmung und damit unser Handeln. Unser inneres, ganz natürliches Streben nach Liebe, Anerkennung und Angenommenwerden lässt uns auf die Suche gehen. Wir möchten frei sein von Beschwerden wie Angst, Depression oder Panikattacken. Gesundheit und das Streben danach zeichnen sich unter anderem durch diese suchende Neugier aus. Wie schön also, dass Sie nach diesem Ratgeber gegriffen haben und sicherlich schon ganz gespannt sind, was Sie darin erwartet.
Jetzt – genau jetzt, da Sie die ersten Zeilen dieses Texts lesen – bewegen sich Ihre Augen von links nach rechts über die Zeilen und sammeln Informationen. Ihre Augen nehmen die Schriftzeichen auf dem Papier als Buchstaben wahr. In Windeseile übertragen Nervenbahnen die Informationen ins Seh- und von dort ins Lesezentrum in Ihrem Gehirn. Dort erfolgt der Abgleich: Die Buchstaben und Worte sind Ihrem Gehirn durch jahrzehntelanges Lesetraining vertraut, sodass es Inhalt und Sinn sofort erfassen kann.
In diesem Moment, in dem Sie entspannt lesen, ist wahrscheinlich alles in bester Ordnung. Damit meine ich, dass Sie jetzt gerade in Sicherheit sind. Vielleicht fragen Sie sich, warum ich das so betone, denn natürlich sind Sie in Sicherheit. Aber was hat das mit dem Inhalt dieses Buchs zu tun? Eine ganze Menge, denn in diesem Ratgeber wird es um den oft erwähnten Vagusnerv gehen. Er ist so etwas wie unser innerer Therapeut – ein Nerv, der unseren Körper in die Entspanntheit und damit ins Gefühl der Sicherheit regulieren kann. Man könnte also sagen, dass Sie nur deswegen entspannt sitzen und lesen können, weil Ihr Vagus in diesem Moment sehr gut funktioniert.
Doch was wäre ein Therapeut ohne sein Netzwerk, ohne Kollegen oder ohne das Haus, in dem er mit seiner Praxis unterkommt, ohne das Geflecht aus Krankenkassen und Versicherungen und ohne den öffentlichen Nahverkehr, der es seinen Patienten ermöglicht, zu ihm zu kommen? »Alles steht mit allem in Verbindung«, sagte die im Mittelalter auf vielfältige Weise wirkende natur- und heilkundige Universalgelehrte Hildegard von Bingen (1098–1179). Es wird also hier nicht um den Vagusnerv allein gehen, sondern um die komplexe und faszinierende Regulationsfähigkeit des Gehirns, aber auch des gesamten Körpers. Woher weiß unser Gehirn, was es zu tun hat beziehungsweise welche Meldung es an die Peripherie Ihres Körpers senden muss? Welcher Auftrag soll ausgeführt werden? Warum sollen sich Muskeln anspannen, warum danach entspannen? Warum taucht ein Angstgefühl auf? Was ist überhaupt Angst und warum wird daraus bei manchen eine Panikattacke? Warum werden Sinneswahrnehmungen oder Körperempfindungen auch einfach mal abgeschaltet? Und ab wann nennt man solche Abspaltungen »Dissoziationen«? Wie kann man Depressionen verstehen und was haben scheinbar kleinere Symptome damit zu tun? Warum zum Beispiel können sogar beim Säugling Füße und Hände so kalt sein, dass selbst die allerbesten Puschelsöckchen keine Abhilfe schaffen?
Fragen dieser Art werden wir in Bezug auf den Vagusnerv und damit zur Polyvagal-Theorie nachgehen. Dabei möchte ich Sie einladen, all die genannten und auch alle anderen Symptome losgelöst von klassifizierten und damit einengenden Diagnosen zu betrachten. Vielleicht können Sie unbefangen dem Gedankenexperiment folgen, dass all diese Symptome im Grunde ganz normale, gesunde Reaktionen auf überfordernde Ereignisse sind.
Doch hier möchte ich noch einmal zu Ihnen und dem jetzigen Moment kommen. Gerade ist die Welt rund um Sie in Ordnung. Während Sie lesen, sitzen Sie vermutlich – in einem Sessel oder auf der Couch, zu Hause oder etwa in einem Café. Sie spüren das flauschige Kissen im Rücken oder das kühle Leder der Couch. Irgendwo im Hintergrund sind vielleicht Geräusche zu hören: Autoverkehr, Vogelgezwitscher, Geschirrgeklapper oder leise Musik, vielleicht auch etwas ganz anderes. Ihr Gehirn kennt diese Geräusche und misst ihnen zumindest vordergründig nicht viel Bedeutung bei. Vielleicht schmilzt gerade ein Stück Schokolade auf Ihrer Zunge. Und während Ihre Augen weiter Zeile für Zeile Informationen aus diesem Buch auflesen, beobachtet Ihr Unterbewusstsein laufend die Umgebung, unentwegt und mit an Perfektion grenzender Verlässlichkeit. Immer wieder macht es einen Abgleich mit der Schaltzentrale Gehirn: Geschirrgeklapper? Kenne ich, also ungefährlich. Verkehrsgeräusche, Hupen, Motorengeräusche, Fahrradklingel? Kenne ich, ungefährlich. Schokolade? Kenne ich, superberuhigend, bitte mehr davon. Und so weiter. Jetzt also, da Sie gerade in Ruhe lesen, ist die Umgebung sicher. Sie sind sicher. Andernfalls würden Sie aufspringen und auf die vermeintliche oder echte Gefahr reagieren, zum Beispiel wenn jemand plötzlich im Hausflur laut um Hilfe rufen würde oder wenn es in der Nähe auf ungewöhnliche Art gescheppert hätte. Unmittelbar und ganz automatisch würden Ihre körperlichen Alarmsysteme anspringen, würden Sie umherschauen, Ihre Muskulatur würde sich kampfbereit machen und sich stark anspannen, Ihr Herz würde schneller schlagen, und letztendlich wären Sie schon längst losgelaufen und auf der Suche nach der Ursache. Vielleicht würde sich aber just in diesem Moment Ihr Gehirn an irgendetwas erinnern, das Sie dann ganz im Gegenteil in Schockstarre auf dem Sessel sitzen ließe. Um nichts in der Welt trauen Sie sich dann in den Hausflur, denn im Gehirn und damit auch im Körper ist das Programm Panik mit anschließender Entscheidung zum Totstellreflex in Kraft getreten. Denn wer weiß, was da im Haus los ist? Könnte gefährlich sein. Kennen Sie solche Situationen?
Ganz entspannt? Mächtig aufgeregt? Oder in Schockstarre? Alle drei Zustände sind zwar autonome, aber vor allem physiologische Reaktionsmuster Ihres Körpers. Mit diesen passt sich Ihr Organismus an die Umgebung und die Umstände an, weshalb man sie adaptive Reaktionsmuster nennt. Sie helfen jedem von uns laufend und ganz unmittelbar beim Überleben. In jedem Körper sind diese drei Programme, auf die ich später noch im Detail eingehen werde, sozusagen biologisch vorinstalliert. Je nach Situation entscheidet sich Ihr Gehirn im blitzschnellen Wechsel mal für das eine und mal für das andere Muster. Je nachdem, in welchem Muster wir uns als Menschen gerade aufhalten, also entweder im Muster von Kampf oder Flucht, in Schockstarre oder in guter Verbundenheit friedlich eingestimmt, reagieren wir ganz unterschiedlich auf die uns erreichenden Sinneseindrücke. Wir regulieren und sortieren sie entweder sauber ins Zeitgeschehen ein oder reagieren mit einer sogenannten Überlebensstrategie: Irgendwie durchkommen, Hauptsache, überleben! Gar nicht selten bleiben Menschen in einem dieser Reaktionsmuster buchstäblich stecken. Dann gibt es nur noch Flucht, nur noch Kampf oder manchmal leider auch langfristige Starre, die sich vielleicht als Depression in der Krankenakte abzeichnet.
In meine Osteopathie-Praxis kommen immer wieder Menschen mit verschiedensten kleineren oder größeren Unfallfolgen, also mit Traumata, die für die Patienten entweder das Hauptproblem darstellen oder als Nebenbefund auftauchen. Die Betroffenen formulieren zumeist diesen zentralen Gedanken: Seit dem Vorfall ist nichts wie vorher!
Unverhoffte Ereignisse scheinen den Körper und vor allem sein autonomes Nervensystem in irgendeiner Art zu irritieren, manchmal sogar zu blockieren. Manche Patienten beschreiben, dass sie sich in gewissen Zuständen gefangen fühlen und nicht wissen, wie sie da jemals wieder herauskommen können.
Ich denke, Sie stimmen mir zu, dass es im Laufe des Lebens eine Menge ungeplante und unvorhersehbare, heftige Einschnitte gibt. So ist das Leben: ein unsteter Wechsel von Auf und Ab. Auch wenn wir davon ausgehen können, dass in uns allen ein intakter Kern oder eine Zelle sitzt, die völlig heil und gesund ist, beeinflussen uns vor allem die unerwarteten Ereignisse mitunter massiv und mit überraschender Langwierigkeit. Symptome und Symptomverkettungen ziehen sich fünf, zehn oder noch mehr Jahre hin, bis man nach vieler Mühe endlich von so etwas wie Heilung sprechen kann. Ganz so wie vorher, das beschreiben die meisten, wird es wohl nie wieder. Es wird anders, denn die Verarbeitung schicksalhafter Ereignisse trägt zur Reifung der Persönlichkeit und zur Erweiterung ihres Spektrums bei. Dazu gehören konkret zum Beispiel Verkehrsunfälle und dabei vor allem die unverschuldeten mit Fahrerflucht, aber auch Unfälle, bei denen die Versicherungen ihre Akten noch nicht geschlossen oder dem Geschädigten nur unzureichende Leistungen zugestanden haben. Doch es geht nicht nur um Unfälle; ganz allgemein geht es um Alltagstraumata aller Art. In diesem Buch möchte ich die Dynamik um diese Phänomene beleuchten und Ihnen eine Reihe unterstützender Übungen an die Hand geben.
Es gibt viele Dinge, die wir nicht unbedingt mit dem Begriff »Trauma« in Verbindung bringen, eben weil es sich um Alltagsvorfälle handelt, die wir als normal empfinden. Und oft rappelt sich ja jemand nach einem Sturz einfach wieder auf und erleidet wirklich keinerlei Spätfolgen. Der Körper ist ein Wunderwesen und heilt und reguliert sich oft nahezu unbemerkt und in Eigenregie. Aber scheinbar banale Vorgänge können im Gegensatz dazu Symptome erzeugen, die die Betroffenen später gar nicht immer auf das Ursprungsereignis zurückführen können. Solche Symptome erzeugen eine Wucht oder auch eine innere Verlangsamung. Diese sich autonom entwickelnde Wucht oder Verlangsamung ist es, was viele Menschen wirklich verzweifeln lässt.
Neben Verkehrsunfällen geht es zum Beispiel um Stürze von Leitern, Hockern, Bäumen, auf Treppen, von Badewannenrändern … Der Tritt in ein übersehenes Loch auf einer Wiese, eine unerwartete chiropraktische Manipulation, ein geistiger oder materieller Diebstahl, eine langwierige, schwierige Geburt … Dazu gehören neben vielen anderen Ursachen sowohl verbale als auch körperliche Gewalt, Tierbisse, medizinische Notfälle, hohes Fieber wegen einer Infektion und der Verlust von Angehörigen oder Haustieren. All diese Ereignisse haben mitunter großen und verändernden Einfluss auf unser Leben. Die Heftigkeit mancher dieser Vorkommnisse überfordert nicht selten Organismus und Nervensystem beziehungsweise lässt uns aus gesunder Ruhe in einen Überlebensmodus wechseln. Dieser Modus mag anfangs extrem nützlich sein, denn viel zu schnell und meistens unvorhergesehen prasseln die Dinge auf uns ein. Das stört nicht immer, aber häufig, die gesunde Regulationsfähigkeit des Nervensystems. Irgendwann sollte das Körpersystem aus seinem Überlebensmodus allmählich ins gesunde Spektrum zurückkehren, denn sonst kann es zu Überlastung oder struktureller Erschöpfung kommen. Und hier liegt die Krux: Je nach Schwere der traumatischen Belastung, je nach Unterstützung, je nach Resilienz, also der Fähigkeit, selbst mit Belastungen fertigzuwerden, und Dauer des jeweiligen Zustands verfestigen sich Verhaltensmuster, Vermeidungsstrategien und mentale Überzeugungen. Dann wird es manchmal schwierig, diese Muster aufzulösen; zumindest braucht es viel Zeit.
Dennoch ist es zu jedem Zeitpunkt Ihres Lebens möglich, Veränderungen zu erreichen. Natürlich erfordern komplexe Erkrankungen viel Geduld. Niemand wird Ihnen sagen können, wie lange der Weg zum Wohlbefinden bei Ihnen dauern wird und ob sich alle Symptome wirklich restlos regulieren lassen. Aber jeder Moment, den Sie der Regulationsfähigkeit Ihres Nervensystems widmen, wird dem großen Ganzen dienen. Aber man kann es auch andersherum betrachten: Unsere grundsätzliche Fähigkeit, uns in unserem Nervensystem zu regulieren, wirkt an der Entstehung oder eben auch an der Vermeidung von Traumata mit. Unsere Fähigkeit, uns in die Gelassenheit herunterzuregulieren, ist damit maßgeblich an der Ausprägung, aber auch an der Chronifizierung von Traumafolgestörungen beteiligt. Das mag im ersten Moment etwas unplausibel klingen, denn wie kann man durch eigene Regulation etwas verhindern, von dem man nicht einmal weiß, dass es gleich eintreten wird? Aus Gesprächen mit meinen Patienten weiß ich jedoch, dass dem traumatisierenden Ereignis oft eine Situation vorausgegangen ist, die noch nicht vollständig abgeschlossen oder erledigt war. Die Aufmerksamkeit der Betroffenen war noch an etwas Entferntes gebunden und deshalb ihre Präsenz im Hier und Jetzt unzureichend. Es kann schon genügen, in Gedanken noch bei einem gerade geführten Telefonat zu sein, und schwupp, übersieht man die kleine Bordsteinkante. Aus den unterschiedlichsten Gründen befinden wir uns in unserer Gedankenwelt im Da und Dort, und dann geschehen eben kleine oder große Missgeschicke.
Dazu gebe ich Ihnen ein kleines erdachtes Beispiel: Ich bin in Eile, weil ich gleich einen Kollegen erwarte, und möchte noch schnell eine Lampe anbringen. Etwas unkonzentriert und in Hektik steige ich auf eine Leiter. Und während ich da an der Zimmerdecke arbeite, sehe ich aus dem Fenster im Augenwinkel den Kollegen schon über die Straße eilen. Voller Vorfreude steige ich die Leiter hinunter und verfehle vor lauter Eifer die letzte Sprosse. Ich lande auf meinem Allerwertesten und habe die nächsten Wochen mit einer satten Prellung zu tun. Seltsamerweise entstehen einige Tage später Kopfschmerzen. Weil es mir einfach peinlich ist, mein Kollege mich auch ordentlich ausgelacht hat und ich aus meiner eigenen Sicht eindeutig selbst schuld bin, versage ich mir eine Behandlung. Eine Schmerzspirale beginnt ihren jahrelang andauernden Verlauf.
Ich kann mir vorstellen, dass viele von Ihnen solche Begebenheiten aus Ihrem eigenen Lebenslauf schildern könnten. Das einzige mir schlüssig erscheinende Ziel sollte daher das Erlangen einer guten Regulationsfähigkeit und damit Präsenz sein, also die Fähigkeit, sich im Hier und Jetzt entspannt und gleichzeitig achtsam konzentriert im gegenwärtigen Geschehen aufzuhalten.
Die Kenntnis von Traumafolgestörungen und mit ihnen verbundenen Symptomen sickert erst nach und nach in die verschiedenen Therapieschulen und ins Allgemeinwissen der Bevölkerung ein. Schmerzen, Panikattacken, depressive Phasen und andere Leiden treiben ihr Unwesen, kosten Wirtschaftskraft und Lebenszeit sowie Lebensqualität. Und sie hemmen oder blockieren die persönliche Weiterentwicklung. Wie viele dieser Symptome sich in Form von chronischen Erkrankungen zeigen, lässt sich nur erahnen. Jedoch sind laut einem 2020 veröffentlichten Report vom Institut für Allgemeinmedizin in Frankfurt die Hälfte aller über 65-jährigen Deutschen chronisch krank. Angststörungen gehören dabei zu den drei häufigsten Krankheiten (Quelle: Goethe-Universität Frankfurt am Main). Bei den psychischen Erkrankungen ist auch das Phänomen der somatoformen Störungen aufgeführt. Damit sind unwillkürlich und auch wiederholt auftretende körperliche Symptome gemeint, für die sich keine klare und vor allem keine organische Ursache finden lässt. Diese Symptome äußern sich zumeist in wandernden Schmerzen, allgemeiner Erschöpfung oder auch Reizzuständen.
Verpasste Chancen liegen brach, Unzufriedenheit steigt auf, und in der Tiefe des Körpers nimmt der posttraumatische Stress seinen Lauf. Körperliche Anspannung und überschäumende Gefühle finden ihren Ausdruck in Form von Angst, Wut und einer langen Liste weiterer Symptome. Meine Beobachtung und Diagnose: Die genannten Störungen sind derart verbreitet, dass die ganze Gesellschaft, auch unsere deutsche, daran leidet (siehe hier). Die Folgen sind beim Einzelnen Unzufriedenheit, Wut, Neid und Hass. In der Gesellschaft folgen Spaltung, Radikalisierung und Feindschaft, denn wer sich benachteiligt fühlt, nimmt gern die Position des Opfers ein und schiebt die Schuld den anderen in die Schuhe. Es herrscht Ratlosigkeit darüber, woher all die Gewaltbereitschaft rührt, und regulierende Instanzen kommen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.
Wer unter uns mag oder vermag Eigenverantwortung übernehmen und damit einem heilenden Weg folgen? Immer mehr verbreiten sich daher komplementärmedizinische Angebote und Regulations- oder Regenerationsmöglichkeiten. Yogaangebote und moderne Traumatherapien entwickeln sich gefühlt proportional zu den ansteigenden Erkrankungszahlen.
Ich denke, wir streben bei der Heilung von Traumata vor allem die Wiedererlangung von drei grundlegenden Gemütszuständen an – nämlich subjektive Sicherheit, das profunde Gefühl, als ganze Person angenommen zu sein, und die Gewissheit, dass zumindest das Schlimmste überstanden ist. Diese beruhigenden Elemente bringen einen Ausgleich ins Nervensystem, der den Körper an seine Selbstheilungskräfte wieder anbindet. Je mehr Menschen dies gelingt, desto gesünder wird auch die Gesellschaft.
Mein eigener beruflicher Werdegang könnte so oder so ähnlich der persönliche Werdegang jedes Einzelnen von Ihnen sein. Zunächst, in meinem ersten Beruf als Physiotherapeutin, war ich ganz mit den körperlichen Symptomen der Menschen beschäftigt. Dafür war ich ausgebildet. Es ging darum, Schmerzen zu behandeln, Funktionsstörungen zu beseitigen, Menschen wieder in ihrer physischen Gehfähigkeit zu trainieren oder ihr Gleichgewicht zu verbessern. Tolle Aufgaben und Erfolge.
Doch schon nach wenigen Berufsjahren war ich unzufrieden damit, als ausübende Therapeutin ausschließlich auf Verordnung anderer hin arbeiten zu dürfen. Immer mehr habe ich gespürt, dass es mich weiter drängt, dass ich selbst Diagnosen stellen und therapieren wollte, und bin schlussendlich zur Osteopathie gekommen. Jetzt sollte es wirklich auf die tiefe Ursachensuche gehen, denn das ist das Wesen der Osteopathie.
Je mehr ich mich zusammen mit meinen Patienten auf diese Suche begab, desto häufiger stieß ich auf deren ungelöste seelische Konflikte. Die Erzählungen ähnelten sich in einem bestimmten Punkt sehr. Sie enthielten oft die gleiche zentrale Feststellung: Seit dem damaligen Ereignis habe ich Rückenschmerzen. Diese Verknüpfung schälte sich immer offensichtlicher heraus. So gut es ging, habe ich versucht, mit diesen Themen empathisch umzugehen, doch irgendwann kam der Moment der Überforderung, einfaches Zuhören reichte nicht mehr. Mir fehlte das richtige Handwerkszeug, um mit den ungelösten Konflikten und Traumata meiner Patienten besser umgehen zu können.
Ich habe dann an einigen Weiterbildungen für Traumatherapien teilgenommen. Am meisten haben mich das Konzept Somatic Experiencing® von Peter A. Levine sowie NARM® (Neuroaffektives Beziehungsmodell) von Laurence Heller in meiner Tätigkeit beeinflusst, doch auch das Praktizieren und Lehren von Yoga stellt eine sehr wichtige Säule dar.
Manche Patienten sagen zu mir in ihrer ersten osteopathischen Sitzung: »Ich glaube, ich habe ein Trauma.« Ich freue mich über das heute bereits weit fortgeschrittene Bewusstsein dafür in unserer Gesellschaft, und zugleich respektiere ich das Tempo jedes Einzelnen. Nicht jeder muss bereits erkannt haben, was möglicherweise hinter seinen körperlichen Symptomen steckt, und mitunter liegt den körperlichen Beschwerden gar kein Trauma zugrunde, sondern nur eine ungünstige Alltagshaltung. Solche Fragen in heilsamer Art und Weise gemeinsam mit unseren Klienten zu klären ist Aufgabe von uns Therapeuten. Im Zuge meiner Weiterbildungen kam ich schließlich auch mit der Polyvagal-Theorie in Kontakt. Weil für mich so viel Hoffnung in diesen Ansätzen steckt, möchte ich Sie in diesem Buch auf eine heilsame Reise in die Neurophysiologie und Neurobiologie mitnehmen.
SOMATIC EXPERIENCING®
Peter A. Levine, ein Biophysiker und Psychologe aus Kalifornien, gilt als führender Experte in Sachen körperbezogener Traumatherapie. Er entwickelte ab 1969 Somatic Experiencing®, seine Methode zur Regulation und Integration von Traumafolgestörungen. Nach seinem Ansatz ist eine Traumareaktion prinzipiell keine Krankheit oder Störung, sondern eine normale Reaktion des Körpers auf ein außergewöhnlich heftiges Ereignis. Jahrzehntelang erforschte Levine anhand von Tierbeobachtungen die Reaktionen auf verschiedenste Traumata. Heute arbeiten weltweit viele Traumatherapeuten nach seiner Methode. Seine zahlreichen Bücher geben Fachleuten und Klienten Zugang und Wissen über die Methode Somatic Experiencing® und damit über die Traumaphysiologie.
Eine SE®-Therapie findet in Einzelsitzungen statt und läuft folgendermaßen ab: Zunächst geht es um das Herstellen eines sicheren Raumes und einer Vertrauensbasis zwischen Behandler und Klient. Nach einer Phase der Orientierung und Stabilisierung nähert man sich in kleinen Schritten und ganz im Tempo des Klienten dem Traumainhalt. Ziel der Arbeit ist das »Neuverhandeln« unverarbeiteter traumatischer Ereignisse und damit das Ermöglichen einer Eigenermächtigung sowie das Wiederherstellen von Grenzen. Ebenso entstehen ein neues Sicherheitsgefühl und nicht zuletzt Kreativität und Lebenskraft. Als sehr erleichternd empfinden viele Klienten die Tatsache, dass in den Sitzungen nicht tief in das Ursprungsereignis hineingegraben wird, sondern immer nur so viel angesprochen wird, wie jeweils reguliert werden kann.
Das System der Polyvagal-Theorie wurde begründet von Stephen W. Porges, einem Wissenschaftler aus Indiana, USA. Seine Theorie lässt sich am besten auf einem neugierigen Erkundungsgang verstehen. Deshalb ist dieses Buch ein Ratgeber für Anwender, ein Buch für Privatpersonen und gleichermaßen für Menschen, die beruflich in der Interaktion mit Menschen stehen, wie Therapeuten, Pädagogen, Polizisten, Ärzte, Pflegepersonal, Coaches, Einzelhandelskaufleute – einfach für alle, die in ihrem Alltag Menschen begegnen, zielorientiert mit ihnen arbeiten oder sich auch unfreiwillig mit ihnen auseinandersetzen müssen. Es ist ein Buch zum Ausprobieren und Erforschen.
Es ist auch ein Buch für ernsthafte Weltverbesserer. Nach der Lektüre werden Sie mit Sicherheit innerlich ein Stück gewachsen sein. Sie werden die autonomen Reaktionen in Ihrem Nervensystem kennengelernt haben und wissen, wo Sie diesbezüglich stehen. Sie werden spüren und verstehen, warum Sie das eine oder andere Mal vor Scham im Boden versinken, vielleicht manchmal von Unsicherheit beherrscht sind oder kämpfen wie ein heldenhafter Krieger. Sie werden sich und Ihre Mitmenschen mit all ihren Reaktionen und Verhaltensweisen viel besser annehmen können. Vielleicht werden Sie aber auch in all dem bestärkt sein, was sich so richtig wohlig in Ihrem Leben anfühlt. Doch auch in diesem Fall gibt es immer wieder Neues zu lernen. Es geht um inneres Wachstum, mehr Vertrauen und mehr Regulationsfähigkeit im Alltag und damit übergeordnet um unser aller körperliche Gesundheit, aber auch die Gesundheit unserer ganzen Gesellschaft. Je mehr Menschen sich mit dieser Art von Regulation auseinandersetzen, desto angenehmer kann unser gesellschaftliches Zusammenleben werden.
Zudem werden Sie sich selbst in Ihrem Körper besser wahrnehmen und sicherlich mehr Mitgefühl für sich selbst entwickeln können. Sie werden Ihr Verhalten und das der anderen besser einordnen und leichter damit umgehen können. Sie werden lernen, viele Dinge nicht mehr so persönlich zu nehmen und damit in manchen Situationen der deeskalierende Part zu sein – einfach aufgrund der Tatsache, dass Sie verstehen, was im jeweiligen Moment neurophysiologisch gerade geschieht. Vielleicht lösen sich erlebte Ambivalenzen auf, weil Sie nun um das autonome innere Funktionieren der Menschen wissen.
Ich möchte Ihnen Lust machen, einzusteigen in diese Theorie, die mich seit Jahren in der Praxis begleitet und die es mir möglich gemacht hat, zunächst mich selbst, dann aber auch meine Klienten mit ihren Sorgen und Nöten mehr als nur durch das gesprochene Wort zu begreifen. Oft behaupten Menschen, es sei alles okay mit ihnen, obwohl ihr Körper ganz andere Signale sendet. Mithilfe der Polyvagal-Theorie gelingt es mir auf neurophysiologischem Weg, zu verstehen, warum bestimmte Symptome und Verhaltensweisen einerseits überhaupt existieren und andererseits einfach nicht verschwinden wollen, sosehr sich Patient und Therapeut auch bemühen. Doch nicht nur das: Mithilfe dieses Modells – ich traue mich kaum, das zu schreiben – eröffnen sich aufgrund der gut nachvollziehbaren Physiologie fast schon banal anmutende Wege in unserem zwischenmenschlichen Miteinander. Die Inhalte der Polyvagal-Theorie wären gut als Schulfach zu etablieren. Wenn ich in der Praxis mit meinen Klienten über dieses Modell spreche, höre ich oft den Satz: »Das klingt eigentlich total einfach.« Aus meiner Sicht ist es das in der Tat, doch es setzt vor allem zwei Sachen voraus, nämlich neugieriges Wahrnehmen und die Lust, sich mit sich selbst und den anderen auseinanderzusetzen – mit einem Ziel, das wir alle haben sollten: mehr Frieden und Zugewandtheit untereinander. Bewusstsein ist der erste Schritt zur Veränderung.
Packen wir es also an, oder?
Ihre Sandra Hintringer
Die Polyvagal-Theorie ist ein Erklärungsmodell, das Aufbau, Eigenschaften und Funktionsweise des autonomen Nervensystems schlüssig beschreibt. Seit Beginn unseres Daseins als Menschen sind wir unentwegt auf der Suche nach einer sicheren Lebensumgebung und verlässlichen Bindungen. Das autonome, also unwillkürliche Nervensystem ist dabei der wichtigste mitwirkende Teil unseres Körpers. Wie das Wort »autonom« besagt, agiert es ohne unseren Willen, ohne unser aktives Eingreifen oder unsere bewusste Kontrolle und größtenteils unbemerkt. Pausenlos, also Tag und Nacht und unabhängig von unserer Aktivität, ist das autonome Nervensystem für die Aufrechterhaltung unserer Sicherheit tätig.
Um diesen Auftrag zu erfüllen, kann das Nervensystem auf drei mögliche autonome Reaktionsmuster zurückgreifen. Diese stehen in einer Hierarchie und bilden in ihren Funktionen die Entwicklungsgeschichte des Gehirns ab. So gibt es zunächst ein sehr altes System, das man dorsalen Vagus nennt. Dieses ist als Energiesparsystem angelegt, äußert sich durch das Muster Schockstarre oder Totstellen und unterstützt das Überleben in den extremsten Situationen. Bei jedem Neugeborenen ist dieser Anteil bereits voll ausgebildet und funktionsfähig. Das in der Hierarchie folgende System ist der entwicklungsgeschichtlich etwas jüngere Sympathikus. Dieser kann Kräfte zum Durchstehen von Notlagen mobilisieren und löst unser Kampf- oder Fluchtverhalten aus. Der entwicklungsgeschichtlich jüngste und damit dritte Teil in dieser Hierarchie ist der ventrale Vagus. Er steht hinter unserer Fähigkeit, in Kontakt zu treten, Probleme mittels Kommunikation zu lösen und in Verbundenheit zu leben oder aber uns bewusst für einen Rückzug zu entscheiden. In Abhängigkeit von der Reifung des kindlichen Nervensystems übernimmt vorläufig die Mutter diesen regulierenden Part, bis das Kind gelernt hat, sich selbst zu regulieren.
Das autonome Funktionieren unseres Körpers mittels der drei beschriebenen Anteile zu kennen ist besonders wertvoll für das Verstehen der allgemeinen Stressreaktionen und des menschlichen Verhaltens, aber auch hilfreich für die Heilung von Traumata und aus ihnen resultierenden Störungen. Diese Zusammenhänge und das Wissen darum sind auch für das grundlegende kommunikative Miteinander und damit für ein reguliertes gesellschaftliches Leben essenziell und daher nicht allein für Trauma-Betroffene von Interesse. Dass sich die Theorie fortschreitend weltweit durchsetzt, ist sicherlich kein Zufall, sondern vielmehr ihrem richtigen Ansatz zu verdanken und dem Erfolg der darauf fußenden Methode als wirksames Mittel zur Kommunikation und zur Traumaheilung.
Doch die Methode hilft nicht nur im Rahmen der klar umrissenen sogenannten Traumafolgestörungen, sondern auch gegen diverse Erkrankungen, die man ohne Weiteres gar nicht auf ein traumatisches Ereignis zurückführen würde, etwa die schon erwähnten häufigen und vielfältigen Schmerzleiden, unter anderem Kopf-, Rücken oder Gelenkschmerzen. In diesem Zusammenhang zu nennen sind auch internistische und orthopädische Krankheiten wie Bluthochdruck, Magen-Darm-Störungen, Entzündungen oder Arthrosen. Auch die Behandlung von komplexen und oft lebensverändernden Syndromen, also Zuständen, in denen verschiedenste Symptome kombiniert auftreten, profitiert sicherlich von diesem Ansatz. Dazu zählen das chronische Müdigkeitssyndrom, Migräne, Fibromyalgie, Allergien oder auch das Burn-out-Syndrom, um nur einige wenige zu nennen.
Doch betrachten wir zunächst den Ursprung der Polyvagal-Theorie. Erstmalig wurde die Theorie 1994 von ihrem Begründer, dem amerikanischen Wissenschaftler und Professor für Psychiatrie Stephen W. Porges, erwähnt. Porges war selbst überrascht, mit welch durchschlagendem Erfolg er Kliniker besonders aus der Traumaheilkunde mit seinem Ansatz überzeugen konnte. Endlich war schlüssig erklärbar, welche adaptiven körperlichen Reaktionen nach einer Traumatisierung auftreten. Damit wurde zugleich die stete Suche nach Sicherheit und Überleben als begründetes Lebensziel aller Lebewesen deutlich. Später werde ich genauer auf die einzelnen und vielfältigen Funktionen der drei autonomen Zustände eingehen und auch darauf, wie wir uns die Polyvagal-Theorie zunutze machen können, um regulatorisch Einfluss zu nehmen.
Ursprünglich, also bevor Porges seine Theorie erarbeitete, war man davon ausgegangen, dass unser autonomes Nervensystem aus dem Antreiber Sympathikus und seinem beruhigenden Gegenspieler besteht, dem Parasympathikus. Ein Großteil des parasympathischen Systems wiederum besteht aus dem Vagusnerv. Hier beginnt die eigentliche Geschichte der Polyvagal-Theorie, denn Stephen W. Porges fand heraus, dass es nicht nur den einen Vagusnerv, sondern vielmehr das autonome Reaktionssystem eines ventralen, also vorderen, und das System eines dorsalen, also hinteren Vagusastes gibt. Obwohl beide als parasympathische, also beruhigende, Systeme gelten, könnten ihre Funktionen unterschiedlicher nicht sein. Der vordere Vagusast hält uns in gesunder, verbundener Lebensenergie, während der hintere Schockzustände und Ohnmachten auslöst und damit vermeintlich oder wirklich lebensbedrohliche Zustände verarbeitet. Abspaltung und Rückzug sind charakteristisch für das Reaktionsmuster des hinteren Vagus.
Hier wird der Begriff polyvagal plausibel, denn er setzt sich zusammen aus dem griechischen poly (»viele«, also mehr als einer) und dem lateinischen vagal (»umherschweifend«, von dem Verb vagari abgeleitet). Im Zusammenhang mit dem Nervus vagus bedeutet er also »der umherschweifende Nerv«.
Doch wie kam Stephen W. Porges auf diesen Zusammenhang? Eigentlich interessierte er sich als Wissenschaftler bis dahin nicht direkt für klinische Prozesse, also die Untersuchung und Behandlung von Patienten mit spezifischen Symptomen. Ursprünglich widmete er sich der Forschung rund um die Geburtshilfe. Er ging davon aus, dass starke Aktivierung im System des Vagusnervs gleichbedeutend mit guter Gesundheit sei. Doch dann kam ein entscheidender Hinweis: Es meldete sich ein Kinderarzt, der beobachtet hatte, dass starke Aktivität im Vagus-System mit einem Absinken der Herzfrequenz einhergeht, die wiederum für die Sterblichkeit vor allem von Frühgeborenen verantwortlich gemacht wird. Dieses Phänomen wurde als Vagus-Paradox beschrieben und veranlasste Porges, intensiver zu forschen. Letztendlich stieß er dabei auf die zwei unterschiedlichen Vagus-Systeme. Später beobachtete und belegte er in Studien, dass es einen Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und einer Schwächung des ventralen Vagus-Systems gibt. Er machte dies an einigen regelmäßig vorkommenden Symptomen fest. Dazu gehören zum Beispiel eine Überempfindlichkeit des Gehörs oder die Unfähigkeit, Blickkontakt herzustellen oder zu halten.
Doch was von alledem lässt sich nun in unserem Alltag gesundheitsfördernd nutzen? Ich fasse zusammen: Die Polyvagal-Theorie unterscheidet drei autonome physiologische Modi oder Zustände, die ventraler Vagus, Sympathikus und dorsaler Vagus hervorrufen. Diese als Anpassungsmechanismen bezeichneten Körperzustände rufen verschiedene körperliche Fähigkeiten ab und bewirken jeweils typische Verhaltensmuster. Ebenso wird jeder dieser Mechanismen durch unterschiedliche anatomische Zusammenhänge repräsentiert. Die Theorie beschreibt auch, dass die drei Reaktionsmuster hierarchisch funktionieren. Schnelle Wechsel zwischen den drei autonomen Zuständen gehören zur normalen Physis des Menschen und aller anderen Wirbeltiere. Ein Steckenbleiben in einem dieser Muster stellt jedoch die Abweichung von der Norm und damit einen Nährboden für Krankheiten dar.
Das übergeordnete Ziel ist immer das Überleben und Wiedererlangen sowie Erhalten von Sicherheit. Das Erkennen des jeweiligen Zustands und der anatomische Zusammenhang führen uns zu einer Reihe von schlüssigen, für den jeweiligen Zustand konzipierten Übungen in Teil 3, mit denen Sie Ihren Körper beim Wechsel zum jeweils günstigeren oder höher entwickelten autonomen Zustand unterstützen können. Doch bevor wir so weit sind, lohnt es sich, einen Blick auf die Funktionsweise der autonomen Hierarchie zu werfen.