Ein großer Entertainer, ein großes Leben, berührende Zeitgeschichte

Seit bald 50 Jahren begeistert Roland Kaiser seine Fans – dabei war es Zufall, dass er zur Musik kam. Wie in einem Liebeslied ans Leben erzählt er in seiner ersten umfassenden Autobiographie von Jahren, in denen wenig selbstverständlich war, in denen es viele unerwartete Wendungen gab, Krisen und großartige Glücksmomente. Er erzählt von Menschen und Ereignissen, die ihn geprägt haben: seiner Pflegemutter, einer einfachen, liebevollen und gradlinigen Frau, die ihn im Berlin der Nachkriegszeit aufzog und starb, als er gerade 15 Jahre alt war; der Teilung der Stadt durch den Bau der Mauer; den Wurzeln seines sozialen Engagements und seiner politischen Überzeugungen; den Menschen, die ihn auf seinem künstlerischen Weg begleitet haben; seiner großen Liebe …

Ungewöhnlich offen, aufrichtig, selbstkritisch, humorvoll – und voller Dankbarkeit für ein Leben, das ihn auch aus dunkelsten Phasen immer wieder auf die Sonnenseite führte.

Die Grundlage für die in diesem Buch enthaltenen Dialoge sind die Erinnerungen von Roland Kaiser. Die Gespräche sind sinngemäß wiedergegeben. Ein Anspruch auf wörtliche Übereinstimmung mit tatsächlich stattgefundenen Dialogen wird nicht erhoben.

Zum Schutz Einzelner, die nicht Personen des öffentlichen Lebens oder Mitglieder der Familie sind, wurden einige Namen anonymisiert.

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Originalausgabe 2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heike Virchow, Textpertise

Beratung: André Selleneit

Umschlaggestaltung: Georg Babetzky, punktdesign, Münster

Umschlagfoto: Paul Schirnhofer

Bildredaktion: Susanne Harecker, Sabine Kestler, Tanja Zielezniak

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27700-0
V002

www.heyne.de

Inhalt

Back to LIVE

Im Wedding

In the Ghetto oder: Wie alles anfing

Hitjahre

Reifezeit

Auf Leben und Tod

Ein zweites Leben

Back to LIVE

Danksagung

Anhang

Quellenverzeichnis

Abdruckgenehmigungen

Bildnachweis

Für Silvia,

Hendrik, Tim, Jan und Annalena

Back to LIVE

Es ist 19.28 Uhr.

Der Himmel draußen ist fast wolkenlos, und das klare Blau des Tages wird langsam grau. Ich höre Schritte, Stimmen, manchmal ein Lachen, ab und zu pfeift jemand.

Um 19.35 Uhr gehst du raus, sagt Sandra, spätestens um 19.40 Uhr.

Wir werden also mit Verspätung beginnen. Dabei bin ich gern pünktlich. Doch die Regeln heute Abend sind streng. Der Einlass muss beendet, alle müssen auf ihren Plätzen sein, kein Herumlaufen, kein Alkohol, und natürlich gilt das Abstands- und Maskengebot, überall haben sich Ordner in Warnwesten positioniert.

Die Stimmen auf der anderen Seite des Vorhangs werden ungeduldiger, hier und da ruft jemand. Die Akustik in der Berliner Waldbühne ist sehr klar, weil sie wie ein antikes Theater in einen Talkessel hineingebaut wurde. Im Halbrund ziehen sich die steinernen Ränge den steilen Hang hinauf. Während der Olympischen Spiele 1936 fanden hier die Wettkämpfe im Geräteturnen statt. Ungefähr dort, wo heute die Ton- und Lichttechniker sitzen, war damals die Führerloge. Außerdem gibt es einen unterirdischen Gang, der in den Backstage-Bereich hinter der Bühne führt. Der Gang ist nicht besonders breit, aber ziemlich lang und verwinkelt. Damit man darin niemanden hinterrücks erschießen kann, heißt es. Der wahre Grund ist banaler und hat vor allem mit der Streckenführung zu tun. Ich bin durch diesen Tunnel in den Backstage-Bereich gelaufen, weil ich gern ungesehen auf die Bühne gehe. Wer schießt schon auf einen Unterhaltungskünstler?

Draußen beginnt das Publikum, rhythmisch zu klatschen. Mehr als 22 000 Menschen passen in die Waldbühne, 4500 Karten durften ausgegeben werden; für das erste Konzert am Vortag waren sie innerhalb von 24 Stunden ausverkauft. Ein halbes Jahr nach Beginn des Lockdowns im März 2020 wird die Waldbühne wieder eröffnet – die ersten großen Open-Air-Konzerte seit Ausbruch der Pandemie –, und die Menschen sehnen sich nach Unterhaltung und Kultur. Beides ist eben kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis, gerade in Krisen. Das haben wir in den vergangenen Monaten eindrücklich erlebt. Die Leute wollen endlich wieder Musik hören, sie wollen lachen, singen, tanzen, sie wollen besondere Momente erleben und sie mit anderen teilen, zumindest im Rahmen des Möglichen. Wochenlang haben sich der Konzertveranstalter und die Verantwortlichen der Waldbühne im Vorfeld mit dem Gesundheitsamt abgestimmt. Das Hygiene- und Infektionsschutzkonzept umfasst 27 Seiten und definiert Schutzmaßnahmen, Regeln und Abstände. Es bestimmt, wer wo und neben wem sitzen darf und wer nicht; es bestimmt, wie An- und Abreise, Ein- und Auslass, Produktion, Technik und Catering zu managen sind. Außerdem wurden die Eintrittskarten personalisiert, am Eingang ist der Personalausweis vorzuzeigen. Der Katalog ist umfangreich und dezidiert, und natürlich appellieren die Verantwortlichen auch an das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen. Anders geht es gar nicht.

19.32 Uhr. Sandra bekommt über Funk eine Nachricht. Und nickt. Der Einlass ist beendet, sagt sie, wir können anfangen. Draußen – als hätten die Leute ihre Worte auch gehört – steigert sich der Jubel. Ich höre die Freude der Fans und freue mich mit ihnen, meine Begeisterung wächst mit dem Pegel ihrer Begeisterung: endlich wieder auftreten, endlich wieder live spielen! Ein Livekonzert ist etwas Besonderes – diese Nähe, diese Lebendigkeit, diese Unmittelbarkeit! Die Überraschung, wenn ein bekannter Song plötzlich anders arrangiert ist. Das Glück, in den Klang einzutauchen, der uns alle umgibt, ins Licht, in diese aufgeladene Atmosphäre. Das gemeinsame Erleben eines einzigartigen Augenblicks, dieses Wir-Gefühl, das glücklicher macht als irgendwelche Besitztümer. Als ich gestern Abend mit der Band auf die Bühne kam, hielten die Fans ein Transparent hoch: Wir haben euch so vermisst! Wir waren gerührt. Auch die Band und ich hatten einander monatelang nicht gesehen, hatten monatelang nicht miteinander gespielt. Es wurde ein sehr bewegender Abend. Die Luft flirrte und funkelte vor geteilter Freude. Alle spürten: Es ist höchste Zeit, auf die Bühne zurückzukehren.

Die Künstlerinnen und Künstler waren die Ersten, die es traf. Über Nacht verloren sie ihre Jobs. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich kritisiere den Lockdown nicht. Ich finde, Bund und Länder haben gut reagiert, sie haben rasch und mit Maß gehandelt in einer Zeit, in der man nicht viel über das Virus wusste. Doch auf Dauer können wir auf Kultur und Unterhaltung nicht verzichten, und die Menschen brauchen wieder eine Perspektive. Das Publikum braucht sie – und die Kunstschaffenden, die Veranstalter, die Tour- und Technikteams, die Catering-Crews und Booking-Agenturen brauchen sie. Genau wie Filmemacher, Autorinnen, Schauspieler, Bühnenbauerinnen, Masken- und Kostümbildner, Kameramänner und Tontechnikerinnen, Museumsleute und Clubbetreiber. Für viele geht es ums schiere Überleben. Darum wollen wir mit diesen beiden Back to LIVE-Konzerten ein Signal setzen und den politisch Verantwortlichen sagen: Bitte gebt auch der Kultur- und Veranstaltungsbranche, den großen und kleinen Firmen und den vielen Soloselbstständigen wieder die Chance, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gebt ihnen die Möglichkeit, in einem epidemiologisch und ökonomisch vertretbaren Rahmen Konzerte zu spielen und Theater zu machen, Filme, Kabarett, Ausstellungen, Performances. Sonst gehen in der Unterhaltungsindustrie sehr viele Unternehmen in Konkurs. Und an jeder Pleite hängen Existenzen, Menschen, Familien.

19.34 Uhr. Meine Frau prüft den Sitz meiner Krawatte. Silvias Blick entgeht nichts. Für heute hat sie zwei Dreiteiler mitgebracht, einen hellen und einen dunkleren, falls es doch regnen sollte. Silvia achtet akribisch auf Details, dokumentiert die Farbe meiner Anzüge, die Krawatten, Einstecktücher, Manschettenknöpfe (für heute hat sie die mit dem Berliner Bären ausgewählt). Sie bewahrt mich sozusagen davor, zweimal hintereinander im selben Kleid zur Party zu gehen. Ich bin froh über ihre Unterstützung. Höflichkeit und Respekt sind mir wichtig – und wenn sich meine Fans auf einen Konzertabend vorbereiten, gebe ich mir mindestens ebenso viel Mühe.

19.35 Uhr. Gitarrist, Bassist, Drummer, Geigerinnen, Bratschistin, Cellistin, Keyboarder, Pianist und die Sängerinnen – alle haben sich inzwischen verkabelt und ihre Monitoring-Kopfhörer in die Ohren gestöpselt. Alle tragen Schwarz. Alle tragen Masken. Und weil auch wir hinter und auf der Bühne Abstand halten müssen, stellen sie sich mit Abstand zum Es-geht-los-Ritual auf, strecken ihre Hände aus und lassen sie mit einem anschwellenden Ohhhhhhhhh! in die Luft steigen, wie Fußballer in der Kabine vor dem entscheidenden Spiel.

Das Medienecho nach dem ersten Konzert am Vortag war überwältigend: Bild-Zeitung und Süddeutsche haben berichtet, FAZ und Hürriyet, dpa, Tagesspiegel und BZ, Stern und Bunte, ARD, ZDF und etliche Privatsender und natürlich die sozialen Medien. Er sei schon bei sehr, sehr vielen Konzerten gewesen, schrieb ein Kommentator, doch keines habe ihn so berührt. Er habe die 4499 anderen Anwesenden nicht gekannt und doch jeden Einzelnen vermisst: Corona zeige uns, wie sehr Menschen andere Menschen brauchen.

19.37 Uhr. Der Monitortechniker prüft noch einmal meine Verkabelung, das Beltpack an meinem Gürtel. Draußen verschwindet das letzte Licht des Tages. Es ist immer etwas Besonderes, im Dunklen auf die Bühne zu gehen – für die Band, für mich und auch für das Publikum.

19.38 Uhr. Früher wäre ich in so einem Moment noch einmal meine Moderationen durchgegangen. Ich hatte immer Lampenfieber. Heute, in meinem zweiten Leben, denke ich: Was soll mir noch passieren? Ich nehme meinen Job ernst, meine Fans, ich gebe mein Bestes – wenn trotzdem mal was schiefgeht, ist das nicht das Ende der Welt. Im Gegenteil: Manchmal entsteht sogar etwas Neues, etwas, das ich mir nicht hätte ausdenken können.

19.39 Uhr. Die Maskenbildnerin tupft mit einem Tuch über meine Stirn. Silvia fährt mir mit der Fusselrolle übers Revers. Viviane, die seit vielen Jahren meine Buchungen koordiniert und die Konzerte betreut, nickt mir zu. Dieter, mein alter Freund und Wegbegleiter, reckt beide Daumen in die Höhe und ruft: Toi, toi, toi!

Sandra nimmt den schweren, schwarzen Vorhang ein Stück beiseite. Draußen begrüßt eine Stimme über die riesigen Bühnenlautsprecher das Publikum. Sie weist noch einmal ausdrücklich auf sämtliche Corona-Hygienevorschriften hin. Und schließlich, endlich sagt sie: Wir wünschen euch viel Spaß! In den Jubel mischen sich die ersten Takte von Ich glaub, es geht schon wieder los, und im nächsten Moment erfüllt unser Opening die Waldbühne. Die Fans singen mit, sie klatschen im Takt.

19.40 Uhr. Die Musiker drängen sich hinter dem Vorhang. Ich sage: We can go! und hebe den Daumen in Sandras Richtung.

Stopp, ruft der Produktionsleiter.

Alle verharren, wie Autos, die synchron eine Vollbremsung machen.

Sandra fragt über Funk, was los ist. Jörg, mein Gitarrist, hört über seine Kopfhörer, dass es ein Softwareproblem gibt und die Tontechniker die Computer neu hochfahren müssen. Der Drummer lacht. Die Sängerinnen gehen auf und ab. Die Geigerinnen gehen auf und ab. Die Bratschistin, der Bassist, der Pianist, der Keyboarder, alle warten. Und Sandra lässt niemanden aus den Augen. Yvonne tupft über meine Stirn, Silvia zupft den Saum meines Sakkos zurecht. Still stehe ich da. Sandra wartet auf die entscheidende Ansage – und schließlich nickt sie und nimmt den Vorhang zum zweiten Mal beiseite. Die Band läuft auf die Bühne, und sofort brandet wilder Applaus los, die Lightshow beginnt, das Keyboard setzt ein, es spielt die ersten Takte von Kurios, und im nächsten Augenblick setzen die Gitarren ein, die Drums treiben, die Bässe wummern, und Sandra hält immer noch den Vorhang auf und fragt: Möchtest du von links oder rechts kommen? Ich sage »von rechts« und gehe einen Schritt vor, leise wippe ich mit dem Fuß im Takt, warte auf meinen Einsatz, mache noch einen Schritt, atme ein, atme aus, schaue kurz in den dunklen Himmel, warte noch einen winzigen Augenblick.

Und gehe hinaus.

Back to LIVE-Konzert in der Berliner Waldbühne (2020)

Der Berliner Wedding

Mit meiner Pflegemutter (ca. 1954)

Im Wedding

»Steh auf, Ronald.«

Eine Hand strich über mein Haar.

»Steh auf, Junge, wir müssen los.«

Ich blinzelte. Im Dunkel des Zimmers zeichneten sich die Umrisse der Möbel ab – lauter vertraute Gestalten, die auf den Morgen warteten: die behäbige Vitrine, der schmalbrüstige Tisch, die Stühle, die alle unterschiedlich aussahen, als käme jeder aus einer anderen Familie. Dahinter schmal und hoch die Tür, die zu dem Zimmer führte, in dem Tante Gertrud wohnte.

»Ich schmier dir eine Stulle«, sagte meine Mutter, die Stimme gedämpft, um die Tante nicht zu wecken. Dann strich sie mir noch einmal übers Haar, versicherte sich, dass ich wirklich wach war, und ging in die Küche.

Schlaftrunken schob ich die Beine unter der Decke hervor. Es war kühl, der Ofen noch nicht eingeheizt. Im Winter, wenn es richtig kalt wurde, wickelte meine Mutter abends einen Backstein, den sie zuvor auf den Herd gelegt hatte, in Zeitungspapier und schob ihn unter meine Bettdecke, damit er mich wärmte. Doch es war erst Oktober. Vorsichtig tasteten meine Füße über den Fußboden. Ich nahm meine Hose von der Stuhllehne, schlüpfte in den Pullover und folgte meiner Mutter in die Küche. Sie hatte schon Wasser in die Schüssel gefüllt, und ich wusch mein Gesicht, putzte die Zähne. Dann nahm ich den Schlüssel und lief die halbe Treppe hinab zur Toilette.

Als ich zurückkam, stand ein Teller mit einem Margarinebrot auf dem Tisch und ein Glas Milch. Meine Mutter wärmte sich die Hände an ihrer Kaffeetasse; sie trank so früh nur Muckefuck und frühstückte erst, wenn wir zurückkamen. In ihrem Haar saßen noch, in ordentlichen Reihen, die Lockenwickler. Doch sie war bereits fix und fertig angezogen.

Ich biss in meine Stulle. Im Haus war es still. Ab und zu hörte ich hinter der Wand ein Schnarchen von Tante Gertrud. Tante Gertrud war zehn Jahre älter als Mutter und konnte kaum gehen, sie sah schlecht und trug eine Brille mit Gläsern dick wie die Finger des Fleischers in der Müllerstraße, bei dem ich manchmal eine Gewürzgurke für einen Groschen kaufte. Meine Mutter trug auch eine Brille, doch ihre Gläser waren nicht dick, und auch sonst war sie ganz anders als Tante Gertrud: flink und gesund und stets in Bewegung. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen konnte, lauschte ich Tante Gertruds Schnarchen, ein langgezogenes quietschendes Einatmen, dann ein knarzendes Ausatmen, als würde jemand eine alte Tür in einem verfallenen Schloss öffnen. Jedenfalls stellte ich mir vor, dass in verfallenen Schlössern jede Menge Türen quietschten und knarzten.

Kurz nach halb fünf brachen wir auf. Die Luft war feucht und der Himmel kaum von den grauen Straßen, den grauen Mietshäusern zu unterscheiden. Es roch nach kaltem Rauch und ein bisschen nach Müll. Die Schaufenster der Geschäfte waren dunkel, die vertrauten Straßen schliefen. Auf den bunten Blättern der wenigen Bäume glänzte Reif. Wir liefen zur Müllerstraße, zur Abholstation, wo wir die Zeitungen in den Handkarren luden, den meine Mutter vor sich herschob. Unser Revier war der Sprengelkiez im östlichen Wedding. Hier kannte ich mich aus. Mit meinen Freunden – wir waren die Burgsdorfstraßenbande – streifte ich hier jeden Tag umher. Wir fuhren Rollschuh, spielten Eishockey mit Stöcken, manchmal liefen wir zum Kuhstall am Ende der Lynarstraße am Nordufer des Kanals und spielten Autoquartett. Oder zum Tante-Emma-Laden gleich um die Ecke in der Willdenowstraße, wo die Verkäuferin in einer weißen Schürze Milch in die klappernden Kannen pumpte, mit denen die Frauen aus der Nachbarschaft zu ihr kamen. Wenn ich für meine Mutter Milch einkaufte, Käse oder Quark fürs Sonntagsessen (Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl), bekam ich dort oft ein Bonbon. Im Sommer spielten wir an der Wasserpumpe vor der Bäckerei, wo auch der Pferdewagen hielt, hängten uns an den eisernen Schwengel, zogen ihn herunter, sodass das Wasser aufs heiße Pflaster klatschte, wir liefen mit nackten Füßen durch die kühlen Pfützen, und jeder versuchte, den Kopf länger unter den eisigen Schwall zu halten als die anderen.

Wir waren acht Jungs, eine verschworene Gemeinschaft, und sobald die Bande aus der Müllerstraße kam oder vom Lausepark oder auch nur die von der anderen Straßenseite, gab’s was auf die Mütze. Man spazierte nicht einfach durch das Revier einer anderen Bande. Es galten Regeln. Wir hielten zusammen, komme, was wolle, wir waren dickste Freunde. Und weil wir Freunde waren und zusammenhielten, konnten wir uns gut behaupten; nur manchmal bekamen auch wir Prügel, wenn wir auf unseren Rollschuhen durch ein fremdes Revier jagten. Mädchen durften in unserer Bande nicht mitmachen. Mädchen spielten mit Puppen oder Himmel und Hölle oder Gummihopse. Banden waren Jungssache.

An der Ecke Triftstraße hielt meine Mutter. »Schmidtke, dritter Stock«, sagte sie und gab mir eine Morgenpost. Ich flitzte die Treppen hinauf, während sie bei Grabowski im Parterre ein Exemplar durch den Türschlitz schob. Als ich die Treppen wieder hinunterspurtete, lief sie bereits zum nächsten Haus.

Bald wurde mir warm unter meiner Jacke. Doch die Luft war immer noch kühl, und wenn ich heftig ausatmete, konnte ich sehen, wie mein Atem weiße Wölkchen bildete. Mit unserem Karren liefen wir am Lebensmittelladen vorbei, an der Heißmangel, an dem Zigarettengeschäft, über dem noch ein Schild von vor dem Krieg hing, mit Buchstaben, die ich nicht lesen konnte. Das ist Fraktur, sagte meine Mutter und las mir vor: Cigarren & Cigaretten. Sie selbst rauchte nicht, aber viele meiner Tanten und alle meine Onkel. Eigentlich rauchten alle Erwachsenen. Meine Mutter scherte sich nicht darum. Zigaretten schmeckten ihr nicht. Sie war, so sehe ich es heute, eine sehr gradlinige Frau. Bodenständig, bescheiden und mit klaren Vorstellungen davon, was gut und schlecht, was recht und unrecht war. Sie arbeitete beim Deutschen Gewerkschaftsbund als Putzfrau, und später, als ich schon zur Schule ging, putzte sie bei der SPD im Kurt-Schumacher-Haus, das 1961 in der Müllerstraße/Ecke Burgsdorfstraße eingeweiht wurde. Sie verdiente 480 D-Mark im Monat. Ende der 1950er-Jahre herrschte nahezu Vollbeschäftigung, und das sogenannte Wirtschaftswunder sorgte dafür, dass der Lebensstandard stieg, doch in vielen Haushalten lebte man noch ziemlich bescheiden, vor allem im Wedding. Der sogenannte Rote Wedding war schon immer ein Arbeiterkiez gewesen, ein Viertel der einfachen Leute.

Eines Tages hatte meine Mutter beschlossen, dass wir zwei neue Couches brauchten; die, die wir abends ausklappten und auf denen wir schliefen, fielen auseinander. Außerdem wollte sie uns im Winter warme Stiefel kaufen, mir ab und zu ein Geschenk machen, und sie selbst wünschte sich eine Musiktruhe mit Radio und Schallplattenspieler. Also suchte sie sich einen Zweitjob und wurde Zeitungsausträgerin bei der Berliner Morgenpost. Die Morgenpost war während der Weimarer Republik die auflagenstärkste Tageszeitung gewesen, wegen ihrer unabhängigen Berichterstattung, auch während des Krieges wurde sie viel gelesen. Doch 1945 verbot der Alliierte Kontrollrat alle deutschen Zeitungen, und erst 1952, im Jahr meiner Geburt, wurde die Berliner Morgenpost wieder gegründet. Sonntags stand meine Mutter nun um vier Uhr auf. Es machte ihr nichts aus, sie war Frühaufsteherin, auch unter der Woche ging sie gegen fünf Uhr zur Arbeit. »Ich verdiene uns ein bisschen was dazu«, sagte sie in ihrer schnörkellosen Art. Und dann fragte sie, ob ich ihr helfen würde. Ohne zu zögern sagte ich Ja. Schließlich war ich schon sieben. Andere Kinder holten für ihre Väter Bier oder Zigaretten, manche halfen beim Kohlenschleppen. Holte meine Mutter Kohlen aus dem Keller, sagte sie jedes Mal, während sie die Briketts in ihrer Kiepe stapelte und sich auf den Rücken lud: »Dazu bist du noch zu klein.« Zum Zeitungen-Austragen war ich nicht zu klein, und das machte mich stolz. Außerdem fand ich die Aussicht, im Dunklen durch die Stadt zu laufen, höchst spannend. Mit meinen Freunden durfte ich um diese Zeit nicht auf die Straße.

»Schulze, vierter Stock.« Meine Mutter reichte mir zwei zusammengefaltete Zeitungen. »Die andere steckst du bei Hanke im zweiten rein.« Die Zeitungen rochen nach Blei und Druckerschwärze. Ich mochte den Geruch und nahm das Bündel und spurtete los. Mutter marschierte weiter zum nächsten Haus. Sie war gut zu Fuß, am Wochenende schnappte sie ihren Rucksack und mich, und dann wanderten wir durch die Berliner Wälder. Das Wandern mochte ich nicht, doch unsere Touren durch den schlafenden Wedding liebte ich. Ich sah die dunklen Fenster der Mietshäuser, die düsteren Fassaden, manche noch immer voller Einschusslöcher. Ich sah die Baustellen, auf denen tagsüber die Arbeiter schufteten und die jetzt verlassen dalagen. Die Straßen, sonst voller Leben, waren vollkommen leer, nur hier und da ein Karren am Straßenrand, ein parkendes Auto (ein Lloyd 300 – der Leukoplastbomber –, ein VW Käfer mit Brezelfenster, manchmal auch ein Ford Taunus 12M, ich kannte mich aus). Ich sah die Pumpe vor der Bäckerei, schwarz und schemenhaft, ich hörte die Stille der schlafenden Menschen. Die Stadt war so anders als während des Tages, so fremd und voller Geheimnisse.

Irgendwann erloschen die Straßenlaternen. Vereinzelt schimmerte mattes Licht hinter einem Fenster auf. Ich hörte, wie es in den Gullys zu gurgeln begann, hörte, wie in der Ferne das leise Rauschen der Stadt einsetzte. Ich roch den Duft frischer Schrippen. Ich erlebte, wie Berlin langsam erwachte.

»Makowski, vierter Stock. Und die hier …«, Mutter sah auf ihre Liste, »die sind neu: Rehbein, zweites Hinterhaus.« Ich spurtete los. Flitzte mühelos die Stockwerke hinauf und hinunter, ins Vorderhaus, ins Hinterhaus, in den rechten Seitenflügel, in den linken Seitenflügel. Obwohl Mutter gut zu Fuß war, fielen ihr die vielen Treppen nicht leicht. Sie war schließlich schon 57.

An der Torfstraße bogen wir ab und liefen zur Sprengelstraße. Wir liefen die Tegeler Straße entlang, die Kiautschoustraße und über die Fennstraße wieder zur Müllerstraße. Überall steckten wir Zeitungen in Briefkästen und Türschlitze; die Morgenpost war noch immer sehr beliebt. Gegen Ende unserer Tour war der Wedding wach, und überall krähten Kinder, Frauen stritten mit ihren Männern, Fahrräder klapperten übers Pflaster, und irgendwo spielte immer ein Radio.

Zu Hause wartete Tante Gertrud schon auf uns. Meine Mutter schnitt Brot auf, holte Dauerwurst und Käse aus der Speisekammer, gab Haferflocken für mich in eine Schüssel und goss frische Milch dazu, und als auf dem Herd langsam das Wasser zu brodeln begann, löffelte sie Caro-Kaffee in die Emaillekanne – und während sie all das tat, saß ich auf meinem Stuhl, sah ihr zu und kuschelte mich tief in die Behaglichkeit unseres Sonntagsfrühstücks.

Fasching mit den Cousinen Helga und Regina und Cousin Wolfgang (ca. 1960)

Ella Oertel war nicht meine leibliche Mutter.

Die hatte mich am 10. Mai 1952 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin-Wedding zur Welt gebracht und vier Wochen später vor dem Paul-Gerhardt-Stift in der Müllerstraße abgelegt. Sie war siebzehn Jahre alt und wusste mit einem Kind, einem unehelichen noch dazu, nichts anzufangen. Die Diakonissen fanden mich vor dem Haupteingang und brachten mich ins Waisenhaus.

Dort holte mich ein paar Wochen später Ella Oertel. Das Jugendamt hatte ihr schon öfter Pflegekinder vermittelt, beispielsweise wenn deren Mütter ins Krankenhaus mussten. Für ein paar Tage oder Wochen nahm sie die Jungen und Mädchen bei sich auf. Doch sie wünschte sich ein Kind, das immer bei ihr lebte, das sie großziehen konnte. Wie viele Frauen in der Nachkriegszeit war sie alleinstehend, und soweit ich weiß, war sie auch nie verheiratet gewesen. Als Alleinstehende durfte sie mich nicht adoptieren. Doch das Jugendamt bot ihr an, mich als Pflegekind auf Dauer zu sich zu nehmen.

Nicht nur für sie, auch für mich war das ein Glück.

Wir lebten in einer Zweizimmerwohnung in der Burgsdorfstraße 2, im Hinterhaus, im rechten Seitenflügel. Das Haus war ein Altbau, wahrscheinlich aus der Gründerzeit, es war grau, und der Putz blätterte ab wie an vielen Häusern im Wedding. Die beiden Zimmer lagen hintereinander, das vordere teilten meine Mutter und ich, im hinteren lebte Tante Gertrud. Außerdem gab es eine Küche mit Herd, Speisekammer und fließend kaltem Wasser. Obwohl die Wohnung im dritten Stock lag, fiel nicht viel Licht herein. Im Sommer war es angenehm kühl, im Winter wärmten die Mauern, doch waren die Wände meist etwas klamm, und es roch ein bisschen muffig. Im Grunde bestand unser Haus aus vier Häusern: dem Vorderhaus, dem Hinterhaus und den beiden Seitenflügeln. Über hundert Leute lebten hier, darunter viele Kinder. Ein Hausmeisterpaar sorgte für Ordnung. Walter war ein seltsamer Mann, klein und dünn wie ein Strich, er sprach kaum und ging mit hängenden Schultern durch den Tag. Er fegte, räumte auf und reparierte. Er tat, was seine Frau ihm sagte. Edith war das exakte Gegenteil: kräftig, laut und forsch. Immer in Kittelschürze und immer mit einer Zigarette im Mund. Sie berlinerte so heftig wie niemand sonst, den ich kannte. Und im Wedding sprach eigentlich niemand lupenreines Hochdeutsch. Erwischte Edith uns, wenn wir im Innenhof an der Teppichstange herumturnten, schnauzte sie los: »Haut ab, oda et jibbt ’nen Satz warme Oahrn!«

Erwischte sie uns, wenn wir Ball spielten, schwang sie ihren Besen, den Teppichklopfer oder was sie gerade zur Hand hatte und rief: »Ick sach euern Eltern Bescheid, dann jibbt’s aba watt uff’n Arsch!«

Walter rief uns nie zur Ordnung, dazu fehlte ihm der Mut. Edith dagegen zögerte keine Sekunde. Das Gute war jedoch, dass sie sich, so schnell wie sie auf hundertachtzig war, auch wieder beruhigte. Erfüllten wir ihre Forderungen und trollten uns, war sie versöhnt. Sie war weder nachtragend noch gemein. Sie hatte einfach eine typische Berliner Schnauze. Ja, ein Klischee, aber manchmal eben auch wahr.

Wenn ich heute daran denke, wie Walter wie ein geprügelter Hund neben Edith herlief, frage ich mich manchmal, was ihn so hat werden lassen.

Im linken Seitenflügel, uns gegenüber, aber im ersten statt im dritten Stock, wohnte Mutters jüngere Schwester mit ihren drei Kindern; Tante Erna war Witwe. Die jüngste Oertel-Schwester, Elisabeth, war ans obere Ende der Müllerstraße gezogen, dorthin, wo schon die besseren Leute wohnten. Tante Lisbeth hatte gut geheiratet und hatte eine Wohnung mit Balkon und eine Badewanne, sie besaß sogar ein Telefon. Unsere Badewanne stand auf dem Dachboden, in der Waschküche. Es gab einen Plan, der genau festlegte, welche Parteien die Waschküche wann nutzen durften, und Edith, die Hausmeisterin, wachte darüber. Immer freitags waren wir dran. Nach der Wäsche setzte meine Mutter mich in die Zinkwanne neben der Mangel, und zwischen Leinen voller Laken schrubbte sie mich mit einer Bürste und lauwarmer Seifenlauge. Anschließend aßen wir Schrippen mit Hackepeter und Zwiebeln; auch Schrippen gab es nur freitags. Es fehlte mir an nichts. Ich hatte meine Freunde, deren Eltern auch nicht reicher waren, ich hatte meinen Kiez, ich hatte meine Mutter.

Meine Welt war in Ordnung.

Ronald Keiler (1960)

Die Stimme tönte vom Balkon des Schöneberger Rathauses über den Platz. »Berlinerinnen, Berliner!«

Hunderttausende waren gekommen, sie drängten sich bis zum Rudolph-Wilde-Platz, zur Martin-Luther-Straße, zur Badenschen Straße, zur Freiherr-vom-Stein-Straße, sie drängten sich auf Bürgersteigen und Fahrbahnen, auf den Balkonen der umliegenden Häuser, an den Fenstern. Der Himmel über ihren Köpfen war wolkenverhangen, und immer wieder blies ein scharfer Wind, sodass der Berliner Bär auf den flatternden Fahnen kaum zu erkennen war.

»Die Berliner haben ein Recht darauf zu wissen, wie die Lage tatsächlich ist.« Der Bürgermeister stand vor einer Reihe von Mikrofonen. Wie immer trug er einen Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte. »Ein Regime des Unrechts hat neues Unrecht begangen, das größer ist als alles zuvor!«

»Recht hat er«, sagte meine Mutter. Ich verstand nicht genau, was sie meinte, doch ich spürte, wie wichtig es ihr war, ich hörte die Inbrunst in ihrer Stimme. Die Menschen um uns herum applaudierten. Doch ihre Gesichter zeigten keine Freude, kein Lachen, nicht einmal ein Lächeln, nur Sorge. Manche hielten Schilder und selbstgebastelte Transparente in die Höhe. Auf einem stand: An die Westmächte: Mit Papier hält man keine Panzer auf! Ein Stück weiter las ich: Der Spitzbart muss weg. Der Spitzbart, das wusste ich, das wusste jeder in Berlin, war Walter Ulbricht.

Es war Mittwoch, der 16. August 1961. Drei Tage zuvor, in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag, hatte die Regierung der DDR begonnen, eine Mauer quer durch Berlin zu bauen. Im Radio hieß es, mehr als drei Millionen Menschen seien aus dem Osten in den Westen geflohen, darunter viele junge und gut ausgebildete – nun ließ der Spitzbart eine Mauer bauen, damit niemand mehr flüchten konnte.

»Was ist das für ein Land, das seine Bürger einsperrt, damit sie nicht abhauen«, sagte ein Mann neben uns und schnaubte.

Meine Mutter nickte. Und ich dachte an meine Freunde, die über Nacht verschwunden waren. Sie wohnten weiter unten in der Müllerstraße, da, wo die Chausseestraße begann – und jetzt durften sie nicht mehr zu uns und wir nicht zu ihnen. Wir durften nicht mehr zusammen spielen. Bewaffnete Soldaten der Nationalen Volksarmee und Volkspolizisten passten auf, dass niemand auf die andere Seite des Zauns lief, und französische Panzer fuhren die Müllerstraße entlang. Das Geräusch ihrer schweren Ketten auf dem Asphalt ließ mich erschauern. Meine Mutter und Tante Gertrud schraken jedes Mal zusammen. Heute weiß ich, dass die Panzer in ihnen Erinnerungen an den Krieg wachriefen, die sie lieber für immer vergessen hätten, doch mich faszinierten die monströsen Gefährte mit ihren riesigen Kanonenrohren. Alles schien ungeheuer aufregend. Zugleich hatte die Situation etwas Unwirkliches. Immer wieder lief ich zur Chausseestraße und sah, wie auf der Westberliner Seite Passanten vor dem Stacheldraht standen, allein, fassungslos, ratlos … oder in Gruppen, auch sie schockiert, empört, verzweifelt. Ab und zu spähte jemand über die Barrikaden – und blickte direkt in ein Maschinengewehr. Auf der Ostberliner Seite war es beinahe unheimlich leer. Vopos und Soldaten überwachten die Bauarbeiten. Nur selten drangen Zivilisten bis zum Stacheldraht vor und wenn doch, streckten weinende Kinder die Arme nach ihren Eltern auf der anderen Seite aus, Frauen nach ihren Männern, Männer nach ihren Frauen. Leute riefen vom Fenster aus ihren Verwandten etwas zu, die auf der anderen Straßenseite standen – in einer anderen Welt. Die Vopos versuchten, alle Kontakte zu unterbinden, während die französischen Soldaten darauf achteten, dass die NVA-Soldaten die Grenze nicht Richtung Westen verschoben. Taten sie es doch, walzten sie die Zäune mit ihren Panzern nieder.

Plötzlich war Berlin eine geteilte Stadt.

Bei uns zu Hause lief ununterbrochen das Radio. Bundeskanzler Adenauer hatte zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen, doch erst neun Tage später besuchte er Berlin. Die Alliierten reagierten zögerlich, doch US-Präsident Kennedy sagte, Berlin würde eine freie Stadt bleiben. Er verstärkte die amerikanischen Truppen und schickte General Clay und Vizepräsident Johnson. Nur Willy Brandt, unser Bürgermeister, protestierte vehement, und als es hieß, er würde vor dem Rathaus Schöneberg sprechen, schnappte meine Mutter ihren Mantel, ihre Handtasche und mich, und wir fuhren mit der S-Bahn vom Wedding nach Schöneberg. Es war nicht das erste Mal, dass wir »unseren Willy« sprechen hörten. Meine Mutter bewunderte ihn. »Er kämpft für die Freiheit«, erklärte sie mir. »Er beschützt uns und diese Stadt.«

»Unsere Landsleute hinter dem Stacheldraht«, rief Willy Brandt jetzt vom Balkon des Rathauses, »die bewacht werden von den Truppen der Roten Armee, damit sie nicht zeigen können, was sie wollen, sie blicken in dieser Stunde hierher.«

»O ja«, rief meine Mutter.

Vor ein paar Wochen hatte der Spitzbart noch gesagt, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Selbst ich wusste, dass man nicht lügen durfte. Und ich war neun.

»Wir wissen, dass nur die Panzer sie zurückhalten, ihrer Empörung freien Lauf zu lassen«, rief Willy Brandt.

»Ja«, rief meine Mutter. »Ja, genau!«

»Deshalb mein Aufruf, mein Appell an alle Funktionäre des Zonenregimes, an alle Offiziere und Mannschaften der militärischen und halbmilitärischen Einheiten: Lasst euch nicht zu Lumpen machen! Zeigt menschliches Verhalten!«

»Dieser Mann … ist so stark und anständig.« Meine Mutter schlug sich mit der Hand vor den Mund, und wieder verstand ich nicht genau, was sie meinte, verstand nur die Inbrunst in ihrer Stimme.

»Und – vor – allem …«, Willy Brandt betonte jetzt jedes Wort, machte nach jedem eine Pause, als sammle er Kraft, um das nächste noch etwas mehr zu betonen; er schickte sie mit größter Dringlichkeit hinaus auf den Platz und in die Straßen der Stadt. »Schießt – vor – allem – nicht – auf – eure – eigenen – Landsleute!«

Meine Mutter griff nach meiner Hand und drückte sie – und ich sah, wie aufgewühlt sie war. Ich sah, wie die Menschen um uns herum nickten, wie sie zustimmten. Auch für sie war Willy Brandt der Garant eines freien Berlins, auch sie vertrauten und bewunderten ihn, weil er standhaft war und für Frieden und Menschlichkeit kämpfte. Willy Brandt war Berlin – und Berlin war Willy Brandt. Die Blockade durch die Sowjetunion, die Zeit der Luftbrücke, das Leben in den vier Sektoren, der Kalte Krieg – all das schweißte uns zusammen, gab uns das Gefühl, an einem besonderen Ort zu leben. Natürlich hatte ich die Luftbrücke nicht miterlebt, doch wenn meine Mutter, meine Tanten und Onkel davon erzählten, überkam auch mich dieses Berlin-ist-eine-Insel-Gefühl. Heute heißt es oft, in der Nachkriegszeit hätten sich die Menschen wenig für Politik interessiert. Auch meine Mutter, meine Tanten und Onkel, die Eltern meiner Freunde waren nicht explizit politisch engagiert. Doch sie hörten Nachrichten. Sie lasen die Morgenpost. Politik fand schließlich vor ihrer Haustür statt. Was die Sowjetunion und die drei Westmächte entschieden, bestimmte ihren Alltag. Immer wieder kamen ausländische Staatsgäste und versicherten den Westberlinern, während diese die Straßen säumten, für ihre Freiheit einzustehen – in Berlin konnte man gar nicht nicht politisch sein.

»Wir Berliner haben wieder einmal eine besondere Bewährung vor uns«, rief Willy Brandt. Die Menschen auf dem Platz sogen seine Worte auf, sie schienen sich geradezu an ihnen aufzurichten. Immer wieder klatschten sie Beifall. Doch ich sah auch, dass die Sorge nicht aus ihren Gesichtern wich. Und plötzlich breitete sich auch in mir eine dumpfe Unruhe aus. Auch wenn ich nicht alles verstand, was die Erwachsenen sagten, spürte ich die Angst, die über meiner Stadt lag.

»Wir haben uns alle so zu verhalten, dass nicht die Feinde sich freuen und die Landsleute verzweifeln. Wir haben mehr denn je zusammenzurücken und zusammenzustehen. Wir haben uns würdig zu erweisen den Idealen, die in der Freiheitsglocke über unseren Häuptern symbolisiert sind. Wir haben in Ruhe, aber auch in Entschlossenheit und mit festem Willen einzustehen für das ganze Deutschland, für Einigkeit und Recht auf Freiheit.«