Zum Buch:
Als Kreuzfahrer gegen den Faschismus, der Europa und die halbe Welt zu erdrosseln drohte, waren die besten von ihnen ausgezogen. Amerikas junge Männer, die Ideale der Demokratie und der Menschlichkeit im Herzen, so landen sie 1944 auf dem europäischen Kontinent. Bald aber stellt die Demontage jeglicher Ideale durch Karrieresucht, Schieberei und Intrigen die jungen Helden vor unausweichliche Entscheidungen. Aufrechte Kreuzfahrer gegen den Faschismus oder käufliche Weiberhelden?
Stefan Heyms großer entlarvender Kriegsroman ist gleichzeitig eine schonungslose Abrechnung mit den vermessenen Ansprüchen der USA ihre Vormachtstellung in der Welt betreffend. Unter den Titel Kreuzfahrer von heute bei List Leipzig und unter Der bittere Lorbeer bei List München 1950 erstmals auf Deutsch erschienen, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.
»Eines der besten und bedeutendsten Kriegsbücher.« Heinrich Böll
»Ein Remarque des Zweiten Weltkrieges … nichts beschönigend, heroische Posen entlarvend, realistisch bis in die subtilste Schilderung. Heym ist um Objektivität bemüht, ein Fanatiker der Gerechtigkeit.« Stuttgarter Nachrichten
Zum Autor:
Stefan Heym, geboren 1913 in Chemnitz, floh als kritischer jüdischer Intellektueller vor der Nazidiktatur nach Amerika. Während der McCarthy-Ära verließ er das Land und siedelte sich 1952 in der DDR an. Er war ein international hoch geschätzter Schriftsteller und streitbarer Publizist, der zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur zählt. Er starb 2001 auf einer Vortragsreise in Israel.
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Stefan Heym
Kreuzfahrer von heute
Roman
Die Originalausgabe erschien 1948 unter dem Titel The Crusaders bei Little, Brown and Co., Boston 1948.
Aus dem Amerikanischen von Werner von Grünau
Nach dem amerikanischen Original vom Autor neu bearbeitete Fassung
Die deutsche Erstausgabe erschien 1950 unter den Titel Kreuzfahrer von heute bei List Leipzig und unter Der bittere Lorbeer bei List München 1950.
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E-Book-Ausgabe 2021
Copyright © 1948 Inge Heym
Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 1950
by List Verlag, München
Copyright © dieser Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagkonzeption und Gestaltung: Sabine Kwauka
nach einem Entwurf von Hafen Werbeagentur, Hamburg
Umschlagmotiv: © PHOTOOJECT / Shutterstock.com
Satz: Buch-Werksttt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-27825-0
V002
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Achtundvierzig Salven aus achtundvierzig Geschützen
Das Gras, dieses saftige, weiche, üppige Gras! Es tut gut, darin zu liegen und sich lang auszustrecken, so daß es über einem zusammenschlägt. Vom Kanal her fährt der Wind über das Gras, von den Brückenköpfen am Strand, die noch immer die Trümmer der Invasion bedecken – Ausrüstungsgegenstände, die die Männer im Kampf von sich warfen, Bruchstücke deutscher Geschütze, zerschmetterte und verbogene Fahrzeuge. Zuweilen war es Bing, als sei im Wind noch jener schwere, süßliche Leichengeruch zu spüren. Aber das war ja unmöglich – die Toten waren in den Dünen jenseits der Landungsstellen ›Utah‹ und ›Omaha‹ begraben. Er selber hatte die Abteilungen deutscher Gefangener beim Ausheben der Gräber gesehen. Leichen und Sand füllten nun die Gräber, und der Wind, der über das Gras strich, wehte von den Kreuzen auf den Dünen herüber.
Bing blickte zur Seite. Durch die Gräser hindurch sah er das Schloß – Château Vallères – mit seinem runden Turm, den verfallenen Dächern und den kleinen, stumpf schimmernden Fenstern. In einiger Entfernung von dem Schuppen am Bach, der in den stillen, das Schloß als dunkelgrünes Band umgebenden Burggraben floß, war ohne Unterbrechung ein regelmäßiges Klatschen zu vernehmen. Die beiden Töchter des Pächters bearbeiteten die Wäsche – die Hemden und Hosen, die Unterhosen und Socken und Unterhemden der Einheit. Es waren dicke, kräftige Mädchen mit groben, rötlichen Gesichtern, einander so ähnlich, daß er eigentlich nie sagen konnte, welche von ihnen Pauline und welche Manon war.
Es ist ein prachtvolles Wetter zum Waschen, dachte Bing. Bald würden Manon und Pauline aus dem Schuppen auftauchen und die Wäsche aufhängen. Er sah sie schon sich strecken und nach der Leine greifen, die zwischen den Bäumen des Wäldchens gleich am Bach gespannt war. Die Röcke rutschten ihnen dabei hoch, und zwischen Rock und schwarzem Wollstrumpf war dann ein Streifen ihrer fleischigen, rötlichen Schenkel zu sehen.
Bing faltete die Hände hinter seinem Kopf und blickte in den Himmel. Der Himmel war blau. Er hatte nicht die Tiefe des Himmels über England, den er, bevor er bei der Invasion eingesetzt wurde, gesehen hatte; er war anders. Es war ein Festlandshimmel – der Himmel seiner Kinderjahre. Nicht eine Wolke in diesem von Licht erfüllten Himmel. Wie ein Insekt kroch ein Beobachtungsflugzeug über den Himmel. Sein schwaches Dröhnen verlor sich in der Höhe. Nur dieses Flugzeug – sonst war Friede.
Die Mädchen traten aus dem Schuppen, die nasse Wäsche in ihren dicken Armen. Bing stand auf und schlenderte zu ihnen hinüber.
»Bonjour, mes petites«, sagte er.
»Bonjour, M’sieur le sergeant«, sagte Manon. Die Schwestern kicherten.
»Wann ist meine Wäsche fertig? Und diesmal möchte ich mein Hemd gebügelt haben – werden Sie es auch nicht vergessen?«
»Haben Sie du chocolat für uns?« fragte Pauline und schloß die Augen, als zerginge ihr die Schokolade bereits auf der Zunge.
»Na, das sehen wir dann schon. Eigentlich sind Sie schon rundlich genug.«
»Morgen abend sind wir vielleicht fertig«, sagte Manon. »Die Sonne ist gut, und alles trocknet schnell. Aber es eilt ja nicht. Ihr werdet noch nicht verlegt.«
»Sind Sie aber gescheit!« sagte Bing. »Woher wissen Sie das denn?«
Sie kicherten von neuem. »Le Capitaine Loomis hat zwei Soldaten das große Bett der Gräfin in sein Zimmer tragen lassen. Es ist ein Himmelbett, wissen Sie, so ein hellgrüner Baldachin, völlig verstaubt natürlich, und die Soldaten niesten und fluchten. Das hätten Sie erleben sollen! Und Monsieur le Commandant Willoughby läßt für morgen abend zwei Gänse schlachten; außerdem hat er den Sergeanten Dondolo nach Isigny geschickt, um dort Käse einzukaufen.«
»Dieser Dondolo!« fuhr Pauline dazwischen. »Das ist der Richtige! Er handelt eure Zigaretten gegen Calvados ein, und dann verkauft er den Calvados an die anderen Soldaten. Er ist ein ganz ausgekochter Bursche. Der wird bestimmt einmal reich.«
Bing lachte. »Und Sie glauben, daß ich nicht reich werden kann?«
Pauline und Manon betrachteten ihn einen Augenblick prüfend. Dann sagte Manon: »Sie? Sie sind zu ernst. Sie denken zuviel.«
Daraufhin schwieg er. Die Mädchen begannen die Wäsche aufzuhängen.
Seit Generationen war die Zugbrücke über den Burggraben nicht mehr hochgewunden worden. Die Scharniere und Ketten waren vom Rost zerfressen; jedesmal, wenn einer der schweren amerikanischen Lastwagen in den Hof von Château Vallères rollte, ächzten die alten Holzplanken.
Lieutenant David Yates stand auf der Brücke, mit dem Rücken am Geländer. Er war nervös, seine Füße zertraten und zerkrümelten die feinen Holzsplitter, die die oberste Plankenschicht bildeten. Die Sonne brannte auf ihn herab, und sein Kopf kam ihm vor wie ein Teig im Backofen, der zu gehen anfängt. Wie ein Reflektor warf der Burggraben ihm eine zweite Hitzewelle entgegen, geschwängert mit dem fauligen Geruch modernder Wasserpflanzen.
Yates wischte einen Schweißtropfen weg, der hinter seinem Ohr hinabrann und ihn im Nacken kitzelte. Er kam sich klebrig und dreckig vor und fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Zu allem übrigen Elend kam aber noch seine besondere Unfähigkeit, sich in diesem Augenblick für etwas zu entscheiden. Es verlockten ihn die dunklen, schattigen Gewölbe des Schlosses und der Gedanke, Gesicht und Hände unter das Wasser der Pumpe zu halten; er wagte aber nicht, die Brücke zu verlassen, aus Furcht, Bing zu verfehlen und damit die Durchführung seines Auftrages zu verzögern. So hatte man auch früher an einer Straßenecke gestanden, damals – zu Hause, um ein Taxi anzurufen. Kein Glück. Die wenigen, die vorbeikamen, waren besetzt. Verließ man aber seinen Posten am Rinnstein, um zu gehen oder die nächste Straßenbahn zu erwischen, kam das langersehnte Taxi – und ein anderer stieg ein.
Wo blieb Bing nur so lange?
»Abramovici!« rief Yates durchdringend.
Der kleine Korporal, der das Hauptgebäude des Schlosses entlang im Schatten ging, blieb stehen. Unter seinem Helm blickte er zu Yates hinüber und sah in diesem Augenblick wie eine Schildkröte aus, die auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg plötzlich einem unübersteigbaren Hindernis gegenübersteht.
Dann aber erblickte Abramovici Yates, brachte seine kurzen Beine in schnellere Bewegung, überquerte den Hof und trat auf die Brücke.
»Ziehen Sie Ihre Hosen hoch!« sagte Yates. Dabei langweilte es ihn. »Versuchen Sie doch, wie ein Soldat auszusehen.«
Die Worte trafen. Seit seinem Eintritt in die Armee hatte Abramovici versucht, wie ein Soldat auszusehen, und geglaubt, es einigermaßen geschafft zu haben. Der Vorwurf wog um so schwerer, als Yates ihn geäußert hatte, Yates, den Abramovici mochte und dem es für gewöhnlich gleichgültig war, ob jemand wie ein Soldat aussah oder nicht.
»Es ist nicht meine Schuld«, entgegnete er, »wenn die Regierung mich Hosen fassen läßt, die nicht sitzen.«
Yates unterdrückte ein Lächeln. »Nicht die Regierung, Ihr Bauch ist schuld.«
Abramovici ließ seinen Blick an sich hinabgleiten. Dabei bedeckten seine sommersprossigen Lider seine blaßblauen Augen. Seine Hosen waren über die Rundung seines Bauches hinabgerutscht, und sein Hemd stand offen. Dann sah er auf. Er verglich seine eigene untersetzte Figur mit der von Yates, der, wohlproportioniert, selbst in dem verschwitzten Hemd, das an seiner Brust klebte, noch gut aussah.
»Verstehen Sie, was ich meine?« sagte Yates. »Wenn Captain Loomis Sie erwischte, würde er Ihnen die Hammelbeine schon lang ziehen. Aber gehen Sie jetzt und holen Sie Bing. Er soll sich beeilen. Nein«, fügte er hinzu und beantwortete damit die Frage in Abramovicis Miene, »nein, ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist. Mann, zeigen Sie doch etwas Initiative! Machen Sie ihn ausfindig!«
»Jawohl!«
Yates blickte ihm nach. Abramovici trollte ab und verschwand jenseits der Zugbrücke; der Kolben seines Gewehrs schlug gegen seine Waden. Abramovici war ein nützlicher Mensch. Unersetzlich, denn er beherrschte die deutsche und die englische Stenographie. Aber zuweilen war er doch recht lästig.
Worüber ärgerte er sich eigentlich nicht? fragte Yates sich nun selber. Es schienen ihm immer mehr Kleinigkeiten zusammenzukommen, die an ihm nagten. Sie nagten an seinem seelischen Wohlbefinden und störten sein inneres Gleichgewicht. Und gerade diese Abhängigkeit von seinem inneren Gleichgewicht ärgerte Yates am meisten.
Es war ihm schwer genug gefallen, sich mit dem Gedanken anzufreunden, daß David Yates, Dr. phil., außerordentlicher Professor für germanische Sprachen am Coulter College, aus Gründen und zu Zwecken, die er ganz klar erkannte, in einen Soldaten verwandelt worden war. Dennoch vermochte diese Erkenntnis seine Überzeugung nicht zu erschüttern, daß der Krieg böse war, ein Rückfall, ein erniedrigender Versuch, Probleme zu lösen, die sich niemals so weit hätten entwickeln dürfen. Und doch ließ er sich einspannen, nachdem er erst einmal hineingezogen war, und tat, was man von ihm verlangte, ohne Erbitterung, in der Hoffnung, daß die kleinen Schwierigkeiten einmal aufhören würden, sein Leben durcheinanderzubringen.
Yates ertappte sich dabei, daß er während der letzten Minute mit seiner feuchten Handfläche eine Warze auf seinem linken Zeigefinger gerieben hatte. Er hatte mehrere Warzen, und es verursachte ihm Unbehagen, wenn er daran dachte. Die erste hatte sich kurze Zeit, nachdem er eingezogen worden war, auf seiner Hand gezeigt. Je näher er aber dem Krieg rückte, dort, wo es ernst wurde, desto mehr Warzen bekam er. Sie traten bei allen Fingern an den gleichen Stellen auf. Die Militärärzte hatten sie mit Medikamenten behandelt; sie hatten sie elektrisch ausgebrannt und es mit Röntgenstrahlen versucht. Die Warzen kamen wieder. Sie störten ihn und waren ihm ekelhaft. Dann hatte ihm ein Arzt gesagt: »Kümmern Sie sich nicht darum. Eines Tages verschwinden sie! Sie sind psychosomatisch.«
»Psychosomatisch«, hatte Yates geantwortet, »ich verstehe.«
»Nein, das verstehen Sie eben nicht«, hatte der Arzt geantwortet. »Aber lassen Sie sich dadurch nicht beirren. Die Dinger gehen bestimmt weg.«
Es war also durchaus nicht sein Körper, der diese Warzen hervorbrachte, dachte Yates, sondern seine Seele. Die Sache war ihm nicht ganz geheuer. Eine Zeitlang beunruhigte ihn die Frage, warum das überhaupt sein konnte. Aber er wagte nie, sich diese Frage wirklich zu beantworten. Er versuchte es noch immer mit den Medikamenten und gab dem Dreck, dem Essen, der Kälte und der Hitze die Schuld. Die Menschen, mit denen er zusammengeführt wurde, der Krieg, in den er hineingestoßen war, hatten Spuren auf seinen Händen zurückgelassen.
Schließlich kehrte Abramovici zurück und hinter ihm Bing. Yates’ Ärger war verraucht. Gelassen fragte er: »Wo bleiben Sie denn, verflucht noch eins! Sie wußten doch, daß Sie sich bei mir zu melden hatten!«
Bings gute Laune war in dem Augenblick verflogen, als er den untersetzten Korporal, hinter dem das niedergetretene Gras eine breite Spur bildete, über die Wiese auf sich zukommen sah. Was Yates auch wollte, er war entschlossen, es ihm auszureden.
»Niemand hat mir etwas ausgerichtet«, sagte Bing trocken.
Das hat Loomis wieder verpatzt, dachte Yates. Loomis verpatzte so ziemlich alles. Der Captain sorgte sich am meisten um sich selber, um seine eigene Bequemlichkeit und seine eigene Sicherheit. Er ließ die Leute draußen liegen, während die Offiziere in den Betten des Schlosses schliefen. Yates wußte, daß Bing und Preston Thorpe und einige andere im Dachraum des Schloßturms einen trockenen Platz gefunden hatten. Loomis gegenüber verschwieg er das aber.
»Wir hatten einen Anruf von Matador«, sagte Yates. »Sie verlangen ein besonderes Flugblatt von uns. Machen Sie sich fertig. Wir gehen.«
Unter anderen Umständen hätte Bing die Fahrt zu General Farrishs Panzerdivision, die die Tarnbezeichnung Matador führte, begrüßt. Eine solche Fahrt brachte Abwechslung in das Einerlei und ein wenig Luftveränderung. Heute aber fühlte sich Bing zu müde.
Er sagte: »Ich komme gerade von den Kriegsgefangenen. Zwei Tage bin ich dort gewesen. Habe mit Dutzenden von ihnen gesprochen und habe den Kopf voll. Augenblicklich bin ich nicht zu gebrauchen.«
Yates bemerkte die Schatten der Müdigkeit unter den Augen des Sergeanten. Der Junge war wirklich erschöpft. Er zögerte.
Bing fuhr fort: »Wenn Sie vom I c bei Matador alle Unterlagen beibringen, schreibe ich Ihnen das Flugblatt. Ich lasse Sie schon nicht im Stich. Aber ich muß erst etwas schlafen.«
»Das ist es ja gerade!« sagte Yates ärgerlich. »Wir wollen das Flugblatt eben nicht machen!«
»Sie wollen nicht?« Bing blickte forschend seinem Lieutenant ins Gesicht und versuchte einen Sinn in diesem offensichtlichen Widerspruch zu entdecken. Yates hatte in seinem Gesicht zwei Falten, die sich von der scharf geformten Nase zu den Winkeln des vollen, sinnlichen Mundes hin zogen. Bing sah den Staub in diesen Falten. Er verstand, daß auch Yates entsetzlich müde sein mußte; Major Willoughby, der Chef der Einheit, schickte Yates überall hin, weil er einer der wenigen Offiziere der Einheit mit klarem Urteil war. Und Yates ging immer, wie ein braver dummer Junge, und immer schaffte er es. »Nun«, sagte Bing, »wenn kein Flugblatt für Matador gemacht wird, warum in Gottes Namen gehen wir dann überhaupt?«
Yates wurde ungeduldig. »Ich möchte wirklich wissen, ob es in dieser Armee noch eine Einheit gibt, in der ebensoviel Leute so viele dumme Fragen stellen. Machen Sie sich fertig, und dann ab – die Entscheidung liegt doch nicht bei mir, sondern bei Crerar und Major Willoughby.«
Bing zuckte mit den Schultern. Er ging und verschwand durch das kleine, gewölbte Tor des runden, alten Schloßturmes. Yates betrachtete die Risse im Turm. Sie schienen ihm tiefer und größer geworden – die nächtlichen Bombenabwürfe ließen die Mauern bis in ihre Grundfesten erbeben. Er liebte dieses Schloß; er war für Tradition und Romantik empfänglich. Es war zwar nicht sehr viel davon übriggeblieben, nachdem die Deutschen hier regiert hatten. Eines Tages jedoch hatte Mademoiselle Vaucamps, die kleine Kastellanin mit Halskrause, Spitzenjabots und pergamentner Haut, sein Interesse bemerkt und ihm gegen einige Zigaretten alles gezeigt, was von den Kostbarkeiten noch da war.
Mademoiselle Vaucamps war vor der Sèvres-Uhr, einer sehr feinen Arbeit, stehengeblieben und erzählte ihm von einem langen bayrischen Offizier, der die Deutschen in Vallères befehligt hatte. Er hatte ihr befohlen, auf die Uhr ja gut achtzugeben. Die Deutschen würden bald wieder zurück sein, sagte er, und er wolle die Uhr heim zu sich nach Bayreuth schicken.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, hatte Yates zu der kleinen alten Frau gesagt und sie beruhigt. »Er kommt nicht wieder.« Aber in seinem Innern war er durchaus nicht so sicher, ob dieser Offizier aus Bayern nicht doch noch eine Gelegenheit erhalten würde, an die Uhr heranzukommen.
Die dichten hohen Hecken am Straßenrand waren von Staub bedeckt. Staub wogte über die Straße. Er wurde von den Fahrzeugen aufgewirbelt, deren schwere Räder die Straße zerwühlten und Löcher in sie rissen, aus denen ständig neuer Staub aufstieg. Der Staub war so fein, daß er, wenn überhaupt, nur langsam wieder niedersank. Er bedeckte die Gesichter der Fahrer und ihrer Mitfahrer, durchdrang die Uniformen, legte sich ausdörrend in die Kehlen und entzündete Augen und Nasenschleimhäute.
Ein Gewirr von Drähten zog sich an den Hecken entlang, ebenso weiß verstaubt. Hinter diesen Hecken, wußte Yates, kamen andere. Die ganze Normandie schien ihm in kleine Rechtecke aufgeteilt; die diese Hecken gepflanzt und angeschont hatten, mußten seiner Meinung nach einen ausgeprägten Sinn für Eigentumsrechte haben. Die festen grünen Einzäunungen verhinderten das Vieh umherzustreunen. Sie hinderten aber auch den Nachbarn daran, einen Blick auf das andere Feld zu werfen.
Auf den meisten Feldern lagen nun Truppen. Jede kleinste Deckung wurde ausgenutzt, und so drängten sich die Männer dicht an die Hecken und gruben sich Löcher in den von Wurzeln durchzogenen Boden. Hatten sie aber das Glück, auf einen Obstgarten zu stoßen, so ließen sie sich dort unter den Bäumen nieder.
»Wenn die Deutschen mehr Sachen in der Luft hätten, könnten sie die ganze Armee zusammenschlagen.« Yates deutete nach vorn.
Bing sah auf. In beiden Richtungen krochen lange Kolonnen von Lastwagen, Raupenfahrzeugen und Personenwagen die enge Straße entlang. An einer Kreuzung schien sich eine Verkehrsstockung zu entwickeln.
»Sie brauchen nichts weiter zu tun«, fuhr Yates fort, »als die Hecken unter Beschuß zu nehmen und Bomben auf die Felder abzuwerfen. Wir liegen ja wie die Heringe.« Er nahm seinen Helm ab und ließ den Wind über sein feuchtes Haar streichen.
Bing lehnte sich zurück. Sein Blick blieb auf dem Grau an Yates’ Schläfen haften, dem einzigen Grau in dem sonst völlig braunen, welligen Haar. Er sah die Falte auf Yates’ gut ausgebildeter Stirn.
»Diese Krautgefangenen«, sagte Bing langsam, »erzählen mir immer, daß ihre Luftwaffe jeden Augenblick in ihrer alten Stärke wiederkommen würde. Ich entsinne mich der ersten Tage hier, als wir aus dem Wagen springen und uns in die Gräben werfen mußten. Und dann stießen sie herunter – und da fühlt man sich so verflucht nackt, wenn einem der Dreck um die Ohren fliegt. Nackt und verängstigt, und der Kopf ist einem schwer, und man redet sich selber ein, daß man ganz klein ist, und die ganze Zeit über weiß man doch, daß man in Lebensgröße daliegt …«
Yates war zwei Tage nach Beginn der Invasion dazugestoßen. Er hatte genug davon mitbekommen, vom Springen in die Gräben und von den Messerschmitts, die so plötzlich auf einen zu abkippten. Er sah noch das Gebüsch vor sich, in das er sich erbrochen hatte, jedes einzelne Blatt.
Er zwang sich zu einem Lachen.
»Zigarette?« sagte Bing.
»Danke.« Yates hatte Mühe, seine Zigarette gegen den Wind anzuzünden. Er benutzte die Unterbrechung, um auf ein sicheres Gebiet abzuschweifen. »Arme Teufel, diese deutschen Gefangenen. Ihre Gesichter muß man gesehen haben. Sie haben genau dasselbe durchgemacht. Nur schlimmer.«
Bing sah seinen Lieutenant von der Seite an. Sollte das etwa ein Witz sein? »Ich hasse sie«, sagte er schließlich. Er selber ließ die Krautfresser schwitzen. Er holte alles aus ihnen heraus, was er wissen wollte, und noch einiges dazu. Sie öffneten sich vor ihm wie Knospen unter der Sonne.
»Hassen …?« sagte Yates zweifelnd und fügte in seiner etwas belehrenden Art hinzu: »Dies ist ein Krieg, in dem die Wissenschaft eine führende Rolle spielt. Sie wollen doch die Deutschen verstehen lernen, nicht wahr? Wenn Sie ihre Art zu denken untersuchen wollen, müssen Sie sich an ihre Stelle versetzen. Können Sie das, wenn Sie sie hassen?«
»Ich kann es«, sagte Bing sarkastisch.
»Vielleicht würde ich auch so denken wie Sie, wenn ich aus Deutschland vertrieben worden wäre, aus meinem eigenen Land. Sie müssen aber fähig sein, von unserer Arbeit Abstand zu gewinnen.«
»Ich will aber nicht«, sagte Bing.
»Sie sind noch sehr jung«, erwiderte Yates. »Sehen Sie die Dinge, wie sie sind. Betrachten Sie die verschiedenen Seiten jeder Frage. Der Mann dort drüben auf der anderen Seite tat genau dasselbe, was Sie zu tun gezwungen wurden: er hat Befehle befolgt. Er hat mit genau den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen: wie kommt er möglichst ungeschoren durch? Er ist das Opfer seiner Politiker, genauso wie wir das Opfer unserer Politiker sind. Dies alles bestimmt seine Art zu denken, und diese wollen wir ja gerade kennenlernen. Oder nicht?«
»Sie reden genau wie die deutschen Gefangenen«, sagte Bing.
Yates’ Hand schoß hoch, aber er besann sich und fuhr mit seinen Fingern seinen schweißdurchtränkten Hemdkragen entlang.
»Ich kann auch den Mund halten«, schlug Bing vor.
»Sie haben ein Recht auf eigene Meinung«, sagte Yates mürrisch.
Bing wollte einlenken. Schließlich war Yates ein anständiger Kerl.
»Wie gehen denn Sie vor«, fragte er, »wenn Sie mit ihnen sprechen?«
»Gestern«, sagte Yates, »hatte ich einen Fallschirmjäger. Er sagte mir, er sei kein Nazi. Er fragte mich, was wir eigentlich hier drüben wollten. Die Deutschen und die Amerikaner hätten die gleiche Kultur. Weder die Deutschen noch Hitler hätten die Absicht gehabt, die Vereinigten Staaten anzugreifen. Das sagte er, und dabei war er ein nicht ungebildeter Mann.«
»Und was gaben Sie ihm zur Antwort?«
»Ich fragte ihn, ob er Konzentrationslager als kulturelle Einrichtungen betrachte. Er sagte über die Schulter hinweg, die Konzentrationslager hätten die Engländer als erste erfunden.«
»Ganz klar! Er war ein Nazi!«
»Ganz klar!« Yates war gereizt. Herausfordernd sagte er: »Vielleicht versuchen Sie es einmal, ihnen zu antworten.«
»Diese Fragen haben eben ihre verschiedenen Seiten«, sagte Bing.
Yates erfaßte sofort den Spott der Anspielung. Aber er konnte Bing auch keine Antwort geben.
Bing wurde plötzlich ernst. »Die glauben, sie wissen, wofür sie kämpfen. Aber wir, meinen sie, wüßten es nicht.«
»Die wissen es auch nicht. Niemand weiß es. Man geht in einen Krieg hinein, ausgerüstet mit den Schlagworten der Zeitungen. Einen Dreck sind die wert.«
»In einem Teil des Gefangenenlagers von ›Omaha Beach‹ haben sie Amerikaner eingesperrt«, sagte Bing, »– Deserteure. Ich sprach mit einem von ihnen. Er gehörte zu Farrishs Division. Seit der Landung hatten sie immer ganz vorne gelegen. Von ihrem Zug waren drei Mann übriggeblieben. Drei Mann. Er sagte, er wollte am Leben bleiben, nur leben wollte er. Er kümmerte sich den Teufel darum, wie und unter wem.«
Yates verstand diesen Deserteur.
Unsicher sagte er: »Wenn das so ist, was wollen Sie dann eigentlich den Leuten erzählen?« Und unter Leuten meinte er sich selber mit. »Und was wollen Sie dann noch einem Deutschen erzählen, um ihn dazu zu bringen, seinesgleichen im Stich zu lassen, seine Organisation, und sich auf Gnade oder Ungnade zu ergeben? Gibt es eine Idee, die so stark ist?«
Bing konnte es nicht sagen. Er empfand es, konnte es aber nicht in Worte fassen.
Yates spuckte auf die Straße. »Gerade darüber sollen wir für Farrish ein Flugblatt herausbringen, mit all dem Gewäsch von Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit.«
»Farrish?« fragte Bing. »Ausgerechnet …!«
»Ja, Farrish.« Yates lächelte. »Er bekommt es aber nicht. Und wir müssen es ihm beibringen.«
»Hübscher Auftrag für uns«, sagte Bing.
»Für mich«, verbesserte ihn Yates. »Sie werden wahrscheinlich gar nichts zu sagen haben. Sie sind nur mit dabei, um unseren guten Willen zu beweisen.«
»Aber warum?« Bing wehrte sich gegen diese anmaßende Weigerung, gegen diesen inneren Widerspruch. »Warum soll er so ein Flugblatt denn nicht bekommen?«
Yates starrte seine Hand und diese verdammten Warzen an. »Leute wie Sie und ich neigen dazu, die Bedeutung des Wortes zu überschätzen. Am Ende kommt es immer nur auf mehr und mehr Kanonen, auf mehr und mehr Flugzeuge an. Und – so ist es eben bei den Soldaten. Warum sollten Major Willoughby und Herr Crerar mehr riskieren, als sie unbedingt müssen? Es ist lediglich die Aufgabe unserer Einheit, den Deutschen beizubringen, daß sie sich in einer hoffnungslosen Lage befinden und daß sie, wenn sie nur ihre Hände hochheben, anständig behandelt werden und Cornedbeefhaschee und Nescafé bekommen.«
»Vielleicht ist das der Grund dafür, daß wir noch immer auf einem kleinen Landstreifen, Normandie genannt, festsitzen.«
Immerhin, das ist zum mindesten ein neuer Gesichtspunkt, sagte sich Yates. Der Junge ist nicht auf den Kopf gefallen. Aber er ist eben doch nur ein Junge. Als ich so alt war wie er, verlor mein Vater sein letztes Hemd in der großen Krise, und von da an lebte ich nur von der Hand in den Mund, bis ich die Stelle am Coulter College erhielt … In nichts gab es eine Gewißheit. Viel zu viele Fragen und Antworten, von denen keine einzige eine Klärung brachte. Und deswegen konnte man den Deutschen nur mit Cornedbeefhaschee, Nescafé und den Vorzügen der Genfer Konvention kommen. Alles andere war Unsinn.
Farrish wollte seinen Gefechtsstand immer gleich hinter der Front haben. Dieses Mal lag er in einem verwilderten Park, der zum Schloß eines französischen Kaufmanns gehörte – ein ganz anderes Schloß als das verfallene Vallères.
Yates bewunderte nicht ohne Neid die Rokokostatuetten, die großen Fenster und das hochgewölbte Tor des Wohnhauses. Zwei Kinder traten aus dem Tor. Sie sahen blutarm aus, und es waren magere, dünne Beine, die da unter ihren feingeschnittenen kurzen Mänteln zum Vorschein kamen. Den Kindern folgte ein alter Mann in einem schwarzen Gehrock mit silbernen Knöpfen. Er nahm sie an den Händen und führte sie auf ihren Nachmittagsspaziergang in den Park.
Yates und Bing blickten den Kindern und dem alten Mann nach. Was sie sahen, hatte keine Beziehung mehr zu dem, was um sie her geschah. Da waren die drei, die soeben einem Roman von Maupassant hätten entstiegen sein können, in einer Welt, die unter dem Feuer der nahen motorisierten schweren Artillerie bebte.
Ein Soldat näherte sich Yates. »Lieutenant, Captain Carruthers erwartet Sie«, sagte er.
»Sorgen Sie für den Sergeanten hier«, sagte Yates. »Er hat kein Essen gefaßt …« Dann, zu Bing gewandt: »Kein Grund, daß wir alle beide verhungern. Melden Sie sich dann bei mir beim I c.«
Bing folgte dem Soldaten, der das ernsthafte Gesicht eines zu früh in die Welt gestoßenen Kindes hatte. »Kannst du dir das vorstellen«, sagte der Soldat, »ich schlafe in einem Erdloch und habe allen Grund dazu. Aber die Kinder dort und der alte Mann bleiben ganz allein im Haus. Wir haben ihnen geraten, sie sollen in den Keller ziehen. Aber der alte Mann sagt, er fürchtet, die Kinder könnten sich erkälten. In der Nacht fangen die Deutschen an zu schießen, und man hört ihre schweren Brocken kommen, immer über uns rüber – huiiit, huiiit. Die Kinder aber bleiben im oberen Stockwerk, im Dunkeln natürlich. Ganz verrückt …«
Er deutete auf eine Allee. »Siehst du die Straße dort? Dreihundert Meter und dann links auf die Baumgruppe zu. Dort ist das Küchenzelt. Wir haben vor etwa einer Stunde gegessen; mußt dich also mit dem Sergeanten auseinandersetzen.«
Bing fand die Küche. Eine Auseinandersetzung gab es nicht. Er erhielt, was übriggeblieben war – aufgewärmte C-Ration, die schon wieder kalt war, Keks und lauwarmen Kaffee. Er setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen einen Baum, und aß ohne Appetit. Drei schwarze Sauen, deren Zitzen mit Dreck verkrustet waren, trotteten auf ihn zu. Sie stießen ihre Rüssel gegen seine Füße und dann gegen seine Beine und grunzten wütend, als er seine Knie anzog, um sein Essen zu schützen.
Hinter ihm sagte eine Stimme: »Das ist noch gar nichts, die hättest du sehen sollen, wie es geregnet hat! Sie liefen wie wild herum und bespritzten jeden von oben bis unten.«
»Warum schießt ihr sie nicht?«
»Wir mögen sie eigentlich ganz gern«, sagte die Stimme, »sie sind so zutraulich. Sie gehören dem Bauern, noch ein Stück die Straße entlang. Er hat zwei Töchter. Die Mädchen sagen: ›Wenn ihr die Schweine tötet, dann kein coucher avec vous.‹ Da hast du’s.«
Bing versetzte der Sau, die sich seinem Essen gefährlich näherte, einen Fußtritt. Das Tier zog sich einige Schritte zurück, legte sich nieder und schüttelte den Kopf.
»Wir müssen nur die Offiziere von den Schweinen fernhalten«, sagte die Stimme, »das ist alles, und umgekehrt. Neulich übrigens mußte eins dran glauben. Trat auf eine Mine oder so was. Wir hatten jedenfalls Schweinekotelett.«
»Meinst du nicht – die große dort zum Beispiel könnte heute nachmittag auf ’ne Mine treten? Ich könnte es mir schon so einrichten, zum Abendessen hier zu sein, weißt du …!«
Der Soldat, der zu der Stimme gehörte, trat rasch um den Baum herum und stellte sich schützend vor die Schweine. Er war ein großer Bursche mit zwinkernden Augen und mit Händen, die aussahen, als könnten sie jedes Schwein mit einem Schlag erledigen. »Du bist ein Totschläger, was?« sagte er zu Bing.
Bing stand auf und warf den Schweinen den Rest seines Haschees zu.
»Ich esse gern Schweinekotelett«, sagte er, »ich kann mir nicht helfen.«
»Und ich mag das Mädchen dort unten an der Straße«, sagte der Mann, »kapiert?«
Bing klappte sein Kochgeschirr laut zu. »Ich habe nicht die Absicht zu stören.« Er lächelte. »Servus!«
»Servus!«
Bing betrat den Unterstand des I c gerade in dem Augenblick, als Yates einem anderen Offizier auseinandersetzte, warum es unmöglich sei, für Matador ein besonderes Flugblatt herauszugeben. Bing konnte Yates wohl hören, aber er sah nur den breiten Rücken des anderen Mannes gegen das trübe Licht einer von der Decke herabhängenden Birne.
Yates sagte: »Und darum dreht es sich, Captain – ein Schriftstück dieser Art bedeutet eine öffentliche Festlegung unserer Kriegsziele. Wir müßten politische Entscheidungen fällen, zu denen weder Sie noch wir berechtigt sind.« Bings Augen gewöhnten sich an das Licht im Unterstand. Es war ein gut ausgebauter Unterstand. Nur ein Volltreffer konnte ihn erledigen. Er war tief in die Erde hineingegraben. Die Wände waren mit leeren Mehlsäcken ausgeschlagen und mit Karten bedeckt. Das Dach bestand aus einer Balkenschicht, die man mit der ausgeworfenen Erde bedeckt hatte.
Yates bemerkte ihn und rief ihn heran. »Captain Carruthers – hier ist Sergeant Bing. Einer unserer Spezialisten. Er müßte die Sache ausarbeiten, wenn wir die Genehmigung des Obersten Hauptquartiers erhielten.«
Im Vergleich zu seinen breiten Schultern hatte Captain Carruthers einen sehr kleinen Kopf, der durch einen herabhängenden Schnauzbart noch kleiner wirkte. Er schien sich nicht ganz wohl zu fühlen, als ihm Yates seine Ansichten auseinandersetzte, und zwirbelte an seinem Bart herum. Plötzlich hielt er inne und sagte triumphierend: »Großartig, Yates! Sie haben Ihren Mann gleich mitgebracht! Da brauchen wir ja nur noch über den Inhalt zu sprechen. Nun, wie ich schon sagte – wir haben am Morgen Sperrfeuer zu geben. So etwas ist noch nicht dagewesen. Wir machen es sonst nur vor einem Großangriff. Das wird den Deutschen Gottesfurcht beibringen. Und dann –«
»Aber ich sage Ihnen doch, Captain – wir kriegen die Genehmigung des Obersten Hauptquartiers nicht. Und selbst wenn wir die Zustimmung hätten, wäre es für Ihr Vorhaben viel zu spät. Warum nehmen Sie nicht eins von den Blättern, die wir vorrätig haben?«
Yates fühlte sich in der Rolle, die Crerar und Willoughby ihm zugedacht hatten, nicht ganz glücklich. Carruthers hatte ihn zwar in keiner Weise davon überzeugt, daß ein solches Flugblatt eine Wirkung haben würde. Aber schaden könnte es sicher auch nicht.
»Ich habe einige hier. Zum Beispiel dieses – es gibt die Lage nach dem Fall von Cherbourg wieder. Eine Karte ist gleich dabei. Jeder sieht sich so eine Karte gerne an, selbst wenn er den Text nicht liest …«
Carruthers stand auf. Bing erwartete, daß er den Kopf in die Balkendecke rennen würde; es blieb aber doch noch ein beträchtlicher Zwischenraum zwischen Schädel und Decke.
»Von denen da haben wir Millionen«, fuhr Yates fort, aber seine Stimme hatte sehr an Überzeugungskraft verloren. »Wir können sie übermorgen ladefertig an Ihrem Munitionslager abliefern.«
Ich bin nur froh, daß Farrish nicht hier ist, dachte er. Carruthers mußte sich seine Entschuldigungen anhören und sich mit ihnen auseinandersetzen; der General hätte sich den Teufel darum geschert.
»Wir wollen aber diese Ladenhüter nicht«, brachte Carruthers wieder vor. »Wir haben absolut nichts damit erreicht. Wir könnten ebensogut Klosettpapier hinausfeuern oder auf jeden Fall uns die Munition sparen.«
Warum sollen sie eigentlich dieses Flugblatt nicht bekommen, begann Yates sich zu fragen. War er selber eigentlich dafür, oder war er dagegen? Die einzelnen Zuständigkeiten innerhalb der Armee waren ihm völlig gleichgültig und wer nun da die Richtung bestimmte – alle diese Abteilungen konkurrierten miteinander und hoben ihre eigene Bedeutung hervor, nur um ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen.
»Dann schießen Sie doch einfach Geleitscheine hinüber, Captain«, sagte er zerstreut. »Für die haben die Deutschen immer etwas übrig. Wir haben sie bei vielen Gefangenen gefunden. Sie selber haben darüber berichtet. Außerdem sind sie von Eisenhower unterzeichnet; das macht immer guten Eindruck.«
Nein, er war und blieb dagegen. Dieses neue Flugblatt stellte ihn vor Fragen, auf die er keine Antwort bereit hatte. Allerdings, Bing mußte es abfassen und nicht er … Aber was machte das schon aus? Er hatte die Verantwortung zu tragen. Und selbst wenn er kein einziges Wort, nicht einen einzigen Gedanken beizusteuern hatte, so mußte er es doch vor sich selber billigen oder ablehnen! Er allein.
»Lieutenant Yates!« Carruthers’ Stimme klang so abweisend und dröhnte so laut, daß ein Soldat, der hinten im Unterstand am Klappschrank eingeschlafen war, aufwachte und jäh aufsprang. »Es handelt sich um einen Einfall, den der General selber gehabt hat! Ich sagte es Ihnen doch! Und außerdem ist es eine verdammt gute Sache, und ich bin ganz dafür. Am vierten Juli …«
Yates unterbrach ihn und sagte gelangweilt: »Kennen wir alles. Der vierte Juli ist der Geburtstag der Nation, und diese Nation steht im Krieg … Aber warum können Sie meinen Standpunkt nicht verstehen? Sie haben Angst vor Ihrem General.«
»Ich muß das zurückweisen!«
»Schon gut! Schon gut!« lenkte Yates ein. »Sie wollen den Befehlen Ihres Generals nachkommen. Und wir haben unsere zu befolgen –«
»Verdammt noch mal! Schließlich ist es noch die gleiche Armee!«
»Genau was ich sage! Auch General Farrish gehört dieser Armee an. Sie haben Pech, daß gerade Sie es ihm beibringen müssen.«
»Beibringen? –« fragte eine tiefe, rauhe Stimme vom Eingang her. Alle wandten sich um.
»Achtung!« brüllte der Mann am Klappschrank und dankte im stillen seinem Schutzheiligen, der ihn gerade rechtzeitig für dieses große Ereignis geweckt hatte.
Farrish ging mit gesenktem Kopf, um nicht die Decke zu berühren, auf den Feldtisch zu. Er trug Reitstiefel und hielt eine kurze Reitpeitsche in der Hand. Er legte die Peitsche auf den Tisch und setzte sich in Carruthers’ Stuhl, der unter seinem Gewicht krachte.
»Rühren. Weitermachen«, sagte Farrish. »Was beibringen? Wer sind die Leute, Carruthers?«
»Lieutenant Yates, General, von der Propagandaabteilung … und das ist Sergeant –«
»Bing, General.«
Obwohl er vom Jähzorn des Generals gehört hatte, empfand Yates keine Furcht vor Farrish, dazu war er zu intelligent. Wohl aber beeindruckte ihn die Persönlichkeit dieses Mannes, der sofort einen Mittelpunkt bildete, auf den alles zustrebte. Der General wäre auch ein solcher Mittelpunkt gewesen, wenn er keine Sterne auf seinen breiten, geraden Schultern getragen hätte.
»Sie sind hier«, erklärte Carruthers, »um das Unternehmen ›Vierter Juli‹ zu besprechen.«
»Ausgezeichnet!« Farrish strahlte.
Er war ein mit Energie geladener Mann, und vor allem – er war sich dessen bewußt. Dieses Bewußtsein verriet sich in allem, was er tat. Seine Stimme, sein Auftreten, seine Bewegungen – selbst sein Aussehen – waren dem angepaßt, so daß jetzt, nach Jahren, der gewollte Effekt zum Wesen der Persönlichkeit des Mannes geworden war.
»Die Lage ist Ihnen bekannt?« sagte Farrish.
Yates erwiderte, er wisse Bescheid. Carruthers habe ihm alles auseinandergesetzt.
Das heißt, er kannte die Lage an der Front. Die Lage, in der er sich selber befand, die kleine Rolle, die er in diesem Spiel spielen sollte, war durch Farrishs Erscheinen völlig verändert worden. Yates fragte sich, ob er, indem er seinen Anordnungen noch weiter Folge leistete, nur um Crerar und Willoughby Unannehmlichkeiten zu ersparen, nicht mehr Ärger auf sich lud, als die Sache wert war.
Farrish umriß seinen Plan. Dabei ließ er alles, was Carruthers in dieser Angelegenheit schon gesagt haben mochte, außer acht. Er hörte sich gern sprechen. »Ich habe mehr Artillerie, als mir auf dem Papier zusteht. Ich habe achtundvierzig Geschütze in der Division. Ich habe mir genügend Munition aufgespart, um St. Lô in Trümmer zu schießen – oder meinetwegen Coutances oder Avranches oder irgendeine dieser Städte. Am Morgen des vierten Juli um fünf Uhr werde ich aus jedem Geschütz achtundvierzig Feuerschläge hinausjagen. Achtundvierzig Salven aus achtundvierzig Geschützen. Wir sind achtundvierzig Staaten und haben achtundvierzig Sterne auf unserer Fahne. Das ist die Stimme Amerikas im Jahre des Herrn 1944. Großartig, wie?«
»Jawohl, General«, sagte Yates, obwohl es ihm gegen den Strich ging. Der Mann spinnt, dachte er. Aber mußte zugeben, daß in dieser Verrücktheit auch eine gewisse Bedeutsamkeit lag.
Bing erkannte, was in der Idee steckte. Die Sache reizte ihn.
Farrish griff nach seiner Peitsche und schlug sich mit dem Griff leicht gegen sein Kinn. »Sie können sich die Gesamtwirkung einer solchen Beschießung auf die deutschen Stellungen ja denken. Sie wird die Fritzen weich machen und ihnen auf die Nerven gehen. Nach dem achtundvierzigsten Feuerschlag wird Stille eintreten. Vollkommene Stille. Können Sie sie hören?«
»Ja, General«, sagte Yates. Es war merkwürdig, aber er konnte diese Stille tatsächlich hören. Farrishs Art riß ihn mit.