Aus dem Amerikanischen
von Catrin Frischer

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© 2013 by Karen Harrington

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel: »Sure Signs of Crazy« bei Little, Brown and Company, einem Imprint der Verlagsgruppe Hachette, Inc., New York.

Diese Ausgabe wird mit Genehmigung von Little, Brown and Company, New York, New York, USA veröffentlicht. Alle Rechte vorbehalten

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Catrin Frischer

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung eines Fotos von © Plainpicture/Donatella Loi

KH · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15560-5
V001

www.cbj-verlag.de

Für die außergewöhnliche Gigi und die außergewöhnliche Lauren

1. Kapitel

Einer wie mir bist du noch nie begegnet – wenn du nicht gerade Leute kennst, die überlebt haben, obwohl ihre Mutter sie ertränken wollte, und die jetzt mit einem Alkoholiker-Vater zusammenleben.

Sollte es doch noch mehr solcher Leute geben, dann will ich sie kennenlernen, pronto. Pronto ist zurzeit mein Lieblingswort, das sagen sie im Krimi, wenn der Ermittler ganz schnell Informationen haben will. Von solchen Leuten könnte ich eine Menge lernen, ganz besonders, wenn sie älter sind als ich, und ich bin fast zwölf. So, wie die Dinge im Moment stehen, muss ich mir das Meiste allein beibringen.

Das habe ich in mein echtes Tagebuch geschrieben. Laut sagen könnte ich es nie. Niemals.

Falls es dich interessiert, ich habe ein echtes Tagebuch und ein unechtes. Das unechte Tagebuch ist zur Tarnung, es ist eine Attrappe, etwas, das ich direkt vor der Nase von allen Leuten verstecke. Wenn es jemand findet und liest, hält er mich für normal und geht seiner Wege. Ich stelle mir einfach nur vor, dass ein Erwachsener liest, was ich reinschreibe, zum Beispiel so was wie das hier:

War das ein toller Tag heute. Ich habe eine Eins in Mathe gekriegt und eine neue Freundin gefunden. Sie heißt Denise und beim Rechnen summt sie vor sich hin.

Das echte Tagebuch ist nur für mich. Ganz vertraulich und ehrlich. In letzter Zeit habe ich über Probleme geschrieben, über die ich mir klarzuwerden versuche. Das habe ich geschrieben:

Wir haben noch zwei Wochen Schule. Sobald die Schulglocke zum letzten Mal läutet, habe ich zwei riesige Probleme.

Problem 1: Mein Sommer wird langweilig, weil ich ihn im Haus meiner Großeltern verbringen muss. Und da ist es langweilig.

Problem 2: In drei Monaten komme ich in die siebte Klasse und werde das gleiche schreckliche Familienstammbaum-Projekt durchziehen müssen wie Lisas Schwester dieses Jahr. In der Schule wird dann jeder über meine Mutter Bescheid wissen.

Problem 1 kann ich vielleicht ändern, aber Problem 2 ist auf tragische Weise unlösbar. Ich habe keine Ahnung, wie ich um das Projekt herumkommen könnte, es sei denn, ich ziehe weg und gehe auf eine andere Schule. Ich muss genauer untersuchen, ob das möglich ist.

Es ist ein kleines bisschen schwierig, zwei Tagebücher zu führen, doch es ist notwendig. Ich muss Tatsachen, Hinweise und Wörterlisten da verwahren, wo sie niemand außer mir sehen kann. Auf Wörter reagiert nicht jeder Mensch gleich. Manche Wörter haben eine beunruhigende Wirkung. So ein beunruhigendes Wort – oder Problemwort – kann den Gesichtsausdruck des Menschen verändern, zu dem man es sagt. Liebe kann für einige Menschen ein beunruhigendes Wort sein. Verrückt ist auch so ein Problemwort.

Ich weiß, wovon ich rede.

Einmal – wir waren gerade erst nach Garland gezogen, in unser hässliches braunes gemietetes Haus im Yale Court – ist mein Dad so ausgerastet, dass ich dachte, er wollte auf was einschlagen, weil ich das Wort verrückt benutzt habe, um meine Mutter zu beschreiben. Grund dafür war der Berufsinformationstag in der Schule gewesen. Dad hatte mich gefragt, ob ich schon wusste, was ich mal werden will. Ehrlich gesagt, ich überlegte noch, weil ich erst mal abwarten wollte, ob ich auch verrückt werden würde, so wie sie.

Also hab ich zu Dad gesagt: »Wollen wir nicht erst mal sehen, ob ich das Verrücktsein geerbt habe, ehe ich mich für einen Beruf entscheide?« Ich weiß nicht, warum ich das laut gesagt habe. Normalerweise gehe ich vorsichtig mit Worten um.

Dad wirkte so verletzt, dass ich sofort den Raum verlassen wollte. Aber weil er mir den einzig möglichen Weg aus unserer U-förmigen Küche versperrte, konnte ich nirgendwo hin. Mein Plan B war, in einen Küchenschrank zu klettern und mich zu verstecken. Das sagt schon einiges, wenn man bedenkt, dass Küchenschränke in gemieteten Häusern das Ekligste sind, das man je gesehen hat. Sollte es eine Liste mit den ekligsten Orten der Erde geben, dann stehen diese Schränke bestimmt drauf.

»Tut mir leid«, sagte ich.

Er holte tief Luft und antwortete: »Nein, du wirst nicht verrückt, und bitte benutze dieses Wort NIE wieder, um sie zu beschreiben, kleines Fräulein!« Ich konnte nichts dagegen einwenden, weil ich Angst hatte. Ich wünschte, ich hätte Mumm genug gehabt, ihm zu sagen, dass ich verrückt im Wörterbuch nachgeschlagen hatte.

Ich wusste, dass ich das richtige Wort gewählt hatte.

verrückt

Adjektiv

  1. krankhaft wirr im Denken
  2. auf absonderliche, auffällige Weise ungewöhnlich
  3. wahnsinnig

Ich setzte verrückt auf meine Liste der Problemwörter.

Das echte Tagebuch verstecke ich zwischen zwei zusammengefalteten Handtüchern unter meinem Waschbecken, die Attrappe lasse ich offen auf meinem Nachttisch liegen. Sie hat ein glänzendes goldenes Schloss, um den Anschein zu erwecken, dahinter würden sich wichtige Worte verbergen.

2. Kapitel

Ich war erst zwei, da ließ meine Mutter die Küchenspüle mit Wasser volllaufen und versuchte, mich darin zu ertränken. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre sie die Mutter irgendeiner Familie auf der anderen Straßenseite gewesen, eine, über die wir was in den Nachrichten gehört und gedacht hätten: Oh, echt schlimm für die arme Familie. Die Therapeuten, zu denen mein Dad mich mal geschickt hat, haben ihre Zeit damit verbracht, entweder Einzelheiten über das, was sie »den Vorfall« nannten, aus mir rauszuholen oder mir diese in den Kopf zu setzen.

Einer dieser Therapeuten, Dr. Madrigal, war so sicher, dass ich irgendwas von diesem Tag in Erinnerung hatte, dass er mich andauernd fragte, ob ich Wasser-Albträume hätte oder mich vor Wasser fürchten würde. Nein, tu ich nicht. Aber, unter uns, wenn ich noch viel länger zu ihm gegangen wäre, hätte ich bestimmt Angst vorm Schwimmen entwickelt.

Also, obwohl ich ihre Tochter bin und sie versucht hat mich umzubringen, kenne ich die Geschichte nur so, wie sie schwarz auf weiß zu lesen ist. In gewisser Weise bin ich so was wie eine Ermittlerin. Viele der Details sind jedem Menschen mit Computer zugänglich. Aber ich habe Angst, zu Hause irgendwas nachzusehen, deshalb habe ich meine Nachforschungen in der Bibliothek angestellt und die Suchbegriffe Jane Nelson Prozess verwendet.

Jane Nelson ist meine Mutter.

Wenn man das in die Suche eingibt, sagt Google, dass es etwa 812 000 Ergebnisse gibt. So berühmt ist Jane Nelsons Fall im Internet. Als Erstes kann man ihre Wikipedia-Seite anklicken und sich mit den schlichten Fakten vertraut machen. Jane Nelson wurde in Texas geboren. Ihre Mutter kam ums Leben, als sie neun war. Ihr Vater hat sie aufgezogen. Sie machte eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Wurde mit einunddreißig Mutter. Einweisung in die Psychiatrie mit fünfunddreißig.

Man kann auch Artikel über ihren Prozess anklicken und wird dabei auf Details stoßen, von denen man wünscht, sie wären nicht wahr, wie etwa:

JANE NELSON DREHTE DEN WASSERHAHN AUF, NACHDEM IHR EHEMANN TOM NELSON ZUR ARBEIT GEGANGEN WAR.

Zuerst hat sie mich unter Wasser gedrückt. Dann Simon, meinen älteren Bruder. Er ist mein Zwilling, er ist dreieinhalb Minuten vor mir zur Welt gekommen. Ein UPS-Zusteller klopfte an die Tür und traf meine Mutter triefend nass an. Sie bat ihn, den Rettungsdienst anzurufen. Im Rest des Artikels geht es nur noch um die Gerichtsverfahren und wer recht und unrecht hatte und darum zu beweisen, dass sie verrückt war.

Ich blicke nicht wirklich durch bei den Prozessen. Und ja, ich meine Prozesse.

Es waren zwei.

Zuerst der von meiner Mutter, der dazu führte, dass sie für verrückt erklärt und auf unbestimmte Zeit in eine psychiatrische Einrichtung hier in Texas eingewiesen wurde. Und dann der von meinem Dad, weil es ihm nicht gelungen war, uns zu beschützen. Verlangt nicht von mir, das zu erklären. Er war doch bei der Arbeit, als meine Mutter kriminell wurde, und selbstverständlich hätte er uns beschützt. Trotzdem haben die Zeitungen nichts Nettes über ihn geschrieben, nicht mal, nachdem er für nicht schuldig erklärt worden war.

Das Einzige, das ich mit Sicherheit weiß, ist, dass Simon nicht so viel Glück gehabt hat wie ich. Er liegt tot in einem kleinen Grab in Houston, und ich bin in diesem hässlichen braunen Haus in Garland zusammen mit einem blanken rosa Handy, das den »Crazy Frog«-Klingelton von sich gibt, darum weiß ich, dass Lisa anruft.

Ich lege mein Tagebuch beiseite.

»Hey.«

»Hast du’s gesehen?«

»Was denn?«

»Emma Rodriguez ist offiziell in einer Beziehung.«

Übrigens, Lisa ist besessen von Beziehungen.

»Mit wem?«, frage ich.

»Guck’s dir an und ruf zurück.«

»Jetzt sag’s mir schon.«

»Guck’s dir an!«

Als sie auflegt, umwabert mich eine Wolke aus Verärgerung.

So macht sie das immer. Sie ködert einen mit Informationen. Es wäre so schön, wenn ich mit ihr über was Richtiges reden könnte.

Über Simon zum Beispiel.

Dr. Madrigal hat gesagt, ich soll versuchen, meine Gefühle mit Gleichaltrigen zu teilen. Aber was weiß der schon? Er hat mich immer wieder daran erinnert, dass ich keine Schuld habe an den Verbrechen meiner Mutter. Na toll, das habe ich schon selbst rausgefunden, vielen Dank auch. Meine Mutter hat mich nicht so gekannt, wie ein Mensch einen anderen so richtig kennt. Sie war krank und ich erst zwei. Man könnte meinen, das würde keine Rolle mehr spielen, weil es schon vor so langer Zeit passiert ist, aber das ist nicht so. Reporter erinnern die Leute immer wieder gern an diesen Vorfall.

Fast immer, wenn es eine Meldung über eine Frau gibt, die ihr Kind getötet hat, gibt es irgendeinen Verweis auf meine Mutter. So berühmt ist ihre Geschichte.

Ihr werdet also verstehen, warum ich so einen Horror vor der siebten Klasse habe. Es ist einfach unmöglich, mir vorzustellen, ein Stammbaum-Projekt mit Namen, Fakten, Schaubildern und wichtigen Ereignissen in der Familiengeschichte vorzustellen und die Frage zu beantworten, was denn »die interessanteste Verbindung zwischen den Generationen« ist.

Lisas Schwester hat das Projekt letztes Jahr gemacht, und Lisa hat von nichts anderem geredet – abgesehen davon, dass sie das Projekt ihrer Schwester klauen und selbst keinen Finger krumm machen würde – als von ihrer Großmutter, die mal am Broadway gesungen hatte. Lisa hat gesagt, darum werde sie auch die Hauptrolle im Musical Guys and Dolls kriegen, und die hat sie dann tatsächlich bekommen, deshalb konnte ich ihr nicht mal den Wind aus den Segeln nehmen.

Natürlich könnte ich lügen und eine komplett neue Familie mit wunderbaren Eigenschaften wie einer Begabung für Holzarbeiten erfinden. Ich könnte sagen: Oh, meine Familie hat Bücherregale für George Washington gemacht, und seht euch mal den Bleistift an, den ich gerade geschnitzt habe.

Aber dann wäre ich immer noch nicht all diese Angeberinnen wie Lisa los, die es gut haben. Außerdem läuft mein Hals rot an, wenn ich lüge. Wenn ich mein Projekt vor dieser Modepuppe Angela Nee vortragen muss, passiert das ganz bestimmt. In der Schulzeitungs-AG arbeiten Angela und ich Seite an Seite, aber das ist wohl das Einzige, das wir je zusammen machen werden.

Angela Nee: groß, grüne Augen. Perfektes glänzend schwarzes Haar. Wird oft für ein Modell gehalten. Meldet sich im Unterricht und gibt immer die richtige Antwort.

Sarah Nelson: klein, braune Augen. Braune Haare, die dringend einen Haarschnitt brauchen. Wird oft für eine Fünftklässlerin gehalten. Muss aufgerufen werden, wenn sie eine Antwort geben soll.

Eine Siebtklässlerin mit einem Familienstammbaum-Projekt, das aller Welt verrät, dass ein Verrücktheitsgen in meiner Familie vorkommt, will ich vielleicht nicht sein. Aber würde ich gern etwas mehr über meine Mutter wissen? Ja, das würde ich. Ich hätte gern Informationen über sie und die würde ich ganz für mich behalten. Dass wir beide ein Händchen für Pflanzen haben oder so. Vielleicht haben wir ja beide einen grünen Daumen und können Pflanzen mühelos zum Blühen bringen.

3. Kapitel

Wie sich herausstellt, ist Emma Rodriguez in einer Beziehung mit Jimmy Leighton. Lisa hat mich nur ärgern wollen. Sie weiß, dass ich Jimmy mag. Was soll’s.

Nachdem ich was über Problem 1 und 2 in mein Tagebuch geschrieben habe, zähle ich die Tage bis zu den Sommerferien. Noch dreizehn Tage sechste Klasse, das Wochenende eingeschlossen. Sobald die Schule zu Ende ist, fährt Lisa ins Ferienlager, hat also keinen Zweck mehr, »meine Gefühle mit ihr zu teilen«.

Deshalb notiere ich, dass ich einen Informanten brauche, das Wort habe ich neulich Abend im Wörterbuch gefunden.

Informant, der

Substantiv, maskulin

jemand, der (geheime) Informationen liefert

Falls es dich interessiert, mein Wörterbuch ist ganz abgegriffen. Ich habe Lieblingswörter blau markiert. Dad hasst es, wenn ich in Bücher schreibe, aber ich liebe nun mal Wörter aller Art, also muss ich das tun.

Eigentlich sollte Dad mein Hauptinformant sein. Aber ein Informant muss reden, und er redet über nichts anderes als über das, was er einkaufen muss.

Mit meinem Dad läuft ein Gespräch zum Beispiel so ab:

»Ist noch Milch da? Und Cornflakes? Wie wär’s, wenn ich am Samstag Pfannkuchen brate?«

Zu diesen Gesprächen muss man nicht wirklich selbst etwas beisteuern. Echte Informationen muss ich ihm mühsam aus der Nase ziehen. Er ist wie hartes, tiefgefrorenes Speiseeis und ich wie ein mickriges Löffelchen. Und das habe ich daraus gelernt: Für all die harte Arbeit, die man reinsteckt, gibt’s kaum Eis – und am Ende ist der Löffel verbogen.

Wie immer muss ich mir alles selbst zusammenreimen und mir sämtliche Fragen beantworten, die mein Gehirn produziert. Um es klar auszudrücken, ich bin auf der Suche nach Anzeichen dafür, dass ich verrückt werde. Je mehr Informationen ich sammeln kann, desto besser kann ich mich gegen die Welt zur Wehr setzen, gegen mein eigenes Gehirn, das vielleicht so ist wie ihres – oder auch nicht.

Bis jetzt habe ich erst einen Beschluss gefasst, wie ich mein Problem mit der siebten Klasse lösen kann. Ich bleibe dran, wie sie im Krimi sagen. Ich werde selbst nach Hinweisen Ausschau halten. Ich beschließe, die Namen von allen Leuten aufzuschreiben, die mehr über meine Mutter wissen als ich. Sie könnten meine Quellen sein. Dad, meine Großeltern. Und natürlich meine Mutter selbst. Wenn ich genug Informationen habe, werde ich wissen, was zu tun ist.

Unter den Namen von meinem Dad setze ich die Anmerkung, dass er nicht immer die Wahrheit sagt.

  1. Unzuverlässige Quelle
  2. Erzählt Leuten, er wäre Witwer

Als Nächstes kommen meine Großeltern dran. Ich schreibe ihre Namen auf eine neue Seite und mache ein paar Notizen über die Hinweise, die sie liefern könnten.

  1. Abgesehen von Dad sind sie die einzigen mir bekannten Menschen, die meine Mutter vor dem »Vorfall« gekannt haben.
  2. Meine Großmutter hat sie mal Bohemienne genannt.

Bohemienne, die

Substantiv, feminin

eine Person, wie etwa eine Künstlerin oder Schriftstellerin, die konventionelle Regeln und Verhaltensweisen nicht beachtet

Ihrem Ton nach war das kein Kompliment, sondern ungefähr so, als würde ich zu Lisa »Steht dir« sagen, wenn ihre Klamotten eindeutig eine Katastrophe sind.

Auf eine andere Tagebuchseite schreibe ich den Namen meiner Mutter. Lange starre ich darauf.

Jane Nelson.

Die Seite bleibt leer.

Ich wünschte, ich könnte einfach zu ihr hingehen und sie fragen (so wie mein Englischlehrer das immer macht): »Bitte erzähle mit deinen eigenen Worten, was an dem Tag passiert ist, an dem du versucht hast, mich umzubringen.« Aber das kann ich nicht. Ich klappe mein Tagebuch zu und lege es zurück in sein Versteck zwischen den Handtüchern. Dann schaue ich in den Spiegel, bis meine Augen die eines Menschen sind, der ruhig und furchtlos ist. Ich sage zu mir: In deinen eigenen Worten … erzähl mir, was passiert ist. Bevor du antwortest, muss ich dir sagen, dass ich dir nichts übel nehmen werde. Ich führe nur eine Befragung durch. Deine Mitarbeit weiß ich zu schätzen.

Diese Zeilen übe ich vor Pflanze ein, die, wie du sicher weißt, wenn du mein echtes Tagebuch gelesen hast, meine beste Freundin ist. Es gibt nur zwei Dinge, die wir in jedes gemietete Haus mitgenommen haben: Pflanze und die Kiste »Verschiedenes«. Ich trage Pflanze immer in das neue Haus, Dad stellt die Kiste »Verschiedenes« in der Garage ab. Wenn ich ihn frage, was es mit der Kiste auf sich hat, sagt er: »›Verschiedenes‹ ist all das Zeug, von dem man erst weiß, dass man es braucht, wenn man es sieht.«

An den meisten Tagen, an denen ich Pflanze gieße, kann ich ihr ein neues Problemwort nennen. Diese Worte sind alle gründlich mit ihrer Erde vermischt. Wenn Geheimnisse Samen wären, könnten Blätter an ihr sprießen, die mich rot vor Scham werden lassen würden.

Und was würde ich machen, wenn sie dann blüht und der ganzen Welt meine Geheimnisse zeigt? Wahrscheinlich lügen und sagen: »Ach, die war schon da, als wir eingezogen sind. Das sind die Geheimnisse von einem ganz anderen Mädchen.«

4. Kapitel

Pflanze ist ganz meiner Meinung. Wir werden mit unserer Untersuchung beginnen, sobald die Ferien anfangen. Und jetzt durchleide ich erst mal einen heißen Samstagnachmittag in dem Wissen, dass Jimmy Leighton in einer Beziehung ist.

Ich hasse diesen Tag ganz offiziell.

Nun ja, das Wort hassen versuche ich zu vermeiden. Einer der Gründe, warum ich gern Westlich von Santa Fé im Fernsehen sehe, ist, dass der Cowboy Lucas McCain immer Sachen sagt wie: »Hassen ist ein zu starkes Wort, wenn man sich mit jemandem einfach nur nicht einig ist.«

Aber der Tag vor dem zwölften Geburtstag sollte ein schöner Tag sein, an dem man ins Einkaufszentrum gefahren wird, damit man sich sein Geburtstagsgeschenk aussuchen kann.

Nun ja, diesen Plan hat Dad ruiniert, als er beschlossen hat, mit Jim Beam abzuhängen und sich zu betrinken. Das ist nicht ungewöhnlich. Wenn er nüchtern ist, will er alles kontrollieren wie der Geheimdienst. Aber nach ein paar Gläsern bin ich ganz auf mich allein gestellt. Tut mir ja furchtbar leid, Lucas McCain, aber ich hasse diesen Tag immer noch.

Dad versteckt den Jim Beam in einer »Dr Pepper«-Flasche, aber ich weiß Bescheid. Und wenn er trinkt, dann meistens wegen meiner Mutter. Na, hätte ich es denn nicht kommen sehen können? Mein Geburtstag macht ihn traurig. Mein Geburtstag ist nie schön für ihn, deshalb hätte ich mir auch gar nicht erst Hoffnungen aufs Einkaufszentrum machen sollen.

Natürlich ist mein Geburtstag auch Simons Geburtstag, und das liefert schon einen Hinweis darauf, warum meinem Dad nicht nach Feiern zumute ist. Besser gesagt, es wäre Simons Geburtstag gewesen. Über Simon reden wir noch weniger als über meine Mutter. Sein Name ist ein Problemwort hoch zehn.

Ich werde traurig, wenn ich darüber nachdenke, was er sich zum Geburtstag wünschen würde. Wenn ich die Sachen sehe, die Jungs in meinem Alter so haben, halte ich manchmal inne und denke: Hätte Simon so was auch gern? Würde Simon so ein Buch lesen wollen? Würden wir dieselben Dinge machen? Da ich das nicht genau weiß, bekommt er von mir imaginäre Geschenke. Dieses Jahr habe ich ihm einen Motorroller mit blinkenden Lichtern und eine Nachtsichtbrille geschenkt. Letztes Jahr hat er von mir einen Bumerang und The Dangerous Book for Boys bekommen, das ich mehrmals gelesen habe (besonders die Stellen über Mädchen). Simon hat mir dieses Buch im Traum vorgeschlagen. Wir fanden es beide gut.

Ja, manchmal rede ich mit meinem toten Bruder. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass ich verrückt werde, aber mit wem soll ich denn sonst über gewisse Sachen reden? Abgesehen von Pflanze ist er wahrscheinlich derjenige, der mich am besten kennt.

Sarahs engste Vertraute = ein lebendiger grüner Organismus und ein toter Bruder.

Dr. Madrigal hat mal zu mir gesagt, es sei besser, die Dinge so zu sehen, wie sie sind – und nicht, wie sie sein sollten. Aber man hat nicht immer Kontrolle über seine Fantasie. In letzter Zeit stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn meine Mutter hier wäre. Ich könnte eine leere Seite in meinem Tagebuch damit füllen, wie es sein sollte. Wir würden nicht am Ende einer Sackgasse wohnen, auf grauen Boden starren und hören, wie dieser nervige Hund bellt und am Maschendrahtzaun kratzt. Meine Haare wären lang und zu Zöpfen geflochten, und meine Kleider würden sofort zusammengelegt werden, wenn sie aus dem Trockner kommen. Falls es euch interessiert: Meine Haare sind noch nie geflochten worden und meistens fische ich mir ein sauberes, zerknittertes Shirt aus dem Wäschekorb.

»Wie wär’s, wenn wir beide ins Einkaufszentrum gehen?«, hatte Dad gefragt, dabei hatte er mir eine Hand auf die Schulter gedrückt. Sein Atem roch schon ordentlich nach Jim Beam.

»Machen wir«, sagte ich.

Aber dann hat er sich aufs Sofa gesetzt und Western oder irgendwelche Krimis geguckt, die er aufgenommen hatte. Serien gucken ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, ich würde sagen, das ist unsere einzige Gemeinsamkeit. Aber wenn er zu viele Folgen guckt, ist das auch ein Zeichen dafür, dass er unglücklich ist.

Ich hab zu ihm gesagt, ich würde nach draußen gehen, er solle mir Bescheid sagen, wenn er bereit sei loszufahren. Er blinzelte mich an. Da kamen mir Zweifel an unserem Vorhaben. Wenn er das macht, schläft er normalerweise für Stunden ein. Ich hatte gehofft, dieses Mal würde das nicht passieren, denn ich hatte schon entschieden, dass wir zu Claire’s und dann in den iPod-Laden gehen würden. Ich wollte gern einen grünen iPod Shuffle haben, mit dem ich auf dem Heimweg von der Schule Musik hören konnte, und einen Geschenkgutschein von Claire’s. Lisa und ich hatten uns vorgenommen, ihn nächstes Wochenende einzulösen, denn wer will schon seinen Vater hinter sich herdackeln haben, wenn man sich eine lila Handtasche aussucht oder schwarze Armbänder?

Und auch wenn Lisa manchmal eine totale Modekatastrophe ist, weiß sie mehr über Accessoires und wie man sie kombiniert als ich. Sie hat wahrscheinlich zwanzig Paar Schuhe und schenkt mir manchmal ihre alten. Wenn Lisa nicht wäre, hätte ich nur Tennisschuhe und ein schönes Paar für besondere Anlässe, die in der Regel was mit Großeltern zu tun haben und deshalb kaum getragen werden. Außerdem passen sie mir nicht. Lisa hat mir bunte Flipflops geschenkt, damit ich nicht wie ein totaler Idiot rumlaufen muss.

Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch, weil ich heute trotzdem ein Geschenk haben will. Während Dad ausgeknockt ist, klaue ich ihm zwanzig Dollar aus dem Portemonnaie. Warum soll ich denn den ganzen Tag zu Hause bleiben? Ich gönne mir einen Spaziergang zu Walgreens, das liegt nur ein paar Straßen und eine große Kreuzung von unserem Haus entfernt. Soll er sich doch Sorgen machen, wenn er aufwacht, sage ich mir. Soll er doch ein schlechtes Gewissen kriegen. Dann erlaubt er mir vielleicht endlich, mir Ohrlöcher stechen zu lassen. Ich bin praktisch die einzige Zwölfjährige mit ungeschmückten Ohren, die ich kenne.

Bei Walgreens habe ich fast zwei Stunden verbracht, an einer Cola genippt und Zeitschriften gelesen, bis ein Verkäufer mir auf nicht besonders nette Art zu verstehen gegeben hat, dass der Laden keine Leihbücherei ist. Ich solle was kaufen oder weggehen. Also kaufe ich eine Riesentüte M&M’s und einen Liebesroman, der Ein unwiderstehlicher Schurke heißt. Ich will wissen, wie ein Schurke unwiderstehlich sein kann. Beim Bezahlen guckt mich der Kassierer schräg an, als er das Buch einscannt. Ein schwarzes Stirnband mit einer Reihe falscher Diamanten in der Mitte kaufe ich auch noch. Lisa sagt, das ist das perfekte Accessoire für jemanden mit braunen Haaren, die bis zur Schulter reichen – und das tun sie bei mir.

Mit meinem Handy mache ich ein Foto von mir mit dem Stirnband und schicke es Lisa.

Sie schickt mir gleich eines von sich zurück und gibt dabei mit ihren blauen Glitzerohrringen an. Das ist ihre Nachricht:

Mach was mit deinen Ohren.

Oh, Mann.

Ich antworte: Ich hab morgen Geburtstag, hast du das vergessen?

Sie antwortet mit einem Smiley.

Das mit meinen Ohren kann ich nicht ändern. Mein Dad findet, Ohrlöcher sind nur was für erwachsene Frauen, aber was weiß der denn schon von Mode? Meistens muss ich überprüfen, ob seine Socken überhaupt zusammenpassen, oder kleine Fäden abschneiden, die aus seinen Hosentaschen raushängen.

Als ich von Walgreens zurückkomme, ist in meiner Sackgasse noch alles wie vorher. Die Zikaden in den Bäumen lärmen immer noch wie wütende Klapperschlangen, und es ist so heiß, dass man schon im Stehen schwitzt. Wenigstens habe ich jetzt ein Accessoire für meine Haare – und zwar eines mit Pfiff. Das ist mein Lieblingswort – und zwar eines der wenigen mit drei f.

Pfiff, der

Substantiv, maskulin

etwas, was den besonderen Reiz einer Sache ausmacht, wodurch sie ihre Abrundung erhält

Das einzig Neue hier ist Sanchez’ Rasenservice im Garten von Mr. Gustafson. Mr. Gustafson ist der Einzige in der Nachbarschaft, der seinen Garten nicht selbst mäht. Ich vermute, weil er so krumm ist, dass er langsam die Form eines Spazierstocks annimmt.

Der Mähtrupp ist wahrscheinlich nicht wild auf Publikum, aber ich gehe trotzdem rüber zu Mr. Gustafson. Ein mexikanischer Junge mit einer roten Cap fängt mit seiner Arbeit an. Er sieht nicht viel älter als ich aus – und ich frage mich, woher er schon weiß, wie man einen Rasen in einen gleichmäßigen grünen Teppich mit schnurgeraden Staubsaugerstreifen verwandelt. Warum probiert er nicht andere Muster aus, warum macht er keine verwirbelten Außerirdischen-Kornkreise auf diesem Rasen? Mein Hirn denkt so viel, dass es ganz vergisst, meinem Körper zu befehlen, in Bewegung zu bleiben. So was kommt häufiger vor.

Ich stehe still, bis der Junge sich räuspert, so als ob ich im Weg wäre. Wie sich herausstellt, bin ich das.

»Oh, sorry«, sage ich und gehe einen Schritt zur Seite. »Und … gefällt dir diese Arbeit? Macht Rasenmähen Spaß?«

»No hablo inglés

»Was? Oh, verstehe.«

Ist ja nicht so, dass ich noch nie Leuten begegnet wäre, die kein Englisch sprechen. Ich bin schließlich nicht vom Mars. Aber in diesem Moment ist dieser Junge vor mir und seine Unfähigkeit, mich zu verstehen, wie ein gerade entdeckter Schatz. Ich könnte sonst was sagen.

»Regenbogen Schokoladenkuchen Wintersonnenterrasse.«

Er nickt, als würde das einen Sinn ergeben, was ich da in fließendem Aliengebrabbel von mir gegeben habe. Seine Schuhe sind alt und voller Grasflecke, und ich überlege, wie viele Häuser er wohl zu sehen kriegt. So ein Job muss doch Spaß machen. Man kann draußen arbeiten und bekommt immerzu was Neues zu sehen. In mein Tagebuch werde ich das hier als mögliche Berufswahl eintragen. Es wäre bestimmt total interessant, so viele verschiedene Stadtviertel zu sehen. Ich wette, die gemieteten Häuser würde ich schnell erkennen. Sie sind braun, haben das meiste Unkraut und – wie unser Haus – in der Regel einen Baumstumpf im Vorgarten. Eine Straße weiter steht so ein Haus, und die Leute haben eine Topfblume auf den Baumstumpf gestellt, als ob ihn das verschönern würde. Diese Pflanze möchte ich kidnappen, weil sie da oben wahrscheinlich vor Scham eingehen wird.

Der Junge mit der roten Mütze steht da und wartet ab, ob ich weiterreden werde. Manchmal fühlt man sich besser, wenn man Geheimnisse einfach laut ausspricht. Das habe ich aus den Gesprächen mit Pflanze gelernt. Sie ist kein Mensch, aber sie ist etwas Lebendiges, ich weiß also, dass sie mich hört.

Ich fange an.

»Ich habe noch nie einen Jungen so richtig geküsst«, sage ich zu ihm, als er einen Laubbläser vom Lieferwagen holt.

Geheimnis Nummer eins.

»Mein Vater hat mich mal mit dem Auto fahren lassen.«

Geheimnis Nummer zwei. Okay, er steht immer noch vor mir.

Und dann warte ich und hole tief Luft. Wenn jemand erfährt, dass wir diese Familie sind, meine Mutter diese Frau ist und ich dieses Mädchen bin, dann ziehen wir um. Aber jetzt gerade wird der Wunsch übermächtig, genau das zu sagen.

Wenn ich dir meinen Namen nennen würde, könntest du im Internet nach mir suchen, und da – neben einer winzigen Erwähnung meines Zwillingsbruders Simon – würde ich stehen, die Tochter dieser Frau. Die Tochter der Verrückten.

Der Junge legt den Kopf schräg und blinzelt, als würde ich ihn mit einer Taschenlampe anleuchten. Dann wirft er den Laubbläser an und geht um mich herum, damit er seine Arbeit fertigkriegt.

Ich könnte das alles zu ihm sagen, aber für heute habe ich genug gesagt. Ich stehe am Bordstein, mampfe meine fast geschmolzenen M&M’s und schaue zu, wie er den Bürgersteig sauber und wie neu macht. Die beiden anderen Männer vom Trupp laden ihre Geräte ein, setzen sich auf die Ladefläche ihres roten Pick-ups und machen sich Gatorades auf. Einer von ihnen sagt etwas, worüber der andere lachen muss, und ich wünsche mir, ein bisschen Español zu können, was ich aber nicht kann.

»Also, du machst deine Sache gut«, sage ich. Der Junge mit der roten Mütze, der damit beschäftigt ist, irgendwas am Gebläse einzustellen, wirft mir wieder einen Blick zu. Also zeige ich aufs Gras und halte den Daumen hoch. Das muss wohl so was wie ein universelles Zeichen der Anerkennung sein, denn er nickt.

»Cool, na denn. Bis irgendwann mal«, sage ich.

Ich gehe bis ans Ende der Sackgasse und winke dem Rasentrupp zu, als er wegfährt. Dabei frage ich mich, welche Fragen der Junge mir wohl gestellt hätte, wenn er Englisch gekonnt hätte, und welche Geheimnisse er wohl haben mag. Neugierige Leute kann ich zwar nicht leiden, aber für ein saftiges Geheimnis habe ich auf jeden Fall was übrig.

5. Kapitel

Dies könnte der längste Nachmittag in der Geschichte der Nachmittage werden. Mein Dad ist immer noch betrunken.

Vorhin habe ich einen Blick durch die Fliegengittertür geworfen und, war ja klar, da lag er auf dem Sofa wie hingegossen, eine Hand hing übers Kissen, die andere lag auf seiner Stirn, so als wäre er nach einer schlechten Nachricht erstarrt.

Für einen Besuch in der Bibliothek ist es gerade zu heiß und zu Fuß ist der Weg zu weit, also sitze ich mit Ein unwiderstehlicher Schurke und geschmolzenen M&M’s im Vorgarten fest, und irgendwas Neues, das ich auf meine Liste bewegender Erkenntnisse über die Welt setzen könnte, weiß ich auch nicht. Über das, was ich von dieser blöden Stadt weiß, könnte ich jetzt schon ein Buch schreiben. Eine ganze Tagebuchseite habe ich mit einem Kapitel darüber gefüllt. Kann ja sein, dass ich irgendwann mal berühmt werde und meine Memoiren schreiben muss. HA-HA!

Wir wohnen in einem Viertel, in dem alle Straßen nach berühmten Universitäten benannt sind. Man könnte also vermuten, wir würden in einer feinen Gegend leben, aber nein, das tun wir nicht. Ganz im Gegenteil. Vermutlich hat kaum jemand von den Leuten hier an einer Universität studiert. Lisas Mama sagt, alle Menschen sind Teil von Christus’ Leib, also müssen auch einige seine Achselhöhlen sein. Sie sagt, Garland ist die schwer schuftende Achselhöhle von Texas. Das ist ein unverzichtbarer Körperteil, doch schön ist er nicht – und müffeln kann’s dort auch, besonders wenn der Wind von der Kläranlage her weht. Und das tut er oft.

Wenn man struppige Bäume nicht mitzählt, aus deren Krone was rausgeschnitten wurde, damit die Oberleitungen hindurchgeführt werden können, gibt es hier nicht viel Natur, falls man auf so was aus ist. Aber die Leute sind nett und brauchen keinen besonderen Grund, um dich anzulächeln.

Wenn mein Dad und ich zu der Sorte Familie gehören würden, die sich vor dem Haus auf den Rasen stellt und mit dem Zeitungsjungen Freundschaft schließt oder beim Blumengießen über die Straße winkt, würden wir eine Menge interessante Leute kennen. Aber wir sind keine Blumengießer. Nicht mal eine Zeitung haben wir abonniert. Wir wissen, wer unsere Nachbarn sind, aber das bedeutet nicht, dass wir sie kennen.

Ich muss die Nachbarschaft von meinem Fenster aus heimlich beobachten oder vom Baumstumpf im Garten aus. Von dort kann ich unsere Nachbarn in all ihren verschiedenen Farben sehen. In unserer Sackgasse gibt es Familien aus vier verschiedenen Ländern: Mexiko, Indien, Iran und Vietnam. Und Dad hat gesagt, Mr. Stanley habe letztes Weihnachten eine Russin geheiratet. Ich würde zu gern wissen, wie er an solche Informationen kommt, schließlich redet er mit niemandem. Vom Beobachtungsposten an meinem Fenster aus ist mir aufgefallen, dass die Leute in unserer Nachbarschaft hart arbeiten. Jeden Morgen werde ich vom Knattern alter Last- und Lieferwagen geweckt, die ihre Welten da draußen ansteuern. Was sie da den ganzen Tag über tun, ist nicht schwer zu erraten. Wenn man zum Beispiel einen Handwerker oder eine andere Dienstleistung braucht, ist es völlig überflüssig, die Auskunft anzurufen. Aus dem Fenster gucken reicht, schon hat man die passende Firma gefunden. Und die Telefonnummer steht in großen Lettern auf dem Last- oder Lieferwagen.

KLEMPNEREI JENNINGS
MALER NGUYEN
BOB’S POOLSERVICE

Als ich mal zu Hause bleiben musste, weil ich krank war, habe ich die Gegend von meinem Fenster aus beobachtet. Und da habe ich gemerkt, wie still es ist, nachdem all die Nachbarn zur Arbeit gefahren sind, ein paar Minuten lang hat man die ganze Straße für sich allein, ehe die Schulbusse auftauchen. Dann sieht man Kinder auf Rädern und zu Fuß unterwegs, die alle in ein und dieselbe Richtung steuern. Sie haben was von verschlafenen Robotern mit Rucksäcken an sich.

Wenn der Wind auffrischt, kann man das Windspiel in Mrs. Duprees Eichen glockenhell läuten hören. Dieses Geräusch bestimmt meine Entscheidung, ob ich eine Jacke anziehe oder nicht. Montags schrillt das Piep-Piep-Piiiiep des Müllwagens durch die Straßen. Und wenn man nachmittags superleise ist, bekommt man mit, wie das Postauto, das so gegen drei unsere Sackgasse erreicht, immer wieder anhält und weiterfährt.

Und dann habe ich beobachtet, wie sich am späten Nachmittag in unserer Nachbarschaft alles wieder umkehrt. Der Schulbus fährt aus der entgegengesetzten Richtung die Straße entlang. Die Schulkinder sind dieselben, nur ihre Rucksäcke sind jetzt vielleicht noch schwerer. Die Lieferwagen der Handwerker rumpeln wieder, von wo auch immer sie tagsüber gewesen sind, heran und parken vor den Häusern, die Männer bleiben stehen und schauen nach der Post. Und bald riecht es nach Essen in den Gärten, von den Grills und den Küchenherden, exotische Düfte … Schon beim Gedanken daran läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

Während das Abendessen kocht und brutzelt, fahren die kleinen Kinder auf ihren Rädern herum oder spielen Kästchenhüpfen, bis die Mütter sie reinrufen. Dabei sind Akzente zu hören, die einem im Leben noch nicht zu Ohren gekommen sind. Wenn das Licht schwindet, werden die Geräusche der Rasensprenger und Zikaden lauter.

Ich vermute also, in Garland kann man doch noch was lernen. Es ist die vierte Stadt, die ich mein Zuhause nenne. Dr. Madrigal würde es freuen, wenn sie wüsste, dass dies eine Information ist, die ich mit Lisa geteilt habe.

Falls es euch interessiert, ich habe für jede Stadt ein extra Tagebuch. Vier verschiedene, jedes in einer anderen Farbe. Angefangen habe ich in Galveston (blau), dann bin ich nach Waco (gelb) umgezogen, dann nach Tyler (rot), und nun sitze ich mit einem hellbraunen Tagebuch hier im Lande Gar. So nennt Lisa diese Stadt.

Ich habe am liebsten am Meer in Galveston gewohnt, ganz einfach weil es dort so hübsch war. Unser Küchenfußboden war immer voller Sand und wir konnten die Fenster fast das ganze Jahr lang offen lassen. Nach der Arbeit sind Dad und ich ganz oft am graugrünen Meer Muscheln sammeln gegangen. Aber zu viele Leute kannten uns da, deshalb mussten wir wegziehen. Dad hat gesagt, allein einkaufen zu gehen war ihm unangenehm, und das verstehe ich völlig.

Kurz bevor wir unser letztes Zuhause in Tyler verlassen haben, wurde Dad von einer Frau mit riesigem Busen in einem tief ausgeschnittenen Tanktop im Supermarkt erkannt. (Dad hat später gesagt, ihre Brüste würden baumeln, ein Wort, das ich in Zukunft gern häufiger verwenden möchte.)

baumeln

schwaches Verb

von etwas herabhängen und dabei (gleichmäßig) hin und her schwingen

Wir waren gerade auf der Suche nach reifen Pfirsichen, beschnupperten die Früchte und suchten die besten aus, als diese Frau auf uns zusteuerte und Dad anstarrte, als hätte sie noch nie im Leben einen Mann gesehen. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, ihr Blick wanderte von oben nach unten, von links nach rechts. Leute haben etwas Hässliches an sich, wenn sie über jemanden urteilen. Kopf ein wenig schräg gelegt, die Nase gerümpft, so als würde der Geruch nach verfaultem Essen unter den Nasenlöchern entlangziehen. Genau so sah die Vollbusenfrau aus. Wenn Leute nur ein einziges Mal in den Spiegel schauen würden, während sie jemanden verurteilen, würden sie das nie wieder machen. Das ist kein schöner Anblick.

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Sie nicht doch ins Gefängnis gehören«, sagte sie.

Das war das Ende unserer Einkaufstour. Wir ließen unseren Einkaufswagen einfach in der Obst- und Gemüseabteilung stehen und verließen den Laden. Seitdem betrachte ich vollbusige Frauen mit Argwohn.