EIN HAUCH ZUKUNFT

Aus dem Englischen
von Alexandra Ernst

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Copyright Text und Illustrationen © Femi Fadugba 2021

The moral right of the author has been asserted.

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel
»THE UPPER WORLD« bei Penguin Books Ltd,
einem Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe UK.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München,
unter Verwendung einer Vorlage von Puffin
in der Penguin Random House Verlagsgruppe UK

Umschlagillustration: © Michael Rogers, 2021

kk · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27779-6
V003

www.cbj-verlag.de

Inhalt

Teil 1 · Entfernung

Teil 2 · Zeit

Teil 3 · Materie

Teil 4 · Energie

Die Nachberechnung

Anhang

Teil 1

Entfernung

Aus dem Notizbuch von Blaise Adenon:
1. Brief

Lieber Esso,

es war einmal eine Gruppe Gefangener, die in einer Höhle lebten.

Ihr ganzes Leben lang knieten sie im kalten Dreck, den Felsen vor Augen, die Ketten so eng um den Hals gewickelt, dass sie sich nicht einmal umdrehen und nachsehen konnten, wo das bernsteingelbe Licht in der Höhle herkam.

Jeden Tag sahen sie die Schatten, die das verborgene Licht hinter ihrem Rücken warf, über die Felswand zucken und tanzen. Sie studierten die Schatten, gaben ihnen Namen, beteten sie an.

Dann, eines Morgens, konnte sich einer der Gefangenen befreien. Er drehte sich zu dem hellen Licht am weit entfernten Ende der Höhle um, und er starrte es voller Staunen an und wollte unbedingt wissen, woher es kam, wohin es führte.

Seine Freunde, die noch immer angekettet waren, warnten ihn: »Bleib hier, du Narr! Du weißt nicht, wohin du gehst! Du wirst sterben, wenn du zu weit von hier fortgehst!«

Aber er hörte nicht auf sie.

Als er die Höhle verließ, verstand er nichts von dem, was er sah, nicht die Bäume oder die Seen, nicht die Tiere und auch nicht die Sonne. Die Energie strömte hier draußen so frei, dass es sich beinahe … falsch anfühlte. Aber mit der Zeit begriff er seine neue Realität, und er erkannte, dass sein ganzes Leben und alles, was ihm bislang in der Höhle widerfahren war, nur ein Schatten dieses größeren Ortes gewesen war.

Und er nannte diesen Ort die Obere Welt.

Er rannte aufgeregt zurück in die Höhle, um seinen Freunden die frohe Botschaft zu bringen. Aber als er ihnen erzählte, was er in der Oberen Welt gesehen hatte, lachten sie ihn aus und nannten ihn einen Verrückten. Und als er ihnen anbot, sie von ihren Ketten zu befreien, drohten sie ihn umzubringen.

Ein Mann namens Sokrates – ein Mann, der wirklich gelebt hat – erzählte diese Geschichte vor mehr als 2300 Jahren in Athen. Die meisten Leute hielten sie bloß für ein wunderliches Märchen, eine Metapher dafür, wie einsam man sich fühlen kann, wenn man ins Unbekannte vordringt. Aber was die Menschen noch heute dabei übersehen, mein Kind, ist, dass Sokrates wirklich an die Obere Welt glaubte. Und dass er, als er den Menschen erzählte, was er dort oben gesehen hatte, hingerichtet wurde.

Kapitel 1

Esso · Jetzt

Es braucht schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer Woche. Und das war noch vor der Sache mit dem Zeitreisen.

Ich kniete mich hin und lehnte mich mit den Ellbogen auf die einzige Ecke der Matratze, wo das Laken noch ordentlich festgesteckt war. Ich war in meinem Zimmer, ich war müde und allein und ich hätte dringend etwas himmlische Unterstützung gebraucht. Aber ich konnte mich nicht entscheiden, wen ich um Hilfe bitten sollte: Jesus, seine Mum, Thor, den Propheten Mohammed (und den großen Mann, für den er arbeitet), diesen asiatischen Kahlkopf in dem orangefarbenen Betttuch, den Dad von Jesus, Kaiser Haile Selassie, die Voodoo-Puppe meines Großvaters, Morgan Freeman oder den schwarzen Monolith auf dem Mond aus diesem alten Film 2001. Also betete ich zum ganzen Team, nur um sicherzugehen.

»Ihr heiligen Avengers«, flehte ich in meine verschränkten Finger. »Zuallererst: Vergebt mir, dass ich am Montag ein solcher Scheißer war. Und dass ich meine Mum angelogen und ihr nicht erzählt habe, was passiert ist.«

Montag (vor vier Tagen)

Bevor am Montag alles den Bach runterging, habe ich tatsächlich etwas in der Schule gelernt. Und zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, wie Schule eigentlich immer sein sollte.

Die Penny Hill Secondary School stand auf der Grenze zwischen Peckham und Brixton. In den 1940ern, als die Schule errichtet wurde, war das kein Thema, aber es wurde eins, als sie von den Jungs überrannt wurde. Mittlerweile gab es in der Penny Hill Kids zweier rivalisierender Banden, die gezwungen waren, jeden Tag sieben Stunden miteinander zu verbringen, während von uns anderen erwartet wurde, dass wir mit dieser Faust im Nacken etwas lernten.

Unser Klassenzimmer bestand aus vier Reihen mit jeweils acht Schreibtischen. Die Decke war ein paar Handbreit zu niedrig, sodass man sich fühlte wie eine Henne in einer Legebatterie, wenn man wie ich in der Mitte saß. Miss Purdy war Leiterin der Sportabteilung und unterrichtete außerdem Mathe. Und sie konnte wirklich unterrichten, will sagen: Sie wusste, wovon sie redete, und wir waren ihr nicht scheißegal. In ihrer Klasse gab es deshalb die wenigsten Prügeleien und die besten Noten. Selbst meine Hausaufgaben landeten hin und wieder mit einer Zwei auf meinem Schreibtisch. Mathe hatte schon immer einen gewissen Reiz auf mich ausgeübt. Mein naives Ich träumte davon, dass ich eines Tages einen Haufen Geld haben würde, und alles nur wegen Mathe.

Ich habe immer die einfache Tatsache respektiert, dass zwei plus zwei vier ist. Die meiste Zeit schaltete ich ständig zwischen meinen verschiedenen Stimmen hin und her: meiner afrikanischen Zuhause-Stimme, meiner coolen Straßengang-Stimme, meiner Lesestimme in Englisch und der Telefon-Stimme, die ich hervorhole, wenn die Telefongesellschaft jemanden schicken soll, der den Router repariert. Mir gefiel es, dass so was in Mathe keine Rolle spielte. Die Lehrerin konnte mich für einen totalen Arsch halten, wenn sie wollte, aber zwei plus zwei war trotzdem immer noch vier.

Was ich an jenem Montagmorgen nicht ahnen konnte war, dass die dreiseitigen Formen, die Miss Purdy ans Whiteboard malte, mir die Augen für alle vier Dimensionen öffnen würden. Wenn mir jemand erzählt hätte, dass ich mich bis zum Ende der Woche wie ein Hellseher-Superheld bewegen würde, hätte ich ihm ins Gesicht gesagt, dass er auf Crack ist, und ihm die leer stehende Wohnung in Lewisham gezeigt, wo er mit seinesgleichen rumhängen konnte.

»Heute beschäftigen wir uns wieder mit dem Satz des Pythagoras«, sagte Purdy und kreiste eine Gleichung ein, die sie gerade an die Tafel geschrieben hatte. »Mit diesem Satz werden wir die Länge der längsten Seite in dem Dreieck darunter berechnen.«

Purdy wartete mit verschränkten Armen, dass es in der Klasse ruhig wurde.

»Schschsch!«, sagte Nadia, ruckte mit dem Kopf zu den beiden tratschenden Mädchen hinter ihr und warf ihnen einen bösen Blick zu.

Nadia war nun wirklich keine Streberin, und sie war auch nicht immer mit Feuereifer im Unterricht dabei. Aber die Probeklausuren für die GCSE-Prüfungen standen bevor, und sie wollte sich eindeutig nicht von irgendwelchen Kids, denen alles sonst wo vorbeiging, die Noten versauen lassen.

Ich starrte in die Ferne und legte dabei den starrenden Schmollmund-Blick auf, den ich heute Morgen im Spiegel geübt hatte. Nadias Augen mussten auf ihrem Weg zurück zum Whiteboard an mir vorbeikommen und ich wollte einen möglichst guten Eindruck hinterlassen. Echt jetzt, es ist so was von peinlich, wie oft ich diese Dinge mache, nur wegen ihr. Ich verbringe etwa sechzig bis siebzig Prozent meiner Zeit in der Schule entweder damit, a) wie ein Depp ihren Hinterkopf anzustarren, b) ihr aus dem Augenwinkel Blicke zuzuwerfen oder c) einen Schmollmund zu ziehen und zu hoffen, dass sie mich bemerkt, was ich nie wirklich erkennen kann, weil ich ja wie ein Aftershave-Model in die Ferne starre.

Purdy wandte sich mit zwei verschiedenfarbigen Markern in der Hand zur Tafel. »Damit das alles nicht so abstrakt klingt, nehm ich mal ein Beispiel aus dem Leben. Sagen wir, ihr geht durch den Burgess Park. Ihr fangt hier am Südtor an zu laufen und müsst die Straße hoch bis ans Ende der Old Kent Road. Es gibt eigentlich nur zwei Wege, die ihr nehmen könnt: den ersten, an der Seite hoch und dann oben entlang, wahrscheinlich viel zu lang für euch coole Kids.«

Sie wartete, ob jemand – irgendjemand – lachen würde. Nach einer langen, kalten Dosis aus Schweigen fuhr sie fort. »Tja, ist wohl ein harter Montag. Also, wenn man den langen Weg nimmt, muss man auf dem Gehweg bleiben und ganz bis nach oben gehen und dann die ganze Strecke nach drüben. Aber die Alternative, die kürzere Strecke, führt quer über den Rasen.«

Als sie ein paar Schritte beiseitetrat, sahen wir, dass sie an zwei Seiten des Dreiecks Zahlen geschrieben hatte, an die längste Seite aber ein Fragezeichen. Ein gemeinschaftliches Seufzen ertönte im Raum, als uns klar wurde, dass sie einen von uns verhören und praktisch bis aufs Hemd nach der Antwort ausfragen würde.

»Fangen wir mit der kürzesten Seite des Dreiecks an. Kann mir jemand sagen, was herauskommt, wenn ich die Zahl Drei zum Quadrat nehme?«

Nadias Hand schoss hoch – die einzige Stecknadel im Heuhaufen – aber Purdy ignorierte sie. Sie musste uns anderen auch hin und wieder eine Chance geben. Deshalb pickte sie jemanden heraus, der ihr viel weniger Aufmerksamkeit schenkte.

»Rob, wie viel ist drei zum Quadrat?«

Man hätte glauben können, Miss Purdy wäre aus Glas, denn Rob starrte geradewegs durch sie hindurch.

Bitte sag mir, dass du weißt, dass drei mal drei neun ist, flehte ich innerlich. Neben Kato war Rob mein bester Freund, und ich wusste, dass Mathe nicht sein Ding war. Um ehrlich zu sein, war die ganze Schule nicht unbedingt Robs Ding. Aber wenn man ihn nach dem Unterschied zwischen UK Drill, NY Drill und Chicago Drill fragte, verwandelte er sich in Einstein. Und wenn man ihm eine Geschichte erzählte, die man in den Abendnachrichten gehört hatte, dann fand er unter Garantie irgendeine geniale Möglichkeit, dieses Ereignis mit den Illuminati in Verbindung zu bringen und ihrem Bestreben, Menschen mit (mehr oder weniger) dunkler Hautfarbe und Osteuropäer zu vernichten. Rob war selbst Pole, aber das allein sagte überhaupt nichts über ihn aus.

Kato, der neben Rob saß, flüsterte ihm zu: »Afghanistan, Rob! Die Antwort lautet: Afghanistan. Ich schwör’s!«

»Afghanistan«, plapperte Rob gehorsam nach und präsentierte Purdy seine stolze Miene.

Sie blinzelte ungefähr drei- oder viermal aus lauter Verwirrung. Seine Antwort war so dermaßen daneben, dass ihr die Worte fehlten. Sie konnte nicht anders, als den Mund zuzuklappen und den Blick abzuwenden.

Kato lachte sich schlapp und wischte sich mit den Ärmeln die Tränen aus den Augenwinkeln. Für diesen Kerl war alles eine Lachnummer. Vielleicht, weil ihm alles im Leben so leichtfiel.

Rob funkelte ihn an und zog verächtlich die Luft durch die Zähne, bis ihm die Spucke herauslief. Manchmal fragte ich mich, ob unsere fragwürdige Freundschaft in drei Teile zerbrechen würde, wenn ich mal länger als eine Woche nicht in der Schule wäre. Aber jeder in der Penny Hill hätte geschworen, dass wir unzertrennlich waren – der fröhliche Dreierpack: Kato, Esso und Rob. Selbst wenn nur einer von uns Mist baute, bekamen es alle drei ab. »Das waren Kato, Esso und Rob!«, hieß es dann. Als ob alle drei Namen in meinem Pass stünden.

»Esso?« In Purdys Augen stand Verzweiflung.

»Man muss doch nur die Zahl mit sich selbst malnehmen?«, sagte ich. Ich wollte eigentlich nicht, dass meine Antwort wie eine Frage klang, aber meine Stimme setzte hinter das letzte Wort unwillkürlich ein Fragezeichen. Sie legte den Kopf leicht schräg und wartete auf meine endgültige Aussage. »Also drei mal drei, das macht neun«, setzte ich hinzu.

Sie jagte mich durch alle Schritte der Gleichung, bis ich sie in ihren Augen ausreichend gewürdigt hatte. »Also ist c – die lange Seite – gleich fünf« sagte ich schließlich.

Ich hatte die Antwort schon in meinem Kopf bereitgelegt, und während sie alles an die Tafel schrieb, debattierte ich mit mir selbst, ob ich die Frage stellen sollte, die sich in meinem Kopf festgesetzt hatte. Miss Purdy hatte uns am Anfang des Unterrichts erzählt, dass Pythagoras vor 2500 Jahren auf seinen berühmten Satz kam. Vor 2500 Jahren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Papier damals noch nicht erfunden war. Aber wie?

Mein Problem war, dass es eben doch dumme Fragen gibt, egal, was Erwachsene sagen. Tatsächlich brachten mir die meisten meiner Fragen einen Blick ein, der mir bewies, dass ich eine saudumme Frage gestellt hatte. In der Schule fing ich mir von den Lehrern eine Abfuhr ein, wenn ich eine Frage stellte, die nicht auf dem Lehrplan stand. Und zu Hause passierte mir das Gleiche, wenn ich meiner Mum Fragen über meinen Dad stellte. Jeder Satz, der mit »Warum« oder »Wie« anfing, war offenbar schrecklich, jedenfalls für eine gewisse Person.

Aber sobald eine Frage in meinem Kopf Gestalt angenommen hatte, musste dieses Loch gefüllt werden. Es war von Vorteil, dass mich Miss Purdy immer noch anlächelte, und dass sie es für gewöhnlich schätzte, wenn wir Mittelbänkler die Hand hoben. Scheiß drauf, dachte ich und räusperte mich. Was kann schon passieren?

»Wie ist Pythagoras überhaupt auf diese Gleichung gekommen?« Ich gab mir alle Mühe, gleichgültig zu klingen, während der Krater, in den die fehlende Antwort gehörte, sich jede Sekunde vergrößerte.

Etwas schnickte mir gegen das Ohr. Kurz und knapp und knisternd. War das … ein Papierkügelchen?

»Streeeeeeeeber«, grölte Kato. Ich drehte mich zu ihm und sah, dass er seine Finger um die Augen legte wie ein Brillengestell.

Rob lachte auch, gefolgt von der hinteren Hälfte der Klasse. Ich brauche neue Kumpels, entschied ich. Aber dann drehte sich Nadia mit dieser Mischung aus Überraschung und Anerkennung im Blick zu mir um; sofort war alle Peinlichkeit vergessen. Ich setzte wieder meinen Schmollmund auf.

Miss Purdy verbrachte die nächsten fünf Minuten damit, uns zu erklären, wie Pythagoras seine Idee mit den Dreiecken zu einem mathematischen Gesetz ausgearbeitet hatte, das für den Rest der Ewigkeit Gültigkeit haben würde, und zwar überall im Universum.

Sobald Purdy mit ihrer Erklärung1 fertig war, hatte ich ein Gefühl, als ob sich in meinem Kopf ein rostiger Riegel gelöst hätte. Und erst zum zweiten oder dritten Mal überhaupt in meinem Leben hegte ich die Hoffnung, dass ich vielleicht – nur vielleicht – in einer Welt lebte, in der es einen Sinn gab.

Als sie mir den Rücken zukehrte, googelte ich auf meinem Smartphone »Pythagoras«. Es stellte sich heraus, dass der Mann – wie die meisten richtig schlauen Leute – nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt hatte. Glaubte man dem Internet, hatte er einen Kult gegründet, in dem alle Jünger schwören mussten, niemals schwarze Bohnen zu essen oder in Richtung der Sonne zu pissen. Oh, und sie alle beteten die Zahl Zehn an und glaubten, wenn man den Schleier von dem, was wir als Realität betrachteten, wegzog, fand man bei näherem Hinsehen nichts weiter als Mathematik, denn das war angeblich die Sprache, in der die Götter das Universum erschrieben hatten.

Es gab auch ein paar Links zu einem von seinen Anhängern, einem Typen namens Platon, und einem anderen, der Sokrates hieß, aber die klickte ich nicht an. Das wurde mir alles irgendwie zu abgedreht und ich steckte mein Smartphone weg. Ich hatte Glück, dass Purdy mich nicht erwischt hatte. Ich wollte die Pluspunkte, die ich bei ihr gesammelt hatte, nicht gleich wieder aufs Spiel setzen.

Und dann kam Gideon Ahenkroh ins Klassenzimmer.

Obwohl er die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen hatte, konnte man Gideons Augen sehen, die auf den Boden vor seinen Füßen geheftet waren, während er zu seinem Platz ging. Wie bei jedem Schüler der Penny Hill hing seine Hose so tief es nur irgend ging auf seinen Hüften. Bei den Mädchen und ihren Röcken war es ähnlich, nur in die andere Richtung.

Rob, Kato und ich wechselten einen Blick. Und dieser Blick besagte: Ich merke es auch. Da liegt was in der Luft. Gleich passiert etwas total Irres. Wir drehten uns schnell wieder nach vorn, um nichts zu verpassen.

»Gideon, du kommst zu spät. Schon wieder«, sagte Miss Purdy. »Und du weißt doch: Keine Mütze im Unterricht. Nimm sie ab und setz dich, es sei denn, du möchtest dem Büro des Schulleiters schon wieder einen Besuch abstatten.«

Als Gideon seine Kappe abnahm, erklang aus einunddreißig Mündern ein schallendes Gelächter. Überall auf seinem Kopf prangten centgroße kahle Stellen, und jede einzelne Stelle glitzerte, als ob er Glitter in sein Haaröl gemischt hätte. D, der hinter ihm saß, hatte den besten Blick auf die Zickzacklinien, die über Gideons Nacken verliefen.

Wenn der Spruch »stille Wasser sind tief« auf einen Roadman zutrifft, dann ist dieser Roadman D. D war nie auf Ärger aus, der Ärger war auf ihn aus. Wenn er etwas sagte, was nicht oft geschah, fingen die Leute entweder an zu lachen oder sie nickten zustimmend. Oder aber sie rannten um ihr Leben. Alle in South London waren sich einig darüber, dass D und sein kleiner Bruder Bloodshed – beide Mitglieder einer Gang aus Brixton namens T. A. S. – die beiden hellhäutigsten Schwarzen waren, die je erschaffen wurden. Es war, als hätte jemand Young M.A dazu überredet, mit Fredo Babys zu zeugen, und dann mithilfe eines Wissenschaftlers alle Spuren von Drake und Chris Brown aus ihrer DNA entfernt. D war der stämmigere der beiden Brüder und trotzdem satte einsachtzig groß. Selbst wenn er saß, füllte er allein jeden Raum.

»Mann, das ist vielleicht ’n beschissener Haarschnitt«, sagte D. »Sag Bescheid, wenn ich die Gang mal zu deinem Friseur schicken soll. Niemand außer mir darf dich so verunstalten.« Er sackte auf seinem Stuhl nach unten und lachte über seinen eigenen Witz, wobei sein Goldzahn aufblitzte. Nach kurzem Zögern lachten wir auch, das war sicherer.

Plötzlich kam mir eine Idee, wie ich noch einen drauflegen konnte. Ein Teil von mir dachte: Nein, Esso, sei nicht so fies. Gideon hatte auch so schon keinen guten Morgen. Lass ihn in Frieden. Ich starrte Nadias Hinterkopf an und wusste genau, sie würde mir dasselbe sagen. Aber die verbleibenden neunundneunzig Prozent von mir schrien: Mach schon, Kumpel. Gib den Leuten, was sie wollen. Das ist Gottes Plan.

»Wahrscheinlich hat seine Mum sie ihm geschnitten«, sagte ich. »Sie weiß, dass sie nichts abkriegt, also will sie dafür sorgen, dass es ihm genauso geht.« Eine viel lautere Lachsalve wogte durch das Klassenzimmer. Ich ging ein ziemliches Risiko ein, wenn man bedenkt, wie rausgewachsen mein Fade Haircut mit den Twists aussah. Aber selbst D nickte anerkennend. Mission erfüllt.

Bis zur neunten Klasse war mir nicht klar gewesen, wie viel lustiger man wird, wenn man Macht hat. Ich war nur noch ein paar Sprossen von der obersten Stufe der Hierarchie der Penny Hill entfernt, was bedeutete, es wurde von den Leuten erwartet, dass sie über meine Witze lachten, besonders dann, wenn sie lustig waren.

Nadia allerdings lachte nicht. Eigentlich hätte ich gerechterweise einen Teil ihrer Missbilligung abbekommen müssen, aber nein, sie richtete ihre gesamte Verachtung auf D und starrte ihn mit einem Blick an, der Vibranium hätte schmelzen können. Er grinste nur und warf ihr eine Kusshand zu.

Für mich war es immer zum Totlachen, wie sehr die beiden einander hassten. Ich weiß noch genau, wie Ds Handy einmal im Unterricht anfing zu klingeln und Nadia, die merkte, dass Miss Purdy nichts dagegen tun konnte, einfach zu D ging, ihm das iPhone aus der Hand riss und es aus dem Fenster warf. Aus dem ersten Stock. Sie blieb sogar stehen und sah zu, wie es über den Asphalt hüpfte wie ein Kieselstein übers Wasser. D bildete sich ein, er hätte Macht über alle, und Nadia dachte, sie schuldete niemandem etwas. Also … Milch und Orangensaft.

Nadia war offenbar nicht die Einzige, die das nicht lustig fand. Miss Purdy hatte die Arme vor der Brust verschränkt und Gideons Kopf lag auf seiner Brust. Armer Kerl, dachte ich und war überrascht, wie sehr ich meinen Scherz bereute.

Aber Gideon Ahenkroh hatte eigene Vorstellungen davon, wie die Sache enden sollte. Er schoss aus seinem Stuhl hoch und einen Sekundenbruchteil später fühlte ich einen harten Aufprall auf meiner Stirn. Mein Blick wanderte nach unten und fiel auf einen weiß-orangefarbenen Klebestift, der über den Boden rollte.

Hat mir Gideon gerade einen Klebestift an den Kopf geschmissen?

Ich sprang ebenfalls auf und jagte ihm nach. Gideon täuschte einen Ausfall nach links an und rannte dann nach rechts. Bis ich die Richtung gewechselt hatte, war er schon zur Tür hinaus.

»Wir seh’n uns, du Arsch!«, schrie ich ihm nach. Aus irgendeinem Grund wird meine Stimme beim Fluchen immer irgendwie schrill und amerikanisch. »Warum rennst du weg? Komm, dann erledigen wir das hier und jetzt, Bro!«

Ich hörte Rob und Kato hinter mir kichern. Sie wussten besser als jeder andere, dass ich Gideon kein Haar krümmen konnte. Ich hatte den Körperbau eines Bleistifts; die meisten Siebtklässler hätten mich locker vermöbeln können.

Ich drehte mich zu Miss Purdy um, deren Gesicht neonpink angelaufen war.

»Komm wieder rein und setz dich, Esso! Sofort!«

Und so bekam ich meinen ersten Verweis.

Und damit begann die verrückteste Woche meines Lebens.

Mittwoch (vor zwei Tagen)

Die Penny Hill Secondary School war zu geizig, um Briefe per Express zu verschicken. Und da ich den Verweis am Montag gekriegt hatte, wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass der Brief nicht vor Mittwochmorgen ankommen würde.

Am Mittwochmorgen sah ich, wie der Brief durch die Klappe in unserer Haustür geflogen kam, und schnappte ihn mir, noch bevor er auf dem Boden landete. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, ihn zu öffnen, sondern schob ihn nur ganz tief in den Müllcontainer draußen und ging einfach weiter. Mission erfüllt.

Na ja, fast. Der Postbote kam eine Stunde zu spät, was bedeutete, dass ich eine Stunde zu spät in die Schule kam.

Und schon hatte ich meinen zweiten Verweis.

Aber das erschütterte mich auch diesmal nicht besonders. Ich hatte ein System: Die Schule schickte den Brief an diesem Mittwochnachmittag ab, also kam er am Freitagmorgen an. Hoffentlich war der Postbote das nächste Mal pünktlich und warf die Post ein, bevor ich zur Schule musste. Aber selbst wenn nicht, meine Mum hatte Ende der Woche Nachtschicht, also konnte ich in der Mittagspause heimlaufen und ihn abfangen, bevor sie wieder aufstand.

Mum und ich kamen im Moment gut miteinander klar. Sie hatte mir ein bisschen was davon erzählt, was sie in meinem Alter angestellt hatte, und es war irgendwie cool, eine alberne Seite an ihr zu entdecken. Außerdem traute sie mir zu, dass ich die Wohnung in Ordnung hielt, dass ich nachts die Haustür zweimal zuschloss, und sie stellte keine Fragen mehr, wenn ich am Wochenende spät nach Hause kam. Warum sollte ich das aufs Spiel setzen? Zumal ich mir schon genau ausgerechnet hatte, wann der Brief kam und dass sie von der ganzen Sache nie etwas erfahren würde.

Am Mittwochabend beschloss ich, meine neu entdeckte Unbesiegbarkeit zu feiern, indem ich mit Spark im West End einkaufen ging. Seine neuen Air Max waren einfach krass. Wenn ich es mir recht überlegte, konnte ich mich gar nicht daran erinnern, wann ich Spark das letzte Mal in einem alten Paar Schuhe oder ohne einen schwarzen Trainingsanzug gesehen habe – die Ganzjahreskluft eines Roadmans.

Spark reichte die Sportschuhe Größe acht der Kassiererin bei NikeTown, die sofort die 160 Pfund in ihre Kasse tippte. Spark zog eine Kreditkarte aus der Tasche seiner Hose, die – auch nachdem er sie hochgezogen hatte – immer noch zu baggy für seine kurzen Beine war.

Nach der fünften Karte und dem achten Versuch gab das Kartenlesegerät auf. Es war ja auch nicht so leicht, sich die ganzen PINs zu merken, besonders, weil die meisten davon gar nicht Spark gehörten.

Die Kassiererin kicherte und schaute mich an. »Sieht so aus, als müssten Sie Ihrem kleinen Freund aushelfen.«

Als ihr das Wort »klein« über die Lippen kam, fiel meine Kinnlade nach unten.

Dann fing mein Herz an zu rasen.

Spark war mein Freund. Und er war nett, wenigstens zu mir. Er und ich wohnten im selben Wohnblock, seit wir sechs waren, was bedeutete, dass ich ihn gut kannte. Sehr gut sogar. Wenn meine Mum mir nicht immer wieder verboten hätte, mit ihm abzuhängen, wären wir jetzt Blutsbrüder. Ich hatte mal diesen Spruch gehört: Wir alle tragen einen Eimer auf unserem Kopf, und jeden Tag leeren die Leute ihre Scheiße hinein, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Die meisten von uns sind mit tiefen, breiten Eimern gesegnet, was bedeutet, dass es nicht ganz so dicke kommt, wenn wir mal die Beherrschung verlieren. Und dann gibt es Kids wie Kyle »the Spark« Redmond, die anstatt eines Eimers einen Teelöffel auf dem Kopf haben.

Ich verabredete mich nur ungefähr alle zwei Monate mit ihm, und normalerweise entfernten wir uns nie so weit aus unserem Viertel. Jetzt wusste ich auch wieder, warum.

Spark riss der Kassiererin den offenen Schuhkarton aus der Hand und schleuderte ihn quer durch den Laden. Ich griff blitzschnell ein; ich musste ihn vom Tresen wegzerren und aus dem Geschäft bringen, bevor er uns beiden den Abend verdarb.

Bis wir in der Tottenham Court Road ankamen, hatten sich uns fünfzehn von Sparks Kumpeln angeschlossen, alle von Kopf bis Fuß in Schwarz, und verstopften den ohnehin belebten Gehsteig. Schon bevor wir im NikeTown waren, hatte Spark mir gesagt, dass wir uns noch »mit ein paar Freunden« treffen würden, aber er hatte mir verschwiegen, dass er den ganzen Trupp herbeizitiert hatte. Alles Jungs aus Peckham – East Peckham, um genau zu sein, eine noch härtere Truppe als die T. A. S.-Boys, mit denen D unterwegs war. Ich hatte den einen oder anderen über die Jahre mal kennengelernt, aber offenbar keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, denn niemand kannte meinen Namen. Einer von ihnen, ein schielender Kerl mit einem Pflaster auf dem Kinn, starrte mich ständig an, als ob ich der Party-Crasher wäre. Ich stupste Spark an, der dem Kerl was ins Ohr flüsterte, woraufhin er mich ignorierte wie die anderen auch.

Leute, die nicht aus dem Viertel kommen, kennen gewöhnlich nur zwei Sichtweisen. Auf der einen Seite gibt es die, die ständig übertreiben. Diejenigen, die meinen, dass man im Kugelhagel steht, sobald man aus der Brixton Station kommt. Aber ich kenne jede Menge Typen, die ihr ganzes Leben lang in South London gelebt haben und noch nie ein Verbrechen mitangesehen haben. Tatsache ist, dass man hier mehr Leute mit Bibeln, Diplomen und Tüten voller Kochbananen trifft als Kriminelle mit Waffen, was auch der Grund ist, warum Mum hierhergezogen ist. Aber das andere Extrem sind diejenigen, die Roadmen bei uns viel weniger ernst nehmen als die Typen in den amerikanischen Rap-Videos. Vielleicht liegt es daran, dass die Mörder hierzulande fünfzehnjährige Kids in Trainingsanzügen sind. Oder vielleicht, dass diese Kids lieber Messer nehmen als Schusswaffen (und die Leute sich nicht klarmachen, was es heißt, einem Jungen so nah zu kommen, dass man ihn umarmen kann, und ihm dann ein Messer ins Herz zu stechen). Oder vielleicht sind sie auch der irrigen, aber weitverbreiteten Annahme erlegen, dass niemand mit einem britischen Akzent dermaßen abdrehen kann, trotz allem, was die Geschichte uns lehrt.

Egal, wer recht hat, die Regeln zum Überleben sind einfach und unveränderlich: Häng nicht mit einem Roadman ab. Und wenn du wie ich keine Wahl hast, weil du mit ihnen aufgewachsen bist und hin und wieder einen auf der Straße triffst: Sei dir ganz genau bewusst, was geht und was nicht geht.

Ich wusste selbst nicht genau, was ich von Spark und seinen Jungs halten sollte. Ein Teil von mir sah in ihnen nur vergeudetes Potenzial. Aber ein anderer Teil betrachtete sie als kostbare Edelsteine – deren Geschichten so rein und ursprünglich waren, dass, sobald einer von ihnen einen Song online stellte, sich in Lancashire Tausende von Kids einloggten und zuhörten. Die meisten, die in dieser Nacht durch die Straßen liefen, waren noch nicht ausgewachsen und hatten Pickel auf der Stirn. Aber trotzdem vertickten sie gemeinsam in einem Jahr vermutlich mehr verschreibungspflichtige Substanzen als jede Online-Apotheke. Das waren keine Jungen. Das waren keine Männer. Es waren Legenden der Straße.

Jeder hatte eine Geschichte, die ihn begleitete: Bewährungsauflagen, die ignoriert wurden; ein Überfall auf ein Crack-Haus; eine Meldung in den Abendnachrichten. Die Welt hatte sie schon vor Jahren auf die Müllhalden verbannt und nicht bedacht, dass irgendwann irgendjemand auf die Idee kommen könnte, mit dem ganzen rostigen Zeug, das dort herumlag, einen Speer zu bauen, dann eine Kanone, dann eine Festung. Ich muss zugeben, dass es sich gut anfühlte, mit dieser Festung aus Gangmitgliedern, die zu den härtesten in London gehörten, unterwegs zu sein. Behütet und gleichzeitig verdammt bedrohlich.

Trotzdem hätte ich mir auf der Stelle eine Ausrede einfallen lassen müssen, um abzuhauen. Ich hätte mal kurz nachdenken müssen, welche Wendung dieser Abend nehmen konnte, um zu einem Albtraum zu mutieren – dieser Abend, diese Woche, mein ganzes Leben. Ich hätte in den Bus steigen und nach Hause fahren sollen.

Aber ich tat es nicht. Denn als ich mit dieser aggressiven Truppe durch die Straßen zog, konnte ich an nichts anderes denken als daran, dass Spark mich nicht für einen Streber hielt. Auch als wir noch klein gewesen waren und einen weichen Fußball gegen die Mauer des Parkplatzes getreten hatten, war alles andere unwichtig gewesen. Und wie jeder andere von seinen Kumpeln wusste auch ich an diesem Abend, dass Spark für mich sterben würde – ohne ein »Bitte« oder »Danke«. Es spielte keine Rolle, dass er der Kleinste von uns war, der mit dem zarten Gesicht. Ich blieb bei ihm, denn trotz all seiner Fehler war Spark der Typ, bei dem man bleiben wollte.

»Bro, wenn Finn erst gelernt hat, die Macht zu benutzen, dann geht er direkt auf die dunkle Seite. Ohne drüber nachzudenken.« Die Stimme kam aus der vorderen Reihe des Mobs.

Der Junge neben ihm dröhnte: »Ich bin so cool wie Boyega, Mann, voll auf Star Wars.«

»Scheiße, stellt euch das vor«, erwiderte der erste mit einem Lächeln auf dem Gesicht. »Man könnte mit der Macht den Leuten bei Cantor’s die Chicken Wings von den Tellern klauen.«

Die Hälfte der Meute kicherte, und der nächste Junge meldete sich zu Wort: »Oder mit Jedi-Tricks die Weiber dazu bringen, die Telefonnummer rauszurücken.«

Und der Nächste: »Oder einen mit dem Lichtschwert vom Auto aus kaltmachen.«

»Das wär’n cooler Film, Mann. Dafür würd ich Schlange stehen«, sagte derjenige, der das Gespräch angefangen hatte. Sein Lächeln verblasste und er blieb abrupt stehen. Gleichzeitig schlug er mit dem Arm dem Typen neben sich vor die Brust. »Hey, den Bruder da kenne ich.« Er kniff die Augen zusammen und schaute noch ein paar Sekunden länger hin. Dann deutete er mit dem Finger in die Richtung. »Das ist Bloodshed, der T.A.S.-Typ aus Brixton. Er und dieser Scheißkerl Vex haben letztens ’nen Kumpel von mir umgelegt, viel jünger als die.«

Der Junge mit den Mini-Speakern drehte die Musik leiser, als eine hochgewachsene Gestalt durch die Drehtür bei McDonalds kam. Ziemlich hellhäutig.

Bitte, lass das nicht Bloodshed sein, betete ich.

Bloodshed, ein Spitzname, über den man lachte – bis man erfuhr, wie er dazu gekommen war.

Als wir näher kamen, fiel mein Blick auf die unverkennbaren Tattoos auf seinen Fingern. Und wir alle sahen, wie sich Bloodsheds Gesicht vor Panik weitete.

Scheiße, dachte ich. Denk nach, Esso, denk nach! Ich scrollte in meinem Kopf durch die Möglichkeiten, die mir einfielen. Ich konnte weglaufen. Aber dann musste ich mit dem Geflüster und den verächtlichen Blicken leben, die mir folgen würden, sobald ich das Haus verließ. Ich konnte mich ans Ende der Gruppe zurückfallen lassen, mich ducken und beten, dass Logik, Mitgefühl oder irgendein Wunder verhindern würde, dass diese Jungs taten, was sie tun wollten.

Oder ich konnte lügen, lautete mein letzter, verzweifelter Gedanke.

»Nee, ich glaube nicht, dass er das ist«, sagte ich und senkte meine Stimme ein paar Nuancen. »Ich finde, wir sollten zum Leicester Square zurückgehen.«

Aber sie alle drängten vorwärts, als ob meine Worte nicht mehr gewesen wären als ein Schulterklopfen. Für sie war es leicht. Sie mussten ja auch nicht am nächsten Morgen in der Schule D gegenübertreten und erklären, warum wir seinen kleinen Bruder vermöbelt hatten. Sie waren hierfür geschaffen. Ich nicht. Ich hatte keine Kriegsverletzungen, hatte mir keinen Rang in der Gang erkämpft, verdiente mir nicht meinen Lebensunterhalt mit Dealen – und hatte auch keine Lust, das jemals zu tun.

»Was!«, brüllte der Erste in unserer Gruppe, als wir vor Bloodshed angekommen waren. Und dann kläfften alle, die neben und hinter mir standen, das Gleiche:

»Was!«

»Was!!«

»Was!!!«

Der Junge rechts von mir machte mit seinen Fingern ein Zeichen, das Bloodshed sofort erkannte. Und Bloodshed, der uns um einen halben Kopf überragte, sah aus wie ein Jagdhund, der in einen Zwinger voller halb verhungerter Pitbulls geraten war. Er war der Typ, der es locker mit fünf Gegnern gleichzeitig aufnehmen konnte. Aber nicht mit fünfzehn.

Spark war ans Ende der Gruppe zurückgefallen und hatte den Anfang der Action nicht mitbekommen. In seinem Gesicht sah ich die FOMO. Er rannte auf unseren dicht gedrängt stehenden Haufen zu, und als er am Rand angelangt war, blieb er nicht etwa stehen, sondern stieß sich ab, sprang hoch und flog mit einem ausgestreckten Arm auf Bloodshed zu.

Das Echo des Schlags vibrierte in meinen Knochen, und einen Moment lang herrschte ehrfürchtige Stille angesichts der Respektlosigkeit, die Spark seinem Opfer gerade entgegengebracht hatte.

»Was sagst du jetzt?«, höhnte Spark.

»Pussy!«, schrie jemand und versetzte Bloodshed einen schnellen Schlag gegen die Schläfe. Dann hieb eine Faust auf seinen Körper ein, der zu diesem Zeitpunkt bereits zusammengerollt auf dem Boden lag. Und noch eine. Das Blut, das in Bloodsheds Gesicht zirkuliert war, sammelte sich in den Abdrücken von Fingerknöcheln auf seiner Stirn, sodass seine restliche Haut eine grünliche Sandfarbe bekam.

Sparks Kumpel, der mit den langen Dreadlocks, griff in die Tasche seines Gucci-Trainingsanzugs. Er grinste wie ein Mann, der seine Entscheidung längst getroffen hatte und damit äußerst zufrieden war, dem Universum aber ein paar Sekunden Zeit lassen wollte, um einen Grund zu finden, warum Bloodshed nicht Bekanntschaft mit seinem Klappmesser machen sollte.

Dieser Grund kam glücklicherweise in diesem Moment vorbei, und zwar in Gestalt von drei irrsinnig heißen Mädchen. Ihre Haut schimmerte, und sie zeigten, was sie hatten. An der Art, wie kunstvoll sie den Haaransatz gegelt hatten, merkte man gleich, dass sie aus dem East End kamen.

»Scheiiiiiiiße!«, schrien zwei Jungen gleichzeitig, was zu einer Kettenreaktion innerhalb der restlichen Gruppe führte. Die beiden größeren Mädchen machten gelangweilte Gesichter, aber die Kleinere konnte ihr breites Lächeln kaum verbergen. Alle wandten ihre Aufmerksamkeit von Bloodshed ab hin zu den Mädchen.

Alle bis auf mich. Was dazu führte, dass Bloodsheds Blick, mit dem er hektisch nach einem Ausweg suchte, auf mich fiel.

Verdammt noch mal!

Ich drehte ruckartig den Kopf zur Seite und betete, dass er mich nicht erkannt hatte. Aber ich wusste, das Gebet war vergebens. Wie hätte er mich auch nicht erkennen sollen? Ich war schließlich dabei gewesen, als D ihm das Radfahren beibrachte. Mir dämmerte, dass es nichts gab, was ich sagen oder tun konnte, um Bloodshed davon zu überzeugen, dass ich unschuldig war. Es gab keinen Ausweis, den ich zücken und ihm damit beweisen konnte, dass ich nur ein harmloser Zuschauer war. Keine Website, die ich teilen konnte und auf der stand, dass ich kein eingetragener Gangster war, sondern in der Regel ein unauffälliges, anonymes Leben führte. Bloodshed wusste lediglich, dass ich da war. Also war ich der Feind. So funktionierte das: War man zu lange in den Straßen unterwegs oder begleitete einen Roadman zur falschen Zeit am falschen Ort, dann wurde man diesen Geruch nie wieder los.

Bevor ich noch einen weiteren Gedanken zulassen konnte, hörte ich das Knacken, mit dem Bloodsheds Knöchel auf Sparks Kinn trafen. Dann sah ich zu, als Bloodshed wie ein Rammbock durch die Mauer der Jugendlichen vor ihm brach. Seine Schritte wurden länger und schneller und immer länger und machten jede Hoffnung der Gruppe zunichte, ihn noch zu erwischen. Spark hatte den meisten Grund, ihm nachzulaufen, aber er kauerte am Boden und hielt sich das Kinn, während er vor sich hin murmelte, dass Bloodshed ein toter Mann war und seine Jungs dazu.

Und Bloodshed würde schon bald genau das Gleiche über mich sagen.


1 Mehr darüber in Anhang I