Das Buch

Man sucht sich die Zeiten nicht aus, in die man gerät und die einen prägen. So wie Lud und Alma. Lud, 1899 geboren, und sein Bruder Wilhelm verehren Bach und Hölderlin und teilen dieselben unerreichbaren Ideale. Wilhelm, der früh in die nationalsozialistische Partei eintritt, misst andere daran, Lud sich selbst, was ihn ein Leben lang mit sich hadern lässt. Alma hat ihre Eltern schon als Kind verloren. Ihr Patenonkel Lud, wenig älter als sie selbst, und seine Haushälterin werden ihr eine Art Familie werden. Als Professor für Pharmakologie erforscht Lud den Schlaf und die Frage, wie man ihn erzeugen kann. Während er die Tage an der Universität verbringt, kann Alma zu Hause nicht aufhören, an ihn zu denken. Als er beginnt, Giftgas zu erforschen, erzählt er ihr nichts davon. Sein Ringen mit den hehren Idealen wird verzweifelter. Denn da ist auch noch Gerhard, an dessen Seite er im Ersten Weltkrieg kämpfte, den er nicht aus seinem Kopf bekommt.

Vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus und die junge DDR bis in die Bundesrepublik der Nachkriegszeit führt Jo Lendles raffiniert erzählter Roman über das Zerbrechen einer Familie, über Schuld, über Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Welt und die feinen Unterschiede zwischen Schlaf, Narkose und Tod. Es ist die Geschichte einer deutschen Familie – zufällig seiner eigenen.

Der Autor

Jo Lendle wurde 1968 geboren und studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Literatur in Hildesheim, Montreal und Leipzig. Bei der DVA sind seine Romane »Was wir Liebe nennen« (2013), »Alles Land« (2011), »Mein letzter Versuch, die Welt zu retten« (2009) und »Die Kosmonautin« (2008) erschienen. »Eine Art Familie« ist sein erster Roman bei Penguin.

»Ein Buch über die Möglichkeiten der Literatur.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung über »Was wir Liebe nennen«

»Eine Mischung aus intellektueller Brillanz und leichtfüßiger Poesie, romantischer Ironie und existentiellem Ernst.« Tagesanzeiger über »Was wir Liebe nennen«

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JO LENDLE

EINE ART
FAMILIE

ROMAN

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Copyright © 2021 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

ISBN 978-3-641-27850-2
V004

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Meiner Familie

Mehr Details, mehr Details,

Eigenart und Wahrheit liegen nur im Detail.

STENDHAL

Vom Attentat auf den Generalinspekteur haben Sie womöglich gehört. Weniger bekannt ist, dass eine der Kugeln ihr Ziel verfehlte und weiterflog über den Hof der Generalinspektion, durch den Septembermorgen des Jahres 1912 hinüber zum Ehrenspalier der Gardisten. Die Tatsache dieses Irrläufers ist später in den Hintergrund getreten, die anderen Projektile des Attentäters trafen ja ihr Ziel, und so hatte jeder nur Augen für den sterbenden Inspekteur. Er wälzte sich am Boden des offenen Wagens, die Pferde gingen durch vom Lärm der Schüsse, die Gardisten riefen, der Generalinspekteur schrie, der Kutscher brüllte, um seine Tiere zur Besinnung zu bringen, aber Besinnung ist in einem solchen Moment keine Selbstverständlichkeit, weder im Körper eines Pferdes noch in einem aufgeschreckten Schlosshof. In langer Reihe liefen die Gardisten hinter der Kutsche her, ihnen folgten die Feldgendarmerie, die Herren von der Feuerwehr, dazu die kleine Sanitätsbrigade und ganz am Ende mit seiner gelblichen Ledertasche der Leibarzt des Generalinspekteurs, der sich im Laufen noch die Jacke knöpfte. Er ahnte schon, dass er zu spät sein würde, denn längst lief ja Blut aus dem Wagen auf den Sand im Hof der Generalinspektion, und jeder Tropfen, der herabfiel, das wusste der noch immer keuchend hinter dem Wagen herlaufende Leibarzt, fehlte im Körper des Inspekteurs.

Ein einziger Gardist rannte nicht mit den anderen. Ein Vorwurf war ihm daraus nicht zu machen: Still lag er am Fuß der Mauer neben dem Schlosstor – auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, mit offenen Augen und offenem Mund, als schaute er über die Schulter zurück auf etwas, das niemand sehen konnte, am wenigsten er selbst.

Dies war der erste Tote des Attentats, selbst wenn später von ihm kaum mehr die Rede sein sollte. Sein Name war Stanislaw Grau, in den Zeitungen tauchte er nur am Rande auf, als Beleg für die Feigheit des Attentäters, der aus dem Hinterhalt schoss und dabei auch das Opfer eines einfachen Gardisten in Kauf nahm. Es gab jetzt viele Attentate, und eins war so feige wie das andere. In der Aufregung dauerte es eine ganze Weile, bis sie Grau entdeckten, zu viel hatte man mit dem Versuch zu tun, den Generalinspekteur mithilfe einiger Notoperationen auch dann noch im Diesseits zu halten, als sein Körper längst kein Lebenszeichen mehr gab. Im Keller des Schlosses war vom letzten Krieg her ein Behelfslazarett, dort lag der Inspekteur auf einer Bahre, der Leibarzt hatte seinem Patienten die Uniformjacke übergelegt, um eine Unterkühlung zu vermeiden, seine vormals gelbliche Tasche stand am Fußende, von Blut befleckt, er selbst arbeitete schweigend im Körper des sterbenden oder bereits gestorbenen Inspekteurs, umringt von Assistenten und Stabsstellenleitern, die regelmäßig vor die Tür geschickt wurden, hinaus zu den Beratern und Verbindungsleuten, zu den Reportern und Korrespondenten, die sich mit angehaltenem Atem vor dem behelfsmäßigen Operationszimmer drängten, bis auf den Hof und hinunter zur Fähre, wo sie sich mit den einfachen Zaungästen vermischten. Niemand dachte in diesen endlosen Momenten daran, sich auf die Suche nach möglichen Hinterbliebenen zu machen.

So kam es, dass Louise Grau erst bei Rückkehr aus dem Kontor vom Tod ihres Mannes las. Es hatte zu regnen begonnen, an der Haltestelle hatte sie einem Zeitungsjungen die Abendausgabe abgekauft, eben fuhr ihre Bahn über den Kyffhäuserplatz. Regentropfen liefen über die Scheibe des Waggons und ließen Bahnen aus Schmutz zurück. Draußen auf dem Platz hatte sich eine Pfütze gebildet, in der sich nichts spiegelte als schwarzer Himmel. Louise faltete die Zeitung zusammen und sprang aus der fahrenden Bahn, sie musste zu ihm, auch wenn er nicht mehr war, sie musste nach Hause zu ihrer Tochter, um zumindest sie zu retten, in jedem Fall war sie hier in der Bahn am falschen Ort. Auf dem glatten Pflaster rutschte sie aus und kam auf den Gleisen der Gegenfahrbahn zu liegen. Der Fahrer der entgegenkommenden Straßenbahn sah sie, als er zum Platz einbog. Das Quietschen seiner Bremsen mischte sich mit dem Kreischen der Räder in der Kurve zu einem schrillen Ton, der sich an den Fassaden brach. Das Scheinwerferlicht auf dem nassen Pflaster, das stumpf beleuchtete Gesicht des Fahrers im Widerschein, die Schreie der übereinanderstürzenden Fahrgäste – als die Bahn am Ende tatsächlich zum Stehen kam, waren die ersten beiden Wagen bereits über Louise Grau hinweg.

Das Paar hinterließ eine Tochter. Ein Mädchen von elf Jahren, das die Nachricht vom Verlust seiner Eltern äußerlich gefasst aufnahm. Ein Feldjäger machte ihr die traurige Mitteilung, sie werde fortan allein auf der Welt sein. Ob sie Paten habe? Das Mädchen dachte nach. Zu Weihnachten war immer ein Paket gekommen. Jahr für Jahr hatte sie sich am ersten Feiertag an den Wohnzimmertisch gesetzt und ihrem Patenonkel in Schönschrift eine Karte geschrieben.

Lieber Ludwig, danke für die Stifte.

Lieber Ludwig, die Schürze ist schön. Mutter sagt, ich sehe aus wie eine kleine Dame.

Lieber Ludwig, vielen Dank für den Ball. Ich habe damit im Hof gespielt und an dich gedacht. Alma

Lieber Ludwig, danke fürs Arztköfferchen. Wir sind alle schon ganz gesund. Deine Alma

Sie war ihm nie begegnet.

EINS

GESCHICHTE UND HANDARBEIT

Man hatte sich das Zeitalter nicht ausgesucht, in das man geriet. Durch das man irrte. In dem man verdarb. Die eigene Epoche, zu der zu allem Überfluss auch die Zeitgenossen gehörten, die ewigen, unaufhörlichen Zeitgenossen. Immerzu war man von ihnen umgeben. Wäre Alma in anderen Zeiten besser dran gewesen? Kaum. Hätte sie dennoch zu anderer Gelegenheit leben mögen? Sie hätte alles darum gegeben. Was hätte man sich für Mitmenschen ausmalen können. Was hätte man sich – sie wurde übermütig – für Abwesenheiten von Mitmenschen ausmalen können. Nur sie und das Pleistozän, unterbrochen von nichts als einem gelegentlichen Gewitter, einem Vulkanausbruch am Horizont, dann und wann einem einzelnen Säbelzahntiger, der sie von Weitem schon erkannte und in Ruhe ließ. Sie hätte nicht nur in den Tag hineingelebt, sondern in ihr ganzes Leben. Das bisschen Kräuter- und Beerensammeln für den eigenen Bedarf wäre bis zum Elf-Uhr-Läuten geschafft, den Rest des Tages hätte sie sich darüber entzückt, dass das Elf-Uhr-Läuten nur eingebildet war, Relikt einer fernen Zukunft, über das sie hinwegkommen würde. Wie sie wünschte, Teil des Pleistozäns zu sein. Aber es stand nicht auf dem Tagesplan, sie wusste es selbst. Hier saß sie, unauflösbar eingewickelt in ihr Leben, ihre Epoche.

Alma Grau hatte die vergangenen Jahre in wechselnder Betreuung verbracht. Nachdem die Behörden ihren sogenannten Patenonkel als zu jung abgelehnt hatten, gab man sie zunächst in die Obhut der zuständigen Diakonisse, bei der Alma zwei unerquickliche Jahre verbrachte. Morgens bei Tisch betete die Frau für körperliche und geistige Gesundheit von Gemeinde und weiterem Bekanntenkreis, für den baldigen Anbruch von Gottes Reich und vorher noch für einen raschen Sieg an der Westfront und tat das mit solcher Inbrunst, dass das Frühstücksei darüber kalt wurde. Zu jeder Mahlzeit gab es Brennnesseltee, »für die Gesundheit«, und als Alma all ihren Mut zusammennahm und einwandte, sie sei doch gar nicht krank, sah die Diakonisse sie schweigend an und sagte dann: »Na, rate mal, warum.« Alma war fest davon überzeugt, dass sie nur ihr Bestes wollte, allerdings hatte sie selbst andere Vorstellungen von ihrem Besten – so verschwommen sie auch sein mochten. Wenn die Diakonisse abends mit einem Buch im Lesesessel saß, schnaufte sie zufrieden. Anfangs hatte Alma versucht, sie zu überhören, aber es gelang nicht. So saß sie ihr gegenüber, an den Kamin gelehnt, ein Schulheft im Schoß, und hielt sich beim Lesen die Ohren zu, was das Umblättern nicht leichter machte. Sie waren nicht füreinander bestimmt.

Ihr nächstes Waisenjahr verbrachte Alma in einer Art Pflegefamilie, die allerdings weder von Pflege noch von Familie viel verstand. Sie hatte eben, erklärte Alma sich selbst ihre Lage, in Sachen Obhut kein Glück. Es gab in der Familie einen Dobermann, der in der Woche nach Almas Ankunft einer Gallenkolik wegen eingeschläfert werden musste. Der Vater wurde über dem Verlust schwermütig, was die Mutter ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Vorwurf machte. Ihre Attacken kamen mit der Zuverlässigkeit, mit der ein guter Landmann sein Feld bestellt, sie düngten und wässerten die Saat seiner Schwermut. Bald löste sich die Melancholie vom ursprünglichen Auslöser und chronifizierte. Tagelang verließ der Vater nicht sein Bett, und wenn er sich unter Stöhnen endlich doch erhob, stand er mit geröteten Augen in der Küche und hatte vergessen, was ihn hergetrieben hatte. Die Mutter war längst aufs Kanapee im Wohnzimmer ausgewichen, von wo sie lange Tiraden gegen ihre Ehe und gegen die Ehe im Allgemeinen hielt. Gegen den gottverdammten Krieg, der kein Ende nahm. Gegen die Männer, gegen Menschen schlechthin. Alma lag ganze Nachmittage auf dem Teppich in ihrer Kammer, das Gesicht in ein Kissen gedrückt, und tat etwas, das sie Weinen nannte, auch wenn keine Träne dabei floss und kein Laut ihre Kehle verließ.

Am Ende des Winters hatte eine Lehrerin, der Alma sich anvertraute, Erbarmen mit ihr und nahm sie auf. Sie wohnte beengt, gleich hinter dem Haus erhob sich der Bahndamm. Die Lehrerin war aus dem Friesland an den Rhein versetzt worden und teilte Alma in vertraulichem Ton mit, auch sie fühle sich hier fremd. Alma hätte nicht sagen können, ob sie sich hier fremd fühlte oder überall.

Während die Lehrerin löffelweise Kandis in Almas Tee häufte, erzitterte der Küchenschrank von den vorbeipolternden Zügen. Ihre Fächer waren Geschichte und Handarbeit, von beidem hätte Alma gerne mehr verstanden. An den Abenden saßen sie nebeneinander auf einem Bänkchen und stickten. Vor dem Fenster fuhren weiter die Eisenbahnen ihre Ladung hin und her: Holzkohle, Passagiere, Artillerie. Während die Lehrerin einen Sinnspruch nach dem anderen auf das weiße Leinen zauberte, füllte sich Almas Stickrahmen ebenso zögerlich wie ihr bisheriges Leben. Die Lehrerin versuchte, in ihrem Pflegekind ein Bewusstsein für die eigene Existenz zu entzünden. Ob sie wisse, um was für eine Sensation es sich bei ihr, Alma, handele? Alma schüttelte kaum merklich den Kopf. Die Lehrerin wollte sie davon überzeugen, dass es ein Geschenk sei, auf der Welt zu sein. Der Preis für dieses Leben bestehe in der Aufgabe, es gut zu führen. Alma verstand nicht, welchen Sinn ein Geschenk hatte, für das man zahlen musste.

Die Lehrerin setzte alles daran, in Alma verschüttete Erinnerungen an ihre Eltern wachzurufen. Verschüttete Erinnerungen waren à la mode. Während die Lehrerin Vorschläge für vergessene Momente machte (Schlaflieder, Waldspaziergänge, Ohrfeigen ...), merkte Alma zu ihrer Überraschung, dass die stärkste Erinnerung an ihre Eltern der Geruch von Bratentunke war.

Bedauerlicherweise wurde die Lehrerin nach einem halben Jahr in eine andere Stadt versetzt und durfte Alma nicht mitnehmen. Genau genommen – so stellte sich jetzt heraus – hätte sie sie gar nicht zu sich nehmen dürfen. Was Alma von ihr behielt, waren Grundkenntnisse in Französischer Revolution und Kreuzstich, eine leider nur zur Hälfte fertiggestellte Stickarbeit (»Ende gut,«) sowie ein leichter Ekel vor Kandis.

Alma war jetzt sechzehn Jahre alt. Die vorzüglichen Empfehlungen der Lehrerin ermöglichten ihr den Besuch einer angesehenen Schule. Was dort niemand wissen musste: Untergebracht war sie in einem Kinderheim am Rande eines Parks. Alma mochte die Aussicht vom Fenster.

Zweimal wöchentlich wurde im Heim geduscht. Alma legte ihre Kleider ab und faltete alles auf einem Stühlchen zusammen. Die Kabine war eng. Wenn man die Brause aufdrehte, prasselte es zunächst eiskalt heraus. Dann stand sie nackt und frierend in einer Ecke der Kabine und wartete darauf, dass es wärmer wurde.

Warum war man auf der Welt? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Und bislang war sie niemandem begegnet, der es ihr hätte erklären können. Für sie war die Welt eine große Apfelsine, grell und ungeschält. Sie mochte keine Apfelsinen, sie bekam Ausschlag davon.

Natürlich hatte sie bisweilen helle Momente. Morgens aufwachen und einem Traum nachjagen, in dem es besser gewesen war. Karamellgebäck. Gelegentlich Musik. Abends stand sie unter dem Fenster des benachbarten Konservatoriums und lauschte den Tonleitern, die kaum hörbar zu ihr heraus auf den Bürgersteig drangen. Sie konnte sie tatsächlich vor sich sehen, zarte, zerbrechliche Treppchen, und wünschte, darauf hinauflaufen zu können, um Aussicht zu gewinnen, aber jedes Mal brachen die Musikschüler in den Läufen ab und begannen von Neuem, und irgendwann ging Alma nicht mehr dorthin.

Sie wusste, was Freude bedeutete, das war es nicht. Sie grämte sich nur, wenn es ihr wieder unterlief. Sie wünschte, sich frei von Gefühlen zu halten, an die sie nicht glaubte.

An einem Sonntag wanderte sie nach Norden, am Mittwoch war sie wieder zurück, hungrig und nass. Man hatte sie am Rand der Lüneburger Heide aufgelesen und in einen Zug gesteckt. Nicht einmal ein Hundertstel des Weges hatte sie geschafft. Ihr Plan, Mitglied im Royal North Cape Club zu werden, war gescheitert. Der Club versammelte die Bezwinger des Nordkaps, aber es hatte nicht gereicht. Sie gründete ihren eigenen Club, den niemand kannte und in dem sie das einzige Mitglied war. Von Zeit zu Zeit traf sie sich zu einer Vollversammlung und tauschte sich aus über ihre Erlebnisse. Es waren lang andauernde Sitzungen, es wurde gescherzt. Man kannte einander, man konnte sich vertrauen. Versammlungsort war die hintere Kabine der Mädchentoilette im Obergeschoss des Kinderheims. Sie kannte jeden Riss in jeder Kachel der Kabine. Manchmal kippte am Ende der Zusammenkunft die Stimmung, und die Mitglieder des Clubs weinten ein wenig zusammen. Es war ein Glück, dass sie sich hatten.

KÜHE UND EIN ONKEL

»Hoppla, junge Dame, ich helfe Ihnen mit dem Koffer. Wohin soll’s denn gehen?«

»Frankfurt.«

»Dann will ich mal hoffen, dass Sie nicht im Zentrum absteigen, da gibt es jetzt manchmal Fliegeralarm. Im Sommer hat es einen Radfahrer erwischt. Bleiben Sie länger?«

Entlang der Bahngleise lagen die umgestürzten Pfähle der Überlandleitungen. Die Fenster schlossen so schlecht, dass es Alma in den Augen pfiff. Dürre Kühe lagerten bewegungslos um einen Tümpel. Ohne Halt durchfuhren sie eine fremde Stadt, auf dem Bahnsteig liefen Kinder in langen Mänteln neben dem Zug her und winkten. Das Bahnhofsschild nicht zu erkennen. Sie fuhren langsam unter einer halb zerfallenen Überführung hindurch, auf den Stümpfen der Brücke wuchs Gras. Alma schaute aus dem Fenster, die Finger im Schoß ineinander verschränkt, als hielte sie sich selbst an der Hand. Die Abteiltür stand offen, auf dem Gang bollerte ein Brikettofen. Überall lag Kohlenstaub, auf dem Türgriff, auf dem Wolltuch der Kopfstützen, selbst draußen vor den Fenstern. Sie fuhren an einem ausgestorbenen Gasometer vorüber. Wie groß alles war, wie schwer zu verstehen. Die Fuhrwerke auf den geflickten Straßen, die leeren, kalten Häuser, dann wieder offenes Land.

Blieb sie länger? Alma wusste ja nicht einmal, was sie erwartete. Die kleine Fahrkarte hatte sie so lange zwischen den Fingern geknickt, bis der Karton in der Mitte durchgebrochen war. Sie konnte nicht aufhören, mit den Fingern über die Pappe zu fahren, über die Vertiefung der Schrift, über das Loch, das die Schaffnerin hineingeknipst hatte. Aus der Bruchkante quoll gepresstes Papier hervor wie Fleisch aus einer Wunde.

Endlich erreichten sie Frankfurt. Durch ein Wolkenloch warf die Sonne rotes Licht über die Stadt. Irgendwo dahinter wartete, geduldig, die Nacht.

Ihr Patenonkel stand auf der obersten Stufe zur Haustür und sah die Straße hinunter. Die Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt. Wie jung er aussah. Er trug nicht mal eine Krawatte. Wo war sie hier hineingeraten? Er war ja kaum älter als sie. Alma öffnete die Tür der Taxe, der Fahrer wuchtete den Koffer auf den Bürgersteig. Als der Onkel sah, dass es tatsächlich sein Besuch war, sprang er die Treppe hinab und lief zum Fahrer, aber sie hatte bereits gezahlt. Dann standen sie voreinander, und Alma streckte ihm die Hand entgegen. Kurz zögerte er, als könnte er sich zwischen all seinen Händen nicht entscheiden. Was war das für eine Zeit, in der nicht einmal die Onkel richtige Onkel waren. Aber er hatte einen schönen Hals. Ihre Hand versank in seinem Händedruck.

Hintereinander stiegen sie hinauf zur Haustür. Auf dem Klingelschild stand ludwig lendle. Die Diele war düster, das Parkett so dunkel, als gäbe es keinen Boden. An einer langen Garderobe hing eine einzelne Jacke. Es roch nach Kamille, nach Kohlenanzünder, nach Senf, nach durchgesessenen Sesselbezügen. Unter die Treppe war ein zwergengroßes Türchen eingepasst, das wohl zum Keller hinunterführte. Es war nur angelehnt. Über der Kommode ein fast blinder Spiegel, und sie sah etwas, das sie selbst sein musste, fleckig und stumpf und aufgesprungen und in der Mitte die großen Augen.

Ludwig stand schon im Durchgang zur Küche, er hielt die Tür auf und reichte ihr dabei die Hand, als wäre es ein großer Schritt hinüber, den Alma aus eigener Kraft nicht bewältigen konnte.

Das Gute am Patenonkel: Er tröstete nicht. Alle anderen hatten ihr in den letzten Jahren unablässig über den Kopf gestrichen, zuletzt die Herren von der Bahnhofsmission. Er dagegen tat, als wäre sie immer hier gewesen. Setzte sie auf einen der Küchenstühle und stellte ihr ein Porzellantässchen hin. Im dampfenden Wasser schwammen einzelne Kamillenköpfe. Es gab nicht einmal Kekse. Er stand an die Spüle gelehnt, auch er mit einem Tässchen in der Hand, in das er mit gesenktem Kopf blies, zu gleichen Teilen den Tee abkühlend und die Betretenheit ihres Kennenlernens. Die Spitzen seiner Augenbrauen waren hell von der Sonne. War er überhaupt ein Erwachsener? Er hatte erstaunliche Haare. Offener Kragen, ein halbwegs reines Hemd. Seine Hosen allerdings hätte ihre Mutter ihm nicht durchgehen lassen. Aber ihre Mutter gab es nicht mehr. Alma nahm einen Schluck und trank mit geschlossenen Augen. Es war alles anders jetzt, da kam es auf ein einzelnes Paar Hosen nicht an. Im Frühstücksraum des Kinderheims hatte es eine Uhr gegeben, deren Ticken die Zeit vertrieb. Das fehlte hier. Warum sagte er nichts? Dennoch war sie froh, in dieser Küche zu sein, wenn sie schon irgendwo sein musste. Und er fragte sie nicht aus. Es ging ihr wie dem Muster der Fliesen an der Küchenwand, es war keine Ordnung darin zu erkennen. Sie wollte ein Teil dieses Musters werden.

Durch die angelehnte Tür drang Musik. Vom Flur aus hatte sie im Salon den Trichter eines Grammophons erspäht, unter dem sich langsam eine schwarze Scheibe drehte. »Bach«, sagte er. »Das Musikalische Opfer. Du wirst dich daran gewöhnen.«

Später kam Fräulein Gerner von ihren Besorgungen zurück. Sie war eher klein und eher breit, zudem ein wenig verschwitzt von der Stiege, die Haare klebten ihr in der Stirn. Schon während sie sich die Schürze band, begann sie zu reden und hörte auch nicht damit auf, als sie das Spülwasser so laut in ihre Emailschüssel einlaufen ließ, dass sie sicherlich selber kaum verstand, was sie sagte. Im Wesentlichen berichtete sie wohl davon, wie sie eben mit den schweren Einkäufen am Saal »Zur Harmonie« in Sachsenhausen vorbeigekommen sei, wo die Reisevereinigung der Kuriertaubenliebhaber gerade eine Ausstellung von Militärbrieftauben eröffnete, es sei Tee gereicht worden, da habe sie die Taschen im Eingang stehen lassen, um zumindest einen Blick auf die Tiere zu werfen, und zum Glück sei nichts weggekommen, man könne da heute ja nicht mehr sicher sein, und jetzt schaue sich einer mal an, wie festgebacken diese Dreckskasserolle sei, das bekomme doch keine Bürste der Welt wieder ab.

Alma wollte ihr zur Hand gehen, aber Ludwig winkte sie vom Flur her zu sich, die Küche überlasse man besser dem Fräulein.

Also verbrachten sie den Nachmittag im Salon. Es gab kaum Licht, obwohl nur einige der dunkelgelben Vorhänge zugezogen waren. Sie sahen aus, als hingen sie schon seit Jahrhunderten dort und als wäre in all der Zeit niemals Zeit gewesen, sie in die Reinigung zu geben. Andere hätten die Sessel ans Fenster gestellt, um hinaussehen zu können, in die Kleingärten, in den Himmel, ins Offene. Nicht er.

Vor dem Grammophontisch stand eine kleine Liege. Aufrecht saßen sie nebeneinander auf dem ehemals grünen Samt und hörten zu. Das heißt, er hörte zu, Alma spähte heimlich zu ihm hinüber. Er hatte die Augen geschlossen, offenbar hielt er den Atem an. Man konnte nur hoffen, dass er am Ende der Schallplatte noch am Leben war. Es sah aus, als bewegte er keinen Muskel, aber am Zucken eines Mundwinkels, am Beben eines Nasenflügels konnte sie ablesen, dass es ihn noch gab und dass er lebendig war, lebendiger als zuvor. In den stilleren Passagen hörte man aus der Küche das Fräulein Gerner weiterreden.

Am Abend zeigte Ludwig Alma ihre Kammer. Er drückte ihr einen alten Schlafanzug in die Hand, den er nicht mehr brauche. Fräulein Gerner bezog rasch noch das Bett, dann war sie allein.

Alma lag lange im Dunkeln und betrachtete die Nacht.

NICHTS UND DIE WILDNIS

In der Familie wurde er Lud genannt. Es hat gedauert, bis ich verstand, dass es eine Abkürzung ist, dabei ist es bei uns durchaus üblich, uns mit abgekürzten Namen zu rufen.

Ludwig Lendle war im letzten Jahr des alten Jahrhunderts zur Welt gekommen. In Wiesbaden, wohin ein Vorfahr auf der Suche nach einem besseren Leben aus den Wäldern des Taunus gezogen war. Die Suche nach einem besseren Leben erwies sich als bleibende Herausforderung.

Im Taunus verliert sich die Spur unserer Familie. In Rambach in Nassau, um genau zu sein. Dorthin war vor vielen Zeiten ein Landsknecht gekommen, in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Woher er stammte, ist nicht bekannt, wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt von irgendwoher stammte. Wahrscheinlich wusste er es selber nicht. Geographie gehörte damals noch zu den approximativen Fächern, im Gegensatz zur Religion. Im Vorarlberger Dreiländereck gibt es Familien, deren Namen sich auf den heiligen Landolin zurückführen lassen, vielleicht war das seine Herkunft und er konnte oder wollte nicht zurück. Sein Name war Johannes Lendle. Offenbar ließ er sich in Rambach nieder, um noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Der alte Traum.

In einer Pause des Krieges wurde erhoben, was die Bewohner des Dorfes besaßen. Mit feinem Federstrich schrieb der Amtmann an den Kopf des Blattes eine lange Überschrift: Verzeichnuß derer Inwohner so zu Rambach, und alle Vormundschaften, sammt deren leeren Häußer 4ten Decembris 1630 wie volget.

In einer langen Liste führte er die Männer des Ortes auf und zählte bei jedem hinzu, was er besaß: Er und sein Weib 1 Sohn und 3 Döchter ein paar Ochsen. Oder: Ein Kind helt sich zu Herborn ist schlecht, ein paar entlehnte Rinder. Oder: Zwen Jung, ob sie noch im leben, ist ungewiß.

Ganz am Ende der Liste findet sich ein kurzer Satz. Der Ursprung unserer Familie, unsere Wurzel. In kaum lesbarer Schrift steht dort als letzter Eintrag: Hanß Lendlae hat gar nichts.

Ludwigs Vater war Kolonialwarenhändler gewesen, er war darüber gestorben. Ludwigs Mutter Pauline war eine geborene Machenheimer, der Name hatte ihr in der Schule einigen Spott eingebracht. Mach in Eimer! – die anderen Kinder konnten gar nicht genug davon bekommen. Womöglich hat die Erfahrung sie ein wenig verhärten lassen, es ließe einen manches leichter verstehen. Es gab einen Bruder, Wilhelm. Von ihm wird noch die Rede sein.

An der Kindheit jedenfalls gab es wenig auszusetzen, die Brüder waren gute Sänger, gute Turner, gute Kinder gewesen. Ansonsten bestand ihr Heranwachsen im Wesentlichen aus ausgedehnten Wanderungen: Vogelsberg, Rhön, Odenwald, Wasserkuppe – sie kannten jedes Mauseloch. Sie hatten Spuren zu lesen gelernt, die Zeichen der Wolken, die Zeichen der Tiere. Abdrücke von Tatzen und Krallen, Fraßspuren, Gewölle. Sie hatten herausgefunden, wie man die Windrichtung bestimmt und wie einem das Rindenmoos die Wetterseite der Bäume verrät. Sie wussten heraufkommende Tiefdruckgebiete vorherzusagen, Entfernungen zu schätzen, sich zu verstecken. Lebenslanges Glück: gelernt haben, sich zu verstecken. Sie konnten essbare Sprösslinge von giftigen unterscheiden, sie kauten Wildkräuter, mitten im Platzregen verstanden sie sich darauf, ein Lagerfeuer zu machen. Das Holz entzündeten sie anfangs mit vielen Streichhölzern, dann mit wenigen, später mit den Funken unaufhörlich aneinandergeschlagener Feuersteine. Abends wurde die Gitarre herausgeholt. In die Dunkelheit hinein sagten sie Stefan-George-Verse auf. Sie legten sich schlafen unter dem Dach der Sterne und kannten jeden ihrer Namen. Ludwig sah sich als Wildhüter, Wilhelm als Wilderer. Der eine wähnte sich in der Natur, der andere im Kampf.

Dann hatte der echte Kampf begonnen. Ludwig kam an die Maas und legte ein Tagebuch an.

»Der Krieg holt«, schrieb er, »seltsame Dinge aus den Menschen hervor. Nicht ausschließlich Schlechtes, obwohl das Schlechte überwiegt.« Man müsse Entscheidungen treffen, ohne die Folgen abwägen zu können. Nicht nur, weil in aller Regel die Zeit dafür fehle, sondern auch, weil nahezu jede einzelne Entscheidung eine Frage betreffe, für die es noch keine Erfahrung gab. »Soll man den Nachschubtruppen einen höheren Bedarf an Kartoffeln melden, um nach der unweigerlichen Kürzung zumindest einen genügenden Rest zugeteilt zu bekommen, oder versündigt man sich damit an den Kameraden?« Sollte man, als Gerhard getroffen wurde, der ihm ein Freund geworden war, mitten in der Schlacht zu ihm hinauskriechen, um seinen Körper zu bergen, oder war das nichts als Irrsinn, ein sinnloses, sentimentales Aufbegehren gegen den niemals zu ordnenden Lauf der Welt. Ludwig tat es trotzdem. Rechts und links von ihm die Geräusche niedergehender Schrapnells. Gerhard lebte. Ludwig zog ihn zurück in den Graben. Tagelang wachte er an der Seite des Verletzten, überwältigt von Sehnsucht nach ihrer Verbundenheit. Er schätzte Gerhard höher als sich selbst. Was keine Kunst war. Die unlösbare Frage, ob Zuneigung eher überlebte, wenn man sie dem anderen eingestand oder sie für sich behielt. Manchmal, wenn niemand zusah als die taubstumme Nacht, weinte Ludwig an der Brust des schlafenden Freundes.

Überhaupt die Kameraden. Es war nicht leicht, so nah beieinanderzuleben, ohne nach Luft zu schnappen. Bisweilen wurde ihm schwindelig. Der Schmutz, das Gewehröl, der unablässige Regen. In den Gefechtspausen las Ludwig im Hyperion. Längst waren die Seiten seiner Ausgabe kaum mehr zu entziffern, zum Glück konnte er sich große Teile mit geschlossenen Augen aufsagen. Er tat es nachts beim Versuch, in den Schlaf zu finden, und tags im Schützengraben. Wenn er das Gewehr anlegte, glaubte er im Visier einen der Verse zu sehen, als hielte er darauf an. Im letzten Moment riss er den Lauf hoch und schoss in die leere Luft.

Was er mit Bleistift vorne ins Buch gekritzelt hatte: »Wir sterben, sobald wir auf der Welt sind. Es ist ein allmählicher Process. Bis es so weit ist, sind wir hier.«

Gerhard überlebte.

*

»Alma. Ein schöner Name. Ist dir bewusst, was er bedeutet?«

»Er bedeutet etwas? Ich dachte immer, es sei einfach mein Name.«

»Ich habe nachgeschaut.« Ludwig goss Tee nach. Er erklärte ihr, dass das mosaische Almáh »Junge Frau« bedeute. Das passe doch zu ihr. Noch, dachte sie. Wie immer, fuhr er fort, gebe es daneben weitere Deutungen. Bei den Krimtartaren bedeute ihr Name »Apfel«, bei den Mongolen »Wildmensch«. Bei den Arabern »Auf-dem-Wasser«.

»Wildmensch?«, fragte Alma.

»Bei den alten Römern«, sagte Lud, »stand er für das Nähren.« Ihrer Fruchtbarkeitsgöttin hätten sie den Namen Alma Mater gegeben, noch immer hießen die Universitäten nach ihr. In den iberischen Sprachen bedeute Alma »Seele«, aber auch »Geist«. Im Gotischen heiße es »tapfer«. Sie versammele eine eindrucksvolle Liste guter Eigenschaften in sich.

»Du hast meinen Namen nachgeschlagen?«

Obwohl Ludwig Lendle Student war, gab es im Klosett auf halber Treppe statt zerrissener Zeitungen echtes Toilettenpapier. Alma verwendete zunächst jeweils ein einzelnes Blatt, später, mit wachsendem Vertrauen, auch ein zweites.

Am Mittag, wenn Ludwig sich zu einem Schläfchen hinlegte, schlich sie in sein Arbeitszimmer. Es war noch stiller hier als im Rest der Wohnung. Ein strenger, ein wenig säuerlicher Geruch, eine Mischung aus alten Büchern und alter Milch. Der Geruch seines Zimmers war, wenn sie es genau bedachte, das Älteste an ihm. Alma überlegte, ein Fenster zu öffnen, aber die frische Luft hätte verraten, dass jemand hier gewesen war. Auf dem Schreibtisch lagen bräunliche Mappen, Alma blätterte hinein, sie enthielten vergilbte Zeitungsausschnitte. Auf jede hatte er mit Bleistift die Namen der darin besprochenen Autoren, Komponisten, Mediziner geschrieben, eine Mappe hieß einfach »Zur Sprache« – sie enthielt Artikel zu den Bemühungen um eine Rechtschreibreform, ein Absatz war vollständig mit Bleistift und Lineal unterstrichen: »Wir haben gesehen, dass die Vocale a, o, u und ihre Umlaute von dem Parasiten h befreit werden sollen. In dieser Aufzählung vermissen wir leider e und i. Diese armen Lettern werden wegen ihrer Dünnleibigkeit verdammt, den falschen Hauchlaut als ewige Last mit sich herumzuschleppen.«

Unter dem Fenster standen mehrere Kartons, die bis zum Rand mit weiteren Schnipseln gefüllt waren. Offenbar warteten sie darauf, eingeordnet zu werden.

Ludwig Lendles Bibliothek bewies Ambition, erst recht für einen so jungen Mann. Von Albert Schweitzer nicht nur die große Bach-Monographie, sondern auch die jüngst erschienene Neuauflage seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Einige Bände Laotse, reichlich Luther, auch Calvins Predigten über das erste Buch Samuel mit seiner Verteidigung der Hexenverbrennung. Dazu Mystik: Meister Eckharts Vom Wunder der Seele sowie – unausweichlich – Böhmes Aurora oder Morgenröte im Aufgang, dessen Titel auf die Braut des Hohelieds anspielte: »Wer ist sie, die hervorbricht wie die Morgenröte, schön wie der Mond, klar wie die Sonne, gewaltig wie ein Heer?«

Zur Finanzierung weiterer Lektüren hatte Ludwig nach seiner Rückkehr aus dem Krieg auf einem Fischstand in der Kleinmarkthalle ausgeholfen, wo es Rheinaal gab, Welse, Zander, selten Stör. Im Morgengrauen landeten unten am Fluss die kleinen Boote an, und Ludwig half mit, den Fang herauszuwuchten. Während er die Körbe hinauf zum Markt trug, wurden die Schläge der Schwanzflossen allmählich schwächer. Die Standmeisterin, verblüfft von seiner Sicherheit im Kopfrechnen, erlaubte Lud, im Verkauf zu helfen. Aber er las sich zu oft in den Zeitungen fest, die zum Einwickeln bereitlagen, und schreckte erst vom Murren der Kundschaft auf. Bald teilte die Chefin ihn dazu ein, den Abfall vom Stand zu tragen, Gräten, silbrige Schuppen und Ausgenommenes, es sah aus wie im Krieg. Schlimmer: Es holte die Bilder des Krieges zurück. Während Ludwig bisher erstaunlich gut darin gewesen war, die Erinnerungen zurückzuhalten, standen sie ihm nun beim Hochwuchten der Kisten unausweichlich vor Augen. Was zu Beginn des Frühjahrs noch erträglich gewesen war, wurde in den wärmeren Monaten zur Belastung. Der Geruch ging ihm nicht mehr aus der Nase, zudem glotzten ihn die abgetrennten Fischköpfe so hilflos an, dass es ihn nachts im Einschlafen verfolgte. Als die Standmeisterin ihn dabei ertappte, wie er eine Fuhre Unrat einfach in die Abfallkiste des Nachbarstands schüttete, verlor er die Anstellung und war nicht unglücklich darüber. Das angesparte Salär genügte für zwei Bände Kierkegaard. Im Kampf mit sich selbst und Gott ist größer als unser Herz. Beim Lesen roch er manchmal an seinen Fingern, ein olfaktorischer Phantomschmerz.

Es fällt mir schwer, mich diesem Lud nicht verwandt zu fühlen.