CLAUDIA PRAXMAYER
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Umschlagkonzeption: semper smile, München
unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock
(Oksana Shufrych; 99Art)
MP · Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-24693-8
V001
www.cbj-verlag.de
Jedes einzelne Samenkorn birgt den Bauplan
eines ganzen Organismus, ob klein wie ein
Gänseblümchen oder gewaltig wie eine Eiche.
Gut verpackt in einer Hülle steckt die ganze
Weisheit, die es braucht, um eine Pflanze
entstehen zu lassen. Es ist eine Art Magie,
die durch Erde, Wasser und Sonne
zum Leben erweckt wird.
Leonore McNamara
Prolog
Ein paar Monate zuvor …
Tilda stürmte los, ihre dottergelbe Mütze tanzte fröhlich durch die Menschenmenge. Nini sah ihrer ungestümen kleinen Schwester lächelnd hinterher.
Obwohl die Herbstsonne die Fassaden der Backsteingebäude und Ladenfronten in der Portobello Road zum Leuchten brachte, war es kühl. Nini steckte ihre Hände in die Taschen des Parkas und schlenderte los. Vorbei an unzähligen Tischen, auf denen Secondhandklamotten drapiert waren, Ständern mit Schals und Mützen, Regalen voller alter Teekannen, liebevoll sanierten Möbelstücken. Wie ein Papierschiffchen in einem gigantischen Strom trieb sie durch diese Welt aus Farben und Gerüchen, ließ sich mal hierhin und mal dorthin ziehen.
Seit Wochen hatten sie sich auf diesen Tag gefreut, seit der Minute, als die Mail mit der Zutrittserlaubnis für den Portobello Road Markt in Ninis Inbox aufgepoppt war. Tilda war ihr mit einem »du bist die beste Schwester der Welt« um den Hals gefallen und hatte sie so fest umarmt, dass Nini kaum noch Luft bekam.
Ein Menschenauflauf stoppte Nini. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und erhaschte einen Blick auf fünf Jungs, die sich mit ihren Instrumenten zwischen den Verkaufsständen aufgebaut hatten. Der Song, den sie jetzt anstimmten, kam ihr entfernt bekannt vor, und als die Drums einsetzten, fing ihr Körper von ganz alleine an, sich im Rhythmus zu bewegen. Dem Typen neben ihr ging es nicht anders. Er riss die Arme in die Höhe und grinste über das ganze Gesicht. Zwei Minuten später klatschte, tanzte und sang so gut wie jeder mit. Nini blinzelte in die Sonne und lächelte. Gerne wäre sie noch eine Weile geblieben, aber Tilda wartete an ihrem Lieblings-Crêpe-Stand auf sie. Der Gedanke an die süße, fettige Leckerei, die sie dort gleich bestellen würden, ließ Nini das Wasser im Mund zusammenlaufen und sie ging schneller.
Schon aus der Ferne leuchtete ihr Tildas gelbe Mütze entgegen. Ihre kleine Schwester stand vor der Tafel und studierte angestrengt die Karte. Nini grinste in sich hinein. Tilda konnte sich nie entscheiden, und am Ende lief es dann doch wieder auf Schoko-Crêpe hinaus. Das hatte beinahe schon Tradition. Leise schlich sie sich von hinten an.
»Na, kannst du die Karte schon auswendig?«
Tilda wirbelte herum, die Wangen von der Kälte rosig, den Mund zu einer niedlichen Schnute verzogen und mit strahlenden Augen.
»Hey, da bist du ja endlich!«
»Ach, schon Sehnsucht nach mir gehabt?« Nini schnippte ihr mit dem Zeigefinger leicht gegen die Nasenspitze. »Und ich dachte, ich gebe dir lieber ein paar Minuten mehr, damit du dich in aller Ruhe entscheiden kannst.«
»Später. Ich habe eine Überraschung für dich!«, platzte es aus Tilda heraus. »Komm …« Tilda zog sie ein Stück vom Crêpe-Stand weg, an dem sich mittlerweile eine lange Schlange gebildet hatte, und bugsierte sie in eine ruhigere Ecke. »Mach die Augen zu.«
»Was?«
»Komm schon, mach die Augen zu und streck deinen rechten Arm aus!«
Nini zögerte.
»Wehe, du drückst mir wieder irgend so einen ekligen Glibber in die Hand.«
»Hallo? Ich bin nicht mehr sechs!«
»Aber wie fast sechzehn benimmst du dich gerade auch nicht wirklich«, murrte Nini, gab aber schließlich gutmütig nach. Tilda schob den Ärmel ihres Parkas ein Stück nach oben und schlang etwas Kühles, Glattes um Ninis Handgelenk.
»Augen auf!«
Ein Armband. Tilda hatte ein Armband für sie gekauft. Schwarze, sehr ungewöhnliche Beads, die kunstvoll mit winzigen Knoten und Schlingen in schwarzes Garn eingeknüpft waren.
»Wow!«
Nini wollte lieber nicht wissen, wie viel von ihrem Taschengeld Tilda dafür geopfert hatte. Ihre kleine Schwester beobachtete Nini aufmerksam.
»Gefällt’s dir nicht?«
»Doch! Megaschön! Aber war bestimmt teuer …« Vorsichtig strich sie über die Perlen. Tilda zuckte mit den Schultern.
»Egal. Es ist perfekt für dich. Eigentlich wollte ich es dir zum Geburtstag schenken, aber dann hätte ich noch soooo lange warten müssen …« Sie verdrehte die Augen. Nini lachte laut auf. Typisch Tilda. Ein paar Monate waren für sie eine halbe Ewigkeit.
1
Jetzt …
Niemand, der bei klarem Verstand war, hatte noch einen Schlüssel. Aus Nostalgie vielleicht oder Sammelleidenschaft, aber bestimmt nicht, um damit sein Hab und Gut vor Einbrechern zu schützen. Und trotzdem schwenkte der grauhaarige Notar einen Schlüssel vor Ninis Nase.
»Und, was denken Sie?«
Nini war sich bewusst, dass sie den Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches anstarrte und damit gegen eine der wichtigsten Regeln ihrer Eltern verstieß. Aber ein Schlüssel? Im Ernst jetzt?
Sie schluckte und versuchte ihre Aufmerksamkeit auf das zu fokussieren, was der Notar eben mit monotoner Stimme vorgelesen hatte. Sie hatte ein Haus geerbt. Um genauer zu sein, ein Cottage in Cornwall, von ihrer Patentante Leonore. Foxglove Cottage. Wieder durchbohrte ein nadelfeiner Stich Ninis Herz. In den letzten Monaten hatte sie kein einziges Mal mit Leonore telefoniert. Und jetzt war ihre resolute Patentante gestorben. Einfach weg. Für immer. Genau wie Tilda.
»Miss Morrison?«
Sie schrak aus ihren Gedanken und versuchte, es sich auf dem klebrigen Kunstlederstuhl ein wenig bequemer zu machen. Was denken Sie?, echote seine Frage in ihrem Kopf.
»Das muss alles sehr schwer sein für Sie, das verstehe ich. Aber vielleicht hilft es Ihnen zu wissen, dass Ihre Tante sehr umsichtig war …«
»Patentante.«
»… Ihre Patentante sehr umsichtig war. Sie hat, vermutlich im Wissen um Ihr zartes Alter, einen Fonds für Sie angelegt.«
Nini runzelte die Stirn. Sie war achtzehn und kein kleines Mädchen mehr.
»Dieser Fonds«, fuhr er fort, »deckt alle anfallenden Betriebskosten. Vorausgesetzt natürlich, Sie nehmen das Erbe an.« Er hatte langsam und deutlich gesprochen. Nini sparte sich ihren Laserblick, mit dem sie für gewöhnlich jegliche Fehleinschätzung ihres Intellekts bestrafte.
»Und wenn nicht?«
»Pfffft!« Der Notar machte eine Geste, als schleudere er Konfetti in die Menge. »Wenn Sie sich dagegen entscheiden sollten«, er warf ihr einen Blick zu, als käme schon alleine der Gedanke einer Todsünde gleich, »wird das Haus verkauft und der Erlös geht an eine wohltätige Organisation.«
Sein Gesicht zeigte leichte Ungeduld. Als wäre es so einfach, völlig unvorbereitet eine derart schwerwiegende Entscheidung zu treffen.
»Ach ja, noch etwas: Es ist Ihnen nicht gestattet, das Haus zu vermieten.« Der Notar legte den Kopf schief und blinzelte wie ein kurzsichtiges Frettchen.
Wie bitte? Wollte Leonore ihr nun etwas vermachen oder einfach nur ihr Leben in eine andere Umlaufbahn katapultieren?
Nini atmete tief ein, hielt die Luft an und zählte langsam bis zehn, um ihre wirren Gedanken in den Griff zu bekommen.
»Also gut, noch mal zum Mitschreiben: Ich erbe ein Haus samt Fonds, aber nur unter der Bedingung, dass ich selbst dort lebe?«
Mr. Moss von Archer, Moss & Spector nickte bedächtig.
»Exakt. Es steht Ihnen wie gesagt natürlich frei, das Erbe auszuschlagen.«
Mann, Leonore, was ist dir da nur wieder eingefallen? Andererseits, irgendwie war es Leonore pur. Schwarz oder weiß. Heiß oder kalt. Bei Leonore hatte es nie Zwischentöne gegeben. Schmerzlich durchzogen Nini die Erinnerungen an die vielen wunderbaren Sommertage, die sie als Kind bei ihr im Foxglove Cottage verbracht hatte.
Keine halben Sachen, Miss Morrison, war Leonores Standardspruch gewesen, wenn Nini wieder einmal keine Lust hatte, ihre Spielsachen wegzuräumen oder ihren Teller leer zu essen. Auch später, in Briefen und bei Telefonaten, kam der Spruch noch oft und gerne zum Einsatz. Meist im Zusammenhang mit der Schule. Eher selten, wenn es um Jungs ging.
Der Spiegel, der hinter dem Schreibtisch des Notars hing und seinen kranzförmigen Haarwuchs schonungslos offenbarte, warf Nini ihr eigenes kleines Lächeln zurück. Obwohl Leonore streng mit ihr gewesen war, hatte sie die Ferien in Cornwall immer geliebt. Sehr sogar. Das Cottage mit all seinen geheimnisvollen Ecken und Winkeln, das nahe Meer, das an manchen Tagen so intensiv roch, als stünde man mitten darin, den Dschungel hinterm Haus. Es hatte nur sie und Leonore gegeben. Keine Eltern, keine Tilda. Das hatte sich irgendwie komisch, aber auch aufregend und besonders angefühlt.
»Sollten Sie das Erbe ausschlagen«, grätschte der Notar in ihre Gedanken, »müssten Sie dafür zum Nachlassgericht gehen.«
Das, was Nini in seinem Gesicht zu lesen meinte, klang in ihrem Kopf allerdings eher wie: Das kann nicht Ihr Ernst sein! Und vielleicht hing in seinen Mundwinkeln sogar noch ein giftiges: Undankbare Göre!
Angesichts der Wohnsituation in London konnte Nini es dem Mann nicht einmal verübeln, die Stadt war seit Jahren ein gigantischer Ameisenhaufen, der drohte, unter der Menge seiner Bewohner zu kollabieren.
Sie dachte wieder an die Mitteilung vom Wohnraumamt, die seit ein paar Tagen ausgedruckt an der Pinnwand in der Küche hing. Der rote Kringel mit dem Datum in der Mitte hatte die Stimmung zu Hause von mies nach extrem mies katapultiert.
Das Amt führte ihre Familie seit Tildas Tod vor ein paar Monaten als »Minus eins«. Ein Mensch weniger, der Wohnraum beanspruchte. Mehr war ihre kleine Schwester nicht für sie. Nicht Tilda, die so unglaublich herzlich lachen konnte, oder Tilda, die so gerne naschte. Sie war einfach nur minus eins. Freie Quadratmeter.
Nini würde es am härtesten treffen, schließlich würde SIE den Co-Wohner, oder wie sie es nannte, den »Quadratmeterfüller«, in ihr Zimmer gesetzt bekommen. Sie sah sich schon schlaflos hinter einem Raumteiler in ihrem Bett liegen und den Atemzügen eines fremden Menschen lauschen. Beklemmend. Alternativ blieb ihnen nur der Umzug. Man würde ihrer Familie eine noch kleinere Wohnung in einem der gesichtslosen Vororte Londons zuweisen.
Ninis Finger nestelten an dem Armband, das ihr Tilda geschenkt hatte.
»Wie viel Zeit habe ich, mir das alles zu überlegen?« Sie schob das Kinn energisch nach vorne, so wie sie es oft bei ihrer Patentante gesehen hatte.
»Vier Wochen, dann müssen Sie eine Entscheidung treffen.«
Vier Wochen.
Vier Wochen, in denen ihr Vater versuchen würde, ihr die Idee auszureden, vier Wochen, in denen die Frist des Wohnraumamtes unaufhaltsam näher rückte, vier Wochen, in denen sie ihrer Mutter weiter Tee ans Bett ihres abgedunkelten Zimmers bringen würde. Achtundzwanzig Tage, in denen das Loch in ihrem Herzen nicht kleiner würde.
Mit einer schnellen Handbewegung schnappte sie nach dem Schlüssel, der immer noch zwischen den Fingern des Notars gebaumelt hatte, und drückte ihn so fest, dass seine Zähne in ihre Handfläche bissen. Er fühlte sich real an, stabil. Ein Zustand, von dem ihre eigene Welt seit Monaten weit entfernt war. Sie hielt ihre Faust so lange geschlossen, bis sie den Schmerz nicht mehr aushielt.
»Wo muss ich unterschreiben?«
Der Notar machte ein Gesicht, als müssten sich ihre Worte erst mühevoll durch seinen Gehörgang ins Gehirn vorarbeiten.
»Sind Sie sicher? Ich meine, Sie können sich mit der Entscheidung gerne noch etwas Zeit lassen. Vielleicht möchten Sie die Angelegenheit noch mit Ihren Eltern besprechen und …«
»Nein, das möchte ich nicht«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Sagen Sie mir lieber, was ich jetzt tun muss.«
Der Notar zupfte die Manschetten seines Hemds zurecht und bleckte die Zähne.
»Gratuliere, Sie sind soeben Hausbesitzerin geworden. Ich werde sofort die entsprechenden Papiere vorbereiten.« Seine sonst so neutrale Stimme, mit der er auch Nachrichten oder Kochrezepte hätte vorlesen können, war eine Spur höher geworden.
Ein paar Unterschriften, und Foxglove Cottage würde ihr gehören. Wie sie das ihren Eltern beibringen sollte, war Nini zwar noch nicht so ganz klar, aber auf dem Nachhauseweg würde ihr schon noch etwas Schlaues einfallen. Hoffentlich.
»Ach Tilda, ich wünschte, du wärst hier«, murmelte sie und ignorierte den irritierten Blick, den ihr der Notar zuwarf.
2
Schon von Weitem sah Nini die Menschenschlange am Eingang zur Haltestelle Green Park. Blockabfertigung. Wieder einmal. Es würde sie mindestens eine halbe Stunde kosten, bevor sie das Innere der U-Bahn-Station überhaupt zu Gesicht bekäme. An den Einstieg in einen Zug, der sie von hier wegbringen würde, wäre dann aber noch nicht einmal zu denken.
Nini verstand es nicht: London hatte mittlerweile über 20 Millionen Einwohner, aber die öffentlichen Verkehrsmittel waren immer noch vorsintflutlich. Zwar versprach die Grüne Union seit Ewigkeiten, den Nahverkehr auszubauen, geschehen war bisher noch nichts. Wie altersschwache Adern zog sich das Röhrensystem unter der Megacity hindurch und versuchte krampfhaft, Blut durch das verstopfte Gefäßsystem zu leiten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Infarkt mit einem Schlag alles lahmlegen würde.
Sie zerrte ihr Handy aus der Hosentasche, faltete es auf und versuchte halbherzig, ein SD zu orten. Die Karte zeigte gähnende Leere. War klar, dass sie nicht die Einzige war, die angesichts der langen Schlangen auf ein Self-Drive-Auto ausweichen wollte. Als wäre das alles nicht schon ärgerlich genug, poppte ein Fenster im Display auf.
Na toll, ihr SD-Meilenkontingent war aufgebraucht, und das, obwohl noch nicht einmal Monatsende war. Nini kniff die Augen zu und zwang sich, ruhig zu atmen. Sie wusste, dass sie achtgeben musste, wenn sie sich ärgerte oder frustriert war, denn dann kam sie dem Strudel schnell zu nah. Dieser Sog, der jedes Mal ihr Herz mit sich riss, der ein tosendes »Warum?« ertönen ließ, sie gnadenlos erfasste, herumwirbelte und irgendwann mit Tränen in den Augen wieder ausspuckte. Tilda war tot. Was eigentlich gar nicht sein konnte, denn sie hatten sich geschworen, immer füreinander da zu sein. Ihre Schwester war tot, aber trotzdem allgegenwärtig in der winzigen Wohnung ihrer Eltern.
Ein kleines, helles Funkeln drang plötzlich durch die Dunkelheit, leuchtete wie ein Glühwürmchen in ihrem Kopf auf und verscheuchte die Schwärze.
Foxglove Cottage.
Sie, Nini Morrison, hatte soeben ein Haus geerbt und damit so etwas wie die Chance, dem allen zu entkommen.
Ein tiefer Atemzug, dann noch einer und noch einer. Langsam wurde sie wieder ruhiger. Na komm schon, es sind nur lächerliche fünf Stationen bis nach Hause, das wirst du wohl schaffen, sprach sie sich selbst Mut zu. So, wie sie das schon viele Male zuvor geschafft hatte. Sie loggte sich in das System des U-Bahn-Netzes ein, kaufte ein Ticket und ließ sich von der Menge hinter sich ein Stück näher Richtung Eingang schieben. Einen Moment schwebte ihr Finger noch über dem Display, dann faltete sie ihr Handy wieder klein und schob es in die Gesäßtasche ihrer Hose. Musik könnte die funkelnden Gedanken in ihrem Kopf nur übertönen und das wollte Nini auf keinen Fall.
Sie hatte ein Haus geerbt. In Cornwall … Irgendwie fühlte sich das auch ein bisschen sperrig an. Cornwall. Auf dem Land. Langweile. Einöde. Nichts. Das Funkeln verblasste. Ninis Blick schweifte über die Köpfe der Menschen. Die Menge sah aus wie ein großes Tier mit scheckigem Fell, das sich unter den Augen der Überwachungskameras stumpf auf den U-Bahn-Schlund zuwälzte. Willenlos und schicksalsergeben.
Sie spürte einen Stoß im Rücken. Ein Typ im Anzug hinter ihr verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die vermutlich eine Art Entschuldigung bedeuten sollte. Nini wollte etwas sagen, aber er hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder seinem Smartphone zugewandt. Eine Windböe blies ihr eine Haarsträhne in den Mundwinkel, und der Lippenstift, den sie extra für den Notartermin aufgetragen hatte, sorgte dafür, dass sie dort kleben blieb.
Was Tilda nur an diesem Zeug hatte finden können. Von rosa schimmernd bis kupferfarben – zu jedem Outfit den passenden Farbton. Tildas Lippenstifte standen immer noch akkurat aufgereiht wie Soldaten im Dienste der Schönheit unter dem Spiegel auf ihrer Zimmerseite. Nini benutzte sie nicht. Nur gelegentlich drehte sie einen der Stifte ein Stück weit heraus und stellte sich das konzentrierte Gesicht ihrer kleinen Schwester beim Schminken vor.
Nini zwirbelte ihre Haare zusammen und steckte sie in den Kragen ihres Parkas. Der Wind störte sie beim Nachdenken, wirbelte ihre Gedanken genauso durcheinander wie ihre Haare. Sie besaß jetzt ein Haus in Cornwall. Keine Wohnraumquoten. Keine Überwachungskameras. Keine Gesichtserkennung.
Dafür Meer, Luft, Weite.
Neben ihr murmelten fremde Münder, führten Gespräche, die sie nicht hören wollte, atmeten Gerüche eines zurückliegenden Mittagessens aus. Zwiebel, Knoblauch, Curry.
Plötzlich konnte sie es nicht mehr erwarten, von hier wegzukommen. Auch wenn hier alles war und dort nichts. Aber dieses Nichts würde ihr vielleicht Platz zum Atmen und zum Denken geben. Und Ruhe.
Möglicherweise würde sie in Cornwall endlich ein paar der Entscheidungen treffen können, die in den nächsten Monaten ohnehin fällig waren. Hier in London, wo alles an Tilda erinnerte, fiel es Nini schwer, sich Gedanken über Studium und Job zu machen, über Dinge zu entscheiden, die ihre Zukunft bestimmen würden. Zukunft – dieses Wort hatte für sie seinen Zauber verloren.
Unbewusst blieb ihr Blick an der Reihe makelloser Zähne hängen, die zum Lächeln von Frank Darwin gehörten. Der Präsident strahlte sie von den Bildschirmen in der U-Bahn-Station an, als wolle er ihr persönlich versichern, dass es kein Problem gab, das ER nicht zu lösen vermochte. Du hast echt keine Ahnung, dachte sie, lächelte aber vorsichtshalber zurück.
Nach etwas mehr als einer dreiviertel Stunde stand sie mit zig anderen, einsortiert wie Buntstifte in einer Schachtel, in der U-Bahn. Nini erstaunte es jedes Mal wieder, welche Stille in den Waggons herrschte, obwohl so viele Menschen zwischen den dünnen Metallhäuten eingepfercht waren. Ihre Augen nach unten, auf die Displays in ihren Händen gerichtet, die Gehörgänge mit Kopfhörern verstopft. Ein Beruhigungsmittel, das den Stress dieses unerträglich engen Miteinanders auf den Straßen der Stadt dämpfte.
Nini ließ sich forttragen vom rhythmischen Ruckeln der U-Bahn, lauschte dem Tock-Tock der Schienen, wollte alles ganz bewusst erleben. Und da, als sie es am wenigsten erwartete, entfaltete sich in ihrem Kopf ein Plan. Langsam wie die Blüte der Orchidee, die ihre Mutter so liebte.
Am Russell Square schob Nini sich zusammen mit unzähligen anderen Menschen aus dem Waggon, ließ sich von der Menge zur Rolltreppe treiben und stellte sich auf eine der geriffelten Metallstufen, die sie nach oben beförderten. Ihr Blick folgte einem Kaugummi, der auf dem gegenüberliegenden Handlauf klebte und langsam an ihr vorüberzog. Sie wickelte den Parka enger um ihren Körper und fixierte mit den Augen stur den Gürtel eines Trenchcoats auf der Stufe vor sich. Oben angekommen, spülte das Menschenmeer sie in Richtung Ausgang und spuckte alle in einer gigantischen Welle auf die Straße. Es kostete Nini Energie und Willenskraft, sich nicht mit der Masse in Richtung Bernard Street treiben zu lassen, sondern stattdessen bei Sainsbury’s abzubiegen.
Kaum durch die Glastür, umfing sie Supermarkt-Gedudel. Maximal zehn Minuten würde sie für ihren Einkauf brauchen. Soweit sie die Gänge des Supermarktes überblickte, war nur mäßig Betrieb und alle Check-outs offen. Zudem wusste sie auswendig, wo sich die Sachen befanden, die sie benötigte. Der Sainsbury-Kosmos war zuverlässig: Die Läden sahen alle gleich aus, rochen gleich und waren mit identischer Ware an festgelegten Koordinaten ausgestattet. Jeder Idiot hätte hier einkaufen können.
Schnell checkte Nini noch das große Display, das in roter Leuchtschrift verkündete, welche Produkte aktuell nicht lieferbar waren, und atmete auf: Gott sei Dank, es gab alles, was sie für ihr Bestechungsessen heute Abend benötigte. Wäre es anders gewesen, sie hätte wahrscheinlich nicht die Energie aufgebracht, sich eine Alternative auszudenken.
Schnell lief sie durch die Gänge, vorbei an einer Gruppe Frauen, die sich um das letzte Netz Orangen zankte, und parkte ihren Einkaufswagen beim Gemüse. Die Vitaminspender leuchteten so grell unter dem Neonlicht, dass Nini sich Sorgen um ihre Netzhaut machte. Tomatenrot, Brokkoligrün, Paprikagelb. Perfekte Form, makellose Haut, Gesundheit in Gemüsegestalt. Der Biosensor an ihrem Handgelenk würde jubeln, zirkulierten all diese Nährstoffe in ihrem Blut. Wobei, diesen Monat würde sie wohl zum ersten Mal seit Langem wieder einigermaßen in Sachen Ernährung abschneiden. Vielleicht waren ihre Werte sogar gut genug, um ihrem Konto beim Bürgerregister Bonus-Punkte einzubringen. So kurz vor der Studienwahl wäre das bestimmt kein Fehler.
Nini wünschte sich nur, das Zeug würde so bunt schmecken, wie es aussah. Ein Gedanke, bei dem ihr schlechtes Gewissen sofort wie ein gut gepflegter Motor ansprang. Immerhin gab es dank der modernen Landwirtschaft so etwas wie Lebensmittelsicherheit, da waren der mangelnde Geschmack von Obst und Gemüse wohl keine allzu große Sache.
Sie steuerte auf die zu einer Pyramide aufgestapelten Zucchini zu. Jede 14 Zentimeter lang und 200 Gramm schwer. Unglaublich praktisch, dass mittlerweile alles genormt war, das ersparte einem das Abwiegen, anders als ihre Mutter das von früher noch kannte. Sie nahm vier der grünen Walzen vom Stapel und legte sie in den Einkaufswagen.
Im zweiten Gang links waren die farbenfroh bedruckten Kartons mit der Teigmischung einsortiert. Das Pulver ließ sich mit Wasser zu einem beigen Brei anrühren und entfaltete in Fett gebacken eine erstaunliche Geschmacksintensität.
Das Zeug war ein Wunder der Lebensmitteltechnologie, denn es entlockte den Zucchini tatsächlich einen Hauch von Aroma und reproduzierte zuverlässig den Geschmack, den Tilda so geliebt hatte.
Ninis kleine Schwester hatte immer zuerst die knusprige Panade von den Zucchini geknabbert und sich danach – sehr zum Missfallen ihrer Mutter – genüsslich die Finger geleckt.
»Du bist doch keine Katze. Bitte benutz das Besteck, Tilda!«
Aber der Ärger hatte nie lange angehalten, denn ihre Mutter war einfach nur froh gewesen, wenn Tilda überhaupt aß. Da verzieh sie ihr sogar den Berg abgeknabberter Zucchinischeiben, der sich danach auf ihrem Teller türmte. Sie und ihr Dad hatten dann zum Spaß immer protestiert – von wegen bevorzugte Behandlung des jüngsten Familienmitglieds – und als Ausgleich eine Extraportion Nachtisch eingefordert. Es waren diese ganz gewöhnlichen Abende, die Nini so sehr fehlten. Diese Abende, an denen sie noch eine ganz normale Familie gewesen waren, bevor diese heimtückische Meningitis Tildas Gehirn befallen hatte.
Nini schluckte die Erinnerung hinunter und schob den Wagen energisch weiter in Richtung Milchprodukte. Schließlich gab es heute was zu feiern, also würde sie Joghurtsauce zu den gebackenen Zucchini servieren. Die Becher leuchteten verführerisch im Kühlregal, Luxus in Rosa, mit wilden Rankenmustern, manche sogar noch mit Kühen drauf. Nini verglich die Preise, wählte einen kleinen, aber dafür bezahlbaren Sojajoghurt aus, und reihte sich ein weiteres Mal in den Strom aus Menschen ein, der dem Check-out zustrebte. Zwölf Minuten. Sie hatte sich verkalkuliert.
3
»Du willst was?«
Ihr Vater starrte sie an, als hätte sie gerade verkündet, dass sie eine Karriere als Stripperin anstrebte. Für einen kurzen Moment überlegte Nini, ob sie ihn darauf hinweisen sollte, dass er soeben gegen seine eigene Regel verstieß. Die mit dem Starren. Allerdings erschien die Idee, ihren Dad zu provozieren, bei näherer Betrachtung wenig zielführend, also hielt sie den Mund. Ihre Mutter reagierte überhaupt nicht auf ihr Bekenntnis. Unbeteiligt saß sie am Tisch, den Blick auf etwas in der Ferne gerichtet, das nur sie sehen konnte. Sie war immer noch eine schöne Frau, auch wenn ihr Gesicht in den letzten Monaten schmal und die Falten neben ihrer Nase tief geworden waren.
»Ich will ins Foxglove Cottage ziehen«, wiederholte Nini leise. Ihre Finger tasteten nach Tildas Armband an ihrem Handgelenk. Die Berührung der kunstvoll in Garn eingeknüpften Perlen beruhigte sie. »Zumindest probeweise«, schob sie vorsichtig hinterher.
»Und wie stellst du dir das vor? Hast du dir überlegt, was das für uns bedeutet?«
Die Fassungslosigkeit im Gesicht ihres Vaters ließ ihren Magen zu einem harten Klumpen schrumpfen. Ja, sie wusste, was das bedeutete, aber sie wusste auch, dass sie es hier nicht mehr lange aushalten würde. Seit Tildas Tod war alles, was ihr Zuhause ausgemacht hatte, verschwunden, begraben unter einer zentnerschweren Schicht aus Trauer.
»Gebt mir doch wenigstens die zwei Monate, es auszuprobieren.«
Sie hatte den Zeitrahmen mit Bedacht gewählt. In zwei Monaten mussten die Morrisons entscheiden, ob sie einen Co-Wohner aufnahmen, um die Quadratmeter-Auflagen des staatlichen Wohnraumamtes zu erfüllen, oder lieber zu dritt in eine kleinere Wohnung in einem der Außenbezirke zogen. Die Fristverlängerung war alles gewesen, was der Anwalt ihres Vaters aufgrund ihrer schwierigen familiären Situation hatte herausschlagen können. Zwei lächerliche Monate mehr, um mit der Trauer fertigzuwerden, bevor ein Fremder bei ihnen einziehen und dabei zusehen würde. Zwei Monate, in denen sie entscheiden mussten, ob sie es über sich brächten, nach allem, was passiert war, auch noch ihr Zuhause aufzugeben. Zwei Monate, in denen Nini hoffte, herauszufinden, was sie eigentlich wollte.
Im Zweifelsfall konnte das auch bedeuten, dass sie das Cottage wieder verlor, weil sie Leonores bescheuerte Bedingungen nicht länger erfüllen konnte. Aber dann war das eben so.
Ninis Blick huschte hinüber zu ihrer Mutter, die ein Stück Zucchini mit der Gabel auf dem Teller hin und her schob.
»Mom?«
Emma Morrison hob den Kopf, wie jemand, der gerade aus einem Traum aufgewacht war.
»Ach Nini, was soll ich dazu sagen? Du weißt, wie sehr wir euch …« Sie stockte. »Wie sehr wir dich lieben.«
Ihre Augen schimmerten feucht, und das war genau das, wovor Nini sich gefürchtet hatte.
Ihre Mutter, die seit Tildas Tod das Haus kaum noch verlassen hatte, die nur selten die Kraft fand aufzustehen, saß jetzt hier mit ihnen am Tisch und tat zumindest so, als interessiere sie das Essen. Ihr Vater legte seine Hand auf die ihrer Mutter und drückte sie. In dieser einfachen Geste lag so viel Liebe und Zärtlichkeit, dass Nini sich abrupt abwenden musste. Wie kannst du das deiner Mutter nur antun?, wummerte es in ihrem Kopf. Sie fühlte sich plötzlich unglaublich egoistisch.
»Warum willst du weg von hier, Nini?«
Mit einem Mal schien ihren Vater alle Kraft verlassen zu haben. Ausgerechnet ihn, der in den letzten Monaten wie ein Motor alles am Laufen gehalten hatte. Der frühmorgens aufgestanden war, um Tee zu kochen, bevor sie wie auf Autopilot zu ihren A-Level-Prüfungen gewankt war, der mit ihrer Mutter die psychologischen Coachings vor dem Rechner durchgestanden hatte, der sich auch abends noch mit Nini hingesetzt hatte, wenn ihr von Trauer vernebeltes Gehirn keinen Sinn in die mathematischen Formeln bringen konnte und sie ihr Examen am liebsten hingeschmissen hätte.
Wie sollte sie es ihm bloß erklären?
Nini knibbelte den Teig von einer der geschmacksarmen Zucchinischeiben und steckte ihn in den Mund. Er schmeckte nach wenig mehr als den Tränen, die ihr beim Zubereiten über die Wangen gerollt waren. Aber sie hatte damit angefangen, jetzt musste sie es auch zu Ende bringen. Keine halben Sachen, Miss Morrison …
»Ich krieg hier einfach keine Luft mehr, Dad! Ich kann nicht einmal ungestört telefonieren, ohne dass mir jemand dabei zuhört. Alles ist eng, alles ist schwierig, alles ist so – ach, ich weiß auch nicht.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
Aber das war nur die halbe Wahrheit. Nini brachte es nicht über sich, ihm zu erzählen, wie furchtbar es war, im Bett zu liegen und Tilda nicht mehr auf der anderen Seite des Zimmers atmen zu hören. Oder wie lähmend, wenn sie ihrer Mutter morgens Tee brachte und die sich nur das Kissen über den Kopf zog. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie und ihre Mutter das letzte Mal so etwas wie ein richtiges Gespräch geführt hatten. Die Trauer war ein Dämon, der alle Energie aus Emma Morrison heraussaugte und nur die leere Hülle zurückließ. Aber das alles konnte Nini ihrem Dad nicht sagen. Ihm, der beinahe jede Nacht seit Tildas Tod durch die winzige Wohnung geisterte – im Clinch mit seinen ganz eigenen Dämonen.
»Verstehe. Aber so geht es uns allen. Das ist nun mal der Preis, wenn man in der Stadt wohnen will. Dafür gibt es hier noch Kinos, Theater, ordentliche Schulen, Unis und … und eine gute medizinische Versorgung.« Ihr Vater klang wie ein Werbeclip, allerdings kein sehr überzeugender. »Was ist mit deinem Studium? Musst du dich da nicht langsam darum kümmern?«
Nini hatte keine Kristallkugel gebraucht, um diese Frage vorherzusehen.
»Das meiste läuft ja sowieso online. Ist also völlig egal, wo ich bin. Außerdem habe ich bis dahin noch Zeit.«
Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich erst über ein paar Studiengänge informiert, und das auch nur oberflächlich. Data-Science, Robotic, Environmental and Resource Management – alles Fächer, die laut Studienberatung einen sicheren Job verhießen. Aber in ihrer persönlichen Welt, in der kein Stein mehr auf dem anderen stand, schien nichts davon Sinn zu ergeben.
Sie und Tilda hatten als kleine Mädchen davon geträumt, gemeinsam Comics zu entwickeln. Ihre Schwester hatte schon immer die wundersamsten Fabelwesen mit ihren Buntstiften erschaffen. Foxy, der Junge mit dem Fuchsgesicht, Ravengirl und Night-Tiger, die schwarz-weiß gestreifte Raubkatze mit den traurigen Menschenaugen, waren ihre absoluten Favoriten gewesen. Das ungleiche Trio bestand gemeinsam aufregende Abenteuer, hielt zusammen wie Pech und Schwefel und ließ sich durch nichts von seinen Missionen abbringen. Je älter Tilda wurde, umso ausgefeilter wurden auch ihre Geschichten, und Nini hatte alle Hände voll zu tun, die Sprechblasen zu füllen, die ihre Schwester vorgab.
»Was hat sich Leonore wohl dabei gedacht?«
Nini schreckte aus ihren Gedanken hoch. Hatte ihre Mutter das gerade eben wirklich gesagt? Aufregung flatterte in ihrer Brust. Also war doch etwas zu ihr durchgedrungen und hatte sie dort, wo sie sich vor all dem Schmerz versteckte, erreicht. Überdeutlich nahm sie den Puls am Hals ihrer Mutter wahr. So zart, so verletzlich. Plötzlich war sie wieder da, diese Idee, die sich beim Verlassen des Notarbüros in ihrem Herzen eingenistet hatte wie ein kleiner Vogel.
»Warum ziehen wir nicht einfach alle zusammen nach Cornwall? Vielleicht ist es das, was Leonore gewollt hätte …«
Aber schon in dem Moment, als sie die Worte ausgesprochen hatte, wusste Nini, dass es unmöglich war. Dazu musste sie nicht erst die zusammengezogenen Augenbrauen ihres Vaters sehen.
»Wie stellst du dir das vor, Nini? Ich habe hier schließlich einen Job, deiner Mutter geht es im Moment nicht besonders gut, außerdem …«
Seine Schultern gaben ein paar Millimeter nach, mit Daumen und Zeigefinger massierte er seine Nasenwurzel. Als er wieder ansetzte, kam Nini ihm zuvor.
»Schon gut, ich hab’s verstanden, Dad. Dann gehe ich eben alleine. Ich bin achtzehn, hab meinen Schulabschluss in der Tasche und Zeit. Ich will es wenigstens versuchen. Erst mal für zwei Monate und dann … dann sehen wir weiter.«
Diese Redewendung hatte sie sich von ihm ausgeborgt. Ihre letzten Monate waren voll von diesen Dann-sehen-wir-Weiter gewesen.
»Du warst immer so gerne bei Leonore im Cottage«, flüsterte ihre Mutter und zerknüllte die Stoffserviette auf ihrem Schoß. Ninis Herz setzte erst für einen kurzen Moment aus, um dann plötzlich umso wilder zu pochen und vor Liebe beinahe überzuquellen.
»Mom …«, hauchte sie mit feuchten Augen.
War es das, was sie dachte? Hatte ihre Mutter gerade das Okay für Ninis Selbstversuch im Erwachsenwerden gegeben?
Nini fühlte sich plötzlich wie ein knallroter, heliumgefüllter Luftballon, der jederzeit mit dem Wind davonfliegen könnte. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Viel mehr! Sie wollte noch etwas zu ihrer Mutter sagen, sich bedanken oder ihr vielleicht von ihrem Gespräch mit dem Notar erzählen, aber Emma Morrison schob langsam den Stuhl nach hinten, um sich noch langsamer davon zu erheben. Der Ladezustand ihres Akkus war offensichtlich schon wieder im roten Bereich. Wie sie so da stand, wirkte sie schwach, fast zerbrechlich. Der Biosensor schlackerte um ihr dünnes Handgelenk. Bestimmt hatte der schon eine ganze Weile keine positiven Messdaten mehr an das Gesundheitsministerium geliefert.
»Seid mir nicht böse, aber ich muss jetzt ins Bett …« Im Vorbeigehen strich sie Nini über den Kopf und murmelte: »Meine Große.« Die Schlafzimmertür schloss sich leise hinter ihr.
Nini griff nach dem noch fast vollen Teller ihrer Mutter und stapelte ihn auf die anderen beiden. Drei Teller, drei Gläser, drei Mal Besteck – drei fühlte sich falsch an. So grundfalsch.
Mit dem Geschirr in den Händen quetschte Nini sich hinter dem Stuhl ihres Vaters in die Küche und ließ fast die Teller fallen, als ein schrilles Sirenengeräusch ertönte. Rasch zog Nini ihr Telefon aus der Hosentasche.
Achtung: Raubüberfall mit schwerer Körperverletzung in der Boswell Street. Täter noch auf freiem Fuß. Region meiden!
Nur eine Crime-Warnung. Nini entspannte sich wieder. Dank der Überwachungskameras, die an jeder Ecke hingen, würde sich das in kürzester Zeit erledigt haben. Sie tippte auf den Haken, um zu bestätigten, dass sie die Nachricht gelesen hatte, und schielte zu ihrem Vater, der exakt das Gleiche tat. Er und vermutlich Tausende andere Menschen, deren Smartphones im Gebiet um den Russell Square eingeloggt waren. Mit dem kleinen Unterschied, dass diese Warnung bei ihm gerade das väterliche Panikzentrum aktivierte. Zumindest seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.
»Dad, ich werde vorsichtig sein, ich verspreche es. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich meine, was soll mir schon passieren in diesem verschlafenen Nest im Nirgendwo? Außerdem hast du in meinem Alter schon die halbe Welt bereist …«
Diesen Trumpf, die Reisen ihres Vaters, hatte sie sich bis ganz zum Schluss aufgehoben. Nicht ganz fair, das wusste Nini.
Ein resignierendes Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das mit Mevagissey wirklich eine so gute Idee ist. Aber dich von etwas abhalten zu wollen, das du dir in den Kopf gesetzt hast, ist ungefähr so, als wollte man einen fahrenden Zug mit bloßer Hand stoppen.«
Mit zwei Schritten war Nini bei ihrem Vater und umarmte ihn.
»Danke«, flüsterte sie ihm ins Ohr und fügte in Gedanken hinzu: Tut mir so leid, dass ich dich mit all dem hier alleine lasse, aber ich muss hier weg – und wenn es nur für ein paar Wochen ist. Sie spürte, wie das Loch in ihrem Herzen noch ein wenig mehr ausfranste.
4
Die verstopften Ausfallstraßen von London hatten sie längst hinter sich gelassen. Über ihnen spannte sich ein Himmel, wie Nini ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Aquamarinblau, grellblau, unglaublich blau. Es kam ihr vor, als wären die Farben hier draußen lebendiger. Bäume waren nicht einfach nur grün, sie leuchteten in allen Schattierungen, die der Farbton nur hergab, Häuser so weiß, dass Nini an Joghurt denken musste, sonnengelbe Blümchen am Grünstreifen neben der Straße. Bisher war ihr nie aufgefallen, dass London sich anfühlte, als wäre die Farbe aus allem herausgeflossen und nur einzelne Pigmente übrig geblieben. Das Grau der Straßen, das blasse Gesicht ihrer Mutter, die gelblichen Wolken vor dem Fenster.
Nini ließ sich tiefer in den Autositz sinken und sog den Anblick der bunten Landschaft vor dem Autofenster Quadratzentimeter für Quadratzentimeter in sich auf.
»Und? Schon aufgeregt?«
Ihr Vater hielt ihr einen Becher Tee, den er eben aus seiner Thermosflasche eingegossen hatte, unter die Nase. Er war noch heiß und das Auto ruckelte, also nippte sie nur vorsichtig daran. Typischer Morrison-Tee. Golden und dünn, wie Darjeeling eben war, wenn man nur eine winzige Menge Blätter zur Verfügung hatte und die mit sehr viel Wasser aufgoss. Katzenpisse hatten sie und Tilda das Gebräu hinter dem Rücken ihrer Eltern immer genannt. Aber wenigstens gab es bei ihnen zu Hause noch echten Tee und nicht dieses billige Ersatzzeug. Darauf legten ihre Eltern wert.
»Ein bisschen.«
Um die Wahrheit zu sagen: Seit Nini ihre Sachen heute Morgen in den Kofferraum des SDs gepackt hatte, puckerte ihr Herz ziemlich unkontrolliert. Sie fühlte sich, als würde sie in einem Film mitspielen, aber das Drehbuch dazu nicht kennen, und ohne die geringste Ahnung, ob es ein Abenteuer, ein Drama oder eine Komödie werden würde.
Zwei Wochen waren seit dem Gespräch mit ihren Eltern vergangen. Zwei Wochen, in denen sie sich mehr als einmal gefragt hatte, ob sie diese Nummer wirklich durchziehen wollte. Und da war sie nicht die Einzige. Gefühlt hatten ihr alle mit dieser einen Frage in den Ohren gelegen: »Bist du sicher, dass du das wirklich willst?«
War sie und wollte sie! Nini wollte es sogar so sehr, dass ihr die letzten Tage in London zäh wie Kaugummi vorgekommen waren.
Aus ihrem Smartphone drang Sirenengeheul. Schon wieder eine Warnung? Das war jetzt die dritte, seit sie in London aufgebrochen waren. Eine an der Grenze zu Dorset, eine in Devon und jetzt diese hier.
Sie haben den Verwaltungsbezirk Cornwall betreten. Bitte informieren Sie sich über Sonderregelungen (hier). Gesetzesverstöße und Auffälligkeiten hier melden.
Sie bestätigten beide fast zeitgleich den Erhalt der Warnung. Endlich also Cornwall! Ihr Vater hatte für diesen Trip sein SD-Meilenkonto aufstocken müssen, aber er wollte sie nun mal unbedingt herbringen und sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass sie nicht in einer Bruchbude leben würde. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus und sie war sicher, dass es nicht vom Tee kam.
»Hey, Dad«, sie rempelte ihn leicht mit der Schulter an, »danke, dass du mitkommst.«
Sein Lächeln war zwar nur ein Echo des Strahlens von früher, aber es war ein Lächeln.
»Ich kann doch meine Große nicht ganz alleine in die weite Welt ziehen lassen.«
»Daaad, bitte, ich ziehe nur für ein paar Wochen nach Cornwall, nicht in den Kongo.«
»Ich weiß, Nini. Lass deinen Vater doch auch mal die Drama-Queen sein.« Er seufzte theatralisch.
Nini kicherte, als hätte sie zu viel rosa Brause getrunken. Das, was sich da mit jeder zurückgelegten Meile seinen Weg durch das Loch in ihrem Herzen kämpfte, fühlte sich fast an wie Glück.
»Verkehrshindernis in zehn Kilometern. Neue Route wählen?«
Die digitalisierte Stimme des SDs platzte in ihre Gedanken.
»Ja, ja, ist schon gut«, murrte ihr Vater und änderte die Routeneinstellung am Display. Sofort sprang die Zeitanzeige weiter. Sie würden beinahe eine halbe Stunde verlieren. Eine halbe Stunde, die Nini länger warten musste, bis sie das Foxglove Cottage wiedersah. Leonores Haus, das nun ihres war.
Draußen vor dem Fenster hatte sich die Landschaft verändert. Jetzt zogen Meile um Meile Felder vorbei. Grün, braun, grün, braun. Monotonie, geschaffen, um unzählige Menschen zu ernähren. Einzig die Feldroboter unterbrachen das Farbmuster mit ihrem hellen Grau. Emsig kontrollierten und jäteten sie, versprühten Pestizide, verteilten Dünger und sammelten Daten. Sie arbeiteten sich durch die Reihen und sorgten für maximale Ernte. Wie Flöhe in einem Hundefell, dachte Nini und schüttelte sich. Widerlich.
»Diese Feldroboter sehen wirklich …« Nini verstummte, als sie feststellte, dass ihr Vater schon längst abgetaucht war, um seine Geschäftskorrespondenz zu bearbeiten.
»Hmhmm«, brummte er, obwohl Nini den Satz gar nicht beendet hatte. Wie so oft in den letzten Monaten. Sie zupfte an ihrem Armband, bis der Druck auf ihrer Brust wieder nachließ, und sagte dann ganz beiläufig: »Ich habe übrigens vier Lover und denke darüber nach, mir noch einen fünften zuzulegen.«
»Mhhhm.«
»Hey, hast du mir überhaupt zugehört?« Nini bohrte ihm einen Finger in die Rippen, bis er reagierte.
»Was? Klar! Ich muss nur kurz meine Mails beantworten, dann können wir darüber reden.«
»Über meine Lover?«
»Deine was?« Der verwirrte Ausdruck, mit dem er sie jetzt ansah, machten es Nini unmöglich, ihm ernsthaft böse zu sein.
»Ich dachte, das hier wäre unser kleiner Ausflug …«, schob sie hinterher.
»Ist er auch und ich bin wirklich gleich fertig. Versprochen.«
Manchmal wünschte sich Nini die alten Autos zurück. Dann würde ihr Vater jetzt hinterm Steuer sitzen und sich mit ihr unterhalten, anstatt zu arbeiten. Miteinander reden gehörte in letzter Zeit nicht mehr unbedingt zu einer Paradedisziplin ihrer Familie. So gesehen, würde sie sich im Cottage nicht groß umstellen müssen. Alleine. Sie würde alleine sein.
Sie lutschte das Wort wie einen Bonbon.
A-l-l-e-i-n-e.
Je öfter sie es in ihrem Kopf wiederholte, umso weniger konnte sie diese Aneinanderreihung von Buchstaben mit Bedeutung füllen. Kein Wunder, schließlich wusste sie gar nicht, wie sich das anfühlte.
Sie war in ihrem ganzen Leben nie alleine gewesen. Tagsüber, in der Wohnung, waren immer Tilda und ihre Mutter irgendwo herumgesprungen. Die eine hatte gespielt oder gelernt, die andere gearbeitet. Und wenn Nini nicht gerade ihren Live-Schultag hatte, dann saß sie irgendwo in einer halbwegs stillen Ecke und versuchte, mit dem Kopfhörer im Ohr ihrem Online-Unterricht zu folgen – Geschichte, Biologie, Geografie. Abends, wenn ihr Vater nach Hause kam, wurde es dann noch beengter. Und trat man in London vor die Haustür, war das sowieso das Gegenteil von alleine sein.
»Nini?« Ihr Vater hatte das Handy wieder klein gefaltet und weggesteckt. »Was war das vorhin mit deinen … Lovern? Hast du …«
Seiner Stimme war anzuhören, dass er dieses Thema scheute wie der Systemadministrator eine neue Schadsoftware. Normalerweise hätte ihr Dad so ein Gespräch an ihre Mom delegiert, aber was war im Moment schon normal bei ihnen. Sein väterlich-besorgter Blick brachte Nini zum Lachen.
»Nein, habe ich nicht. Beruhig dich.«
Der leicht skeptische Zug um seinen Mund erinnerte Nini sehr an sich selbst. Sie hatte überhaupt oft das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen, wenn sie ihren Dad ansah. Im Gegensatz zu Tilda, die schön wie ihre Mom gewesen war, hatte sie selbst von ihr nur den herzförmigen Mund abgestaubt. Alles andere ging auf das Konto ihres Erzeugers. Die glatten dunklen Haare, die Augen, von denen Tilda immer behauptet hatte, sie wären frosch-schlamm-grün, die aber mit viel Wohlwollen als moosgrün durchgingen, die milchig-helle Haut.
»Nini, ich weiß, ich müsste mehr für dich da sein, aber ich …« Er brach ab und zuckte mit den Schultern.
Nini legte sacht ihre Hand auf seine und sagte: »Dad. Ich bin mittlerweile ziemlich selbstständig, falls dir das entgangen sein sollte. Du musst dir keine Sorgen um mich machen, wirklich.«
Das SD fuhr langsamer, je näher sie ihrem Ziel kamen. Für Ninis Geschmack viel zu langsam, aber die schmale, von einer halbhohen Steinmauer gesäumte Straße ließ kein höheres Tempo zu. Kurvig wand sie sich durch die Landschaft, über die der Juni eimerweise helles Grün ausgegossen hatte. Verwunschene Eichenwälder, Vorhänge aus Efeu, Meere aus Farn, letzte Bluebells, die wie bunte Fische im Unterholz leuchteten – wie hatte sie diese Schönheit nur vergessen können? Plötzlich wurde Nini bewusst, wie unendlich lange sie nicht mehr in Cornwall gewesen war – fast zehn Jahre. Irgendwann hatten ihre Eltern einfach aufgehört, sie zu Leonore zu bringen. Angeblich, weil ihre Patentante zu viel zu tun hätte. Zuerst hatte Nini versucht, dagegen aufzubegehren, doch mit der Zeit hatten die Schule und andere Interessen sie so mit Beschlag belegt, dass Cornwall, Leonore und ihr Cottage in den Hintergrund gerückt waren.
Ninis Blick glitt über den Waldrand. Die Gegend strahlte etwas Magisches aus, und sie wäre kaum überrascht gewesen, Elfen oder Feen zwischen den Baumstämmen hervorlugen zu sehen.
Der Wald wich irgendwann zurück und machte einer Patchwork-Decke aus Feldern, Wiesen und Hecken Platz, über die sich Schafe wie weiße Wölkchen verteilten. Hier gab es also noch Tierhaltung. Klar, von irgendwoher musste ja das echte Fleisch, das meist nur noch auf den Tellern reicher Gourmets landete, schließlich kommen. Kulturerbe Nutztierhaltung. Hatte sie diesen pompösen Begriff nicht neulich irgendwo in einer Seminararbeit gelesen? Aber noch bevor sie den Gedanken verfolgen konnte, lenkte sie ein Kirchturm ab, der am Horizont auftauchte und spitz zwischen den Hügeln herausstach. Dieses Bild kam ihr vage vertraut vor, so wie das Gesicht von jemandem, mit dem man mal auf einer Party gequatscht hatte, aber an dessen Namen man sich nicht mehr erinnern konnte.
»Wir sind in ein paar Minuten da. Willst du zuerst nach Mevagissey reinfahren? Dann müsste ich ein neues Etappenziel ins Navi eingeben.« Ihr Dad studierte die Karte auf dem Display.
»Nein, lieber gleich zum Cottage.« Sie hatte doch nicht fünf Stunden im Auto gesessen, um sich die Schaufenster der Souvenirläden anzusehen, in denen sich Schiffe in Glasflaschen, Muschelmännchen oder T-Shirts mit »I love Cornwall« stapelten.
Sie wollte zu ihrem Haus.
So schnell wie möglich.