Kimberly Jones
Gilly Segal
ALS
DIE
STADT
IN
FLAMMEN
STAND
Aus dem amerikanischen Englisch
von Doris Attwood
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Copyright © 2019 by Kimberly Jones and Gilly Segal
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»I’m Not Dying with You Tonight« bei Sourcebooks, USA.
© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood
Lektorat: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München
he · Herstellung: BB
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-27708-6
V002
www.cbj-verlag.de
Für Drake.
– K. J.
Für Kate, die weiß, warum.
– G. S.
»Wir hatten nicht verstanden, dass die Unruhen bereits begonnen hatten …«
– Bart Bartholomew, Fotograf bei der New York Times und einziger professioneller Journalist in South Central Los Angeles, als die Unruhen nach dem Urteil im Rodney-King-Prozess ausbrachen
»›Auf Black warten‹ steht fett bei dir im Kalender, nicht bei mir«, blafft mich LaShunda an, während wir das Gebäude verlassen.
Ich hab sowieso nicht angenommen, dass sie mit mir wartet, ganz sicher nicht. Ich weiß, dass sie zu Hause Verpflichtungen hat, aber sie weiß, wie sehr ich es hasse, allein hier draußen rumzuhocken. Wenn ihr mich fragt, geht’s hier nur darum, dass sie Black dissen will. Wie immer.
»Von mir aus. Dann geh mit Gott, aber geh«, blaffe ich zurück.
LaShunda kichert spöttisch. »Channelst du mal wieder deinen Großvater, oder was?«
»Ich hab keine Ahnung, was du meinst.« Ich werfe demonstrativ mein Haar über die Schulter, aber sie hat mich doch wieder zum Lachen gebracht. »Pops hat eben die besten Sprüche.«
Sie schüttelt den Kopf und senkt den Blick auf meine Füße. »Wenn du meinst. Wie ich sehe, hast du sie dir echt geholt.«
Ein fettes Grinsen erscheint auf meinem Gesicht. LaShunda entgeht nie irgendwas. Sie kennt mich. Ich meine, sie kennt mich wirklich. Und sie wusste genau, dass sie uns damit beiden sofort wieder bessere Laune macht.
»Cool, oder?«
»Süße, du weißt, dass die besser sind als cool – die sind heiß, Girl. Wenn ich auch nur ’nen Funken Hoffnung hätte, dass ich meine Riesentreter da reinquetschen könnte, würd ich sie mir sofort ausleihen«, erwidert sie.
»Ich hab welche in deiner Größe gesehen. Anderer Style, aber mindestens genauso cool. Ich brauch noch ’n paar Schichten, dann mach ich sie für dich klar.«
»So ist meine beste Freundin, so ist nur meine beste Freundin«, trällert sie, und wir lachen beide. Das Haus von ihrer Granny, Miss Ann, ist eigentlich ihr Haus. Miss Ann hat zwei Jobs und fährt für Uber. LaShunda kümmert sich um die Wäsche, kocht und passt auf ihre drei nervigen kleinen Cousins auf. Sie arbeitet echt viel, deshalb kann sie sich nicht auch noch ’nen richtigen Nebenjob suche. Und darum verwöhn ich sie gern mit ’nem Paar cooler neuer Schuhe oder so, wenn ich’s mir leisten kann. Ich bin gern der Mensch in ihrem Leben, der ihr hin und wieder mal ’ne kleine Freude macht. »Also, gehen wir jetzt zu diesem Spiel-Schrägstrich-Charity-Schrägstrich-megagehypten-Event-Ding?«
»Yes, Ma’am. Du weißt doch, wenn wir die Dolls in der Halbzeitpause nicht tanzen sehen, bringen sie uns um.«
»Wo du recht hast …« LaShunda zwinkert mir zu. »Aber jetzt lass mich gehen, NaNa, bevor Gram mich noch umbringt.«
»Okay, aber lass mich heut Abend nicht hängen.«
So oder so, es ist total okay, dass sie losmuss. Es gibt Tage, da will man mit seinem Kerl einfach allein sein, und für mich ist das heute so ein Tag. Ich hab ihn echt vermisst. Er hat in letzter Zeit so hart rangeklotzt, dass wir uns überhaupt nicht gesehen haben. Und er riecht immer so gut, dass man ihn am liebsten auffressen würde. Er sprüht sich das Aftershave auch immer auf den Hals, weil er weiß, dass ich meinen Kopf gern auf seine Schulter lege und ihn einfach einatme. Oooh, dieser Kerl macht einfach irgendwas mit mir. Er macht mich ganz schwindlig. Ich bin so in meine Träumerei von meinem Traumtypen versunken, dass ich erst merke, dass LaShunda sich trollt, als sie mir über die Schulter zuruft: »Hab dich lieb.«
»Hab dich lieber«, rufe ich zurück. Sie hasst »bis später«. Es war das Letzte, was ihre Mom zu ihr gesagt hat, bevor sie an ’ner Überdosis Heroin gestorben ist. Seitdem hat LaShunda nie wieder zu irgendwem »bis später« gesagt.
Ich überlege, ob ich Black ’ne Nachricht schicken soll, aber das würde ihn nur nerven. Ich weiß, dass er kommt, und außerdem sagt er immer, was sowieso klar ist, muss man nicht extra aussprechen. Keine Minute später fährt er vor, das neue Kelechi-Album voll aufgedreht. Sein Musikgeschmack ist unglaublich. Er kann Trap Music nicht ausstehen und hört nur MCs, die real sind und nicht die ganze Zeit fluchen und Frauen hassen.
»Hat hier jemand ’n Uber bestellt?« Er lächelt und lehnt sich zum Beifahrerfenster.
»Das war ich. Aber ich hab eigentlich auf ›süß‹ geklickt, nicht auf ›megasüß‹. Ist der Preis der gleiche?«
»Black Uber ist normalerweise ’n bisschen teurer, aber ich senke meine Preise, wenn die Mitfahrerinnen genauso megasüß sind.«
Wir lachen beide und ich steige ein. Ich lehne mich zu ihm und nehme ihn in den Arm. Er riecht genauso gut, wie ich erwartet hatte. Am liebsten würde ich ihn gar nicht wieder loslassen. Er presst seine weichen Lippen auf meine, und es ist, als würden Sonnenstrahlen meine Haut wärmen.
Sanft löse ich mich wieder von ihm. »Ich muss nach Hause und mich für das Footballspiel heut Abend rausputzen.«
»Football?« Er lässt den Wagen an und fährt los. »Seit wann stehst du denn auf so was?«
»Meine Girls sind in der Halbzeit dran und ich bin schließlich ’ne gute Freundin, Blödmann.« Ich knuffe ihn spielerisch gegen die Schulter. »Aber keine Sorge: Ich hab nicht vor, noch zu bleiben, nachdem sie mit ihrer Show durch sind. Ich hätte anschließend also noch ’n bisschen Zeit, bevor ich wieder zu Hause sein muss.«
»Okay. Ich sehe mal, was heute Abend noch so geht. Ich sag dir dann Bescheid, was ich vorhab.«
»Das ist dann also ein Nein?«, frage ich und spüre, wie meine Mundwinkel zucken.
»Ich hab nicht Nein gesagt.«
»Das musstest du auch nicht«, erwidere ich. »Tja, wir werden schon sehen, richtig?« Wir bleiben ein paar Häuser von meinem entfernt stehen, und ich lasse zu, dass er mich zum Abschied küsst. »Ciao, Black.«
»Bis dann, Schönheit.«
Ich verdrehe die Augen und steige aus dem Wagen. Zu Hause gehe ich direkt in die Küche und organisiere mir was zu essen.
»Was machst du?«, fragt Pops, ohne vom Spülbecken aufzublicken, wo er grade ein paar Teller abwäscht. Ich hab keine Ahnung, warum mein Großvater nicht einfach die Spülmaschine benutzt. Ich weigere mich strikt, irgendwas von Hand abzuwaschen – meine Nägel sind viel zu empfindlich für Palmolive.
»Ich mach mir vor dem Spiel nur schnell was zu essen.« Ich seufze. Normalerweise bin ich immer total gut drauf, wenn ich grade mit Black zusammen war, es sei denn, er macht mal wieder einen auf Hänsel und wirft mir nur ’n paar Brotkrumen hin.
»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Pops, du hast mich ja noch nicht mal angeguckt.«
»Muss ich auch nicht. Ich kann das hören. Es ist wegen diesem kleinen Schwachkopf, der dich gerade hergefahren hat, stimmt’s?«
»Pops, ich bin nicht –«
Er unterbricht mich: »Lüg mich an, und das einzige Spiel, das du heute Abend zu sehen kriegst, ist Glücksrad im Fernsehen. Und wenn du dir ’nen netten Jungen geangelt hättest, müsstest du mich auch gar nicht erst anlügen.«
Nein, wenn du ihm ’ne Chance geben würdest, müsste ich dich nicht anlügen. Aber wenn ich Pops das ins Gesicht sagen würde, würde ich mir sofort eine fangen. »Kann ich dann jetzt gehen?«
»Geh ruhig, kleine Lügenbaronin.«
Mir ist egal, was Pops sagt, solange er mir das Spiel nicht verbietet. Ich versuch einfach, mich später noch mal mit Black zu treffen, denn ich bin mir sicher, dass der heutige Abend ein besseres Ende nehmen wird als das eben im Auto.
Der Pick-up von meinem Dad rumpelt im selben Moment auf den Schulparkplatz wie der Bus mit der gegnerischen Mannschaft. Wir quetschen uns in eine Parklücke ganz am Ende einer vollen Reihe.
»Es ist gut, dass du das machst, Campbell«, sagt Dad, während der Bus sich leert und eine lange Schlange bulliger Footballspieler in Jogginganzügen herausmarschiert.
Ist es das? Ich bleibe sitzen, schnalle mich nicht ab. Ich frage mich wirklich, warum er glaubt, dass es eine Rolle spielt, ob ich an dieser Schule bei einem Spiel im Kiosk arbeite oder nicht. Ich werde sowieso nur ein Jahr lang hier sein – mein Abschlussjahr. Was glaubt er denn, wozu dieser eine Abend führen wird?
Während die Spieler durch ein Tor im Maschendrahtzaun Richtung Kabinen trotten, kommt ein weiterer Bus an und parkt uns zu. Diesmal steigen ein ganzer Schwarm aus Cheerleadern, eine Tanztruppe und ein Haufen Fans aus. Die Jonesville Panthers und ihre Entourage füllen den kompletten Parkplatz aus. Nach allem, was der Rektor heute bei seinen morgendlichen Ankündigungen erzählt hat, ist Jonesville McPhersons größter Rivale und liegt nur einen Platz hinter uns. Oder so was in der Art. Es leuchtet also ein, dass sie für ein so wichtiges Spiel eine ganze Busladung zur Unterstützung rankarren.
Die einzigen Leute hier scheinen Jonesville-Fans zu sein. Man sollte meinen, die McPherson-Fans wären auch längst aufgelaufen, um ihre Mannschaft schon vor dem wichtigsten Spiel der Saison anzufeuern. Andererseits hat der Rektor mehr als deutlich gemacht, dass wir heute Abend zusätzliche Sicherheitskräfte erwarten können, und verlangt, dass wir uns alle von unserer besten Seite zeigen. Ich vermute daher, dass diese sportliche Rivalität hin und wieder durchaus aus dem Ruder läuft. Vielleicht ist es ja wirklich besser, wenn sich die Jonesville-Superfans schon mal im Block der Auswärtsmannschaft im Stadion niederlassen, bevor die heimische Fanwelle anrollt.
Ich sehe mich nach irgendwem um, den ich kenne, bis mir klar wird, dass das total lächerlich ist. Ich kenne hier niemanden.
Die Menschentraube vor uns teilt sich, um einer großen Frau mit taillenlangen Zöpfen den Weg freizumachen.
Sie hat sichtlich Mühe, mit der einen Hand eine Karre vor sich herzuschieben und mit der anderen einen zerbeulten roten Wagen zu ziehen. Beide sind mit Kartons überladen.
»Das ist Ms Marino«, sage ich. Sie trainiert die Tanztruppe, ist meine Englischlehrerin und hat mich gefragt, ob ich heute Abend nicht den Kiosk übernehmen will. Ich schnalle mich ab und springe aus dem Wagen, um ihr zu helfen. Zu meiner Überraschung steigt Dad ebenfalls aus.
»Campbell!«, ruft sie erfreut. »Wie schön, dass du gekommen bist.«
Ich weiß wirklich nicht, warum. Ms Marino hat mir erklärt, dass die Einnahmen aus dem Verkauf im Kiosk in diesem Jahr der Renovierung der restlichen Sportstätten zukommen sollen, damit sie bald genauso schick sind wie das neue Footballstadion. Der einzige Haken ist, dass die Teams selbst im Kiosk arbeiten müssen. Aber da sich die Sportler während der Spiele natürlich schlecht darum kümmern können, haben sie um Freiwillige gebeten. Ich hab meine Hand ganz sicher nicht gehoben, als Ms Marino uns gefragt hat, das könnt ihr mir glauben. Das hat niemand, obwohl sie uns diese Woche praktisch jeden Tag förmlich um Hilfe angefleht hat. Unsere Klasse hat sie geschlossen abblitzen lassen. Von der unbehaglichen Stille, die jedes Mal auf ihre immer verzweifeltere Bitte folgte, wurde mir am Ende richtig übel. Was wahrscheinlich auch der Grund dafür war, dass mir, als sie mich heute Morgen nach dem Klingeln abgefangen und gefragt hat, ob ich schon mal in einem Kiosk gearbeitet habe, auch sofort ein Ja rausgerutscht ist, bevor ich mir eine Ausrede einfallen lassen konnte.
Dad schnappt sich die Karre, ich nehme ein paar Kartons vom Wagen und wir folgen ihr in Richtung Haupttor. Sie führt uns an zwei Mitgliedern der Tanztruppe vorbei, die ein glitzerndes Banner mit der Aufschrift UNTERSTÜTZT DIE SPORTSTÄTTEN ganz oben am Zaun befestigen.
»Gut gemacht, Mädchen«, ruft sie ihnen zu. »Wenn ihr hier fertig seid, treffen wir uns in zehn Minuten zum Aufwärmen in der Kabine.«
Bei dem vertrauten Ton eines Trainers, der Anweisungen ruft, zucke ich richtig zusammen. Solche Worte sind früher auch durch meine Abende und Wochenenden geschallt. Damals, als ich noch zu einem Team gehört habe. Hastig wende ich den Blick von den Mädchen und ihren Trainingsanzügen mit den aufgedruckten Maskottchen ab und eile Dad und Ms Marino hinterher.
Das riesige Betonstadion ragt vor uns auf und wirft seinen mächtigen Schatten über den Kiosk, was eine echte Erleichterung ist. Es wird frühestens in zwei Stunden dunkel und in diesem Holzschuppen werde ich mir sowieso schon wie in der Sauna vorkommen, ohne dass die Sonne direkt draufknallt. Der Schatten ist aber auch das Einzige, was mich wirklich begeistert. Davon abgesehen ist dieser Kiosk eine einzige Katastrophe: ein klappriger Kasten aus Sperrholz und Kanthölzern, mit großen Fenstern auf der einen Seite, die von einem Rollgitter aus Metall verdeckt sind. Unter dem Rollgitter ragt eine Holzkante hervor, bei der es sich vermutlich um die Bedientheke handelt. Ms Marino gibt die Kombination in ein Vorhängeschloss ein, das oben an einer Haspe befestigt ist, entfernt es und reißt dann so schwungvoll die Tür auf, dass der Knauf richtig in ihrer Hand wackelt. Mit ihr, Dad, mir und der Karre stößt die Bude platztechnisch an ihre Grenzen. Ein Drittel der Kartons und der Wagen stehen immer noch draußen.
Wie soll das bitte gehen?
Allerdings frage ich das nicht laut, sondern helfe stattdessen, die Kartons umzuladen. Dad bleibt noch kurz und hilft uns, das ganze Zeug in der Bude zu verstauen. »Okay«, sagt er, nachdem er die letzte Packung in eins der Regale gestopft hat, »wir sehen uns dann nach dem Spiel, Campbell. Ich hol dich direkt vor dem Tor wieder ab.«
»Weißt du«, beginnt Ms Marino, »die Tanztruppe feiert nach den Heimspielen immer noch im Mr Souvlaki’s. Ich dachte, da du uns heute hier im Kiosk aushilfst, hast du dir eine Ehrenmitgliedschaft im Team verdient. Du solltest mitkommen.«
Ich bin total baff. »Ich kenne eigentlich keins von den Mädchen.«
Sie lächelt freundlich. »Dann lernst du sie eben kennen.«
»Mr Souvlaki’s?« Dads Falten graben sich tief in seine Stirn, während er über diese Einladung nachdenkt. »Ist das dieser Grieche in der Woodland Street?«
»Ja«, antwortet Ms Marino. »Die Pizza ist spitze, die Cola kalt und beides ist billig! Und ich werde auch dort sein, genau wie zwei der Teammütter. Elterliche Aufsicht garantiert, falls Sie sich deswegen Sorgen machen.«
»Ich hatte vor, nach dem Spiel direkt in die Hütte raufzufahren, Campbell. Ich würde nur sehr ungern erst so spät da oben ankommen«, sagt Dad. Er legt eine Hand auf meine Schulter, als seien seine Pläne vollkommen neu für mich. So als sei ich enttäuscht und er müsse mich trösten.
»Ihr fahrt weg?«, fragt Ms Marino ein wenig betrübt.
»Nur er. Aber er bringt mich vorher noch nach Hause, also …« Eine seltsame Mischung aus Bedauern und Erleichterung rumort in meinem Magen. »Vielleicht nächstes Mal.«
»Oh«, sagt sie, und ihr Lächeln kehrt strahlend zurück »Das ist doch kein Problem. Ich kann dich nach dem Essen nach Hause fahren.«
Was? Nein, nein, nein. Als ob es nicht schon erbärmlich genug wäre, die Neue zu sein. Und jetzt will Ms Marino mich auch noch nach Hause bringen?
»Das wäre eine Möglichkeit«, erwidert Dad zögerlich. »Wenn ich jetzt gleich aufbreche, erreiche ich die Hütte noch, bevor es allzu dunkel ist.«
Ich protestiere, aber vergeblich. Meine Lehrerin und mein Vater besiegeln meine Pläne für diesen Freitagabend und er bricht höchstzufrieden zu seiner Angelhütte auf. Und noch bevor ich überhaupt begreife, wie das eigentlich alles passiert ist, begleite ich Ms Marino wieder, um noch mehr Zeug für den Kiosk zu holen. Wir steuern auf ihr mobiles Klassenzimmer zu, das in einem großen klobigen Wohnwagen untergebracht ist, der zwischen dem Hauptgebäude und dem Footballfeld auf Betonblöcken steht. Die mobilen Klassenzimmer sollten wahrscheinlich nur eine Übergangslösung sein, um genügend Platz für alle Klassen zu schaffen, bis die Schulbehörde einen Anbau bewilligt, aber wenn man mich fragt, sehen die Dinger aus, als stünden sie schon mindestens dreißig Jahre hier. Ms Marino plappert irgendwas davon, dass sie heute Abend den höchsten Umsatz aller Teams erzielen will, die sich bisher um den Kiosk gekümmert haben, und erklärt mir, welche Regeln ich beachten muss. Sie sind nicht neu für mich – nimm deine Aufgabe ernst, gib immer das korrekte Wechselgeld raus, bla, bla, bla –, aber alles andere hier schon. Ihr Geschwafel geht mir zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus, während ich mir den Schweiß von der Stirn wische, in Gedanken abschweife und mich frage, was wohl gerade zu Hause in Haverford los ist. Auch wenn ich es wohl nicht mehr als mein Zuhause betrachten sollte, da ich höchstwahrscheinlich nie wieder dort wohnen werde.
»Bei dieser Spendenaktion«, erklärt Ms Marino, »geht es teilweise auch darum, Geld für den Kiosk zu sammeln. Er ist der reinste Schandfleck im Vergleich zu dem neuen Stadion. Wir sind für alle Spenden sehr dankbar – Baumaterial, zum Beispiel.«
Aha. Da ist er also: der Hintergedanke, der nichts mit meinem Beliebtheitsstatus zu tun hat. Sie weiß, dass meinem Dad Carlson’s Hardware Store im Industriegebiet in der Seventh Avenue gehört. Allerdings ist offensichtlich, dass sie noch nie selbst in dem Laden war, wenn sie glaubt, er hätte irgendwas übrig, das er spenden könnte. Ich lächle sie nur an und tue so, als hätte ich den dezenten Hinweis nicht verstanden.
Sie scheint es nicht persönlich zu nehmen. Sie zuckt mit den Schultern, reicht mir eine kleine Geldkassette aus Metall, die mit Ein- und Vierteldollarmünzen gefüllt ist, und drückt mir den Schlüssel zu ihrem Wohnwagen-Klassenzimmer in die Hand. »Bitte schön. Deine Kollegen für heute Abend sind zwar noch nicht hier, aber du kannst das schon mal zum Kiosk bringen. Du hast das Kommando. Ich schicke sie dann sofort zu dir. Wir treffen uns nach dem Spiel wieder hier und fahren gemeinsam zum Mr Souvlaki’s. Aber warte am besten drinnen und steh nicht die ganze Zeit mit der Kasse draußen rum.«
Anderthalb Stunden später schwitze ich mir in dem Kiosk immer noch den Arsch ab. Wir sind kurz vor der Halbzeit, und es muss das längste Spiel in der Geschichte sein. Es gab so viele Strafen und Unterbrechungen, dass ich schon gar nicht mehr mitzählen kann.
Ms Marino war vor ein paar Minuten hier, hat einen Blick in den Kiosk geworfen und ist total aus der Haut gefahren. »Ehrlich, Leute«, hat sie gestöhnt, ihre Stimme so brüchig wie ein morscher Zweig, »habt ihr hier drin eine Essensschlacht veranstaltet? Ihr macht hier picobello sauber. Sofort. Ich komme in der zweiten Halbzeit noch mal vorbei – und dann sollte es hier besser so klinisch rein sein wie in ’nem Operationssaal.«
»Ich geh Nachschub holen.« Keisha schwingt sich die Handtasche über die Schulter und stolziert zur Tür. »Du bleibst hier, Frischling, und fängst schon mal an mit Saubermachen.«
»Ich heiße Campbell«, grummle ich. Ich hab es ihr vorhin schon mal gesagt, aber sie kann sich wohl nicht mehr daran erinnern. Oder vielleicht will sie es auch nur nicht.
»Alles klar, Frischling.«
Das sind die ersten und einzigen Worte, die Keisha den ganzen Abend zu mir gesagt hat.
Jetzt sind nur noch ich und Caleb in der Bude und er ist wirklich keine Hilfe. Er blickt höchstens mal von seinem Handy auf, um mit der schier endlosen Parade seiner Freunde zu quatschen, die aus irgendeinem Grund immer an der Tür stehen bleiben und nicht am Fenster.
»Hey, Kumpel«, sagt Caleb und hüpft vom Tresen, weil der nächste seiner Freunde den Kopf durch die Tür steckt.
Hier bin ich also, die Neue, praktisch allein, und darf ganz ohne Hilfe ein katastrophales Chaos beseitigen.
Das Leute mich allein lassen, scheint im Moment der neue Trend zu sein.
Irgendwo über mir beginnt die Menge zu jubeln und die Band stimmt ein Stück an, das überhaupt nicht so klingt wie die Marschmusik an meiner alten Schule. Hier gibt’s keinen John Philip Sousa. Alles, was die McPherson-Band an diesem Abend bisher gespielt hat, würde man auch im Radio hören. Irgendwie ist das ziemlich cool. Ich wünschte, ich könnte rauf auf die Tribüne und es mir ansehen, aber ich soll den Kiosk nicht verlassen.
Ich blicke von den überall auf dem Boden verstreuten Servietten zu dem Getränkespender, der verstopft zu sein scheint und schon den ganzen Abend nicht richtig funktioniert.
»Was mache ich hier eigentlich?«, murmele ich vor mich hin.
Keine der Antworten, die mir einfallen, scheint mir wirklich überzeugend zu sein. Sicher, ich hab in Haverford auch öfter im Kiosk gearbeitet, bevor Mom einem Job in Venezuela nachgejagt ist und mich für mein letztes Schuljahr einfach bei Dad abgeladen hat. Und ja, die Vorstellung, im Kiosk zu arbeiten und anschließend mit Freunden auszugehen war das Erste, was mir einigermaßen vertraut vorkam, seit ich nach Atlanta gezogen bin. Eine Sekunde lang stelle ich mir einen Freitagabend in einem Paralleluniversum vor, in einer ganz ähnlichen Bude, wo genauso grelle Scheinwerfer den perfekt gepflegten Rasen eines Footballfelds erhellen. Aber dort enden die Ähnlichkeiten auch schon. Der ganze Rest der McPherson ist so weit entfernt und anders, dass sie sich auch gut und gern auf einem anderen Planeten befinden könnte. In Haverford ist es im Oktober bereits ziemlich frisch. Ich hätte meine Teamjacke an und keine Angst, mich heimlich rauszuschleichen, um mir das Spiel anzusehen. Ich würde das Bargeld in eine richtige Registrierkasse zählen statt in eine Blechschatulle, umgeben von Leuten, die tatsächlich meine Freunde sind. Fast die Hälfte meines Leichtathletikteams, einschließlich meiner beiden besten Freundinnen Lindsey und Megan, geht seit der achten Klasse immer direkt nach dem Leichtathletiktraining zu den Footballspielen. Und ich würde Fotos von den architektonischen Wunderwerken instagrammen, die wir immer aus Süßigkeiten gebaut haben, wenn das Spiel zu langweilig war.
Ich knalle die Tür des Getränkespenders zu und spiele einen Moment lang mit dem Gedanken, eine Golden Gate Bridge aus Schokoriegeln zu bauen und dann zu posten. Es sind genügend Snickers da, aber ich habe niemanden, den ich um Hilfe bitten könnte. Calebs Freund ist weg und er sitzt wieder hinten auf dem Tresen und klebt förmlich mit den Augen an seinem Handy. Außerdem will ich sowieso nicht, dass alle in Haverford das Chaos hier im Hintergrund sehen. Eine Spur aus Zellophanpapier erstreckt sich über die Theke wie ein riesiges glänzendes Spinnennetz. Müll verdreckt den Boden, einschließlich eines ganzen Stapels Popcornbecher, den Caleb umgeworfen hat. Halb zerquetscht und längst total schwarz liegen sie vor unseren Füßen. Ein vollkommen widerliches, rot-gelbes abstraktes Kunstwerk aus Ketchup und Senf beschmiert die Kundentheke. Würg.
»Hey, Caleb. Glaubst du, du könntest vielleicht –«
Es klopft dreimal an der Kioskwand.
»Warte kurz, Kumpel«, unterbricht mich Caleb. Er springt vom Tresen, reißt die Tür auf und klatscht den Typen ab, der davorsteht.
Für eine Sekunde halte ich die Luft an und versuche, nicht mit den Augen zu rollen. Dann beuge ich mich nach unten und fange an, aufzuräumen. Nicht dass ich es wirklich will. Ich will überhaupt nicht mehr hier sein, aber ich kann auch nicht einfach abhauen. Außerdem ist Dad sowieso längst weg und kommt erst am Sonntag wieder. Selbst wenn ich mich verziehen würde, wartet zu Hause niemand auf mich.
Caleb nimmt seinen angestammten Platz wieder ein und bringt das Handy in seine übliche Position: direkt vor sein Gesicht. Sein Daumen scrollt und seine Augen folgen. Er ist vollkommen vertieft. Ich wünschte, ich hätte irgendeine scharfzüngige Bemerkung parat, damit er endlich seinen Hintern bewegt und mir hilft, aber wie üblich ist mein Kopf total leer. Die geistreichen Kommentare fallen mir immer erst ein, wenn es längst zu spät ist. Außerdem hab ich ein bisschen Schiss, mich mit ihm anzulegen. Ich bin mir nicht sicher, wie die Leute hier darauf reagieren würden, und ich will mir garantiert keinen Stress einhandeln.
Mit einem Seufzen fange ich an, die dreckigen Servietten einzusammeln und sie in die Mülltüte zu werfen, während ich immer ein Auge nach potenzieller Kundschaft offen halte. Es lungern ein paar Schüler vor dem Kiosk rum, aber ich kenne keinen von ihnen.
Doch, Moment. Da ist Lena James. Sie kenne ich – mehr oder weniger.
Wir haben zusammen Unterricht, auch wenn sie noch nie mit mir gesprochen hat. Ihre Freundin hab ich auch schon mal gesehen, sie hängt immer mit Lena ab. An ihren Namen kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern. Lachend nähern sich die beiden dem Kiosk. Lena schubst ihre Freundin an der Schulter an und sie schubst zurück und dann schlägt Lena mit einer Louis-Vuitton-Tasche nach ihr. Ich betrachte sie genauer und erkenne, dass das Leder schon ein bisschen abgenutzt und die Unterseite ziemlich abgeschabt ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Tasche echt ist. Wow. Ich frage mich, woher sie eine echte LV hat.
Auf Lenas Stirn schimmern Schweißperlen und ihr Make-up fängt an zu verkrusten. Das ist ziemlich überraschend, weil sie normalerweise durch die Schulflure stolziert, als sei sie einem Musikvideo entsprungen. Ihr langes, welliges Haar ergießt sich über ihre Schultern, und ich frage mich, wie sie diese Hitze nur aushält. Vielleicht gleicht sie es ja mit ihren Shorts wieder aus, die so kurz sind, dass sie ganz sicher gegen die Kleiderordnung verstoßen.
Ich sehe, wie ihre Freundin mich misstrauisch beäugt, und mir wird klar, dass ich sie anstarre wie eine Irre. Upsi. Ich tauche wieder hinter der Theke ab, um mich vor ihrem Blick zu verstecken.