Heul doch nicht, du lebst ja noch

 

 

 

»Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.«

WILLAM FAULKNER

 

 

 

Eine Liste der Begriffe und Ereignisse findest du am Ende des Buches.

Nacht von Freitag, 22.6.1945, auf Samstag, 23.6.1945

Jakob

Jakob wartet. Wenn Herr Hofmann in dieser Nacht wieder nicht kommt, dann wäre es das zweite Mal. Inzwischen wird es nachts überhaupt nicht mehr richtig dunkel, daran merkt Jakob, dass es endgültig Sommer sein muss, Mittsommer vielleicht. Irgendwann ist er durcheinandergekommen mit den Strichen, die er mit Bleistiftstummel auf den Rand einer Zeitung gemalt hat, in die Herr Hofmann sein Essen eingeschlagen hatte, für jeden Tag einen. Irgendwann wusste er nicht mehr genau, ob er an diesem Tag schon einen Strich gemacht hatte oder nicht, da hat er es dann gelassen. Dass es Sommer wird, merkt er auch so. Er hat Angst vor dem Winter.

Solange es hell ist, kann Herr Hofmann nicht kommen, und es ist lange hell jetzt. Aber nun steht am Himmel der Mond, kalkig und gefleckt, fast schon voll; und selbst die Milchstraße ist zu sehen über der dunklen Stadt: Die Sterne haben sich in der Zeit der Verdunkelung den Nachthimmel zurückerobert wie die Ratten die Straßen. In der Nacht sieht Jakob sie laufen, ohne Angst. Auch Katzen sieht er in der Nacht, aber sie sind nicht zahlreich genug gegen das wachsende Heer der Ratten in den Ruinen. Und vielleicht begnügen sie sich ja ohnehin mit den Mäusen, die sind leichter zu erlegen, von denen gibt es auch genug.

Jakob beugt sich aus der Fensteröffnung, vorsichtig, trotz der grauen Dunkelheit. Auf der Straße, zwischen den Bergen aus Trümmerschutt, geht ein Liebespaar, eilig. Längst Ausgangssperre. Gilt natürlich nicht für sie.

Wenn Herr Hofmann heute wieder nicht kommt, weiß Jakob, dass sie ihn geschnappt haben. Jetzt müsste er eigentlich ein schlechtes Gewissen haben: geschnappt auf dem Weg zu ihm, mit seinem Essen, geschnappt seinetwegen.

Aber jetzt in der zweiten Nacht ist der Hunger so groß, da bleibt nicht auch noch Raum für sein Gewissen. Wenn Herr Hofmann heute Nacht wieder nicht kommt, wird er niemals mehr kommen. Dann wird Jakob selbst sehen müssen, woher er etwas zu essen kriegt. Dann wird er sich hinauswagen müssen aus seinem Wigwam, zum ersten Mal seit wie langer Zeit? Lange. Die Striche helfen ihm nicht mehr und es ist auch egal. Draußen ist doch immer noch alles, wie es war. Und er darf nicht darüber nachdenken, was geschieht, wenn sie ihn erwischen. Ohne etwas zu essen ist der Tod ihm gewiss.

Wenn sie ihn finden, vielleicht auch.

Samstag, 23.6.1945, nachmittags

Traute

Traute hat sich gegen die Hauswand gelehnt. Die Sonne wärmt ihre bloßen Arme; wie gut, dass sie keinen Pullover braucht, der wäre ja sowieso zu klein. Sie muss nur auf den Streifen bloßer Haut oberhalb ihrer Knie sehen, dann weiß sie, dass sie schon wieder gewachsen ist. Mutti wird fluchen.

Wenn die Sonne scheint wie jetzt, könnte man glauben, es wären nur Sommerferien. Wenn nicht immer Ferien wären, schon lange. Auch nicht schlecht oder allmählich vielleicht doch.

Auf der Straße vor dem Haus spielen die Jungs Fußball. Es ist einer dazugekommen in der letzten Woche; nicht nur in ihrer Straße, überall sind nun mehr Menschen, mehr Frauen, sogar mehr Männer. Wie passen sie nur alle in die kleinen Wohnungen? Vor der Einquartierung haben kaum noch Kinder in ihrer verwüsteten Straße gewohnt, aber auf einmal gibt es überall immer mehr. Auch Mädchen. Aber hier sieht sie jedes Mal nur diese drei Jungs.

Mit den Schultern stößt Traute sich ab von der Wand und schlendert auf die Jungs zu. Mit Hermann muss sie reden, der ist der Älteste. Er trägt ein braunes Hemd mit Taschenklappen auf der Brust, aber jetzt, wo die Armbinde längst abgestreift ist, könnte es doch vielleicht auch ein anderes Hemd sein. Trotzdem, weiß ja jeder, was es ist. Tragen alle Uniformhemden, Uniformhosen, die Jungs, aber die HJ-Abzeichen haben sie entfernt.

Jetzt liegt der Ball bei Max. Ein alter Lederball, der hat vorher Max’ großem Bruder gehört. Der braucht ihn ja nicht mehr. Da hat Max Glück gehabt, irgendwie.

Weil sie ihn sonst vielleicht nicht mitspielen lassen würden, Max ist ein lausiger Fußballspieler. So brauchen sie ihn, sie brauchen seinen Ball.

»Nein!!!!«, brüllt Hermann. »Den hätte ja ein Blinder mit dem Krückstock reingelegt!«

Max rennt, um den Ball zurückzuholen, der an den Torpfosten vorbei die Straße runterrollt. Sie ist hier nur wenig abschüssig Richtung Alster, aber das bisschen reicht schon aus. Der Kleine, der erst vor einer Woche aufgetaucht ist, guckt ihm nach. Bestimmt ist der aus dem Osten.

Vielleicht ist jetzt eine gute Gelegenheit. »Kann ich mitmachen?«, fragt Traute.

Hermann mustert sie vom Kopf bis zu den Füßen.

»Keine Weiber!«, sagt er.

Aus Richtung Innenstadt kommt ein Jeep.

»Scheiß Tommys!«, sagt Hermann. Er greift nach der Jacke, die sie als Torpfosten auf das Pflaster gelegt haben, da wo es schon frei geräumt ist. Den anderen Pfosten lassen sie stehen, einen Betonbrocken vom Trümmerfeld auf der anderen Straßenseite. Der Jeep kurvt drum herum, gerät mit einem Rad in den Trümmerschutt, der Fahrer sieht ärgerlich aus. Aber der Beifahrer lächelt den Kindern zu und schnipst eine Zigarettenkippe aus dem Wagen, dürfen die ja gar nicht.

Hermann entdeckt sie als Erster. »Meine!«, sagt er und steckt sie in die Brusttasche.

Der Kleine greift nach der Jacke und legt sie wieder hin. Bis das nächste Auto kommt, wird viel Zeit vergehen. Die Tommys haben ihre Patrouille gerade erledigt, und wer fährt denn hier sonst? Gibt doch keine Autos. Gibt doch kein Benzin.

Max kommt mit dem Ball zurück. Vielleicht ist es klüger, ihn zu fragen, nicht Hermann. Ihm gehört der Ball.

»Prima Ball!«, sagt Traute und lächelt Max an. Eigentlich kennt sie ihn auch nicht richtig. Als es noch Schule gab, war er auf der für die Jungs, und nachmittags hat sie ja mit ihren Freundinnen gespielt. Solange es die Häuser auf der anderen Straßenseite und dahinter noch gab, da haben viele gewohnt, das ist lange her. »Kann ich mitmachen, Max?«

Max sieht sie unsicher an. Vielleicht würde er gerne Ja sagen. Sie sind drei Jungs, das reicht nicht für zwei Mannschaften. Da können sie nur alle abwechselnd auf das Tor schießen.

»Ich hab schon oft Fußball gespielt!«, sagt Traute und lächelt immer noch. »Mit meinem Vater, wenn der auf Heimaturlaub war!« Gelogen, alles gelogen.

Aber das lässt Hermann sich nicht gefallen. Hatte er nicht schon Nein gesagt? »Hast du Kartoffeln auf den Ohren?«, fragt er. »Keine Weiber, hab ich gesagt! Spiel mit deinem Puppenwagen!«

Max zieht die Schultern hoch und sieht weg.

Traute weiß, wann es Zeit ist aufzugeben.

»Puppenwagen!«, sagt sie und zeigt Hermann einen Vogel. »Glaubst du, ich bin ein Säugling?«

Aber der hat Max schon den Ball weggenommen: »Gib her!«, und legt ihn sich zum Schuss zurecht. Der Kleine steht im Tor.

Traute lehnt sich wieder an die warme Mauer. Keine Schule, so lange schon nicht. Immer nur im Laden und in der Backstube helfen. Und wenn sie dann endlich nach draußen darf, lässt dieser grässliche Hermann sie nicht mitmachen.

Morgen wird sie es anders versuchen.

Hermann

Die anderen sind alle gegangen, ihre Mütter haben sie nach Hause gerufen. Kinder!

Hermann ist vierzehn, vierzehn ist erwachsen. Er hätte in den letzten Kriegstagen sogar noch im Volkssturm mitmachen können, niemand hätte ihn gehindert; schließlich war er HJ-Führer gewesen! In seiner Kameradschaft hatten sie ihm gehorchen müssen, alle. Das war jetzt vorbei.

Zum Volkssturm hatte seine Mutter ihn nicht gelassen, Pflicht war das ja erst ab sechzehn. »Glaubst du, mir reicht es nicht, dass ich einen Krüppel in der Familie habe?«, hatte sie gebrüllt.

Aber Hermann wäre vorsichtig gewesen, Hermann ist schlau, Hermann hätte sich bestimmt nicht beide Beine wegschießen lassen. Hermann hätte hinter den Barrikaden gestanden und den Tommys mit seiner Panzerfaust gezeigt, dass sie gegen einen deutschen Jungen keine Chance haben, Panzerfaust, das hätte ihm gefallen.

Leider war das dann sowieso nicht mehr möglich gewesen. Weil Gauleiter Kaufmann die Stadt kampflos übergeben hatte. Kampflos! Das stolze Hamburg! Es war eine Schande. Hatten sie dafür so lange gelitten? Und ausgerechnet den Tommys, deren Bombern sie all diese Ruinen zu verdanken haben. Und jetzt dürfen die hier mit ihren Jeeps durch die Straßen fahren und sich aufspielen. Wenn Hermann eine Granate hätte, wären bald ein paar von denen auch ohne Beine.

Hermann kickt einen Stein vor sich her. Von seinem rechten Schuh hat sich schon die Sohle gelöst, macht nichts. Ist ihm sowieso zu klein.

»Warum kann ich nicht Vaters Schuhe anziehen?«, hatte er böse gesagt, als er abends die engen Schuhe ausgezogen und seine verkrümmten, hochroten Zehen massiert hatte. »Der braucht sie doch sowieso nicht mehr!«

Der Vater hatte vom Küchensofa, auf dem er seine Tage verbrachte, heftig mit einer Krücke nach ihm geschlagen, wie er es immer tat. Das war das Einzige, was er noch konnte, das Einzige, wozu die Krücken gut waren. Gehen konnte er damit doch sowieso nicht.

»Die Schuhe bleiben im Schrank!«, hatte der Vater gebrüllt. »Die brauch ich, wenn ich meine Prothesen kriege!«

Die Mutter hatte ihm einen Blick zugeworfen, und Hermann hatte sich blitzschnell weggeduckt, um der Krücke auszuweichen. Die Mutter hatte mit einem eiligen Griff ihre Tasse vom Tisch genommen, damit der Vater sie in seiner Wut nicht mit der Krücke auf den Boden wischte. Eine neue Tasse würden sie nur schwer auftreiben können.

»Prothesen!«, hat Hermann gezischt, als er barfuß auf den Flur verschwunden ist. Woher sollten die denn so schnell kommen? Gab doch so viele Männer, die Prothesen brauchten jetzt, und die Krankenhäuser waren zerbombt, waren überfüllt, auch keine Werkstätten, auch kein Geld. Versprochen hatten sie dem Vater die Prothesen schon, als sie ihm im Lazarett nach dem Granatentreffer die Beine abgenommen hatten, das eine kurz über dem Knie, das andere weiter oben. »Damit werden Sie wieder springen können wie ein junges Reh!«, hatte der Arzt aufmunternd gesagt. Er hatte in den letzten Jahren so viele Gliedmaßen amputiert, dass er längst nicht mehr zählte. Mitleid empfand er immer noch. »Wenn der Krieg zu Ende ist. Nach dem Sieg. Machen Sie sich keine Sorgen.«

So hatte der Vater es aus dem Feldlazarett erzählt, als sie ihn nach Hause gebracht hatten. Hatte er selbst daran geglaubt, damals? Prothesen, ha! Wer keine Beine mehr hat, hat keine Beine mehr.

Hermann kickt den Stein auf einen der vielen Trümmerhaufen am Straßenrand. Er will nicht zu Hause ankommen, er weiß doch, was ihn erwartet. Alle zwei Stunden soll er nach dem Vater sehen, das hat er versprochen. Um zu gucken, ob er ihn nach unten tragen muss, ins Zwischengeschoss, wo auf der halben Treppe die Toilette für ihre vier Mietparteien ist. Wie sollte der Vater da sonst wohl hinkommen?

Aber wenn er draußen ist, vergisst Hermann es immer wieder, will es vielleicht auch vergessen. Gestern hatte der Vater sich in der Zwischenzeit wieder eingepisst. Immer geht auch was neben die Flasche. Das will Hermann nicht jeden Tag erleben, inzwischen kriegen sie den Gestank gar nicht mehr aus der Küche. Er sitzt im Küchensofa fest.

Wenn Hermann so spät kommt, wird es Ärger mit der Mutter geben, am liebsten würde er sich hier draußen in den Ruinen verstecken. Aber woher sollte er da wohl Essen bekommen.

Hermann seufzt. Wenigstens ekelt er sich nicht mehr so sehr wie am Anfang.

Nacht von Samstag, 23.6.1945, auf Sonntag, 24.6.1945

Jakob

Herr Hofmann ist wieder nicht gekommen, zum dritten Mal nicht.

Den Tag über hat Jakob gelesen, da konnte er den Hunger fast vergessen. Aber manchmal sind die Buchstaben auch vor seinen Augen verschwommen, darum weiß er, es wird Zeit, dass er etwas zu essen bekommt. Eine letzte Scheibe Brot hat er noch, und es hat ihn all seine Kraft gekostet, sie nicht hinunterzuschlingen. Damit er sie nicht immer sehen muss, hat er sie unter das schäbige Sofa geschoben. Egal, dass es darunter staubig ist.

Das Buch liest er schon zum dritten Mal. Volk ohne Raum. Es gefällt ihm nicht, Volk ohne Raum, das sind doch eigentlich sie, seine Leute, die Leute seiner Mutter; und wenn dies alles vorbei ist, wenn es ihn danach noch gibt; dann geht er nach Palästina wie Heinrich, von dem sie schon lange nichts mehr gehört haben. Aber vielleicht geht dieser Krieg auch nie vorbei und mit ihm die Zeit des Versteckspiels? Vielleicht kämpfen sie weiter, die Deutschen, bis sie doch irgendwo all das Land erobert haben, das sie haben wollen für ihr arisches Volk ohne Raum; und wenn Herr Hofmann jetzt nie mehr kommt, wie soll Jakob durchhalten ohne Essen, bis in alle Ewigkeit?

Auch das Buch gehört Herrn Hofmann, vielleicht hätte er bald wieder ein neues mitgebracht. Einmal hat er Jakob Karl May gegeben, Winnetou und Der Schatz im Silbersee und Old Surehand. Das waren glückliche Tage, als er die Bücher gelesen hat, da konnte Jakob sich wegdenken, da musste er sogar gar nicht denken, da war er im Wilden Westen unterwegs. Dahin würde er auch in Wirklichkeit am allerliebsten auswandern.

Den Wilden Westen gibt es nicht mehr, das weiß er von seinem Vater. Eisenbahnen und Automobile überall und die Indianer getötet oder verjagt, dabei war das doch eigentlich alles einmal ihr Land. Aber Amerika gibt es noch, dahin wollten seine Eltern mit ihm. Es gab nur kein Visum. Und dann war es ja sowieso zu spät.

Jakob sieht aus der Fensteröffnung nach draußen. Der Himmel ist bedeckt heute in der dritten Nacht ohne Herrn Hofmann, Wolken vor dem Mond und auch keine Milchstraße, das ist gut. In dieser Dunkelheit entdeckt ihn niemand so leicht. Er muss nur schleichen und horchen, ob er Schritte hört oder ein Auto. Autos fahren aber kaum noch. Wenn am Tag eins durch die Straße rollt, presst er sich in die hinterste Ecke des Zimmers, obwohl das natürlich ganz überflüssig ist. Wie sollten sie ihn hier im dritten Stock denn wohl entdecken? Sogar Soldaten, die oben aus ihren Panzerluken gucken, könnten ihn nicht sehen, sein Wigwam ist ja viel zu hoch oben. Herr Hofmann hat lange gesucht, bis er dieses Versteck gefunden hatte.

»Da bist du sicher!«, hat er gesagt. »Das glaubt keiner, dass es in so einer Ruine noch einen bewohnbaren Raum gibt. Und wenn sie dich nicht mehr in meiner Wohnung aufstöbern können, bin ich auch sicherer vor der Hexe. Nur mit der Treppe hier, das wird vielleicht schwierig.«

Jakob wirft einen letzten Blick nach draußen, auf Eilbek, den Stadtteil, in dem die ausgebrannten Häuser stehen wie verkohlte Bäume im Wald nach einem Gewitterfeuer, schwarz und traurig. Nirgendwo Licht, woher sollte es wohl auch kommen. Und ist doch sowieso Verdunkelung.

Wer sollte ihn also beobachten, wer sollte ihm begegnen um diese Zeit; und wenn ihm einer begegnet, was würde der denken? Woran sollte der erkennen, wer Jakob ist? Für Deutschblütige gilt die Ausgangssperre nicht.

Er schiebt die Schatulle unter das fleckige Sofa, das seit Wochen sein Bett gewesen ist, neben das Brot. Seine Mutter hatte sie in seinen Rucksack gesteckt, als sie gegangen war. Da, wo sie sie hingebracht haben, trägt niemand Schmuck.

Jakob schluckt. Er will nicht daran denken. Niemand weiß doch genau, was sie mit denen machen, die sie in Güterwagen nach Osten fahren. Es gab so viele Gerüchte, seit es begonnen hat, ist schon fast vier Jahre her, da war er gerade zehn Jahre alt. Nur dass man keinen von denen jemals wiedergesehen hat, das steht fest. Nicht seine Tante Hanna, nicht seinen Onkel Wilhelm, seine beiden kleinen Cousins. Nur Heinrich ist schon lange in Palästina.

»Das ist nicht nur eine Umsiedlung!«, hat sein Großvater geflüstert, das war ganz kurz, bevor er selbst den Bescheid bekommen und seinen Koffer gepackt hatte wie befohlen. »Wir sollen da nicht nur arbeiten!« Woher hatte er das wissen wollen?

»Geh nicht!«, hatte Jakobs Mutter gesagt.

Der Großvater hatte sie auf die Stirn geküsst. »Man muss wissen, wann man geschlagen ist, mein Mädchen!«, hatte er gesagt und war zum Logenhaus gegenüber dem Dammtor gegangen, aufrecht, so erstaunlich aufrecht für einen alten Mann. Seine Bücher und seine Geige hatte er Jakob geschenkt. Die hatte er nun auch nicht mehr.

Aber sie waren doch sicher gewesen, seine Mutter und er. Nicht mal den Stern mussten sie tragen. Da gab es schließlich den Vater, deutschblütig über Generationen. Eine Schande, ja das gewiss, das sagten die Braunen; eine Schande, dass er sich diese Jüdin zur Frau genommen hatte, Rassenschande: Aber war noch nicht verboten gewesen damals, war verboten erst seit zehn Jahren, da waren der Vater und die Mutter längst verheiratet, hatten sogar längst ihn, Jakob, ihren Sohn. Sogar in ihrer Wohnung durften sie bleiben, mussten nicht in ein Judenhaus.

Natürlich, ins Kino hatten sie zusammen schon jahrelang nicht mehr gedurft, weil das für die Mutter verboten war, ins Schwimmbad nicht, in den Park; und Jakob bald auch nicht mehr zur Schule. Und zu Fuß musste die Mutter gehen, keine Straßenbahn für sie, keine S-Bahn, und in der Nacht Ausgangssperre wie für alle Juden. Aber den Stern musste sie nicht tragen! Und sie waren doch wenigstens sicher gewesen, mussten nichts fürchten! Keine Umsiedlung, Aussiedlung, Evakuierung für sie, weil der Vater Arier war. Keine Gefahr, solange der Vater lebte. Hatte Jakob das jemals wirklich glauben können?

Im Osten, wo längst alle Länder deutsch waren, seit deutsche Truppen sie erobert hatten, waren solche wie er doch auch einfach nur Juden, wurden behandelt wie Juden, kamen ins Lager wie sie; und was dann aus ihnen wurde, waren Gerüchte. Wann wird es auch hier so sein? Es ist gut, dass Jakob in seinem Wigwam lebt.

Weil nichts wirklich sicher ist. Weil alles sich ändert, immer wieder, von einem Tag zum andern. Und niemals zum Besseren.

Jakob

Jakob erinnert sich, wie der Vater den Bescheid bekommen hat. Der Vater! War doch deutschblütig über Generationen! Aber war nun auch jüdisch versippt. Das hätte er sich vorher überlegen müssen.

Im Herbst war der Brief gekommen. Organisation Todt, Baubataillone zur Trümmerräumung.

»Das wird Herr Schmechtel nicht zulassen!«, hatte der Vater gesagt, überzeugt. Herr Schmechtel war sein Chef, der ihn brauchte in der Buchhaltung, gab doch keine Männer mehr vier Jahre nach Kriegsbeginn, waren doch alle in der Wehrmacht, in Gefangenschaft, waren gefallen; und der Vater arbeitete schon so lange für ihn, wie gut für Herrn Schmechtel, dass jüdisch Versippte wehrunwürdig waren. Seit sieben Jahren schon führte der Vater Herrn Schmechtel die Bücher, seit sie ihn als Lehrer entlassen hatten schon. Konnte man denn einem jüdisch versippten Mann deutsche Kinder anvertrauen?

Herr Schmechtel hatte ihm seine Buchhaltung anvertraut, konnte nun nicht mehr auf ihn verzichten. Das schrieb er dem Aufräumungsamt, der Vater war beruhigt gewesen. »Wird ja nicht mehr lange gehen, der Krieg!«, hatte er gesagt. »Solange arbeite ich weiter für Schmechtel.«

Zwei Tage später war er nach Hause gekommen, geschlagen. »Herr Schmechtel hat Post gekriegt«, hatte er gesagt. »Der Reichsführer SS hat angeordnet, dass die männlichen einsatzfähigen jüdischen Mischlinge und jüdisch Versippten nunmehr ausnahmslos binnen drei Tagen aus den Betrieben herauszuziehen und der OT zum geschlossenen Arbeitseinsatz in Baubataillonen zu übergeben sind.«

Jüdisch versippt, das war der Vater. Jüdischer Mischling, das war Jakob. Aber war wohl noch zu jung. Mit dreizehn bekam man kein Schreiben.

»Aber du weißt doch nichts vom Bau!«, hatte die Mutter gerufen. »Was sollst du denn …«

»Trümmer räumen kann jeder«, hatte der Vater grimmig gesagt. »Und Werkzeuge und Arbeitskleidung werden gestellt. In drei Tagen muss ich antreten.«

Zuerst hatten sie noch Angst gehabt, dass der Vater dann nicht mehr bei ihnen wohnen könnte, in eine Baracke ziehen müsste, ein Lager extra für die Männer der Organisation Todt. So hatte es geheißen, zu Anfang.

War aber schließlich doch nicht so gekommen. Gab ja keinen Wohnraum mehr in der zerbombten Stadt. Da waren sie beim Aufräumamt froh, wenn die Männer eine Bleibe hatten. Nur rechtzeitig auf dem Appellplatz erscheinen musste der Vater jeden Morgen. Trotzdem, am Abend spät kam er zurück, mit staubbedeckter Kleidung, mit aufgerissenen Händen und so müde, dass er einschlief, ohne von seinem Tag zu erzählen.

Aber konnte doch alles nicht mehr lange dauern, konnte es doch nicht! Und sie waren ruhiger geworden, hatten sich gewöhnt. Der Vater ging am Morgen, kam wieder am Abend, wenn man nicht nachdachte, konnte man so tun, als wäre alles wie immer.

Bis dann die Nachricht kam. Bei den Aufräumarbeiten von einem Trümmerteil am Kopf getroffen. Ständig hatten sie Angst um die Mutter gehabt. Nun hatte der Vater vor ihr sterben müssen.

An die Tage danach erinnert Jakob sich nicht mehr genau, das will er auch nicht. Nur dass die Mutter ihn beiseitegenommen hatte, irgendwann, ganz ruhig. Trotzdem hatte ihre Stimme gezittert. Alles war anders geworden.

»Du musst das jetzt wissen, Jakob!«, hatte sie gesagt. »Mit deinem Vater verlieren wir unseren Schutz. Als seine Frau war ich geschützt vor der Umsiedlung, jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch ich, nicht mehr die Frau eines Deutschblütigen. Und ich habe das J auf dem Pass und der Kennkarte und heiße mit zweitem Namen Sara. Du weißt, was das bedeutet.«

»Sie dürfen dich nicht holen!«, hatte Jakob gerufen. So hatten sie es ihm immer gesagt!

»Dein Vater ist tot, Jakob«, hatte die Mutter geantwortet. »Jetzt dürfen sie.«

Aber Jakob hatte es nicht verstehen wollen. Nun hatte er schon den Vater verloren, brauchte er die Mutter da nicht noch mehr?

»Wenn ich wegmuss, musst du zu seinen Eltern gehen«, hatte sie gesagt. »Hörst du, Jakob? Die werden dich aufnehmen, bestimmt.«

Und Jakob war es kalt geworden. Die Großeltern kannte er nicht, sie hatten ihn auch nie kennenlernen wollen. Hatten sogar ihren Sohn nicht mehr gesehen, seit er sich in die falsche Frau verliebt hatte. Was sollte er bei denen? Und wieso sollten sie ihn auf einmal bei sich wohnen lassen?

Aber er hatte nicht widersprochen.

Die Mutter hatte ihm ein Blatt Papier gegeben. »Hier ist ihre Adresse!«, hatte sie gesagt. »Nur einmal quer durch die Stadt. Sie können dich nicht abweisen!«

Dann hatte sie ihn plötzlich in den Arm genommen. »Aber vielleicht passiert es ja auch gar nicht!«, hatte sie geflüstert und ihn fest an sich gepresst. »Kann doch alles nicht mehr lange dauern! Mach dir keine Sorgen, Jakob. Vielleicht passiert es auch gar nicht.«

Und als danach für sie niemals Post gekommen war, obwohl sie jeden Tag voller Angst auf den Briefträger gewartet hatten; als der Evakuierungsbefehl ausblieb und der Rundfunk fast täglich von Frontbegradigung berichtete; als zusätzlich zur Ostfront, die schon seit Jahren näher rückte, auch die Westfront immer mehr deutsche Städte überrollt hatte, durch Briten, Amerikaner: Da hatten sie zu hoffen begonnen.

Zu früh.

Jakob

Es war Februar gewesen, die kälteste Zeit, und die Mutter hatte gesagt, er solle beten, den nächsten Winter würden sie vielleicht schon im Frieden erleben. Da war der Brief doch noch gekommen, Einschreiben.

»Ihre Evakuierung aus Groß-Hamburg wird hiermit befohlen. Der Abtransport wird umgehend durchgeführt. Ihr Barvermögen gilt als beschlagnahmt. Sie haben sich mit Ihrer Kennkarte, Pass, Arbeitsbuch und den Lebensmittelkarten in dem Haus Moorweidenstraße 36 (Logenhaus) einzufinden.«

Aber eine Gesundheitsuntersuchung zuerst.

»Dann müssen wir uns keine Sorgen machen, Jakob!«, hatte die Mutter gesagt, als der Bescheid gekommen war, dass sie als arbeitsfähig galt. »Wenn nur geht, wer arbeiten kann, ist es wirklich nur ein Arbeitslager! Wir hätten all die Jahre nichts auf die Gerüchte geben sollen!«

Jakob hatte nicht glauben können, dass sie wirklich überzeugt war. Wer war nicht schon alles nach Litzmannstadt, Minsk, schließlich Theresienstadt geschickt worden, und danach hatten sie nichts mehr gehört. Vielleicht bedeutete Theresienstadt Endstation. Vielleicht Durchgangsstation. Was war aus all den Menschen geworden, die sich seit vier Jahren an der Moorweide sammeln mussten, um vom Hannoverschen Bahnhof nach Osten zu fahren?

Jetzt also auch seine Mutter. Und dann er?

Nur das Nötigste sollte sie packen, aber die Mutter hatte trotzdem allen Schmuck in ihre Schatulle getan und die Schatulle in Jakobs Rucksack.

»Geh nicht!«, hatte Jakob gefleht, inzwischen längst alt genug, um zu verstehen und Angst zu haben wie sie.

Seine Mutter hatte ihm über den Kopf gestrichen. »Man muss wissen, wann man geschlagen ist, Jakob«, hatte sie gesagt und er hatte sich an den Großvater erinnert. Auch von ihm hatten sie nie mehr gehört.

»Wir könnten zusammen untertauchen!«, hatte er gefleht. »Du sagst doch selbst, der Krieg geht nicht mehr lange, und bis dahin …«

»Und wo?«, hatte sie müde gefragt.

Jakob hatte die Achseln gezuckt. »In den Ruinen ist doch genug Platz, um sich zu verstecken!«, hatte er gesagt. »Wenn wir es klug anstellen …«