Volker Ebersbach
Die Schatten eines Satyrs
Historischer Roman um Titus Petronius
ISBN 978-3-96521-586-3 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Bildes „Nymphs and Satyr“ von William Adolphe Bouguereau.
Das Buch erschien 1986 im Buchverlag Der Morgen, Berlin.
© 2021 EDITION digital
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Igneus est ollis vigor et caelestis origo
eminibus, quantum non noxia corpora tardant …
Urhauch des Feuers und himmlische Herkunft wohnt jenen
Keimen
inne, soweit nicht die Schwere der Körper sie hindert im Wandel …
Vergil, Aeneis, VL, 730 f.
„Woher komme ich?“, fragte das Kind.
Es war allein in seiner engen, dämmrigen Schlafkammer und erinnerte sich keines Traumes. Blinzelnd rieb es sich die Augen und erkannte die ockergelbe, rostrote und lorbeergrüne Bemalung der Wände. Der Lichtschein des schmiedeeisernen Kandelabers taumelte darüber. Es roch nach frisch aufgegossenem Lampenöl, der Vorhang bewegte sich. Jemand musste dagewesen sein. Ein Luftzug strich vom Innenhof herein.
Das Kind erwartete keine Antwort. Wie immer war es sehr zeitig erwacht. Nach dem traumlosen Schlaf ängstigten Titus die Lorbeergirlanden in ihrer gemalten Starre und die dicklichen, geflügelten Amoretten, die auf schwarzem, Wand für Wand zwischen rostfarbenen Feldern fortlaufendem Fries kindlichen Beschäftigungen nachgingen. Auf dem großen Wandbild über dem Bett wurde Achilles von dem Zentauren Chiron unterrichtet. Der junge, muskulöse, sonnengebräunte Held und sein Lehrer, halb Greis, halb Pferd, schienen in gelblichem Nebel zu schweben. Die Ohren des weisen Halbmenschen liefen tierhaft spitz aus, um sein zottiges Haar rankte sich Lorbeer, eine Hand fasste Achilles bei der Schulter, die andere wies auf eine Saite der Lyra, die der Schüler zwischen Hüfte und Armbeuge hielt. Bei der schwachen Beleuchtung war nicht zu erkennen, wohin in den halbgeschlossenen Augen des Zentauren die Augäpfel blickten. Titus fühlte sich scheel angestarrt und erschrak.
Der Vorhang bewegte sich stärker. Ein kurzgeschorener Kopf mit freundlichem Gesicht lugte herein.
„Harpocrates, woher komme ich?“, rief das Kind.
Der Leibsklave verdrehte fragend den Kopf, trat einen Schritt näher und öffnete den Vorhang hinter sich ganz. Das Morgenlicht überstrahlte die Kandelaberflamme. Seine Farbe verriet, dass die Sonne aufgegangen war.
„Harpocrates“, wiederholte Titus, „du Verschwiegenster unter den Schweigern, sag, woher komme ich?“
„Aus dem Schlaf“, antwortete der Sklave.
„Nicht aus dem Orkus?“
„O nein! Siebenmal habe ich während der Nacht zu dir hereingeschaut, wie du es wünschtest. Immer lagst du in deinem Bett, und nur zweimal hast du die Seite gewechselt. Wer in der Unterwelt weilt, bleibt lange fort.“
„Bist du sicher?“, beharrte das Kind. „Lügst du auch nicht?“
„Ich bin sicher“, sagte Harpocrates. „Denn aus dem Orkus kommt man in menschlicher Zeitspanne nur einmal, und nur einmal steigt man wieder hinab.“ Er goss Wasser aus einem Zuber in die silberne Waschschüssel und brachte Tücher.
„Nein, lass das!“, rief Titus und sprang aus dem Bett. „Ich laufe hinunter ans Meer und bade.“
Mit ausgebreiteten Armen pflanzte sich Harpocrates in die Tür.
„Deine Mutter verbietet es!“
„Weshalb?“
„Du vergisst das Wiederkommen und lässt den Lehrer warten.“
„Es ist noch so viel Zeit!“, seufzte Titus und tat, als wollte er sich waschen.
Harpocrates sagte, er werde die Grütze ins Esszimmer bringen. „Nein!“, widersprach Titus. „Ich will sie in der Küche mit dir essen, solange meine Mutter noch schläft.“
Kaum war der Sklave fort, streifte sich Titus die Tunika über, lauerte am Vorhang, bis Harpocrates in der Küche verschwand, lief barfuß in entgegengesetzter Richtung durch den Säulengang, durchquerte den Vorraum des Kellers und gewann den Hinterausgang, der in die umfriedeten Gärten des Landhauses führte. Hecken trennten das Blumengärtchen der Mutter vom Kräutergarten des Kochs und dem Wurzelgarten des Arztes. Ein Laubengang führte hinaus in den Park. Im Weinlaub hingen schwere Trauben mit gelbgrünen Beeren, groß wie Pflaumen.
Das Gelände stieg sanft an. Morgensonne schien durch die fleischigen, geschlitzten Blattwedel der Feigenbäume, zwischen denen zwiebelförmige Früchte der Reife entgegenschwollen. Sie verfing sich in gelbblühenden Hibiskusbüschen und in rotblühenden, lanzenblättrigen Oleanderbäumchen. Der Hang wurde steiler. Weitausladende Platanen beschatteten ihn, überragt von den dichten Schöpfen eines Pinienwäldchens. Zwischen den Stämmen schimmerte weiß der Himmel. Wo das Gras unter dem Nadelteppich hervorquoll, brach der Boden jäh ab, stürzte der graugelbe Felshang in eine schwindelnde Tiefe. Auf Vorsprüngen, in den Fugen halbabgespaltener Gesteinsplatten und am Rand eines Saumpfades, der sich hinabschlängelte, trieb der Feigenkaktus seine blutroten Früchte. Unten spielte zwischen Riffen der Golf.
Titus warf sich auf den Rasen. Grell stieg die Sonne über den langgestreckten Rücken des Vorgebirges Pausilypon. Im Dunst verschwamm der schmauchende Kegel des Vesuv, der sich fern über Neapel erhob. Zur Mitte des Golfes hin klarte die Luft auf. Vor der Stirn des Pausilypon, die sich wölbte wie die eines Delphins, wuchs felsig, von einem kleinen Tempel gekrönt, die Insel Nesis aus der Flut, die sich in immer zarteren Farben dem offenen Meer zu weitete. Das Meer kräuselte sich schwach. Geglättet wie Straßen durchzogen es die Spuren heimkehrender Fischerboote. Im Westen ragte ein Kegelstumpf auf Kap Misenum herein. Dahinter staffelten sich die Gebirge der Inseln Prochyta und Aenaria, die ferneren höher, aber flauer. Weiß schimmerten die Villen von Bajae. Hoch über den Kolonnaden der Badestrände thronte der kaiserliche Palast, die Villa Caesaris. Vorn aber, wo die Felsenküste im Bogen abflachte, lehnte die Stadt Puteoli an vielfach gefalteten Hängen. Bis hinüber nach Bajae zogen sich die Landhäuser in ihren Gärten, Weinbergen, Zypressenhainen und Olivenpflanzungen. Weit liefen die Hafenmolen, bestückt mit ruhenden Schiffen, hinaus in den Golf. Gestern war die ägyptische Kornflotte aus Alexandria eingelaufen. Ihre plumpen Frachter glichen eher Häusern als Schiffen. In der Nähe des Hafens rauchten die Eisenwerkstätten aus rußigen Pyramidenstümpfen. Um eine weit über den Hafen vorspringende Felsnase mit Festungsmauern und Tempeldächern drängte sich, ein bunter Haufen von Häuserwürfeln, die griechische Altstadt. Draußen, unter dem Mittagsstand der Sonne, ragte über den Horizont eine Woge, die zur Wolke wurde, aber mehr noch wie die Silhouette eines gigantischen verwitterten Schiffes, die Insel Capreae.
Titus sog die heraufwehende Salzluft ein. Es verlangte ihn, nicht nur mit Blicken, sondern leibhaftig zwischen dunklem Wasser und lichtem Äther zu schweben. Löste er sich von diesem Felsrand – ob er wirklich fiele? Finge ihn nicht ein Windhauch auf wie den Vogel dort, der sich, einem Stein ähnlich, aus überhängendem Gebüsch hatte fallen lassen, doch dann, weit unten schon, mit ausgebreiteten Schwingen dahinflog und reglos an Höhe gewann? Da war ihm, als würde er von innen zu Stein. Unter seinen Hüften senkte sich der Boden. Steine polterten voraus. Das Rasenstück, auf dem er gelegen hatte, sauste mit einer Staubfahne in die Tiefe. In seinem Hals würgte es. An den Fersen aber spürte er den Griff großer kräftiger Hände, die ihn zurückrissen. In panischer Angst warf er sich herum. Harpocrates sah ihn an.
„Nur einen Atemzug hattest du noch bis zum Orkus“, sagte der Sklave.
„Welche Göttin hat dich mir nachgeschickt?“
„Ich war dir von Anfang an auf den Fersen.“
„Nicht umsonst, Harpocrates, lieh dir der Gott des Schweigens seinen Namen.“
Schwindel verspürte der Junge erst auf dem Rückweg im Park. Er wankte und brach in Tränen aus. Die Knie knickten ein, seine Schultern wurden von innen geschüttelt. Harpocrates musste ihn führen. Vor dem Laubengang trat ihnen mit grazil erhobenen Armen, verzückt zurückgeworfenem Kopf und tänzelndem Schritt ein bronzener Satyr entgegen, ein vollkommener, fast göttlich schöner Männerleib, dessen Muskelwölbungen in der Sonne glänzten. Nur das dünne Gehörn, das aus seinen Locken ragte, die tierhaft spitzen Ohren, wie sie auch der lehrende Zentaur hatte, und am Steiß ein kleines buschiges Schwänzchen verrieten die Mischnatur dieses Wesens.
„Schau ihn an, Titus!“, sagte Harpocrates. „Tanze wie er!“ Der Junge mit den großen, dunkelblauen Augen schwieg.
„Das tut deinem Eigensinn gut!“, sagte der Sklave.
Titus schüttelte den Kopf.
„Sieh! Dein Schatten!“, rief Harpocrates und hielt ihm zwei gespreizte Finger über den schwarzen Scheitel, so dass dem Schatten des Kindes zwei dünne Hörner wuchsen.
Seine Grütze musste er nun doch im Esszimmer löffeln. Die Mutter saß ihm nachdenklich gegenüber. Sie aß morgens nichts. Titus las die gequollenen Rosinen aus dem schleimigen Schrot. Als die Mutter darauf bestand, dass er den ausgeplünderten Brei aufesse, verlangte er ein Näpfchen des zartbitteren sardischen Honigs, den ihm ein Gast geschenkt hatte. Harpocrates wartete die Zustimmung der Herrin nicht ab. Als er den Honig brachte, war sie schon durch einen Seufzer erleichtert. Sie duldete die Leckerei.
Das lange, schmale Gesicht der Mutter schien von Süße, Licht und Wohlklang nichts mehr wahrzunehmen. Zwei senkrechte Falten hatten sich über der Nasenwurzel in ihre Stirn gegraben, die sich, selbst wenn sie schlief, nicht mehr glätteten. Sie weinte selten. Und doch war der violette Keil zwischen Unterlid und Wange bei ihr ständig ein wenig geschwollen. In ihrem schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haar, das sie noch nicht hatte aufstecken lassen, leuchteten silbrige Streifen. Titus wollte sie um eine Belohnung für seinen Lebensretter bitten. Aber so wäre ihr sein Ungehorsam erst bekannt geworden. Lieber nahm er sich vor, diesen Morgen niemals zu vergessen und dem Leibsklaven seine Geistesgegenwart später einmal selbst gebührend zu vergelten. Sein Schreck war schon verflogen. Doch durch den leidenden Blick der Mutter fühlte er sich belagert. Er verdüsterte ihm die Welt. Hörte sie nicht das Flötenspiel des Mädchens in der Zimmerecke? Nun gefiel es ihm auch nicht mehr. Verstohlen fragte er sich, was ihm denn verlorengegangen wäre, hätte das Rasenstück ihn mit in die Tiefe gerissen.
Die Mutter rief das Mädchen und erhob sich. Ihr hochschwangerer Bauch trieb die Falten ihres weiten Kleides auseinander. Der Vater hatte aus Rom seinen Besuch ankündigen lassen.
„Dein Lehrer Acoetes erwartet dich“, mahnte die Mutter und stützte sich auf den Arm ihrer Zofe.
„Dürfen wir heute im Garten lernen?“
Die Mutter erlaubte es nicht. „Es wird heiß. Ihr hättet einen Vorwand, eher aufzuhören.“
Der alte Acoetes saß in der Bibliothek. Dem Regal, aus dem die hornigen, elfenbeinernen, vergoldeten oder mit Edelsteinen besetzten Knäufe der Schriftrollen ragten, hatte er schon die „Aeneis“ des Vergil entnommen. Laut las er selbst den Abschnitt des heutigen Tages. Der Junge setzte sich an sein Pult, wo Wachstäfelchen und Griffel bereitlagen, und wartete, bis der Grieche sich unterbrach, seinen ergrauten Haarvorhang aus dem Gesicht strich, sich verneigte und seinen Gruß sagte.
„Nimm die Haare noch weiter zur Seite!“, forderte Titus. „Lass mich deine Ohren sehen.“
Der greise Sklave gehorchte verwundert. Die Ohren des Lehrers liefen nicht so tierhaft spitz aus wie die des Zentauren. Sie waren rund, zart, feingegliedert, nicht anders als der Körper seines Schülers. Der Junge betrachtete seine sonnengebräunten, aber mageren Arme. Also, dachte er mit flüchtigem Verdruss, kann aus mir kein Achilles werden.
Der Schüler sprach einzelne Verse nach und ritzte sie in seine Tafel. Als ein hinreichend langer Text im Wachs stand, hatte er ihn zum Taktschlag des Lehrers in richtiger Betonung vorzutragen. Es war die Stelle im Ersten Buch, als Aeneas in einem Wald nahe Karthago erkannte, dass seine Mutter, die Göttin Venus, in Gestalt eines Mädchens mit Pfeilköcher und Bogen zu ihm gesprochen hatte.
„Wenn man eine Göttin zur Mutter hat“, fragte Titus, „die ewige Jugend genießt, ist man dann auch unsterblich?“
„Nein“, antwortete Acoetes, „der Vater müsste gleichfalls ein Gott sein. Des Aeneas Vater aber war Anchises, ein Sterblicher. Die Liebe, die Venus für ihn empfand, war eine Strafe Jupiters, eine Demütigung. So musste auch der Held, den ihr Römer euern Ahnherrn nennt, am Ende hinab in den Orkus.“
„Ist es wahr, dass es von dort keine Wiederkehr gibt?“
„Im Allgemeinen verhält es sich so. Doch war es einigen Helden, unter ihnen unserem Aeneas, vergönnt, bei den Schatten zu weilen und in die Lichtwelt zurückzukehren.“
Leise vertraute Titus dem Alten den Vorfall des Morgens an. „Wenn mich Harpocrates nicht gerettet hätte, wäre ich auf immer im Orkus geblieben?“
„Gewiss. Auf immer.“
„Und woher komme ich?“, fragte das Kind.
„Du greifst Vergil und mir weit vor“, antwortete Acoetes. „Sieh, wir sind noch am Anfang der ersten Rolle. Was du erfahren willst, deutet der göttliche Vergil mit seiner Sehergabe erst gegen Ende der sechsten an. Zwei oder drei Jahre musst du noch lesen.“
„Ich will es heute wissen!“
„Wenn wahr ist, was Vergil schaute, so befindet sich unsere Seele, die wir auch Lebenshauch nennen, lange bevor sie das allgewaltige Schicksal in die Verkörperung ruft, im elysischen Teil der Unterwelt, wo es ewig licht ist, heller als der klarste Tag der Oberwelt. Es ist dies auch der Ort, wohin die Besten, Tüchtigsten und Verdienstvollsten nach ihrem Tod gelangen.“
In Eifer geraten, nahm Acoetes die sechste Rolle aus dem Regal, spannte sie ins Lesepult, suchte ein Weilchen, an den Knäufen drehend, und las die römische Heldenschau vor, die der selige Anchises seinem götterfürchtigen Sohn Aeneas wies.
Titus unterbrach ihn bald: „Hörte ich richtig, dass sich manche Schatten ein zweites Mal verkörpern können?“
„So ist es“, versicherte der Lehrer. „Doch keiner erinnert sich seiner früheren Verkörperung, weil er das Wasser des Lethestromes getrunken hat, das Vergessen bringt.“
„So wäre es möglich, dass ich ein Wiederverkörperter bin und schon tausend Jahre als Schatten im Orkus verbrachte?“
„Langsam, Titus!“ Acoetes rang die Hände. „Unsere Seele entstammt dem Feuer des Urhauchs, verbindet sich in der Oberwelt mit der Schwere irdischen Stoffes und läutert sich als Schatten auf langer Wanderung durch düstere, kalte, graue, feurige, lichte Zonen der Unterwelt …“
„Und wir sind immer“, setzte Titus fort, „sehr kurze Zeit Fleisch und Blut? Dann aber für lange nur Schatten? So komme ich aus dem Orkus? Was ist überhaupt ein Schatten?“
„Die Art, in der wir nach unserem Tod und vor unserer Geburt vorhanden sind“, sagte der Grieche, „ist eher eine Erscheinung der Leere, ganz ungreifbar, ein Windhauch und den flüchtigen Träumen sehr ähnlich.“ Er wandte sich wieder dem Text zu.
Doch Titus ließ ihn nicht weiterlesen. „Und gerade den Tüchtigsten winkt Wiederverkörperung?“
„Dieser Glaube ist verbreitet in den führenden Familien Roms, zu denen die deine gehört“, sagte der Lehrer. „Aber lass es mich kurz machen, mein Junge, die Sonne steht schon sehr hoch, und unser Text ist noch lang. In der Oberwelt können wir uns läutern, indem wir dem Willen der Götter gehorchen, ihnen Opfer bringen und das Gute tun. Von dem Bösen aber, das wir dennoch nicht unterlassen haben, läutert uns im Tartarus genau zugemessene Qual.“
„Und ist es wahr, was meine Amme sagte: Wir wohnen hier nahe den Schächten des Orkus? Auf seiner Schwelle?“
„Wie schwatzhaft sind doch die Weiber!“, klagte Acoetes. „Aber deine Amme hat nicht unrecht. In dieser Gegend des glückseligen Kampanien reichen die Gewölbe der Unterwelt dichter als anderswo an die Oberwelt. Komm, wir wollen sie betrachten.“
Der Nordseite des Landhauses schloss sich ein Säulengang an, dessen Dach eine Terrasse bildete. Zwischen irdenen Gefäßen, in denen die Setzlinge ägyptischer Dattelpalmen gediehen, hatte der heiße Südsturm am Tag zuvor eine dünne Schicht afrikanischen Sandes hinterlassen.
„Sieh!“, sagte Acoetes. „Das sind die Phlegräischen Felder und die Höhen des Gaurusgebirges. Was nimmst du wahr, wenn wir Nordwind haben?“
„Es riecht wie faule Eier. Die Stadt Puteoli, nach der wir unser Landgut Puteolanum nennen, heißt ja auch die ‚Stänkerstadt‘!“
„Dieses stickige Gewölk“, erklärte Acoetes, „das aus den tausend Erdspalten der Phlegräischen Felder dringt, ist der Moderdunst des Orkus. Wer ihn unvermischt einatmet, wird wahnsinnig. Voreinst war er viel stärker, und es geschah, dass Vögel tot vom Himmel fielen. Sieht das Gebirge nicht aus wie ein gigantisches Stück versteinerten Schaumes, dessen Blasen im Augenblick des Platzens erstarrt sind? Alle diese Krater sind verschüttete Schächte des Orkus. Der Vesuv dort im Osten ist ein hochaufgetürmter Schlot für die unterirdischen Feuer. Die großen Krater jedoch, die du nach Westen hin siehst, der Schwefelkessel von Puteoli und der Averner See, gelten Vergil als Einstiege für die abgeschiedenen Seelen, und durch den letzteren gelangte Aeneas, noch lebend, hinab.“
„Lass uns ausfahren, Acoetes, ich will sie aus der Nähe sehen.“
Der Grieche wischte sich mit einer Gewandfalte Schweiß aus dem Gesicht. „Ich werde die Herrin fragen.“
Sie ruhte im Garten auf einem Liegepolster, von einem Sonnenschirm beschattet. Acoetes trat behutsam heran und sagte: „Domina, ich muss mich mit Titus wieder einmal in der öffentlichen Schule beim Grammatiker sehen lassen, wenigstens für eine Stunde, damit der Magistrat uns nicht patrizischer Überheblichkeit zeiht. Bitte befiehl uns ein Fuhrwerk nach Puteoli.“
Sie erhielten in den Stallungen zwei Pferde und im Wagenschuppen ein zweirädriges Gefährt. Ein Sklave lenkte das Gespann im Stehen durch die Zypressenallee, die zum Tor führte, und schwenkte in den Fahrweg zur Stadt ein. In rascher Fahrt ging es stetig bergab. Links säumten den Weg die Mauern der Villengrundstücke, überrankt von blühendem Gesträuch, Feigenblättern und Palmwedeln. Rechts fiel unter den silbrig-grünen Wipfelbüschen der Olivenbäume die hellgraue, sorgsam gehackte Erde zu den hitzeflimmernden Phlegräischen Feldern hin ab. Warme Lichtfülle schlug Titus mit dem Fahrtwind entgegen. Hinter dem Wagen stieg eine Staubfahne in den wolkenlosen Himmel. An den Toren bellten Hunde. Mit Schwung und Geschick lenkte der Sklave das Gefährt über den zerklüfteten Weg. Jetzt erst löste sich ganz die Klammer des Schreckens von der Brust des Jungen.
Ein Stück abseits von den Marktbuden des Forums gebot Acoetes vor dem alten Mietshaus, in dessen Erdgeschoss die Schulräume lagen, Halt. Hinter grobleinenen Sonnensegeln tönte der Chor der Kinderstimmen. Die Stimme, die den Text vorsprach, unterbrach sich schimpfend. Es wurde atemlos still im Gewölbe. Man hörte einen Stock durch die Luft sausen und eine Knabenstimme aufheulen. Acoetes schlüpfte mit seinem Zögling hinter eins der Sonnensegel. Der Grammatiker ließ von dem Kind ab. Es war ein bleicher Glatzkopf mit einem Holzbein, ein entlassener Legionär. Er wandte sich um, verneigte sich tief vor Titus und grüßte den Griechen herablassend. Acoetes verneigte sich seinerseits tief vor dem freigeborenen Römer und berichtete von der fiebrigen Erkrankung, die den Sohn des Senators Petronius am Besuch der öffentlichen Grammatikstunden gehindert hatte. Er sei mit ihm das ganze Pensum durchgegangen und wolle sich erkundigen, wo sich die Schüler im Stoff befänden. Der Grammatiker gab mürrisch Auskunft. - „Das kann er schon“, sagte Acoetes, „denn er spricht, anders als diese Kinder, mit seinen Eltern Latein.“
„Griechlein!“, warnte der Grammatiker. „Er war noch nie bei seinem Vater in Rom, und der kommt selten genug hierher. Bevor die Schule anfing, hat sich der Junge zu viel mit dem einheimischen Pack herumgetrieben, das zu Hause nicht aufhört, Griechisch zu plappern. Das freilich kann er sehr gut.“
„Die Domina“, sagte Acoetes, „kommt nächstens nieder. Das wird den Jungen verwirren. Schone ihn noch zehn Tage!“
Er werde warten, erwiderte der Grammatiker spitz. Der Magistrat würde den Sohn des Senators in der öffentlichen Schule allerdings nicht mehr vermissen, wenn ihn auch ein lateinischer Hauslehrer unterrichte. „Ein Petronius kann sich das wohl leisten, und ich, ein einfacher Veteran aus Pannonien, nehme nicht mehr Bezahlung als andere.“
Acoetes versicherte, er wolle mit dem Senator sprechen.
„Auch in Rom sähe man es gern!“, ergänzte der Grammatiker.
Acoetes schob Titus, der befangen geschwiegen hatte, vor sich zum Ausgang, grüßte die Kinder, die ihm jubelnd mit dem griechischen „Chaire!“ antworteten.
„Ich liebe dich sehr“, sagte Titus draußen auf dem Wagen und schmiegte die Wange an das Gewand des Alten. „Und ich hasse diesen stelzbeinigen Grammatiker. Ein Dummkopf, der gern Diktator wäre, nicht wahr? Wenn ich erwachsen bin, erbe ich dich. Dann lasse ich dich frei. Ich verspreche es dir!“
Der Sklave trieb die Pferde an, denn zur Stadt hinaus stieg die Straße auf eine Höhe.
„Das solltest du nicht tun“, erwiderte Acoetes. „Die Freiheit meiner hellenischen Vorväter kannst du mir ohnehin nicht wiedergeben. Mein Vater lehrte mich, ein Stück davon im Herzen zu bewahren, auch wenn das Leben nur aus Gehorsam besteht und man für Goldstücke von Haus zu Haus weitergegeben wird. Bei deinem Vater traf ich es gut. Wenn ich in eurer Bibliothek lese, bin ich zu Hause und fühle mich frei. Schick mich niemals fort, Titus!“
„Auch als Freigelassenen behalte ich dich im Haus.“
„Ich danke dir. Doch die Freiheit des Freigelassenen bedeutet mir nichts. Du wirst es später begreifen.“
Sie bogen in einen Weg ein, der schräg einen fast kahlen Hang hinablief und in kümmerlichem Gebüsch endete. Der Krater des Schwefelkessels von Puteoli tat sich auf. Titus drehte sich einmal um sich selber. Kahler Fels, Geröllhalden, Gestrüpp. Schmale graue Rauchwölkchen stiegen wie Fäden zum Himmel. Über den Löchern, zu denen sich einzelne Erdspalten vereinigten, bildeten sich fade und faulig riechende Schwaden, in die sich ein ätzender Brodem mischte. Die Hälfte des Pinienwaldes, der den Nordhang bedeckte, hatte rotbraune Wipfel, abgestorben, als wäre ein Gluthauch über sie hinweggestrichen. Acoetes sagte: „Zieh deine Sandale aus, aber tritt vorsichtig auf!“ Der Boden, weißlich glatt wie eine erstarrte Schlammlache, war heiß. Im Weitergehen spürte Titus die Hitze noch durch die Sandalensohlen. In einem Loch brodelte aschfarbener Schlamm. An den Rändern leuchtete gelber Schwefelbelag. Titus hüstelte.
„Das ist der Dunst, durch den die Schatten der Abgestorbenen wandeln“, lachte Acoetes. „Sie ersticken nicht, denn die Manen haben keinen Atem mehr, und so riechen sie auch nichts. Sie haben mehr mit diesem beißenden Qualm gemein als mit unserem Fleisch und Blut. Wärest du wie unser Aeneas geschützt durch den Zauber der Sibylle Deiphobe, die vor Zeiten drüben in einer der Grotten von Cumae hauste, so könntest du dort in die Erdspalte hinabsteigen, die schon so breit ist wie eine Höhle, und die Modergefilde erreichen, wo die Bösen schmachten und in endloser Wiederholung ausgesuchte Strafen erleiden.“
„Was habe ich zu tun, damit sie mir erspart bleiben?“
„Für dich, einen Römer“, sagte der Grieche, „wird es nur eins geben: Rom zu dienen, wie es dein Vater tut.“
Der Junge wich vor dem Schwefelloch zurück; ihm wurde übel. „Kehren wir um, Acoetes. Du sagtest, man wird wahnsinnig.“
„Kleine Mengen sind gesund“, entgegnete Acoetes. Er wies auf einen Steinwürfel, der mit einem kleinen Säulenportal am Rand des Kraters aus dem Fels sprang. „Die Kunst der Ärzte fand heraus, dass der Hauch des Todes in abgeschwächtem Maß dem Atem der Lebenden günstig ist.“ Eine kleine Gesellschaft von Kurgästen trat soeben ins Freie. „In diesem Gelass werden mit heißen Schwefeldampfbädern vielerlei innere und äußere Gebrechen geheilt. Möchtest du hineinschauen?“
Titus schüttelte den Kopf. „Unser Arzt schärfte mir ein, als er mich bei seinen Pulvern erwischte, Arznei sei dem Gesunden ein Gift.“
Acoetes führte ihn zurück zum Wagen.
„Nun will ich, dass wir zum Averner See fahren!“, forderte Titus. „Zeig mir den Einstieg zum Orkus, den Aeneas benutzte!“
Abwehrend hob Acoetes Kopf und Hände. „Dieser Schacht ist fester verschlossen als der Schwefelkessel. Die Vögel, die ihn einst mieden, fliegen längst wieder darüber hinweg, und auf seinem Wasser liegen des Kaisers Kriegsschiffe vor Anker.“
„Die will ich auch sehen!“
Der Alte gehorchte.
Der nächstgelegene Teil des wassergefüllten Kraters, Gelände des Julischen Hafens und der kaiserlichen Thermalbäder, war abgesperrt. Die Straße schlug einen weiten Bogen. Die Sonne stand schon im Nachmittag, und Acoetes gab zu bedenken, dies sei die Stunde, in der sein Zögling ruhen müsse, als sie dem See nahe genug kamen, um das Ufer zu Fuß zu erreichen.
Das Wasser stand dunkel und reglos. Drüben beschien die Sonne Säulen und Kuppeln der Thermen, die Masten und die buntbemalten Heckseiten der Kriegsgaleeren. Eine Triere glitt unter rhythmischem Rudergeplätscher in den künstlichen Kanal, der in den Lucriner See und von dort in den Golf führte. Die hackenden Hammersignale der Rudermeister hallten an den Hängen wider, in deren Schatten Kastanienwälder lagen. Die Rufe der Schiffsleute fanden kein einfaches Echo. Sie zerschellten allmählich auf der glatten Wasserfläche. Desto unheimlicher kehrte die Stille wieder.
Acoetes legte sich ins Gras. Als Titus sich nach ihm umsah, waren die Augen des Alten geschlossen. Der Mund stand ein wenig offen. Er schlief.
Ein Pfad schlängelte sich im spärlichen Schilf das Ufer entlang. Libellen standen in der Luft; die Zikaden schrien. Wo die Kastanien dicht ans Wasser traten, öffnete sich eine Falte des Hanges. Titus stieg hinauf in die feuchte Walddämmerung. Er gelangte vor eine Höhlung, die sich rasch verengte. Schwach wehte ihm die Mischung aus fadem und ätzendem Dunst entgegen. War dies der Einstieg, durch den Aeneas den Orkus betreten hatte? Froh, dass Acoetes nicht hinter ihm stand und unbefriedigend antwortete, verwandelte er die Vermutung fraglos zur Tatsache. Noch ehe die Finsternis ihn ängstigte, benahm ihm der unterweltliche Hauch den Atem. Beklommen kehrte er um.
Den Boden der Kastanienwälder bedeckten in Scharen die kreidig-roten Blüten wilder Zyklamen. Er pflückte einen Strauß für die Mutter.
In der Nacht weckten ihn die Schreie der Mutter. Er verstand, dass es mit ihrem dicken Bauch zu tun hatte und mit dem Geschwisterchen, das er bekommen würde. Harpocrates fing ihn vor seiner Kammer ab und wies ihn wieder ins Bett. Stündlich werde der Vater erwartet. Die Ankunft des Vaters war Titus wichtiger als die des Kindes. In Rom besaßen die Petronier ein weitläufiges Stadthaus. Weshalb musste er mit der Mutter ständig auf dem Puteolanum leben? Das Leben in Rom sei für sie alle zu teuer, hatte der Vater bei einem seiner seltenen Besuche geantwortet, ausweichend und unglaubwürdig. Die Mutter hatte er manchmal schon nach Rom holen lassen, zum Fest der Göttin Vesta, zu einer bedeutenden Theateraufführung, zum Geburtstag des Kaisers. Sooft er den Vater beim Abschied bat, auch ihn einmal mitzunehmen, entstand zwischen den Eltern betretenes Schweigen, als wäre es dort nicht geheuer.
In die Schreie der Mutter mischte sich ein tierhafter Unterton. Titus bangte, nun würden ihr spitze Ohren wachsen wie dem Zentauren auf dem Wandbild oder dem Satyr im Garten. Stille.
Der Schlaf musste ihn wieder übermannt haben. Harpocrates trat ein, als der Spalt unter dem Vorhang schon heller war als der Kandelaber. Die Amme führte ihn ins Gemach der Mutter. An dem runden Marmortisch, dessen geschwungene Beine unter der Platte in Löwenköpfe ausliefen, beriet sich der Hausarzt mit einem Salbenmacher aus Puteoli. Fläschchen und Büchsen standen vor ihnen. Titus wusste, dass Säuglinge schreien. So fand er die Stille und das Geflüster bedrückend.
Die Geburtshelferin zog die Decke über der Mutter glatt. Sie hatte ihr die Kettchen aus Jaspis von den Schenkeln genommen, die den Schmerz der Kreißenden lindern sollten. Nun kniete sie nieder, breitete die Arme aus und sang ein Dankgebet an Juno, die Göttermutter, ein anderes an Latona, die den Gebärenden half.
Der Bauch der Mutter war ganz flach. Sie lächelte ihm entgegen, als er seinen Kopf zwischen ihre milchschweren Brüste presste, die nach frischem, mit Duftkräutern versetztem Salböl rochen. Die Amme klatschte in die Hände, und die Mutter hob seine Wangen von sich fort. „Ach, Encolpius!“, rief sie. Die Zofen hatten ihm den griechischen Kosenamen gegeben. „Willst du noch immer der Kleine sein, der ‚gern am Busen ruht’? Sieh dir dein Brüderchen an. Du bist jetzt der Große, Titus, und der dort ist der Kleine.“
Der Säugling lag still im Körbchen, bläulich, runzlig. Am Köpfchen klebten strähnige schwarze Haarbüschel. Er regte sich nicht. Titus trat keinen Schritt näher. „Lebt er?“
„Er lebt“, sagte die Mutter. „Jetzt schläft er.“
„Aus deinem Bauch ist er gekommen?“
„Genau daher.“
„Aber wie kommt der Urhauch, der er zuvor gewesen ist, in deinen Bauch?“
Die Amme kicherte. Die Geburtshelferin lachte auf, wartete, bis auch die Domina lachte, und bog sich dann vor Vergnügen.
Missmutig ließ er sich aus dem Zimmer führen. So viel lieber es ihm sonst gewesen wäre, die Mutter heiter zu sehen, jetzt verstimmte es ihn.
Acoetes war angehalten, auf Unterricht zu verzichten. Er ging mit Titus spazieren und sann auf ein ablenkendes Gespräch. In der Zypressenallee trafen sie den Boten, der im Morgengrauen gleich nach der Geburt des Kindes dem Vater entgegengeschickt worden war. Auf seiner Lanze steckte noch immer der kleine Lorbeerkranz, der eine gute Nachricht verhieß. Acoetes wies auf den Kranz. „Hast du ihn nur vergessen, oder bringst du gute Nachricht zurück?“
„Er kommt!“, versicherte der Bote. „Der Senator kommt mit der Reisegesellschaft des Kaisers und erhielt Erlaubnis, vorauszureiten.“
„Der Kaiser?“, erstaunte Acoetes. „Unterwegs nach Kampanien?“
Der Bote nickte heftig. „Es heißt, seine Ärzte raten ihm, gegen den Hautausschlag, der ihn plagt, solle er die Kur des Schwefelkessels von Puteoli gebrauchen. Noch heute Abend bezieht Tiberius Caesar die Kaiservilla zu Bajae und feiert ein glänzendes Fest. Das Amphitheater soll Gladiatorenspiele geben!“
Um die Mittagsstunde ritt der Senator Petronius mit zwei bewaffneten Begleitern die Zypressenallee herauf. Die Hunde bellten ihm fröhlich entgegen. Titus verließ den Schatten des Sonnensegels auf der Terrasse und lief hinunter ins Atrium. Staubverkrustet und schwitzend trat ihm der hagere Mann mit dem kurzen schwarzen Haar und dem stechend blauen Blick aus der Vorhalle entgegen. So möchte ich einmal werden, dachte Titus. Der Vater stand vor ihm, sah ihn, erblickte ihn aber nicht. Er warf das verschmutzte Reisegewand dem Sklaven zu, der ihm entgegenlief, eilte in den Säulenhof, wusch sich Arme und Gesicht eilig im Springbrunnen, befahl, ihm eine frische Toga zu bringen. Dann erst begrüßte er den Sohn. In einem Stuhl trug man ihm seine Gemahlin entgegen. Sie hielt das Neugeborene in ihren Armen. Die Amme nahm es entgegen und legte es im Atrium vor dem Senator auf den Boden. Der hob es auf, zum Zeichen, dass er es als sein Fleisch und Blut anerkannte, und gab dem Knaben mit fester Stimme zu Ehren des Kaisers, des Ersten Bürgers von Rom, den Namen Tiberius. Dann reichte er der Domina ein Halsband mit einer Kapsel in Form einer goldenen Olive. Es sollte dem Kind nach neun Tagen umgelegt werden. Der Name Tiberius war schon eingraviert. Glückbringende Gaben, sagte der Vater, seien in der Kapsel eingeschlossen. Er wollte sie nicht wie das niedere Volk zauberkräftig nennen.
Am Nachmittag sah Titus von der Terrasse aus dort, wo die Via Campana die Phlegräischen Felder durchschnitt, die gewaltige Staubwolke, in der sich die Wagenkolonne der kaiserlichen Reisegesellschaft, geschützt von berittenen Prätorianern, Bajae entgegenwälzte. Dem Senator blieb wenig Zeit. Kaum dass er gebadet, geruht, sich frisch gekleidet und einen Notar wegen der Geburt empfangen hatte, ließ er anspannen nach Bajae zum kaiserlichen Sommerpalast. Bei dem Gelage des Herrschers durfte er nicht fehlen, denn kürzlich war er zum Freund des Kaisers ernannt worden.
Das Neugeborene kam, wie der Arzt bedenklich wiederholte, nicht recht zu Atem. Die Einreibungen mit den teuren Salben und Ölen, die er bestellt hatte, zeigten keine Wirkung. Titus lag gegen Abend mit seiner Mutter allein zu Tisch. Sie aßen eine Kaltschale aus Gerstengraupen, geriebenem Käse, Honig und Wein. Die Amme trat ein und meldete den Tod des Kindes. Die Mutter erstarrte. Lange fand sie keine Träne.
„Nun ist er wieder ein Schatten drunten im Orkus“, sagte Titus.
„Ich konnte ihn ja nicht wieder in meinen Leib nehmen, wo er es gut hatte“, sagte die Mutter. Die beiden Falten zerschnitten ihre Stirn. Vor ihr standen in silberner Vase die wilden Zyklamen aus dem Kastanienwald am Averner See.
Mit Widerwillen dachte Titus an den Höhlengang und den faden und ätzenden Hauch, und er sann der unwahrscheinlichen, aber freundlichen Vorstellung nach, in den Leib der Mutter zurückzuschlüpfen, wenn einmal sein Leben abgelaufen wäre.
Die Mutter sann auch.
„Der Tod deines Bruders Tiberius“, sagte sie mit traurigem, tränenlosem Blick, „ist nicht nur ein Unglück für uns. Ich sehe darin ein böses Vorzeichen.“
Kaiser Tiberius residierte in der Villa Caesaris zu Bajae, in seinen Villen zu Misenum und Cumae oder in der Villa des Atticus zu Surrentum. Er überprüfte die Kriegsflotte, gebrauchte Kuren im Schwefelkessel von Puteoli und in den Thermen von Stabiae. Kraft seines Amtes als Oberster Priester des Reiches weihte er neue Tempel im glückseligen Kampanien.
Innerhalb eines vollen Jahres machte er keine Anstalten, nach Rom zurückzukehren. Die Senatoren unter seinen Freunden beurlaubte er von den Sitzungen in der Kurie, um sie stets als Berater bei sich zu haben. Wer ein Gut in der Nähe besaß, durfte dort wohnen, sooft seine Pflichten es zuließen. Titus sah den Vater öfter. Manchmal blieb der Senator mehrere Tage und nahm sich auch Zeit für den Sohn.
Alles hatte sich bis dahin nach den Satzungen der Mutter bewegt. Auch unter den Bediensteten im Puteolanum überwogen die Frauen. Die einzigen Männer um Titus waren Sklaven: Harpocrates, Acoetes, der Koch, der Arzt. Die Stallknechte, Torhüter, Gärtner, Hundeführer, Botenläufer bewegten sich fern von ihm, und wenn sie grüßten, brauchte er sie nicht einmal zu beachten. Viel näher hatte er die Amme, die nun nur noch für seine Wäsche sorgte, und die Zofen der Domina. Oft hielt er sich auch bei den Mädchen auf, die, meist von der Domina selbst beaufsichtigt, die Wollarbeit besorgten. Er mochte ihre Gerüche, ihre Blicke, ihre Späße, auch wenn er sie nicht immer verstand. Die Mutter war streng; ihre Sklavinnen hätschelten ihn. Er spürte am Verhalten der Zofen und Spinnerinnen, dass von seiner Gestalt, seinen Bewegungen, seinen Worten ein Glanz ausging, der sie bedingungslos für ihn einnahm. Auch wenn die Domina selbst ein Pensum mitspann, blieb er der Liebling, und selbst sein Leibsklave und sein Lehrer widerstanden ihm selten. Verstrickten die Frauen sich allzu tief in Gespräche über Geister und Zauberei, wurden die griechischen, syrischen oder ägyptischen Märchen der Sklavinnen allzu sonderbar, las die Domina Fabeln des Phaedrus vor, eines Freigelassenen des Kaisers Augustus, der angeblich noch in Rom lebte. Abends zupfte eine Zofe die Lyra, eine andere blies die Flöte, eine dritte sang oder tanzte. Oft schien es Titus, alles gelte ihm. War die Domina weit genug fort, kam es vor, dass ihn ein Küchenmädchen in die Vorratskammer zog und ihn von den eingemachten Früchten des Feigenkaktus naschen ließ. Er hatte gespürt, dass die Mutter zum Vater aufsah, auch wenn der Vater lange fortblieb. Doch nun verwunderte es ihn, dass die strenge Frau, die keine Widersetzlichkeit duldete und selten lachte, keine Rechte mehr geltendmachte, sobald der Vater über die Schwelle des Hauses trat.
Eine stille Würde ging vom Vater aus. Er hörte manchmal dem Unterricht zu, schloss sich den belehrenden oder unterhaltenden Spaziergängen mit Acoetes an, mischte sich aber selten ein. Den alten Griechen lobte er häufig, den Sohn seltener, er tadelte nie. Da er die Vaterrolle so lange hatte entbehren müssen, zog er die Trennlinie zwischen Mühe und Vergnügen nicht kleinlich. Der Streit mit dem Grammatiker über schulische Zuständigkeiten hatte sich mit der Rangerhöhung des Senators von selbst beigelegt. Aus Gesprächen der Eltern erfasste Titus, die Sache habe mit einem Zwist zu tun, über den der Vater oft seufzte. Während Kaiser Tiberius dem Senat, man wusste nur nicht, ob aus Freimut oder aus Müdigkeit, weitere Vorschriften ersparen wollte, bestand seine Mutter, die greise Livia Augusta, Witwe des Vergöttlichten Augustus, noch immer darauf, ein Senator, der seinen Sohn außerhalb Roms erziehen lasse, hätte ihn eine bestimmte Anzahl von Tagen im Jahr in eine lateinische Grammatikschule zu schicken, damit der Nachwuchs des Ersten Standes nicht auf die Stufe fremdzüngiger Provinzler herabsänke. Der Unfrieden zwischen dem Kaiser und seiner Mutter betraf auch wichtigere Dinge. In Rom machte er viele Leute unglücklich. Aber seit der Vater zum Freund des Kaisers erster Vorlassung ernannt worden war, schützte ihn überall der Wille des Erhabenen.
Der Senator zeigte seinem künftigen Erben weite Teile der Ländereien, die ihm in der Ebene des wasserreichen Volturnus, an den Hängen des Vesuv nahe Pompeji und in den Tälern des Milchgebirges bei Stabiae gehörten. Titus besichtigte Kornspeicher, Keltereien, Ölpressen, Werften, Käsereien, Gerbereien, Ziegeleien. Er sah zu, wie aus den Häuten des schwarzen kampanischen Büffelrindes geschmeidiges Leder und aus seiner Milch in Molke schwimmende Käsebällchen hergestellt wurden. Er opferte mit dem Vater auf den Altären der ländlichen Gottheiten, die auf dem Besitz der Petronier standen, und an größeren Festtagen in heiligen Bezirken den olympischen Göttern. „Sie sind die Voreltern unserer Voreltern“, sagte der Vater.
„Von ihnen haben wir, was wir besitzen, die Verantwortung für das Gemeinwesen und den Auftrag zu herrschen. Wer herrschen will, muss besitzen, wer aber besitzt, muss jedem sein Auskommen lassen.“
Zum Fest der Minerva überquerten sie mit einem leichten Segler den Golf. Das südliche Vorgebirge, nach der Göttin benannt, trug einen Tempel der Minerva aus hellenischer Zeit, Titus betrachtete während der Opferfeier den gealterten sandfarbenen Bau und die Reste seiner Bemalung. Dick wie Korkeichen, sich stark verjüngend, strebten die dorischen Säulen zu den Fladenkapitellen empor, die das Gebälk trugen, als wäre das Licht des Äthers eine genau bemessene Last. Im Fackelschein des Innenraums häuften sich Weihgeschenke. Die griechischen Priester riefen das langgewandete, behelmte Bronzestandbild der Minerva, die, auf eine Lanze gestützt, mit hellen Augen aus Elfenbein und Edelsteinen herabstarrte, in ihrer dorischen Mundart an: „Pallas Athana! Sei gegenwärtig!“ Sie schwangen die zweischneidigen Opferbeile. Knaben trugen Körbe voller Blumen, Früchte und Räucherwerk herbei. Priestergehilfen reichten Opferkuchen und Schrot. Bläulicher Rauch wölkte über den brennenden Stücken geschlachteter Opfertiere. Mädchen sangen zum Saitenklang, zum Pfeifen der Flöten, zum Schlag der Handpauke die Hymnen der Göttin.
„Glückseliges Kampanien!“, sagte der Vater auf der Rückfahrt. „Betrachte es als deine Heimat, als deine Mutter!“
„Nicht Roma?“, fragte Titus. „Die Göttin mit der Mauerkrone?“
„Du wirst sie lieben, wenn du ein Mann bist. Sei aber auf der Hut vor ihr. Am Anfang der Stadt stehen Romulus und Remus, die Zwillinge aus dem Samen des Mars, von der Wölfin gesäugt, und noch ehe die Mauern sich mit Dächern gefüllt hatten, war Remus von Romulus erschlagen. Wir lächeln über die Griechlein. In Kriegen haben wir sie gejagt und versklavt. Aber was wir bauen, was wir dichten, was wir malen und was wir singen, kommt letztlich von ihnen. Was haben wir ihnen voraus? Die groben Witze und das schnelle Töten. Größe gab es auch bei uns. Davon später.“
Der Vater nahm sich Zeit. Er las mit Titus den Älteren Cato, Abschnitte aus Naevius, Ennius, Sallust, Livius. Das Kind erfuhr von der Härte seiner Voreltern, ihrer Redlichkeit, ihrem Mut, ihrer Sparsamkeit, ihrem unbeirrbaren Abwägen von Gewinn und Verlust, ihrer Eigenart, jeden Schritt im Leben nach dem Nutzen für das Gemeinwohl wie nach dem eigenen Vorteil zu befragen. Sie lasen ausgewählte Stellen des Marcus Tullius Cicero.
„Er ist nicht mehr verboten, aber auch noch nicht gern gesehen“, sagte der Vater. „Es heißt, er war gegen Julius Caesar. Aber er war nur nicht für ihn. Das kostete ihn den Kopf. Sie stellten ihn am Römischen Forum auf einer Stange zur Schau. Unser Glück, dass es Leute des Antonius waren, der ein Staatsfeind wurde.“
„Wieso unser Glück?“, fragte Titus.
„Wir Patrizier müssten Cicero sonst ganz vergessen, und das wäre, als vergäßen wir uns selbst. Denn wiewohl ein neuer Mann in Rom, zugereist aus Arpinum, fand er die einleuchtendsten Worte für das Ethos unseres Standes. Seither sind wir gewohnt, es Humanitas zu nennen. Durch Jahrhunderte fehlte uns zur Menschlichkeit der Griechen viel. Die Griechen sind menschenfreundlich. Humanitas aber ist mehr: eine Menschenwürde, die feines Benehmen, gediegene Bildung, guten Geschmack und Anstand zusammen bedeutet. Sie ist Mäßigung und Güte, Rücksichtnahme und Freundschaft, Standhaftigkeit und Treue, Wohlwollen und Freimut, Frömmigkeit und Gerechtigkeit, kurz: Tugend, doch ohne die Härte der Vorfahren. Sie ist auch Stolz, der Stolz, sich selbst zu bewahren und immer zu wissen, was einem gefällt und wonach man strebt. Und sie ist Achtung, denn wer anderer Würde nicht achtet, hat selbst keine Würde, und wer anderer Würde verletzt, verliert ebensoviel von der eigenen! Befleißigst du dich dieser Humanitas, so wird jeder den Umgang mit dir leicht, heiter und angenehm finden, ohne dass dein Wesen flüchtig und oberflächlich wäre.“
„Es klingt wie eine Inventur auf einem Gut“, sagte Titus.
„Du begreifst mehr, als ich deinen elf Jahren zugetraut hätte. Vielleicht konnte nur Cicero uns sagen, wer wir sind, weil er von außen kam, als schon die Endzeit unseres Standes begann.“
Einmal nahm ihn der Vater mit in die Griechenstadt Neapel, die hinter dem Pausilypon lag. Der vierrädrige Reisewagen unterquerte ihn durch einen staubigen, von Fackelrauch geschwärzten Tunnel. Vedius Pollio, ein unternehmender Mann, hatte ihn im Auftrag des Agrippa, des Schwiegersohnes des Augustus, mit einem Heer von Sklaven graben lassen. Man schüchterte die Kinder dieser Gegend ein mit seinem Namen. Auch Titus hatte, wenn er störrisch war, die Amme drohen hören: „Ich hole den Vedius Pollio!“
Nun zeigte der Vater ihm die Fischteiche des Unholds, in denen die fleischfressenden, wohlschmeckenden Muränen gezüchtet wurden.
„Ist es wahr“, fragte Titus, „dass er verunglückte und zu Tode gepeitschte Sklaven in die Muränenteiche werfen ließ?“
Der Vater antwortete verschwommen. Grausam sei er gewesen, man dürfe aber nicht alles glauben. „Ich weiß nur: Als Augustus, zu dessen Freunden er sich zählen durfte, bei ihm zu Gast war, ließ ein Sklave ein Kristallgefäß fallen. Vedius befahl, ihn zu den Muränen zu werfen. Doch Augustus ließ es nicht geschehen.“
„Ist der jetzige Kaiser, zu dessen Freund du ernannt wurdest, auch so gut?“, fragte der Junge.
„Wie wir alle“, antwortete der Vater, „gibt er sich redlich Mühe, gut zu sein. Er kümmert sich um die Armen, nimmt sich der Mittellosen an und beutelt die Blutsauger unter den Besitzenden. Mir scheint, er hält sich so lange in Kampanien auf, weil es ihm in Rom zu schwer wird, gut zu sein.“
Sie bogen in ein Pinienwäldchen ab, ließen anhalten und erstiegen eine rasenbedeckte Anhöhe. „Pausilypon heißt sorgenfrei“, sagte der Vater. „Auch Vergil hatte hier einen Garten.“ Er wies auf einen marmornen Sarkophag, der auf Löwentatzen ruhte. „Sag ein paar Verse von ihm auf! So ehrst du seine Gebeine.“
Titus überlegte. Dann sprach er, mit offener Hand skandierend:
„Unwissend über das Schicksal und über sein künftiges Dasein
Bleibt, wenn das Glück ihn emporträgt, der Mensch, und er kann sich nicht zügeln.“
„So weit bist du in der ‚Aeneis’?“, staunte der Senator.
„Mit Acoetes bin ich noch nicht so weit.“
Der Vater legte einen Arm um seine Schulter, als sie zurückgingen. „Auch Vergil war ein Freund des vorigen Kaisers. Ein Kaiser, das sollst du dir merken, ist jeweils so gut oder so schlecht wie seine Freunde. Doch hat er immer diese und jene, und seine Gefahr ist, dass die Bösen gerade aus ihrer Bosheit Kraft gewinnen, die sie den Gutmeinenden zeitweilig überlegen macht.“
Vor ihnen lag das alte, winklige Neapel, sichtlich kleiner als Puteoli. Aber die Größe der Bauten und der säulenreichen Plätze, die Länge der Hafenmolen und die Ausdehnung der Akropolis, die mit mächtigen Stützmauern aus dem Fels wuchs und einen Tempel trug, massiger als der auf dem Vorgebirge der Minerva, bezeugten, dass die Stadt vor Jahrhunderten, als sie noch Parthenope hieß, die bedeutendste der Gegend gewesen war.