Das Buch

Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten wir, die Freiheit werde sich weltweit durchsetzen. Irrtum: Heute befindet sich die Demokratie auf dem Rückzug, immer öfter regieren Populisten und Nationalisten. Zwischen China und den USA entwickelt sich ein neuer kalter Krieg, Russland und die Türkei zündeln an unseren Grenzen. Im Inneren führen Populisten auch bei uns einen Krieg gegen Wahrheit, Freiheit und Demokratie. Europa ist akut bedroht, aber auch Deutschlands Zukunft ist unsicherer, als wir glauben.

Alexander Graf Lambsdorff fordert deshalb einen radikalen Perspektivwechsel: Er ruft dazu auf zu erkennen, dass Frieden und Demokratie immer wieder neu errungen werden müssen. Unser freiheitlicher »European Way of Life« hat eine Zukunft – aber nur dann, wenn wir Stärken und Schwächen unserer Demokratie offen diskutieren, Europa in der Weltpolitik ankommt und der globale Westen ein machtvolles, friedliches Gegengewicht zu China bildet.

Der Autor

Alexander Graf Lambsdorff, geboren 1966, ist Historiker, Diplomat und Politiker. Längere Aufenthalte führten ihn in die USA, nach Russland und zur Europäischen Union. In Afrika und Asien leitete er mehrere EU-Wahlbeobachtungsmissionen. Er ist Mitglied des Deutschen Bundestages für die FDP und arbeitet zur Außen-, Sicherheits-, Europa- und Entwicklungspolitik. Von 2004 bis 2017 war er Europaabgeordneter, 2014 wurde er Vizepräsident des Europäischen Parlaments für Demokratie und Menschenrechte.

Alexander Graf Lambsdorff

Wenn Elefanten kämpfen

Deutschlands Rolle in den kalten Kriegen des 21. Jahrhunderts

PROPYLÄEN

Propyläen wurde 1919 durch die Verlegerfamilie Ullstein als Verlag für hochwertige Editionen gegründet. Der Verlagsname geht zurück auf den monumentalen Torbau zum heiligen Bezirk der Athener Akropolis aus dem 5. Jh. v. Chr. Heute steht der Propyläen-Verlag für anspruchsvolle und fundierte Bücher aus Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur.



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ISBN 978-3-8437-2541-5


© 2021 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

© der Karten: Peter Palm, Berlin

Titelfoto: Amin Akhtar/laif

Gestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

»Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit,
das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.«

Gefallenenrede des Perikles
Thukydides, Peloponnesischer Krieg

Von Elefanten, Walen und Garnelen – eine Einführung

* Damit ist in diesem Buch aus Gründen der Verständlichkeit durchgehend SARS CoV-2 gemeint.

Am 7. Mai 2020 war zu lesen, das chinesische Außenministerium habe einen Gastbeitrag von EU-Botschaftern in der Tageszeitung China Daily zensiert und einen Halbsatz gestrichen, in dem es hieß, das Corona-Virus* habe sich von China aus in der Welt verbreitet. Die EU-Botschafter akzeptierten die Zensur. Sie hätten stattdessen auch dagegenhalten und die Freigabe des Betrags verweigern können. Am 15. Juni 2020 wurde bekannt, dass der SWR den Dokumentationsfilm »Wuhan – Chronik eines Ausbruchs« zurückzog. Die Gründe waren rechtlicher Natur – das Filmteam hatte Material einer chinesischen Firma verwendet, anstatt mit deutschen Journalisten vor Ort zu drehen. Das ermöglichte es den chinesischen Behörden, die Ausstrahlung des Films zu verhindern.1 Es sind Kleinigkeiten, doch sie stehen sinnbildlich für eine größere Erkenntnis, die sich langsam ausbreitet und in ihrer vollen Bedeutung erst seit Kurzem in Deutschland und Europa erkannt wird: China ist zu einer Weltmacht geworden und nutzt die bereits entstandenen Abhängigkeiten immer offener, um anderen seinen Willen zu diktieren.

Macht bedeutet, einen anderen dazu bringen zu können, etwas zu tun, das er nicht tun will. Auf einmal dämmert uns, dass es China in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, die Art von Macht aufzubauen, die es der chinesischen Regierung erlaubt, Politiker, Unternehmen, öffentliche Institutionen zu Zugeständnissen zu nötigen – in Europa, aber auch in internationalen Gremien wie der Weltgesundheitsorganisation. Es sind – noch – scheinbar harmlose Zugeständnisse. Schlimmer ist, was die Regierung in Peking dabei unverhohlen zu erkennen gibt: dass sie sich für die Rechte der Hongkonger Demonstranten, für die Freiheit der Bewohner Taiwans, aber auch für Menschenrechte in allen anderen Ländern der Welt genauso wenig interessiert wie für die Regeln des Völkerrechts. Wir erahnen, dass Chinas Aufstieg zur Weltmacht auf lange Sicht zu einer ernsten Bedrohung werden könnte. Dabei kommt dem Reich der Mitte ein strategischer Vorteil zugute: die Langfristigkeit seiner politischen Planung. Seit Ende der 1970er-Jahre arbeitet Peking systematisch am Aufstieg zur Weltmacht und engt dabei wie ein erfahrener Go-Spieler Zug um Zug den Bewegungsspielraum anderer Länder ein.

Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Viele Beobachter sehen einen neuen kalten Krieg zwischen China und den USA heraufziehen, und wir in Europa müssen fürchten, dabei als Gras von zwei kämpfenden Elefanten zertreten zu werden. Ähnliche Ängste hegen die Nachbarn Chinas. So war im Juni 2020 im Korea Herald zu lesen: »Zwischen USA und China bahnt sich ein zweiter Kalter Krieg an. Für die Menschen in der Seefahrer- und Fischernation Korea droht sich dabei ihr Sprichwort zu bewahrheiten: ›Wenn zwei Wale zusammenstoßen, bricht es der Garnele das Rückgrat.‹«2

In seiner Zeit als EU-Kommissionspräsident hat Jean-Claude Juncker gesagt: Europa muss weltpolitikfähig werden. Das stimmt, aber damit das gelingen kann, müssen wir Europäer verstehen, dass wir immer noch von einer falschen Prämisse ausgehen: der Idee, dass unsere freiheitliche Lebensweise sich allein wegen ihrer Attraktivität gegen neue Imperialismen durchsetzen wird. Der daraus abgeleitete Glaube, wir seien nach wie vor das Zentrum der Welt, ist eine Illusion. Die meisten von uns haben nur eine oberflächliche Vorstellung von den Triebkräften hinter den Machtverschiebungen, durch die sich die geopolitische Ordnung gerade radikal verändert. Wir wissen wenig von den historischen Motiven, der wirtschaftlichen Dynamik, den geopolitischen Gegebenheiten im »Rest der Welt.«

Dieser Mangel an Weitsicht könnte uns gefährlich werden, darauf will dieses Buch hinweisen. Es will aber noch mehr, nämlich die Frage beantworten, warum uns daran gelegen sein muss, uns zu schützen und Wege aufzeigen, wie das gelingen kann. Unser European Way of Life, unsere Art, wie wir in Europa leben, ist einzigartig und sie macht uns aus. Wir leben in Freiheit, haben Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft, aber wir legen auch großen Wert auf sozialen Ausgleich, Umwelt- und Klimaschutz. Andere freie Länder setzen ihre Schwerpunkte anders, der American Way of Life unterscheidet sich von unserem und beide sind anders als der japanische oder australische. Für alle aber gilt, dass sie auf demselben Fundament stehen: der Freiheit. Im ersten Teil geht es deshalb um unsere persönliche und politische Freiheit, die Anfang und Ende unserer Politik sein muss. Die Demokratie als politische Ordnung beginnt mit dem freien Bürger als Träger der Macht, und sie zielt am Ende darauf, dass alle Menschen frei und in Würde leben können. Sie schützt unsere Werte, die aus der griechisch-römischen Antike, dem Christentum und der Aufklärung hervorgegangen und zur Grundlage unserer Verfassungen geworden sind. Im dritten Kapitel beschreibe ich, wie unsere deutsche Gegenwart fast ohne unser Zutun entstanden ist und warum Deutschland zu seinem Glück viel stärker auf internationale Zusammenarbeit angewiesen ist als andere Nationen.

Um weltpolitikfähig zu werden, müssen wir die Welt zunächst einmal verstehen. Ab Kapitel vier geht es deshalb um die Voraussetzungen unserer Außenpolitik. Dazu müssen wir uns aus unserer europäischen Mitte wegbewegen, einen teilweise radikalen Perspektivwechsel vornehmen, uns über die historischen Motive der anderen informieren, in Amerika, China, Russland, der Türkei, dem Nahen Osten und Afrika. Diese Zusammenhänge, Zustände und Entwicklungen zu beschreiben und nachzuvollziehen, warum die Welt sich ganz anders entwickelt, als wir das noch vor wenigen Jahren erwartet haben, steht im zweiten Teil im Mittelpunkt.

Im dritten Teil leite ich daraus Vorschläge ab, wie wir uns in Deutschland politisch aufstellen müssen, wenn wir unsere Lebensweise auch im 21. Jahrhundert bewahren wollen. Radikale, Nationalisten und Populisten führen einen kalten Krieg gegen die Demokratie im Inneren. Wenn die Demokratie der beste Schutz der Freiheit ist, müssen wir auch sie beschützen. Im achten Kapitel schreibe ich deshalb über Ideen zur Verbesserung unserer Demokratie, die eine breitere Debatte verdient hätten. Andere Länder sind uns da voraus.

Europa befindet sich endgültig nicht mehr in der Mitte der Welt. Doch es gibt Grund zum Optimismus, denn wir haben Möglichkeiten, die ich im letzten Kapitel beschreibe: Wenn die freien, demokratischen Nationen zusammenhalten, wenn wir im Inneren unsere Demokratie erneuern und nach außen die Freiheit verteidigen, dann können wir unseren European Way of Life auch an kommende Generationen weitergeben.

Teil 1

1

Leben in Freiheit

Feel free

Am 12. März 2020 wurde ich als einer der ersten Abgeordneten positiv auf das Corona-Virus getestet. Die nächsten zwei Wochen verbrachte ich allein in meiner Wohnung. Auch meine Mitarbeiter wurden in Quarantäne geschickt, weil sie Kontakt zu mir gehabt hatten – obwohl keiner von ihnen infiziert war. Als dann vierzehn Tage später die Bundesregierung den ersten Lockdown anordnete und damit mehr oder weniger die gesamte Bevölkerung in ihre Wohnungen verbannte, hatten wir einen Vorsprung. Wir wussten schon, wie das ist, wenn plötzlich nichts mehr geht. Dabei hatten wir in Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Argentinien, Frankreich oder Spanien recht milde Einschränkungen. Dort durfte niemand auf die Straße, wochen-, ja monatelang, außer in streng definierten Ausnahmefällen. Das war viel härter als bei uns. Und doch empfanden viele schon unseren milden Lockdown als empfindliche Einschränkung der eigenen Freiheit.

Mit einem Mal wurde uns allen ganz konkret bewusst, was wir sonst als völlig selbstverständlich ansehen: die Freiheit, die wir normalerweise an jeder Straßenecke genießen und die bei uns überall sichtbar, greifbar, sogar essbar ist. Sie tritt uns oft ganz banal entgegen. In Straßen und an jeder Ecke mit Kneipen, Cafés, Biergärten, Wein- und Käseläden oder Trinkhallen. In Supermärkten, in denen französischer Camembert, italienischer Parmesan und englischer Cheddar angeboten werden, weil wir einen europäischen Binnenmarkt haben, aber auch japanisches Miso, chinesische Reisnudeln und kanadischen Ahornsirup, weil es globale Handelsnetze, -wege und -verträge gibt. Wir haben klassische und Avantgarde-Theater, Museen, private Galerien mit zahllosen Programmen, Sammlungen, künstlerischen Konzepten und ästhetischen Entwürfen, weil es die Freiheit der Künste gibt. Unser Wissenschaftssystem differenziert sich ständig aus; werden die Grenzen einer Disziplin zu eng, entstehen neue Fachrichtungen und Studiengänge; Mediziner forschen heute nicht nur über Viren oder Krebszellen, sondern auch über die therapeutische Wirkung des Waldes. Wir finden ein differenziertes Bildungsangebot, wem die öffentlichen Schulen nicht zusagen, der kann auf eine Privatschule gehen, auf eine Waldorf-, Montessori- oder Klosterschule. Der Sohn eines Schuhmachers kann Schreiner, Mechatroniker oder Professor werden, er kann aber auch einen neuen Beruf erfinden und damit seinen Lebensunterhalt verdienen; vielleicht wird er urbaner Bauer, 3-D-Handwerker oder Roboterberater. Der Staat hält sich aus dem Schlafzimmer raus, Beziehungen und Intimleben sind Privatsache. Ob standesamtlich, kirchlich oder gar nicht getraut, monogam, promisk, hetero, homo, Blümchensex oder BDSM – der Staat schaut nicht durchs Fenster (was die Nachbarn tun, steht auf einem anderen Blatt). Wer will, kann sich jederzeit und überall hinbewegen, kann sich im Harz betrinken, in Finnland wandern oder auf Mallorca in die Sauna gehen; niemand schreibt ihm vor, wo er sich aufhalten muss, wie viele Burger er essen darf, und erst recht nicht, was er denken soll. Er kann auf öffentlichen Plätzen »Merkel muss weg!« grölen und lauthals beklagen, wie unfrei er doch sei, ohne sich von der Tatsache beirren zu lassen, dass Polizei und Gerichte nicht etwa Frau Merkel vor öffentlicher Beschimpfung schützen, sondern vielmehr sein Recht, diese Kritik hinauszuposaunen. Die Presse kann schreiben, was sie will, die Medien können auf allen Radio- und Fernsehkanälen senden, was sie wollen, und die Zahl der Katzenbilder, die im Internet gepostet werden dürfen, ist unbegrenzt. Jeder Mann und jede Frau können in eine politische Partei eintreten und versuchen, in öffentliche Ämter zu gelangen, die mit Entscheidungsmacht einhergehen. Politische Parteien können die Demokratie als Spielwiese benutzen, um abstrusen Unsinn bis hin zum Missbrauch der Freiheit zu betreiben, von der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands bis hin zu Die Partei um den Satiriker Martin Sonneborn. Wir können tagsüber beim Türken Döner essen und abends gegen die vermeintliche Islamisierung unseres Landes auf die Straße gehen. Wir können heute aus Protest gegen die Eröffnung eines Primark einen Flashmob organisieren, weil der für die Herstellung seiner Ware angeblich Näherinnen in Bangladesch ausbeutet. Und morgen vor demselben Primark gegen dessen vorübergehende Schließung in Zeiten der Corona-Pandemie demonstrieren, weil die Schließung die Näherinnen in Bangladesch um ihren Lohn bringt.

Freiheit als Zumutung

In der freien Gesellschaft können wir ungestraft jeden Sinn und Unsinn reden, uns irren und uns widersprechen. Deswegen ist Freiheit immer auch eine Zumutung. Wir müssen aushalten, dass der Kleidungsstil unserer Mitmenschen unser ästhetisches Empfinden verletzt. Wir müssen aushalten, dass nachmittags Kinder laut spielen und nachts Jugendliche feiern wollen. Fahrradfahrer müssen aushalten, dass Autos auf den Straßen dominieren, und Autofahrer müssen aushalten, dass die Fahrradfahrer mehr werden und das ändern wollen. Wir müssen damit leben, dass es Künstler gibt, die mit Tierblut hantieren oder auf der Bühne kopulieren, und dass manche Kunstkritiker das für besonders avantgardistisch und andere für eine Schweinerei halten. Wir müssen aushalten, dass es in Deutschland zu jedem Thema Hunderte von Meinungen und achtzig Millionen Bundestrainer, Musikexperten und Literaturkritiker gibt. Sozialromantiker müssen aushalten, dass nicht jeder aus Elend und Armut Befreite die gewonnene Freiheit mit der Lektüre von Juli Zehs neuestem Roman verbringt, sondern mancher es vorzieht, Deutschlands Ruf am Ballermann zu festigen. Wir müssen aushalten, dass das Verfassungsgericht die Meinungsfreiheit schützt und das NPD-Verbot kippt, auch wenn es vielen wehtut, dass es in Deutschland nach der NS-Zeit wieder rechtsextreme und rassistische Parteien gibt.

Wie schmerzhaft das sein kann, habe ich selber schon erfahren. Als ich am Europatag 2019 mit meinen Parteifreunden Wahlkampf für die bevorstehende Europawahl machte, stellte sich die NPD mit einem eigenen Zelt auf den Marktplatz, neben die Zelte von CDU, SPD, Grünen und FDP und den Stand der EU-Kommission, die sich dort präsentierten. Wir Demokraten schauten uns an und wussten: Wir verabscheuen diese Leute, doch man kann es ihnen nicht verbieten. Dann aber wurde es plötzlich laut. Eine Gruppe vermummter »Autonomer« marschierte auf, positionierte sich ganz nah, wirklich nur Zentimeter, vor die NPDler und brüllte ihnen etwa eine Stunde lang ins Gesicht: »Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!« Das war verbale Gewalt. Die Autonomen veranstalteten eine Art Mini-Weimar: Linksextreme im Kampf gegen Rechtsextreme, einander auflauernd und jede Gelegenheit nutzend, aufeinander loszugehen.

Diese schwarz Maskierten waren nicht bereit zu akzeptieren, dass im Rechtsstaat Gerichte darüber entscheiden, wo die Grenze der Meinungsfreiheit liegt. Wenn das Verfassungsgericht sagt, die NPD habe ohnehin keine Chance, mit ihren verfassungsfeindlichen Absichten jemals erfolgreich zu sein3, dann müssen wir ertragen, dass die NPD ein Zelt neben uns aufstellt. Das schmerzt. Das ist Freiheit als Zumutung. Aber es ist der richtige Weg. Denn was haben die Linken erreicht? Anstatt der NPD zu schaden, haben sie ihr geholfen: Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen über die Show der Extremisten, Werbung für die NPD inklusive. Von den proeuropäischen, demokratischen, von links bis rechts ausdifferenzierten Positionen der anderen Parteien wurde kaum Notiz genommen. Für das ehrenamtliche europäische Engagement ganz normaler Christ- und Sozialdemokraten, Grüner und Liberaler, der weitaus größeren Gruppe an diesem Tag, war kein Platz mehr. So wurde die selbst ernannte Antifa unabsichtlich, aber doch absehbar, zum nützlichen Idioten und Helfer der Nazis.

Wir können solche Extremisten und ihre Anhänger nur politisch bekämpfen. Das gilt für alle Themen, die uns wichtig sind. Wir müssen aushalten, dass wir, wenn wir von etwas überzeugt sind, als Mittel der Politik nur den Weg haben, andere zu überzeugen. Wenn wir wollen, dass etwas wirklich wird, müssen wir mühsam Mehrheiten finden und dann im langsamen, nervenaufreibenden demokratischen Prozess Kompromisse aushandeln. Wir müssen die Enttäuschung darüber aushalten, dass diese Kompromisse oft nur ein schwacher Abglanz dessen sind, wofür wir gekämpft haben. Es gibt vielleicht kaum Personen, die das stärker zu spüren bekommen, als Politiker. Ich selbst hätte gerne mehr Wähler, die ihr Kreuz bei meiner Partei machen. Aber ich hätte auch gerne mehr Mitglieder innerhalb der Partei, die meiner Meinung sind. Am liebsten wäre mir eine Partei, in der alle meiner Meinung sind. Aber sie hätte nur ein Mitglied: mich. Der größte Preis, den wir dafür zahlen, frei zu sein, ist die Tatsache, dass die anderen auch alle frei sind.

Unfreiheiten

Was ist Freiheit? Alles und nichts. Eine Leere. Ein Raum unendlicher Möglichkeiten, der durch die Abwesenheit von Zwängen entsteht. Frei zu sein heißt nicht, dass ich etwas tue, sondern es heißt: Ich kann etwas tun. Es gibt nichts, was mich hindert. Diese Leere macht es nicht leicht, die Idee der Freiheit zu bestimmen, die philosophische und politische Literatur dazu füllt ganze Bibliotheken. Und doch beschreibt Freiheit zugleich ein Lebensgefühl, das auch all jene kennen, die eine solche Bibliothek nie von innen gesehen haben. So abstrakt sie als Idee ist, so konkret ist sie als Gefühl. Sie ist, wie der englische Philosoph John Stuart Mill es formuliert, der »erste und stärkste Wunsch der menschlichen Natur«.4

Während der Corona-Beschränkungen, die im März 2020 erlassen und erst ab Mitte Mai vorübergehend aufgehoben wurden, kehrte sich das Bild der Gesellschaft auf eigentümliche Weise um. Wie bei einem Foto zeigte sich die Freiheit plötzlich in ihrem Negativabdruck. Auf einmal tauchten überall Schutzwände und -schirme aus Plexiglas auf. Wir sahen in verhüllte Gesichter, konnten die Mimik unserer Gesprächspartner bestenfalls erahnen. Wir sahen leere Regale in und lange Schlangen vor Supermärkten. Die zeitweilige Toilettenpapier-Mangelwirtschaft erinnerte manche an das Leben in der DDR. In Parks patrouillierten Ordnungsamt und Polizei, verscheuchten Teenager, lösten Rentnertreffs auf und verhängten Strafen. Wir durften nicht mehr reisen. Wer sich dennoch hier und da ein bisschen bewegte, musste sich vor Freunden, Verwandten und Nachbarn rechtfertigen.

Die meisten von uns haben darauf vertraut, dass die Beschränkungen wegen der Pandemie nur für begrenzte Zeit gelten würden. Es fiel uns schwer. Doch was wir als Ausnahme mehr oder weniger gefasst ertragen haben, war über die längste Zeit unserer Geschichte die Regel. Noch heute ist es in vielen Ländern der Normalzustand. Staatliche und mancherorts auch religiöse Institutionen überwachen und kontrollieren die Menschen, machen Vorschriften, beschneiden die Freiheit. Selbst bei uns hielten sich manche Verbote, die aus der Zeit staatlich-religiöser Kontrolle stammten, noch lange. Vermieter und Hoteliers, die ein Zimmer an ein unverheiratetes Paar vergaben, machten sich noch bis 1970 unter dem sogenannten Kuppelei-Paragrafen strafbar. Erst 1994 wurde der zu Bismarcks Zeiten eingeführte Paragraf 175 unseres Strafgesetzbuches endlich abgeschafft, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Das waren Verbotsrelikte einer Gesellschaft, die sich erst wenige Jahrzehnte zuvor befreit hatte.

Wie sich staatliche Kontrolle in einer unfreien Gesellschaft anfühlt, habe ich in jungen Jahren selbst erleben können. Es hat einen sehr starken Eindruck auf mich gemacht. Mein Vater wurde 1982 Kulturattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau und hatte dort Kontakte zu Künstlern, Musikern und Dichtern. Boris Birger, ein Maler, wurde ein richtig guter Freund, er sprach sehr gut Deutsch. Ich durfte ihn kennenlernen, als ich in den Schulferien zu den Eltern in die Hauptstadt der Sowjetunion reiste. Wir besuchten Boris in seinem Atelier. Bevor er mit meinen Eltern sprach, machte er den Plattenspieler an, stöpselte das Telefon aus und schaute aus dem Fenster. Ich konnte mir keinen Reim auf dieses seltsame Verhalten machen, da klärte er mich auf: Er konnte in seinen eigenen vier Wänden nicht frei reden, auch nicht auf Deutsch. Das Telefon war verwanzt, der Plattenspieler sollte die Gespräche für die Mikrofone in den Wänden übertönen, und draußen vor dem Fenster standen die Autos vom KGB, die meinen Vater bei jedem Besuch bei ihm verfolgten. Ich war sprachlos. Aus seinen klugen Augen den Jüngling betrachtend, erklärte er mir: »Tja, das ist der real existierende Sozialismus.« Seine feine Ironie hatte etwas Tragisches. Ausstellen durfte er, ein Freund Andrej Sacharows, seine Werke schon lange nicht mehr.

Wenn meine Eltern während dieser Moskauer Jahre vor Gorbatschow aus einem Urlaub zurückkamen, stand öfter mal demonstrativ ein vollgequarzter Aschenbecher in ihrer Wohnung. Den hatten die Leute des KGB zurückgelassen. »Offene Beschattung« nannte man das. Da sie der Einschüchterung diente, mussten die Beschatteten sie bemerken, deshalb hinterließen die Geheimdienstler ganz bewusst sichtbare Spuren. Für meine Eltern war das nicht dramatisch, ihr Diplomatenstatus schützte sie. Aber für normale Bürger? Können wir uns vorstellen, dass eine Geheimpolizei während unserer Abwesenheit einfach so unsere Schränke, unsere Küche, unseren Schreibtisch und unsere Festplatte durchwühlt? Wir empfänden es zu Recht als einen massiven Angriff auf unsere Würde.

Der berühmte erste Satz des Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar« enthält in seiner Kürze den Grund unserer Freiheit: Je freier, selbstbestimmter und unabhängiger ein Mensch sein Leben gestalten kann, desto mehr ist es ihm möglich, in Würde zu leben. Die wichtigste Begründung unserer Freiheit liegt daher in der Würde jedes und jeder Einzelnen. Auf der anderen Seite garantieren wir dem Einzelnen seine Freiheit, indem wir seine Würde schützen und respektieren.

Umgekehrt gilt dasselbe: Je unfreier der Mensch, desto stärker ist seine Würde angetastet. Wenn Menschen bestraft werden, weil sie einen Blog schreiben, beschneidet das ihre Freiheit. Wenn sie dafür zudem, wie der liberale Autor Raif Badawi in Saudi-Arabien, sogar ausgepeitscht werden, dann macht diese Strafe explizit deutlich, worum es wirklich geht: um die Zerstörung seiner Würde. Die Strafe sanktioniert dann nicht nur ein Handeln, das in einer freien Gesellschaft gar nicht strafbar wäre, sondern sie soll einen Ohnmächtigen demütigen und entwürdigen. Wenn eine Regierung Eltern verbietet, mehr als ein Kind zu bekommen, wie das die chinesische Regierung mit der Ein-Kind-Politik lange Zeit tat, nimmt sie ihnen etwas von ihrer Würde. Wenn eine Regierung ihre Bürger auch noch im Ausland unter Druck setzt, wie es die chinesische Regierung mit vielen im Ausland lebenden Chinesen tut, dann gibt es für sie keinen Ort auf der Welt, an dem sie leben können, ohne in ständiger Angst zu sein. Nicht zufällig hat sich der Arabische Frühling an einer einzigen, scheinbar harmlosen Demütigung entzündet: Ein Polizist gab einem Gemüsehändler in einer tunesischen Provinzstadt eine Ohrfeige. Das war entwürdigend. Heute ist Tunesien ein anderes Land.

Der große Unterschied

In der Geschichte der Menschheit gibt es kein Gesellschaftsmodell, das die Unverletzbarkeit der menschlichen Würde in so hohem Maße gewährleistet wie die freiheitliche Demokratie. Das gilt trotz aller Kritik an der liberalen Gesellschaft und ihren Schwierigkeiten. Die Kritik ist berechtigt, weil die liberale Gesellschaft immer wieder an ihren Ansprüchen scheitert. Ein bedeutender, vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen liberalen und illiberalen Gesellschaften besteht aber eben darin, dass Erstere Kritik zulassen (und zwar sowohl berechtigte als auch unberechtigte), während Letztere sie mit allen Mitteln unterdrücken. Viele, die in Russland oder China auf Missstände hinweisen, unterschreiben damit ihr Todesurteil. Anna Politkowskaja, Boris Nemzow, Natalja Estemirowa. Die Liste der Namen ist lang. Kritiker des Westens verweisen im Gegenzug gerne auf Fälle wie den des amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden, der hochgeheime Daten des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes NSA preisgegeben und so dessen weltweite Überwachungspraktiken aufgedeckt hat. Ihm droht dafür in den USA nicht nur ein Gerichtsverfahren, sondern möglicherweise sogar die Todesstrafe. Doch ganz egal, ob man in seinem Fall Hochverrat sieht, wie es alle amerikanischen Regierungen seit Obama tun, oder vielmehr einen Bruch der liberalen Gesellschaft mit den eigenen Werten – gerade an solchen Fällen werden die Unterschiede zwischen den Systemen deutlich. Snowden wird strafrechtlich verfolgt, selbst wenn er in den USA zum Tode verurteilt werden würde, geschähe das durch ein ordentliches Gerichtsverfahren, in dem er sich unter Inanspruchnahme aller Garantien des Rechtsstaates verteidigen dürfte. Vor allem aber müsste er dazu erst einmal an die USA ausgeliefert werden, ein Verfahren würde sich vermutlich über Jahre hinziehen, und der Ausgang wäre keineswegs sicher, denn Snowden hat auch in den USA viele Unterstützer. Nicht wenige Meinungsmacher vertreten in angesehenen Publikationsorganen die Ansicht, dass nicht er, sondern die Geheimdienste amerikanisches Recht verletzt haben. Und so ist es keineswegs ausgeschlossen, dass die Haltung der amerikanischen Regierung eines Tages kippt. Die Dissidenten in autoritären Staaten haben keine Chance auf ein faires Verfahren, oft werden sie ohne jeden Prozess von Mördern einfach »beseitigt« und ihre Regierungen verfolgen sie auch dann, wenn sie ins Ausland flüchten. Der saudi-arabische Journalist Jamal Khashoggi – der sich, nebenbei bemerkt, nicht wie Edward Snowden in eine rechtliche Grauzone gewagt hat, sondern lediglich kritische Zeitungsartikel verfasste – wurde von saudischen Geheimdienstlern im Konsulat seines Heimatlandes in Istanbul ermordet. Die Mörder, staatlich organisierte Auftragskiller, zerstückelten und entsorgten seine Leiche in einer Weise, die man eigentlich nur von Psychopathen kennt. Der russische Journalist und Politiker Boris Nemzow befand sich auf dem Heimweg, als ein tschetschenischer Auftragskiller ihn auf der großen Moskwa-Brücke mit vier Schüssen in Kopf und Rücken tötete.

Es ist kein Zufall, dass von den genannten Kritikern nur der US-Amerikaner Snowden noch am Leben ist, genauso wie die Whistleblowerin Chelsea Manning. Auch in freien Gesellschaften gibt es Missstände, aber nur hier können sich an den Missständen im besten Fall neue Diskurse entzünden. Sie führen regelmäßig dazu, dass die Gesellschaft sich an ihren eigenen Ansprüchen misst, sich reformiert und von innen heraus verändert.

Die freiheitliche Gesellschaft schützt die Unverletzlichkeit der Würde, so gut es ihr möglich ist. Sie ist anderen Gesellschaften auch deshalb überlegen, weil der Grundsatz »Ohne Freiheit kein Wohlstand« bisher nicht widerlegt worden ist. Im Gegenteil, Versuche mit unfreien Systemen endeten in Krieg oder Kollaps. Der Faschismus führte zum Krieg, der Sozialismus scheiterte an einem kollabierenden Wirtschaftssystem. Und schließlich wurde auch die berühmte These von Immanuel Kant bisher nicht falsifiziert. Kant erklärte, republikanisch verfasste Gemeinwesen – Demokratien in unserem heutigen Verständnis gab es damals noch nicht – greifen einander nicht an. Wenn Kant recht hat, dann ist die Freiheit einer Gesellschaft auch eine wesentliche Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Völker.

Blinde Flecken

Nach Jahrhunderten, in denen sich unsere Demokratie herausgebildet hat, sind wir stolz auf das Erreichte. Doch vielleicht haben wir so zu lange nicht für möglich gehalten, dass man Gewonnenes auch wieder verlieren kann. Obwohl sich der Aufstieg Chinas seit Jahrzehnten anbahnt, beginnen wir gerade erst zu verstehen, dass wir ihn nicht nur wahr-, sondern auch ernst nehmen müssen. Das liegt auch daran, dass China seine Expansion lange Zeit sehr diskret vorangetrieben hat. Nicht zufällig lautet der Titel eines beeindruckenden Buches, das im Juni 2020 erschienen ist: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet.5 Andererseits muss man sich fragen, wie weit diese Erklärung trägt. Denn seit Deng Xiaoping Mitte der 1970er-Jahre marktwirtschaftliche Reformen einleitete, verfolgt China sein geopolitisches Ziel. Schon Ende der 1980er-Jahre zeichnete sich anhand von Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung ab, dass auf das amerikanisch dominierte 20. Jahrhundert ein asiatisch dominiertes 21. Jahrhundert folgen könnte. Ich selbst erinnere mich, schon vor fünfzehn Jahren einen Artikel in The Atlantic gelesen zu haben, in dem der Journalist Robert Kaplan die Vorbereitung des amerikanischen Militärs auf einen wirklichen, heißen Krieg mit China dokumentiert.6 Allein mit Chinas lautlosem Vorgehen lässt sich also nicht erklären, warum uns erst mit so unglaublicher Verspätung auffällt, dass die Ordnung der Welt sich fundamental verändert.

Um das besser zu verstehen, hilft es, sich die Dimensionen vor Augen zu führen. Wir sind es gewohnt, Politik in Jahren und Jahrzehnten zu denken. Was wir aktuell erleben, ist jedoch eine geradezu tektonische Verschiebung der Verhältnisse, wie sie sich in den vergangenen fünfhundert Jahren herausgebildet haben. Unsere Ordnung entstand nach Humanismus und Aufklärung durch die Entwicklung der Naturwissenschaften und führte über ständige technische Innovation zur Industriellen Revolution, während wirtschaftliche Innovation den globalen Kapitalismus hervorbrachte. All das hat nicht nur Europa, sondern die ganze Welt radikal verändert und geprägt. Ausgestattet mit Wissenschaft und Technik, erlangte Europa seit der spanischen Entdeckung Amerikas und der portugiesischen Seefahrt nach Indien mit jedem Jahrhundert größere militärische und wirtschaftliche Dominanz, unterwarf sich nahezu die ganze Welt und machte große Teile Asiens, Amerikas und Afrikas zu Rohstoffquellen für den eigenen Wohlstand. Die Weltordnung in unseren Köpfen ist ein mehrere Jahrhunderte altes Erbe der europäischen Innovation und des europäischen Imperialismus. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden drei Viertel der Erde von Briten, Franzosen und einer Handvoll anderer europäischer Mächte beherrscht. In dieser Ordnung war unser Kontinent der Mittelpunkt der Welt.

In Buchtiteln wie Der Westen und der Rest der Welt des schottischen Historikers Niall Ferguson klingt diese Weltordnung an. Da es sich beim »Rest« immerhin um die große Mehrheit von etwa fünf Sechstel der Weltbevölkerung handelt, ist natürlich auch die Kritik an dieser Weltordnung keineswegs neu: Kritik an der Überheblichkeit der Europäer, die in dieser Sichtweise zum Ausdruck kommt, aber vor allem natürlich Kritik an den menschenverachtenden Grausamkeiten des kolonialen Zeitalters, der Ausbeutung und der Rassenideologie, eines Unrechts, das so wenig den christlichen Werten und den aus der Aufklärung hervorgegangenen Menschenrechten entsprach; Kritik an Rudyard Kiplings These von der »Bürde des weißen Mannes«, der, so der Gedanke, auch noch schwer an der Aufgabe zu tragen hat, den Menschen in den »unzivilisierten« Regionen der Welt Bildung und Anstand beizubringen. Es ist eine ahistorische, aber dennoch berechtigte Kritik. Ahistorisch ist sie, weil der Imperialismus des 19. nicht mit den Maßstäben des 21. Jahrhunderts gemessen werden kann. Die meisten Zeitgenossen des viktorianischen Zeitalters hatten nicht nur kein Schuld-, sondern sogar ein ihnen selbstverständliches Sendungsbewusstsein, das angesichts der technischen und militärischen Überlegenheit Europas zu jener Zeit zumindest erklärbar scheint. Und doch ist die Kritik berechtigt, weil die Folgen des Imperialismus für die betroffenen Völker und Länder bis heute spürbar sind und weil er mit Grausamkeiten einherging, die durch kein Sendungsbewusstsein entschuldigt werden können.

Das 19. Jahrhundert war jedoch nicht nur das Jahrhundert des Imperialismus und des Kolonialismus, sondern auch das Jahrhundert der Entstehung von Demokratie und Rechtsstaat, der Herausbildung moderner Nationalstaaten und der freien Marktwirtschaft. 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten wir, diese Errungenschaften würden sich rund um den Globus durchsetzen, wir waren sicher, dass der Siegeszug der liberalen Ordnung unaufhaltsam ist. Das war ein Irrtum. Der Gedanke, der Westen könne den Rest der Welt zwangsbeglücken, indem er den Liberalismus in alle Ecken der Welt trägt, ist realpolitisch gesehen aus vielen Gründen falsch. Weil in vielen Regionen der Welt fehlende gesellschaftliche Strukturen sich bisher nicht als tragfähig für demokratische staatliche Strukturen erwiesen haben. Weil »der Westen« unter spezifischen ökonomischen Bedingungen entstanden ist, die so in anderen Teilen der Welt nicht gegeben waren oder sind. Weil viele im »Rest der Welt« das 20. Jahrhundert anders erlebt haben als wir. Weil Europäer und Amerikaner oft nicht als Überbringer von Demokratie und Menschenrechten, sondern als Imperialisten wahrgenommen wurden. Gerade in der muslimischen Welt hat das herablassende, eigennützige und oft auch menschenverachtende Gebaren der Europäer Ende des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass die politischen Ideen der Aufklärung als »europäisch« und aufgezwungen abgelehnt wurden. Das hat schon damals viele in die Arme islamistischer Fundamentalisten getrieben.

Ich glaube aber, dass Freiheit und Menschenrechte sich trotz allem in der Welt verbreiten können. Die Werte der Aufklärung mögen historisch zwar zutiefst europäisch sein, aber sie sind zugleich auch universell, paradoxerweise weil sie höchst individuell sind, weil sich einzelne Menschen in allen Ländern nach Freiheit und Würde sehnen. Darauf wies der Historiker Heinrich August Winkler in einem Interview mit dem Deutschlandfunk hin. Er verteidigte die Praxis westlicher Politiker, autokratische Machthaber in China, Russland, Afrika oder anderswo bei Staatsbesuchen regelmäßig an die Menschenrechte zu erinnern, gegen den oft geäußerten Einwand, man würde den Chinesen, Arabern oder Russen damit europäische Werte aufzwingen, die ihrer eigenen Kultur fremd seien. Dass Menschen überall auf der Welt den Wunsch nach Freiheit hegen, belegen die Dissidenten, Demonstranten und Revolutionäre, die weltweit eingesperrt, verfolgt, oft auch gefoltert und ermordet werden. All jene geben Zeugnis davon, die in den Strafgefängnissen des russischen Gulag landeten, ihr Leben beim Massaker auf dem Tian’anmen-Platz verloren, in Ägypten, dem Sudan, Syrien und vielen anderen Orten der Welt oft in Folterkellern sitzen – meist nur deshalb, weil sie ihre Meinung geäußert oder sich journalistisch betätigt haben. Auch die Zahl der Migranten in freien Demokratien spricht eine eindeutige Sprache. Und schließlich zeigt sich in Ländern wie Japan, Ghana oder Costa Rica, dass andere Kulturen der Herausbildung von freiheitlichen Demokratien keineswegs entgegenstehen.

Freiheit ist wie Wasser

Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace war 2005 zu einer Abschlussrede an ein College eingeladen, die er mit einer kleinen Parabel begann: »Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ›Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‹ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹«7

Wallace beschreibt damit etwas, das er die »Standardeinstellung« unseres Denkens nennt. Dass jeder von uns andere Menschen und die Welt um sich herum mit sich selbst als Mittelpunkt erfährt, führe dazu, dass wir alles, was wir erleben, auch in Bezug auf uns selbst als Mittelpunkt interpretieren. Um »gut angepasst« leben zu können, müssen wir jedoch die Standardeinstellung zumindest gelegentlich korrigieren und uns auf die Perspektive der anderen einlassen. Wahre Freiheit, schreibt Wallace, »erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen …«. Und darin bestehe der eigentliche Sinn von Bildung und der Erziehung zum Denken.

Das Erstaunliche ist, dass die Rede, mit der Foster Wallace an College-Absolventen appellierte, »vernünftig und angepasst« zu handeln, zu einem Riesenerfolg wurde. Das hier ist Wasser wurde auch in Deutschland ein Bestseller, obwohl der Rat »Sei vernünftig« kaum trivialer sein könnte. Aber er ist eben auch sehr viel wert in einer Gesellschaft, deren öffentliches Bewusstsein von politischer Erregtheit, hitzigen Diskursen und medialer Hysterie geprägt ist.

Das Selbstverständliche ist das, was wir nicht sehen, aber ohne das wir nicht leben können. Das Wasser um uns herum, die Luft, die wir atmen. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Luft um uns herum dünner wird. Die Welt verändert sich, und von allen Seiten bedrängen uns gesellschaftliche Herausforderungen: Digitalisierung, Migration, Klima, Wirtschaft, Religion, Nation, Europa. Ständig sind wir gezwungen, unsere Regeln infrage zu stellen und immer wieder neu zu überdenken. Sich anzupassen bedeutet in diesem Kontext nicht, unkritisch zu sein. Es bedeutet, auf Herausforderungen zu reagieren, ohne dabei den Blick für das Wesentliche zu verlieren. Wenn es um gesellschaftliche Veränderungsprozesse geht, müssen wir fast immer auch die Grenzen der Freiheit neu ausmessen. Sollen wir die Meinungsfreiheit beschränken, weil soziale Netzwerke wie Facebook einer Flut von Hass und Gewalt die Schleusen geöffnet haben? Wie schützen wir das Recht auf Privatsphäre angesichts der Platform Economy, die es Firmen in Kalifornien ermöglicht, mit den Daten von Milliarden von Nutzern auf der ganzen Welt astronomische Gewinne zu erzielen? Darf man mit Blick auf Klimawandel und Umweltzerstörung noch Fleisch essen? In den Urlaub fliegen? Sich ungesund ernähren? Freiheit beinhaltet immer auch die Freiheit, unvernünftig zu sein, sich selbst sogar zu schaden. Aber wie sieht es mit Verantwortungslosigkeit aus? Ist die auch ein Teil unserer Freiheit? Und wenn nicht, wo endet die Unvernunft und wo beginnt die Verantwortungslosigkeit? Wer meint, darauf feststehende, geradezu ewige Antworten zu haben, verkennt, dass diese Grenzziehung niemals abgeschlossen sein kann. Sie wird in jeder offenen Gesellschaft in jedem neuen Jahrzehnt anhand immer neuer Themen immer wieder aufs Neue ausverhandelt. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, mit welcher Inbrunst in den späten Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts über die Gurtpflicht im Auto gestritten wurde. Für manche war sie ein tiefer Eingriff in die Freiheit (eben die, sich eventuell selbst zu schaden), für andere, am Ende die Mehrheit, war die Verantwortung entscheidend, unsere Ärzte nicht mit der Rettung schwer verletzter Unfallopfer zu beschäftigen, die durch diese vergleichsweise einfache Maßnahme nur ein paar Schrammen gehabt hätten, von den Kosten für das Gesundheitswesen ganz zu schweigen.

Häufig reagieren wir auf Veränderungsdruck mit Überforderung und auf Überforderung mit dem Wunsch nach Klarheit. Freiheit ist aber das Gegenteil von Klarheit, sie ist das Offene, Ungewisse. Das ist anstrengend und erklärt beispielsweise den zunächst irritierenden Effekt, dass die Beliebtheitswerte von manchen konservativen Politikern plötzlich in die Höhe schossen, als sie während der Pandemie klare Ansagen machten. Es erklärt, warum manche Aktivisten von Extinction Rebellion sich eine Ökodiktatur wünschen und Mitglieder der Linkspartei noch immer vom Sozialismus träumen. Es ist wichtig, wieder an das scheinbar Selbstverständliche zu erinnern. Wir sehen das Wasser nicht, aber es ginge uns sehr schlecht, wäre es nicht da. Wahre Freiheit ist anstrengend, denn sie ist nicht nur ein Privileg, sondern auch eine Herausforderung, der wir nicht immer gewachsen sind. Angesichts von Krisen und Ängsten fordert Freiheit die Fähigkeit, sie wertzuschätzen. Und wenn man genau hinschaut, wenn man sich daran erinnert, woher unsere freiheitliche Lebensweise kommt und wie hart sie erkämpft wurde – dann wird schnell deutlich, wie wenig selbstverständlich sie in Wirklichkeit ist.