Christoph Güsken

Kalter Hund

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

Impressum neobooks

1




Seit jeher gilt der Hund als bester Freund des Men­schen. Darauf kann er sich etwas einbilden. Men­schen haben nämlich alle möglichen Sorten Freunde - alte Freunde, Busenfreunde, Freunde der Familie, Freun­de des Hauses, Studienfreunde, verflossene Freunde, Sportsfreunde - sogar Ge­schäftsfreunde. Aber meistens ist da nur einer, den sie ihren besten Freund nennen.

Was um alles in der Welt hat ausgerechnet dem Wauwau den ersten Platz eingebracht? Die Antwort lautet: vie­lerlei, das seinem Freund und Ge­bieter von Nutzen sein kann. Zum Beispiel sein nervenzerrüttendes Gekläff, das dem angeblich besten Freund auch dann noch den Schlaf raubt, nachdem alle Nachbarn längst umge­zogen sind oder Selbstmord be­gangen haben. Oder die knuffige Angewohnheit, über seines besten Freun­des Ge­sicht mit derselben Zunge zu schlecken, die er gerade zur Reinigung von Hintern und Geschlechtsorgan benutzt hat. Nicht zu vergessen die be­wundernswerte Virtuosi­tät, mit der er seine Speichelfäden lassogleich durch die Luft zu schleudern vermag – die Liste ist lang …




Als ich diese Zeilen in einem Artikel las, abgedruckt in der renommierten Zeitschrift Nature Today, war ich eher amüsiert als beunruhigt. Na gut, ein wenig Ge­kränktsein war schon dabei. Sprach man etwa so über einen alten Weggefährten? Keine Frage, in einer offenen Beziehung muss es erlaubt sein, auch peinliche Dinge zur Sprache zu bringen, doch war es eine Art, sich öf­fentlich über Schwächen wie Haarausfall oder über­durchschnittliche Speichelproduktion auszulas­sen? War ein solcher Artikel etwa der Ort, seinem Ekel Ausdruck zu verleihen über unsere Angewohnheit, Nahrung zu erbrechen und gleich darauf wieder zu verzehren? Es zeugte von schlech­tem Stil, trotzdem scherte ich mich nicht sonderlich darum. Menschen schreiben so etwas an einem Tag, am nächsten haben sie es schon wie­der vergessen, es sei denn, es wird im Fernsehen wie­derholt. Sie nennen das freie Presse.

„Nein, ich schwöre dir, da steckt mehr dahinter“, mahnte Salomon. „Das ist eine gut organisierte Kampa­gne. Die wollen uns kleinkriegen.“

Salomon ist ein alter Freund von mir. Er bildet sich etwas darauf ein, eine Nase für Skandale und Verschwö­rungen zu besitzen. Was soll ich sagen? Hunde und ihre Nasen, das ist ein spezielles Kapitel.

„Früher waren es die Russen, dann ein Loch im Ozon, und jetzt wir“, be­harrte er. „Die Sapienze brauchen im­mer was, wovor sie sich fürchten.“

Sapienze, so nennt Salomon die Menschen. Von ihnen hat er auch seinen eigenen Namen, so wie die meisten von uns. Unter seinen Artgenossen nennt man Salomon oft ‚den Weisen’ und behandelt ihn mit Respekt, dabei gibt es dazu nun wirklich keinen Anlass. Seine früheren Besitzer be­trieben eine Lachszucht und der korrekte Name lautet nicht Salomon, sondern Salmon. Aber so sind wir eben: Für uns macht das keinen Unterschied.

„Denk an meine Worte“, sagte Salomon. „Die wollen uns fertig ma­chen.“

Ich hatte aber keine Lust, an seine Worte zu denken, denn schließlich war ich derjenige, der als Menschen­kenner galt, nicht er. „Was regst du dich auf?“, gab ich zurück. „Kein Mensch liest so etwas. Zweibeiner wi­ckeln Fisch darin ein. Der einzige, der es sich zu Her­zen nimmt, bist du.“

An diesem Abend hatte ich mich mit Salomon im De Vito’s getroffen, dem berühmten Feinschmeckerrestaura­nt. Wie immer hingen wir im Hinter­hof des Lokals ab, der sich zum Stadtpark hin öffnete. Das De Vito’s ist ein schöner Ort, um seinen Feierabend zu verbringen, besonders im Sommer. Es gibt Müll in Hülle und Fülle, und die Menschen lassen einen in Ruhe. Sie sitzen auf der anderen Seite des Hauses im Restau­rant und genießen die Aus­sicht auf den See.

„Genau das hat Kaminski auch immer gesagt“, beharrte Salomon. „Men­schen reden heute dies und morgen das. Drauf geschissen.“

„Na, siehst du, was habe ich dir gesagt.”

„Aber jetzt redet er anders. Die Sache stinkt gewal­tig, meint er. Und eins kann ich dir sagen: Der weiß, wovon er spricht, er hat schließlich studiert.

„Kaminski? Wer ist das überhaupt?“

„Ein Beagle. Außerdem mein Lieblingsneffe. Ich hab euch doch neulich erst bekannt gemacht.”

„Ein Beagle namens Kaminski“, wiederholte ich amü­siert. Es war allge­mein bekannt, dass Beagles sich gern wichtig machten. „Und was weiß er so?”

„Zum Beispiel, dass es einen geheimen Plan gibt, den die Menschen Ope­ration Kalter Hund nennen. Oder so ähn­lich.“

„Noch nie davon gehört.”

„Klar, dass du nie davon gehört hast. Sonst wär er ja wohl auch nicht ge­heim.”

„Was hat er denn damit gemeint?“

„Er doch nicht! Kaminski hat nur davon gehört. Es geht um Hundefutter, vermutet er.“

„Hundefutter, das hört sich ja wirklich bedrohlich an!“ Mir wurde es langsam zu bunt. „Wie wollen die uns denn mit Hundefutter klein kriegen?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Mit gieriger Zunge schleckte Sa­lomon sein Bier. „Aber wenn alles harmlos ist, kannst du mir dann mal ver­raten, wieso dieser Plan so geheim ist?”

Für meine Begriffe trank er zuviel. Ich wollte ja nichts sagen, aber es schien mir kein Wunder zu sein, dass man überall Intrigen witterte, wenn man ständig einen in der Krone hatte.

„Okay“, meinte ich. „Dann reden wir doch einfach mit Kaminski.“

„Tja, gute Idee, aber das geht leider nicht.“

„Wieso nicht?“

„Vor drei Tagen ist er verschwunden. Wir hatten uns hier verabredet. Ka­minski wollte mir brisantes Material übergeben. Er dachte, ich wäre noch bei der Presse und deswegen …”

„Du, bei der Presse?”, wieherte ich amüsiert.

„Ich hab's ihm mal erzählt, um anzugeben. Und er hat es mir abgekauft.” Salomon musste aufstoßen. „Aber dann ist er einfach nicht gekommen. Kei­ne Ahnung, wo der Kerl steckt. Kalypso macht mir die Hölle heiß.”

„Wer ist das jetzt wieder?”

„Seine Freundin. Sie macht sich Sorgen. Und ich hab ihr gesagt, ich kenne einen Profi, der sich daraum kümmern kann.“

Ich gab der Kellnerin, einer rassigen Dalmatinerin, ein Zeichen, dass ich noch ein Bier haben wollte. „Na, dann ist ja alles so weit geklärt.“

„Gar nichts ist geklärt. Diese Sache geht uns alle an! Jeden einzelnen von uns.“ Salomon rülpste. „Davon abgesehen bist du Dektektiv.“

Das stimmte. Mein Name ist Baskerville, ich bin Pri­vatschnüffler. Und zwar ein echter, nicht das, was die Men­schen, die von Schnüffeln soviel Ah­nung haben wie Flusskrebse von Differenzialrechnung, darunter verstehen. Im Ge­gensatz zu dem alten Trunkenbold verfüge ich über ein professionell ge­schultes Riechorgan, und es gibt wohl kein Unheil, das hereinbricht, ohne dass ich schon vor­her davon Wind bekommen habe.

Was diesen Kaminski anging, so roch ich gar nichts.

Die Dalmatinerin brachte mein Bier.

„Kurz gesagt, ich hätte einen Auftrag für dich“, meinte Salomon.

„Einen Auftrag?“

„Du sollst Kaminski finden.“

„Wie stellst du dir das vor? Ich kenne den Kerl ja nicht mal.“

Salomon verzog seine Lefzen zu einem schiefen Grin­sen. „Suchen Pri­vatschnüffler etwa nur Leute, die sie kennen?“

Das nicht, aber trotzdem: Die Sache war mir zu win­dig. Ein Trunken­bold, der von einem zur Aufschneiderei neigenden Kumpel versetzt worden war, glaubte an ein Verbrechen, weil er mit seiner notorischen, durch Alko­hol verstärkten Paranoia nicht anders konnte. Ich wim­melte Salomon ab, in­dem ich versprach, mir die Sache mal durch den Kopf gehen zu lassen. Am Wochenende wür­den wir uns hier, an der gleichen Stelle, noch mal treffen. Und dann würden wir sehen.



***



Salomon kam aber nicht.

Die Dalmatinerin brachte mir ein Bier und eine Nach­richt von Salomon. Er lasse ausrichten, alles sei in Ordnung: Kaminski befände sich wahr­scheinlich im Ur­laub, allerdings under-cover. Näheres würde er mir mor­gen Abend erzählen. Dafür hätte ich dann ein Bier bei ihm gut.

Ein Bier, das war ein Wort. Am nächsten Abend saß ich wieder im De Vito’s. Wer aber nicht kam, war Salomon. Was hatte er mit under-cover ge­meint? Und was sollte das mit dem Urlaub?

Die Sache war schon etwas seltsam, das musste ich zu­geben.

Wäre ich ein Zweibeiner gewesen, hätte ich die Ange­legenheit nicht auf die lange Bank ge­scho­ben. Menschen packen Dinge an, lassen nie etwas auf sich beruhen und gehen deshalb meist als Erste durchs Ziel. Allerdings auch dann, wenn man fragt, wer die mit Abstand höchste Herzinfarktrate aller Le­bewesen auf diesem Planeten aufzuweisen hat.

Hunde ver­hal­ten sich wesentlich philosophischer. Fäl­le, die ihnen spa­nisch vorkommen, überstürzen sie nicht, denn unnötige Eile bringt einem im ungünstigen Fall nur Ärger ein. Und wer mag schon Ärger?

In den nächsten Tagen dachte ich nicht mehr an Salo­mon. Wer wusste schon, weshalb er mich versetzt hatte? Cockerspaniels waren bekanntlich für ihre wechselnden Stim­mun­gen berüchtigt. Ich verbrachte meine Zeit da­mit, zu Hause zu schlafen, abends hin und wie­der auszugehen und ansonsten fernzusehen.

Das Haus gehörte praktisch mir, denn mein Frau­chen bekam ich nie zu Gesicht. Sie war Flugbegleiterin und immer auf Reisen. Mit der Lieferung meines Mittag- und Abendessen hatte sie ihre Nachbarin Penelope beauf­tragt. Es war kein spannendes Leben, das ich lebte, aber auch alles andere als das, was man im Allgemeinen als Hundeleben bezeichnet. Es war eher ein kleinbürger­lich-spießiges Idyll.

Eines Abends jedoch, als ich lustlos durch die TV-Kanäle zappte, kam mir der alte Trunkenbold wieder in den Sinn. Ein gewisser Dr. Kronenberg, international anerkannter Professor für Kynologie an der weltberühm­ten Har­vard University, widmete unserer Spezies eine eigene Sendung im Abendprogramm.

Wir Hunde, so behauptete er, seien die eigentlichen Gewinner der Evolu­tion. Nicht der Mensch, dem über kurz oder lang kaum mehr bleiben werde als die fromme Illu­sion, Krone der Schöpfung zu sein. Für uns nämlich sei der Homo Sapiens nichts weiter als ein dienstbares We­sen, das uns das Le­ben erleichtere, indem es nicht nur für unser leibliches Wohl sorge, sondern auch für Un­terhaltung, Gesundheit und den täglichen Spaziergang. Ein nütz­licher Idiot, der sich unbegreif­licher­wie­se für die überlegene Spezies halte und geschmeichelt fühle, wenn man ihm auf der Tasche liege.

„Vor etwa zwanzigtausend Jahren“, erklärte Kronenberg und drehte einen Hundeschädel in der Hand, der als Stu­diodekoration herhalten musste, „hat die Domestikation des Menschen begonnen. Der Wolf fand es prakti­scher, sich in der Nähe des Zweibeiners herumzudrücken und dessen Müll zu fressen, statt tagelang Ren­tiere zu hetzen und das auch noch meist vergeblich. Er bekam von des Menschen Beute ab und schlief an dessen warmen Feuer. Ein Hauch von dolce far niente, doch das reichte ihm nicht. Über die Jahrtau­sende gelang es ihm allmählich, den Lebensrhythmus sei­nes angeblichen Herrchens perfekt den eigenen Bedürf­nissen anzupassen: Er bestimmte den Zeitpunkt, wann sein Mensch morgens aufstand, das Urlaubsziel, das er wählte, wen er zum Abendessen einlud, wohin er ausging und mit wem, wie er seine Wohnung einrichtete, ja, selbst wann und mit wem er ins Bett ging.“ Kronenberg legte den Schädel weg, machte ein paar Schritte, bis hinter ihm das Foto eines blutigen Wolfsgebisses in Nahaufnahme auftauchte. „Dabei achtete er tunlichst darauf, seine Führrungsrolle nicht an die große Glocke zu hängen“, grinste der Professor spitzbübisch. „Spiel­te immer das ergebene Haustier, das brav mit dem Schwanz wedelt und niemals aufmuckt. Womit er beachtli­chen Erfolg hatte: Während der wildlebende Wolf welt­weit nur noch jämmerliche 100 000 Exemplare zählt, be­völkern heutzutage an die dreihundert Millionen Köter den Erdball, Tendenz steigend. Allein ihre täglichen Exkremente würden, aneinandergereiht, eine Kotschlange ergeben, die von Hamburg bis nach Istanbul reicht, oder einen Berg, der den Kahlen Asten um einige hundert Me­ter überragt.“

Es sei nur eine Frage der Zeit, so Kronenberg, bis sich das Verhältnis Mensch-Hund seines schönen Scheins entledige. Bis der sabbernde Vierbei­ner darauf verzich­te, mit devotem Hecheln neben seinem angeblichen Ge­bieter herzutraben und ihn mit hochgezogenen Lefzen anzu­grinsen.

Der Professor war sehr überzeugend. Als der Abspann über den Bild­schirm flimmerte, empfand ich mich selbst als Bedrohung und schämte mich für den Kotberg, den ich mitverursachte, auch wenn er nur als Re­chenexempel existierte. Eins stand fest: Wenn überhaupt irgendetwas diesen Planeten bedrohte, dann waren es keine Kometen, die auf die Erde zurasten, keine abschmelzenden Polkap­pen, sondern eine schleichende und von der Öffentlich­keit unbemerkte Canidisierung der Welt. In dieser Über­zeugung döste ich ein.




2



Abends, so gegen zehn, schreckte ich aus dem Halb­schlaf auf. Ich hatte von Salomon, dem Bedauernswerten, geträumt. Von den schrecklichen Din­gen, die seiner An­sicht nach auf die Hundewelt zukamen, weil andere schreckliche Dinge, Kronenbergs Ansicht nach, auf die Menschen zukamen. Der alte Cockerspaniel hatte mir leid getan. Eine gescheiterte Existenz, das war er. Von sei­nem Herrchen ausgesetzt, zum Dasein als räudiger Straßenhund verdammt, der schließlich ins Tierheim einge­liefert wurde, aus dem er später ausbrach, um anschlie­ßend Jahre in Obdachlosigkeit zuzubringen. Salomon brauchte diese Horrormärchen, um Aufmerksamkeit zu er­langen. Und ich, der biedere Haushund, der vor vollen Futternäpfen döste, war ihm beinahe auf den Leim gegan­gen.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür öffnete sich. Penelope Pütz, eine Blondine mit unangenehm hoher Stimme, brachte das Abendessen. „Baskerville, mein Sü­ßer!“, schrillte sie wie eine Türglocke. „Wo steckst du denn? Hier ist dein Fresschen. Außerdem gibt es wichti­ge Neuigkeiten!“

In ihrem Schlepptau betrat Apollo, ein hochnäsiger Pekinese mit parfü­miertem Fell, die Wohnung. Apollo mischte sich in alles und jedes ein, das ihn nicht das Geringste anging.

„Hi, Superschnüffler“, quatschte er mich an. „Wie geht’s denn so?“

Ich ignorierte ihn. Mit Sofakissen rede ich grund­sätzlich nicht.

„Gestern, als du nicht da warst, stand ein Besucher für dich vor der Tür.“

„Wie kommst du bloß darauf, dass er zu mir wollte?“

Der Designerhund grunzte abfällig. „Ein abgetakelter Cockerspaniel mit einer kilometerlangen Alkoholfahne. Wen sollte der wohl besuchen wollen? Faselte irgendwas vom Grünapfel-Hundeinternat.“ Apollo zog sein gepuder­tes Näschen hoch. „Er wohnt doch nicht etwa in dieser Absteige?“

„Das ist ein Internat und keine Absteige.“

„Es nennt sich nur so. In Wirklichkeit ist es ein ab­getakeltes Hundeasyl.“ Der Pekinese zog eine abfällige Grimasse, was sein verdrücktes Gesicht noch hässlicher aussehen ließ. „Und ich sage dir eins: Sei ein wenig netter zu mir, lieber Freund, sonst ergeht es dir nicht anders als diesem bedauerns­werten Cocker.“

Um ihm klarzumachen, was ich von seiner Freundschaft hielt, schnappte ich nach ihm, aber der Pekinese hatte genau diese Reaktion erwartet und suchte mit einem Auf­schrei Schutz bei seinem Frauchen.

„Wirst du wohl brav sein!“, tadelte mich Penelope mit ihrer unangenehm schrillen Stimme, dass es mir in den Ohren klingelte. Dann informierte sie mich, dass mein Frauchen sich auf einer ihrer Reisen Hals über Kopf ver­liebt habe und zu ihrem Angebeteten nach Spanien ziehen würde. Das Haus, auf das ich aufpasste, würde verkauft werden. Und mich hatte sie ihrer Nach­barin ge­schenkt.

„Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, trötete sie und zwinkerte Apollo spitzbübisch zu.

Apollo kam aus seinem Versteck und zwinkerte mir zu. „Sie hat verges­sen zu erwähnen, dass es wegen einer Katze ist.“

„Wegen einer Katze“, erkundigte ich mich. „Was denn?“

„Der neue Lover hat eine Katze. Die hat auf Ausstel­lungen schon Preise abgeräumt. Da hattest du keine Chance.“ Er grinste. „Das wollte sie dir nicht sagen, um dich nicht zu verletzen, verstehst du?“

Jetzt erst dämmerte mir, dass sich das Blatt gewendet hatte. Es ist ganz selten, dass sich ein Blatt so plötzlich und unerwartet wendet, doch in die­sem Fall war es passiert. Eben noch hatte ich gemütlich fernge­sehen und über Salomons Verschwörungstheorien geschmun­zelt, und auf einmal war ich vogelfrei, einem menschli­chen Monstrum ausgeliefert, dessen gellende Stimme je­den das Fürchten lehrte, der über ein Gehör verfügte. Kim, die Flugbegleiterin, hatte sich neu verliebt, da war ich überflüssig geworden und passte nicht mehr in ihre Lebensplanung. Also hatte sie mich ver­schenkt. In solchen Dingen sind Menschen sehr pragmatisch.

„Sie hätte dich lieber verkauft, weißt du“, raunte mir Apollo zu. „Aber du bist eine Promenadenmischung. Die kann man nur verschenken.“

Eins stand fest: Wenn der Pekinese den nächsten Tag überleben sollte, musste einer von uns weg hier.



***



In der Schule hat man uns beigebracht, dass die Men­schen viel mit uns gemeinsam haben. Wie wir leben sie in Gruppen, halten große Stücke auf die Familie und sind wohltätige, soziale Wesen. Mag sein, dass die Men­schen das tun, aber wie steht’s denn mit uns? Wir leben zwar in Gruppen, aber das heißt noch lange nicht, dass wir wohltätig sind. Im Gegenteil: Vol­ler Schadenfreude weiden wir uns am Unglück des anderen. Dass einer mei­ner besten Freunde in einem Asyl gestrandet war, hatte sich wie eine wohli­ge, warme Decke um mein Selbstgefühl gewickelt. Wie oft hatte ich Salo­mon, den armen Tropf, bedauert und mich gleichzeitig über seine Vergess­lichkeit und die Angewohnheit, alles fünfmal zu erzählen, amüsiert? Gut, dass es den Säufer gab und noch besser, dass ich nicht so war wie er – das hatte mich immer aufgerichtet, wenn ich einen tristen Fernsehabend hin­ter mir hatte.

Jetzt war ich selbst ohne Obdach, ein Straßenköter, schutzlos der Willkür des zwei- und vierbeinigen Pöbels ausgeliefert. Es geschah mir recht so.

Noch in der gleichen Nacht kehrte ich meinem neuen Zuhause, das die­sen Namen nicht verdiente, den Rücken. Trottete einsam in die Nacht hin­aus, überquerte eine vierspurige Straße und durchstreifte die Grünanlage. Beim De Vito’s wurden gerade die letzten Gäste verab­schiedet, der Mond stand hoch über dem See und bei den Tretbooten prügelten sich zwei Kat­zen. Für mich, den Heimatlosen, Bilder einer versunkenen Idylle. Wehmütige Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Ich streif­te ziellos umher, ließ mich von einem Menschen als verdammter Mistköter beschimpfen und mit einer Bierflasche bewerfen, nur weil ich gegen sein Fahrrad uriniert hatte. Sollte er doch, mir war es egal. Mein Leben zählte keinen Penny mehr und kein Hahn auf der Welt krähte danach, wie es mir erging. Es hat seine Vorteile, ein einsamer Wolf zu sein, redete ich mir ein. Wenn du nichts hast, dann hast du auch nichts mehr zu verlieren. Es tat gut, sich das klarzumachen. Man bekam eine Vorstellung davon, was Freiheit bedeutete. Der Groll gegen die ganze Welt und die Gewissheit er­littenen Unrechts gaben mir außerdem ein warmes, schmollendes Gefühl. Erst gegen Morgen klang es ab, als es anfing zu nieseln. Es war genau das Wetter, in das man keinen Hund hinausjagen sollte. Und dennoch hatte man es getan, indem man mir mein Heim genommen hatte. Der Regen wurde stärker und das Gefühl erlittenen Un­rechts wärmte schon lange nicht mehr.

Noch bevor es hell wurde, kratzte ich, Einlass begeh­rend, an der Zwin­gertür des Grünapfel-Internats.




3



Ich hatte Glück im Unglück: Was der parfümierte Pekinese als Ab­steige bezeichnet hatte, erwies sich als besser als sein Ruf. Das Grünap­fel-Hun­de­internat war alles andere als eine Bleibe für gestrandete Existen­zen. Viel eher eine Zuflucht für Vierbeiner aus aller Welt. Für Haustiere, die man bei Regenwetter hinausge­jagt, grausam verstoßen oder - wie in mei­nem Fall - kur­zerhand an die Nachbarin verschenkt hatte.

Gesine Grünapfel – von den Asylbewohnern liebevoll Filzpantoffel genannt, weil sie eine Vorliebe für dieses Schuhwerk hatte - war ein Mensch von der Sorte Hundenarr. Tieraktivistin und Mutter von zwei Kindern, die inzwischen im Ausland studierten. Ihr Mann Frederic hatte bei Greenpeace mit Schlauchbooten Supertanker ge­rammt und im Kampf gegen das Ab­schlachten der Buckelwa­le sein Leben gelassen. Gesine hatte sich seitdem den Haustieren gewidmet. In freier Wildbahn lebende Tiere, fand sie, hatten ihre Lobby. Bengalische Tiger, Strei­fenhörnchen, Seekühe und rote Wald­ameisen. Aber Haus­tiere hatten keine Lobby. Meerschweinchen zum Bei­spiel, Hamster, Katzen und Kaninchen. Das waren Lebewesen ohne Rechte. Und Hunde vor allem. Eltern kauften sie ihren Kindern zu Weihnachten, lie­ßen sie aufwendig als Ge­schenk verpacken und drei Fünftel aller Hunde, so hatte sie recherchiert, kamen allein schon im nachweihnacht­lichen Um­tauschgeschäft abhanden. Landeten auf den Ti­schen der Versuchslabore. Endeten auf Autobahnraststät­ten, angebunden neben der Herrentoilette. Hundeleben, die schmachvoll endeten.

Frau Grünapfel hatte sich der Geschöpfe angenommen, die tropfnass und mit verlaustem Fell draußen auf der Terrasse gestanden und vor Kälte gezit­tert hatten. Sie hatte ihre Hundeschule zu einem Internat umfunktioniert und sich zur Aufgabe gemacht, ihren Schützlingen nicht nur eine Allgemeinbil­dung, sondern auch eine faire Chance im Leben zu ermöglichen. Also hatte sie Zwinger gebaut, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben. Und schon ein halbes Jahr später hatte sie weitere. größere Zwinger bauen müssen.

Mir gab sie einen Schlafplatz neben einer fetten Bulldogge, die mit ihrem Schnarchen die Gitterstäbe zum Klingeln brachte. Die Nächte waren kurz, und das süße Nichtstun, die TV-Serien und Berge von Leckerlies ge­hörten der Vergangenheit an: Morgens um sechs riss uns der Wecker aus dem Schlaf, wir schlangen unser Früh­stück hinunter und tobten anschließend auf der Wiese. Ab halb acht war Unterricht angesagt.

Salomon war schon seit Tagen verschwunden. Niemand hatte seitdem mehr etwas von ihm gehört. Die Hunde ver­missten ihn und seine allabendli­chen Geschichten von den finsteren Machenschaften der Zweibeiner.

„Für ihn waren das nicht nur Geschichten“, klärte ich sie auf. „Salomon hielt sie für die Wirklichkeit.“

„Ausgeschlossen“, grunzte mein Schlafnachbar, der Schnarchsack. „Der Alte war schließlich nicht total verblödet.“

„Ich fürchte, genau das war er“,sagte ich. „So gern ich den alten Schwät­zer mochte.“

„Du irrst dich”, widersprach Lassie, eine fünfzehnjäh­rige Retrieverhün­din, die etwas Besserwisserisches hat­te. „Und soll ich dir sagen, woher ich das weiß? Wenn wir hier gebüffelt haben - lesen und schreiben und so wei­ter - dann war er nie dabei. Zuerst habe ich mir ge­dacht: Wer den Hintern nicht hochkriegt, ist selbst schuld, dass er dumm bleibt. Aber dann wurde mir klar, wieso er nie mitgemacht hat: Weil er's schon konnte.”

„Nie im Leben”, sagte ich. Offenbar meinten wir nicht denselben Salo­mon. „Wenn er auch nur einen Buchstaben von einem Vogelschiss unter­scheiden konnte, dann bin ich der Kaiser von Russland.”

„Es heißt Kaiser von China”, verbesserte mich die Re­trieverin spitzmäu­lig. „In Russland regierte der Zar.”

„Trotzdem”, sagte ich. „Woher willst du denn wissen, dass er lesen kann?”

„Er hat sich was zum Lesen mitgebracht.”

Da ich ihr nicht glauben wollte, führte sie mich zu Salomons Schlafplatz. „Sagt dir der Name Kaminski ir­gendwas?”, erkundigte ich mich. „Oder hat er ihn viel­leicht mal erwähnt?”

„Es heißt Kandinski”, verbesserte Lassie. „Wassily Kandinski, expressio­nistischer Maler und Wegbereiter der abstrakten Kunst. Natürlich sagt mir der Name et­was.”

Da zeigte sich mal wieder, dass übersteigerte Allge­meinbildung eine ziel­gerichtete Ermittlung geradezu be­hindern konnte. Lassie zog Salomons muffige Schlafdecke zur Seite und förderte einen Papierumschlag zutage. „Da ist ein Reiseführer drin”, sagte sie. „Offenbar hat sich Salomon mit fremden Kulturen beschäftigt.”

„Hast du ihm etwa nachspioniert?”

„Keine Spur!”, schnappte sie gekänkt ein. „Ganz zu­fällig bin ich darauf gestoßen, als ich hier ein klei­nes Nickerchen machen wollte.”

Ich schüttelte ein Hochglanzheft aus dem Papierum­schlag. Es handelte sich um einen bunten Prospekt. Von wegen Reiseführer! Bei aller Klug­scheißerei war es mit Lassies Lesekünsten wohl nicht besonders weit her. It's a dogs world, stand da in fetten, knallroten Buchsta­ben. Für die Verwe­genen, denen Gassigehen allein nicht genug ist …

„Es ist kein Reiseführer.”

„Woher willst du das wissen?”

„Ich war auf einer Schule für Polizeihunde. Da ist Lesen Pflichtfach. Au­ßerdem bin ich Privatdetektiv”, protzte ich. „Da musst du so etwas drauf ha­ben.”

Endlich war sie still, und ich konnte mir das Heft genauer ansehen. Es wimmelte von Fotos, auf denen schillernde Metropolen der Welt wie Paris, Berlin, New York und Peking abgebildet waren, andere zeigten Sehenswürd­igkeiten wie den Grand Canyon, den Petersdom und die Pyramiden von Gizeh. Dazwischen große weiße Kreuzfahrtschiffe, ausgestattet mit allen er­denklichen Annehmlichkeiten: ein Sonnendeck mit Tausenden von Lieges­tühlen, alle säuberlich aufgereiht, ein blauer Pool, auf dessen blitzblankem Wasser das Sonnenlicht tanzte, Longdrinks in allen Farben, serviert von breit lächeln­den weiß livrierten Stewards, blutjunge Hundefrauen im verfüh­rerischen Outfit. Ein Paradies. Ferien vom Mensch!, schwärmte der Pro­spekt. Du bist es dir wert.

„Vielleicht ist er ja gar nicht verschwunden, sondern macht eine Weltrei­se”, vermutete Lassie.

„Möglich”, sagte ich, wenig überzeugt. Dass ein al­ter, versoffener Köter wie Salomon sich eine Luxus­kreuzfahrt leisten konnte, war genauso un­wahrscheinlich wie die Annahme, dass er auch nur ein Wort von dem, was da stand, entziffern konnte. Also musste man davon aus­gehen, dass es sich hier um das handelte, was er als 'brisantes Material' bezeichnet hatte, das ihm Kaminski angeblich hatte anvertrauen wollen. Nur, was war an ei­nem Reiseprospekt brisant? Um das zu erfahren, musste ich den Kerl erst mal auftreiben.

„Vielleicht ist er ja bei Google untergekrochen, wer weiß?“, vermutete die Bulldogge, die den Schlaf­platz neben mir hatte.

„Google?“

„Ein Freak, der draußen am See wohnt. Leben in Frei­heit und so weiter.“ Der krummbeinige Hund rümpfte sei­ne fette Nase. „Einer von diesen linken Spinnern, ziem­lich verbohrt, wenn du mich fragst.“

Wäre ich ein Zweibeiner gewesen, hätte ich die Sache nicht auf die lange Bank geschoben. Schon am nächsten Tag hätte ich diesen Google aufge­sucht und mich nach dem Verbleib des Trunkenbolds erkundigt. Aber ich fühl­te mich gar nicht so schlecht im Grünapfel-Internat. Einmal abgesehen vom umfangreichen Unterrichtsprogramm: Wir bekamen Nachhilfe in All­gemeinbildung und Fremd­sprachen, darunter sogar mensch. Abends hockten wir vor dem Fernsehen und sahen De Vito TV. Da gab es nicht nur inter­essante Beiträge über die richtige Hundeernährung und Tipps zur Stuben­reinheit, sondern auch spannende Serien über heldenhafte Bernhardi­ner, die im Ret­tungseinsatz für Menschen ihr Leben ließen, und Lanze­lot, den Höllenhund, der es mit seiner tapferen Schar Straßenhunde mit einer Bande skrupelloser Hundefänger aufnahm. Hin und wieder wandte sich De Vito selbst an uns, ein kleiner, dicklicher Mensch mit roten Bäckchen und breitem Grinsen. Er erklärte uns, dass auch der Hund Rechte habe, aber um sie wahrzunehmen, müsse er unbedingt erst einmal begreifen, was das Wort ‚Rechte’ überhaupt bedeute und dass deshalb Bildung wichtiger als alles an­dere sei, sogar wichtiger als Fressen und Sex.

Wieder so ein Mensch, der meinte, uns Hunden sagen zu können, was ab­ging. Für Menschen - das war ja offenkundig - mochte es viele Dinge geben, die ihnen wichtiger waren als Fressen und Sex. Und darunter auch eine Menge, die vor Bil­dung kamen. Für uns sah die Sache aber völlig anders aus und wir hatten es auch nicht nötig, uns von einem dickli­chen Chef eines Privatsenders, der an Bluthochdruck litt, die Welt erklären zu lassen.

Trotzdem hockten die meis­ten Internatsbewohner mit offenem Maul vor der Glotze, beschränkte Ge­müter, die sie waren, begriffen sie nicht, dass auch De Vito einer von denen war, die sich im Zweifelsfall immer als unser 'Herrchen' aufspielten. Ich hatte keine Lust mehr, mir den Schwachsinn anzusehen, und spielte mit dem Gedanken, mir eine neue Bleibe zu suchen. Aber dann tat ich es doch nicht.

Seit Jahren hatte ich nämlich nicht mehr so viel Bewegung ge­habt und so viele Dinge in so kurzer Zeit gelernt. Warum also nicht noch ein oder zwei Tage blei­ben und zuse­hen, wie sich die Sache entwickelte? Oder ein oder zwei Wo­chen? Warum die Sache überstürzen?

Und dann kam die Nacht, die alles veränderte.




4



Es war gegen dreiundzwanzig Uhr, und auch den anderen Internatshunden schien klar zu sein, dass der Abend nicht so war wie die anderen davor. Etwas Ungutes lag in der Luft, man konnte nicht sagen, was es war. An­fangs versuchte ich es zu ignorieren, aber aus Erfah­rung wusste ich nur zu gut, dass mich meine Nase nie­mals trog. Nicht, wenn es um Unannehmlichkeiten ging, und genau nach diesen roch es. Es fragte sich nur noch, für wen dieser Abend unannehmlich werden würde.

Wir waren zwölf Hunde in unserem Zwinger. Lassie bemerkte als ers­te, dass die Tür nicht verriegelt war. „Wenn die Tür offen ist, können wir doch nach draußen“, meinte sie.

Viele waren skeptisch. Nach dem Abendessen noch nach draußen, das er­laubte Filzpantoffel nicht. Darauf stand möglicherweise Fernsehver­bot.

„Na und?“, meinte Lassie. „Wenn sie vergessen hat, abzusperren, dann ist das ihre Schuld.“ Sie schien auf ihre alten Tage nicht mehr einsehen zu wollen, dass es für uns Hunde verbindliche Verhaltensregeln gab.

Ob Versehen oder nicht, die Tür war nun mal offen, also verließen die Hunde, einer nach dem anderen, den Zwinger. Auch ich schloss mich ihnen an. Vertrat mir die Beine im Garten, verrichtete ein Geschäft und fraß ein paar Grashalme, dann lauschte ich ein wenig an der angelehnten Terrassen­tür.

Gesine Grünapfel telefonierte mit einer Stimme, die schriller als sonst klang.

„Das ist eine unserer größten Errungenschaften, und Sie machen etwas Schändliches daraus. Einen Virus, der den Tod bringt, nicht die Freiheit ... - Oh nein, das können Sie vergessen. Ich werde dafür sorgen, dass alle davon erfahren, ver­lassen Sie sich drauf ...“

Frau Grünapfel konnte energisch sein, wenn sie woll­te. Hunde brauchen eine klare Ansprache, trichterte sie ihren menschlichen Kunden ein, nur ja und nein und nichts dazwischen. Offenbar tat dies einigen Menschen auch gut.

Ich hielt die Nase in die Luft. Es roch nach Zweibei­nern in dunklen Män­teln, die sich unbefugt Zutritt zu Frau Grünapfels Grund und Boden ver­schafften. Aber auch Vierbeiner, die nicht hierher gehörten. Ich versuchte, sie schnüffelnd zu lokalisieren, als urplötzlich mit einem Plopp das Licht im Haus verlöschte.

„Hallo?“, hörte ich Gesine, die immer noch telefo­nierte, alarmiert fragen. „Hallo!“

Irgendetwas ging da drinnen vor. Vorsichtig schlich ich zur Terrassentür. Es polterte, ein Stuhl fiel um. Glas klirrte. Ein erstickter Schrei drang nach draußen.

Da waren sie, die Unannehmlichkeiten. Menschen-Unan­nehmlichkeiten.



***



„Warum liegt sie so da?“, fragte Lassie ängstlich. „Sie rührt sich nicht.“

Wir alle standen um die Internatsleiterin herum, die reglos auf dem Bo­den neben ihrem Schreibtisch lag. Den Telefonhörer, aus dem ein vernehm­licher Dauerton drang, hielt sie noch in der Hand. Frau Grünapfel starrte an die Decke, und an ihrem Hals klaffte eine böse Bisswun­de.

„Sie ist höchstwahrscheinlich tot“, sagte ich. In diesen Dingen vertraute man auf mein Urteil, denn die anderen wussten inzwischen, dass ich vor langer Zeit eine Ausbildung zum Polizeihund absolviert hatte, na ja, beina­he. Die Abschlussprüfung hatte ich vermasselt, weil angeblich meine Klet­terkünste nicht ausgereicht hatten. Dabei war es nur die Tatsache, dass ich nicht reinrassig bin.

„Wir müssen etwas unternehmen“, meinte Schnarchnase.

„Das ist nicht unsere Sache.“ Lassie schüttelte den Kopf. „Toter Mensch - da kümmern sich Menschen drum.“

„Es ist doch nicht nur irgendein toter Mensch. Das ist Frau Grün­apfel, unsere Gönne­rin. Wir sollten wenigstens die Polizei verständigen.“

Er hatte, verdammt noch mal, recht. Also führten wir eine halbstündige Debatte, die kein Ergebnis brachte, aber irgendwann bestimmten wir einen, der sich auf den Weg machte, die Kripo herzuholen. Natürlich war ich derje­nige.

Nicht nur, weil ich als Beinahe-Polizeihund Fachmann in solchen Dingen war. Sondern weil ich als einziger einen Kripomenschen kannte: Heino Pütz, Penelopes Männ­chen und mein ehemalig langjähriger Nachbar.




5



Menschen halten sich für neugierig, für geborene Wis­senschaftler, Geis­ter, die stets verneinen. Ihre Frage­rei und das fast manische Bedürfnis, Din­gen auf den Grund zu gehen, hat sie angeblich groß gemacht. Hört man ih­nen zu, muss man annehmen, die Menschheit bestehe ausschließlich aus großen Denkern, Philosophen, Empiri­kern und mathematischen Genies, die bahnbrechende Dinge erfunden haben wie das Feuer und die Missionarsstel­lung. Nur ihrer Neugier verdanken sie, dass sie spre­chen und lachen können. Und dass sie gleich neben Gott persönlich auf der Bank sitzen dürfen. Alle anderen haben nach ihrer Pfeife zu tanzen, ganz besonders wir Hunde.

Sieht man freilich genauer hin, stellt man fest, dass Menschen gar nicht neugierig sind. Wie sollten sie es auch sein, wo sie nicht einmal über Sin­nesorgane verfü­gen, die ihre Neugier zu entfachen vermögen? Ihre Ohren benutzen sie als Steckdosen, um ihren Kopf rund um die Uhr mit lästigen Geräuschen zu beschallen. Die Augen sehen nur, was sie sehen wollen, und von einer Nase kann man im eigentlichen Sinne gar nicht sprechen. Men­schen haben keine Nase. Auch wenn sie gern erzählen, dass sie auf Gerüche stehen. Sie wissen nicht, was ein Geruch ist, denn der kolbenförmige Wulst zwischen ihren Augen ist kaum mehr als Dekoration, ohne jeden prakti­schen Wert.

Neugier ist keine menschliche Tugend. Menschen ver­dienen lieber Geld, bis sie genug für einen Fernseher mit großem Bildschirm zusammen haben, vor dem sie wenn möglich den restlichen Teil ihres Lebens verbringen.

Was meinen ehemaligen Nachbarmenschen, den Hauptkom­missar, an­ging, so war er ein Musterbeispiel des arro­ganten, selbstherrlichen Homo erec­tus. Ich spähte durch das Wohnzimmerfenster und entdeckte ihn schon. Pütz war gerade damit beschäftigt, Trinkgläser im Schrank zu ordnen.

„Heino, Liebling!“ Von oben drang die gräßliche Stimme Penelopes, seiner Lebensgefährtin, zu ihm und ließ einige der Gläser leise klingeln. „Hast du Apollo gesehen?“

Es war kein Kunststück zu beobachten, dass Pütz es nicht leiden konnte, wenn sie ihn Heino, Liebling! rief. Heino oder Liebling, aber nicht beides. Also tat er, als hätte er nichts gehört und ordnete weiter das Geschirr. Über den Gläsern befand sich ein Schrank­licht, und die Vitrine kam nur dann op­tisch zur Gel­tung, wenn die Trinkgefäße in Reih und Glied standen.

Der Kommissar war ein Ordnungsfanatiker. Nicht, dass er das zugegeben hätte. Ordnungsfanatiker waren in sei­nen Augen zwanghafte Menschen, die niemals freiwillig handelten, sondern einem ehernen Gesetz folgten, das sich irgendwann gewaltsam auf ihre Persönlichkeit ge­presst hatte. Pütz hin­gegen hatte sich erst langsam, über die Jahre, mit der Ordentlichkeit ange­freundet. Sie faszinierte ihn. Geordnete Dinge hatten eine Struk­tur, sie wa­ren beschreib- und berechenbar. Dadurch strahlten sie Ruhe aus. Ein ordent­liches Leben war nicht langweilig, es lebte sich angenehmer als ein chaoti­sches, so wie es auch erholsamer ist, durch einen gut gepflegten Garten zu lustwandeln, als sich mit einer Machete in der Hand durch den Dschungel zu kämpfen.

Penelope betrat endlich das Wohnzimmer. „Ich frage mich, wo der Hund ist“, sagte sie.