Von Sophie Lang
Aeia: Sie kann spüren, ob jemand die Wahrheit sagt, und sieht in ihren Träumen, den sogenannten Highdreams, alternative Zukunftsperspektiven.
Levi: Levi ist ein Mensch, Arzt und der Mann dem Aeia verziehen hat, weil sie ihn liebt. Die beiden haben geheiratet und haben zusammen zwei Kinder: Joshua und Naomi.
Kyala: Eine Computerspezialistin die über außerordentliche Selbstheilungskräfte verfügt und nicht altert. Kyala ist Aeias beste Freundin.
Jarno: Bis zur Heirat mit Lu, war Jarno ein Womanizer. Bei Körperkontakt mit seinen Händen fühlt man sich vollkommen entspannt und furchtlos.
Lu: Sie ist hochintelligent und hat mit ihrer Klugheit und ihrem Scharfsinn die künstliche Intelligenz Eve erschaffen. Lu hat Jarno gebändigt und die beiden sind glücklich verheiratet.
Vigor: Vigor wurde beim Ritual mit Aeia verbunden. Es dauert Jahre seinen Beschützerinstinkt auf eine Person zu prägen. Danach spürt Vigor die Emotionen und den Aufenthaltsort der geprägten Person.
Eve: Eve ist eine künstliche Intelligenz. Sie fühlt, erinnert sich und liebt Sprüche und die schönen Künste. Sie besitzt keinen Körper, aber ihr Geist kann jeden Ort im Internet aufsuchen. Für ihr Bewusstsein hat sie sich eine Heimat auf organischen Festplatten im Silicon Valley ausgesucht.
Aeia Engel, die junge Psychologin aus Freiburg, hat vor 21 Jahren ihren Arbeitsvertrag bei TREECSS mit ihrem Blut besiegelt. Im Institut angekommen, erfährt Aeia vom Institutsleiter Palo Davidi, dass sie über ein einzigartiges Talent verfügt: Sie kann spüren, ob jemand die Wahrheit sagt. Aufgrund ihrer Gabe wird sie mit der Aufklärung eines Mordes beauftragt. Je weiter Aeia die immer gefährlicher werdende Spur verfolgt, umso mehr erfährt sie über sich und die Geheimnisse des TREECSS. Aeias Gene sind nicht menschlich, sie ist eine Begnadete und der Mörder offensichtlich kein Einzelgänger. Eine Verschwörung ist im Gange und Aeia ist der Spielball zwischen den Mächten, ist Davidis Joker, um den Gegner schachmatt zu setzen.
Seit jenem Tag im Louvre sind 13 Jahre vergangen. Jahre, in denen Aeia zu ihnen gehört. Unvergessliche Jahre, in denen sie einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, dass das geheim bleibt, was geheim bleiben muss.
Aber hin und wieder ist es gut, mit alten Traditionen zu brechen, damit etwas Neues entstehen kann.
Levi und Aeia sind dafür ein gutes Beispiel.
Sie haben vor sieben Jahren geheiratet. Ein Mensch und ein Wesen, wie Aeia es ist. Sie hat ihrem lieben Mann zwei wundervolle Kinder geschenkt.
Naomi und Joshua.
Wenn Eve tatsächlich auf sämtliche Informationen dieser Welt Zugriff hat und man den Geschichtsbüchern von TREECSS Glauben schenken will, dann sind es die Ersten einer neuen Art. Eine Vermischung der Gene.
Aber im Grunde spielt das nicht die geringste Rolle. Denn Aeia erfreut sich jeden Tages, den sie gemeinsam mit ihren Kindern erleben darf. Die gemeinsamen Momente fühlen sich an wie unendlich kostbare Geschenke.
Selbstverständlich ist sie gespannt, was mit dem Erreichen ihres 21. Lebensjahrs aus ihnen wird. Ob überhaupt etwas Mystisches oder Spektakuläres passieren wird? Aber egal, was es auch immer sein wird, an ihrer Liebe wird sich nichts ändern.
Der Kuchen steht in der Küche, ist noch heiß und verbreitet seinen glückselig machenden Duft im ganzen Haus.
Der Kuchen und Aeia warten auf die Freunde der Familie.
Auf Vigor, Kyala und Lu.
Und auch auf Jarno, Lus Lebensgefährten und Naomis Taufpaten.
Aeia lächelt und sinniert über die alten Zeiten.
Das hört sich so an, als wäre sie alt. Als hätte sie Runzeln im Gesicht. Nun, das eine oder andere Fältchen ist bereits ein stetiger Begleiter. Aber ganz gewiss handelt es sich um Lachfältchen.
Sie denkt gerne an den Tag zurück, an dem sie Eves Stimme zum ersten Mal gehört hat. Auch wenn sie in ihrer ersten Woche bei TREECSS dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen ist, konnte ihr nichts Besseres passieren.
Sie wischt über das Tablet und es startet augenblicklich. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, bewegt ihn geschmeidig von links nach rechts. Ihr Nacken und ihr Rücken fühlen sich entspannt und gut an. Dafür sind die einfühlsamen Hände ihres Mannes verantwortlich. Vor ein paar Minuten leistete er ihr noch Gesellschaft. Jetzt zündet er die Kohlen an, bereitet alles für das Barbecue vor, während Aeia noch kurz einer alten Freundin Hallo sagen will.
Das Tablet ist nun online.
»Hallo Eve. Sind irgendwo Bösewichte auf der Welt unterwegs?«
»Genug, aber keine, die die Weltordnung ins Wanken bringen könnten.«
»Gut, dann haben wir ja noch ein bisschen Zeit für Smalltalk«, sagt Aeia und lächelt.
Mondlicht. Mystisch leuchten die Götterstatuen auf den Palastdächern. Nur noch wenige Tage bis sich die Erde vor den Mond schiebt und ihn in eine rotbraune Scheibe, einen Blutmond, verwandeln wird. Der Stealth-Helikopter hat seinen Flug quer durch Russland beendet, sein Ziel erreicht und setzt lautlos auf dem Innenhof des Winterpalastes auf. Das Gebäude ist nur ein kleiner Teil der Eremitage, aber es gilt seit über drei Jahrhunderten als ein Prunkstück des russischen Barock. Die rechteckigen Umrisse des größten Kunstmuseums der Welt umgeben die Ankömmlinge wie Mauern einer Bastille. Jede Seite ist anders gestaltet, die Fensterrahmen variieren in Größe und Form von Geschoss zu Geschoss. Hoch oben auf den Dächern beobachten argwöhnisch fast vier Meter hohe Götterstatuen das Eindringen der Besucher.
Die Helikoptertüren öffnen sich. Drei, bis unter die Zähne bewaffnete Kämpfer, steigen aus, flankieren die Seiten. Ihnen folgt ein Mann von einschüchternder Erscheinung, in einen schwarzen Ledermantel gehüllt, die Kapuze bis tief ins gefurchte Gesicht gezogen. Ihn umgibt eine Aura von Kraft und Selbstsicherheit und das Spiel der Schatten zeichnet eine sich verschiebende, ständig wandelnde Kriegsbemalung auf sein ernstes Gesicht.
»Dobro pozhalovat‘ in Sankt Petersburg, der Stadt der Zaren«, heißt Michail der Wächter den Ankömmling standesgemäß willkommen und geleitet ihn in die Eremitage.
Im Innern des Kunstmuseums folgt der mysteriöse Besucher dem hünenhaften Russen durch endlos lange Korridore, vorbei an unzähligen Räumen und tausenden Werken von Meistern aus der ganzen Welt. Die nächtliche Gruppe erreicht die Passage mit Werken des Spaniers Pablo Picasso. Niemand schenkt seinen Gemälden Aufmerksamkeit. Der Fremde ist nicht gekommen, um der Eremitage einen Museumsbesuch abzustatten, er ist nicht hier, um sich irrelevante Werke anzusehen. Sie sind hier, weil es um das Fortbestehen ihrer Spezies geht.
Sie lassen Rembrandt, Matisse und Paul Gauguin hinter sich, erreichen die Halle, die tagsüber unzählige Touristen wie ein Magnet anzieht. Der Besucher verlangsamt seinen Schritt, bleibt vor einem Gemälde des italienischen Begnadeten Leonardo da Vinci stehen. Es trägt den Namen Madonna Benois, die Madonna mit der Blume.
Er betrachtet die kleineren Mängel, das scheinbar leere Fenster im Hintergrund, die hohe, glatzenartige Stirn und den faltigen Hals des Jesuskindes. Merkmale, die einen in den Irrglauben führen könnten, dass Leonardo das Bild nie ganz vollendet hätte.
»Außergewöhnlich«, haucht er. Seine Stimme ist warm und doch durchschneidet sie die Stille wie eine geölte Rasierklinge.
»Öffnen Sie das«, befiehlt er und der Russe leistet Gehorsam; benötigt nur ein paar wenige einstudierte Handgriffe, um die Sicherheitsvorkehrungen zu deaktivieren und die Panzerglasscheibe zu entsichern. Der Besucher tritt an das Gemälde heran, streicht ehrfurchtsvoll mit seiner Hand über die Leinwand, jedoch ohne diese zu berühren. Michail hält den Atem an. Die Finger des Besuchers verharren in einem Zentimeter Abstand über dem Ölgemälde, genau im goldenen Schnitt. Es ist das gleiche Phänomen wie auf den Skizzen der Madonnenbilder im Louvre, in Paris und im British Museum in London. Wie bei der Mona Lisa.
Die scheinbare Unvollkommenheit des Jesuskindes und die vollkommene, göttliche Perfektion des Gesamtgemäldes stehen im Kontrast. Ramires kennt als einer der wenigen, das Geheimnis, den Ursprung seiner eigenen Spezies, die in diesem Gemälde zum Ausdruck kommt. Die Schöpfer wollten etwas Vergängliches erschaffen, aber das genaue Gegenteil ist eingetreten.
»Wir können weiter«, sagt er.
Minuten und dutzende Räume später, schreiten sie durch eine unscheinbare Tür, gelangen hinter die Kulissen. Über eine Steintreppe kommen sie zwei Etagen tiefer, durch eine weitere Pforte, einen Gang und noch eine Treppe, bis in eine unterirdische Galerie. Zwischen all dem alten, modrigen Holz hängen zahllose Katzengemälde. Wesen, die in ganz Ägypten als heilig verehrt wurden. Die Katze wurde als Jägerin der Nacht mit dem Mond in Beziehung gesetzt und sie ist die Verkörperung der Katzengöttin Bastet, die Tochter des Sonnengottes Ra. Götter? Schöpfer? Ein und dasselbe!
Hier und da springt ein lebendes Katzenexemplar aus einem der Schatten und beobachtet misstrauisch die Ankömmlinge.
»Katharina die Große hatte eine Leidenschaft für diese Wesen mit den Sieben Leben«, sagt Ramires. »Die Sieben steht für das Vollkommene, ist die Summe aus der Drei, die das Göttliche symbolisiert und der Vier, die für das Weltliche steht. Sie steht für die Unendlichkeit«, flüstert er, um die Katzen nicht aufzuscheuchen.
Dann, nach der Durchquerung des unterirdischen Labyrinths, hat die Gruppe ihr nächtliches Ziel erreicht, bleibt vor einer metallenen Tür stehen und wartet, bis Michail sie mit einer Chipkarte aus purem Gold öffnet. Ramires und seine Begleiter folgen ihm durch einen unterirdischen Irrgarten, der Teil der Sicherheitsvorkehrungen ist. Ramires geht nun voraus. Er kennt den Weg.
Sie betreten eine Sackgasse, bleiben vor der massiven Steinwand stehen. Er entfernt Insektenkot und Schmutz, der sich im Verlauf der letzten Jahre angesammelt hat und zwei unscheinbare Schlitze in den Fugen werden sichtbar. Er holt eine weitere goldene Karte hervor und gleichzeitig stecken sie die Schlüssel in die dafür vorgesehenen Öffnungen. Ein faustgroßer Stein schiebt sich langsam zur Seite und legt ein kleines, modernes Touchfeld frei. Michail legt den Daumen darauf und das Panel erwacht zum Leben. Ägyptische Hieroglyphen leuchten in goldenen und weißen Lettern auf und warten geduldig auf die Eingabe der korrekten Reihenfolge.
Wie zu erwarten war, entriegeln sich verteilt in der Wand die Schlösser und eröffnen ihnen den Zugang in eine alte, dahinterliegende Aufzugsanlage.
»Nehmt das. Hilft beim Druckausgleich«, sagt Michail, der seit über einem Jahrzehnt der Wachmann dieses Hochsicherheitstraktes ist, und öffnet seine Finger. Auf seiner Handfläche liegen Kaugummis, von denen sich jeder einen nimmt und in den Mund steckt.
Der Aufzug setzt sich in Bewegung, ohne dass Michail einen Knopf drücken muss.
Auf der Fahrt nach unten knallen Ramires Ohren. Die drei ausgebildeten Elitekämpfer kauen nervös weiter. Ramires sagt keinen Ton.
Michail hat seine Arme hinter seinem Rücken verschränkt und ändert weder seine Position noch seine Mimik. Auch dann nicht, als einer der Männer bewusstlos zusammenklappt.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragt ein Mann der Leibwache. Dies sind seine letzten Worte. Er ist der Nächste und eine Sekunde später bricht auch der letzte Mann zusammen, so als wären sie alle nur Marionetten, denen jemand die Fäden durchgeschnitten hat.
»Seltsame Art und Weise, den Druck auszugleichen«, stellt Ramires fest und schaut den Wachmann an. »Was wäre, wenn ich mich für den falschen Kaugummi entschieden hätte?«
»Es ist die reinste Zeitverschwendung, Fragen zu beantworten, die mit was wäre wenn beginnen«, lächelt der Wachmann, doch Ramires verzieht keine Miene.
»Musste das wirklich sein?«
»Sie würden es nicht verstehen, was wir hier tun. Jede Sicherheitslücke, würde das ganze Unternehmen gefährden. Wir müssen bereit sein Opfer zu bringen.« Ramires schaut auf die am Boden liegenden Männer.
»Sind sie tot?«
»Nein, nur bewusstlos.« Ramires betrachtet die Körper seiner Männer, schluckt den Kaugummi hinunter.
»Bereit den Teufel frei zu lassen?«, fragt Michail.
»Ich bin bereit!«, antwortet Ramires.
»Hilfe! Lasst uns in Ruhe! Was wollt ihr? Verschwindet!«, höre ich eins der Mädchen ängstlich rufen. Angespannt schiebe ich die Stahltür auf, schlüpfe hindurch und suche hinter einem Pfeiler Deckung.
»Halt die Schnauze!«, brüllt ein Typ.
Ich lehne mit dem Rücken an Beton, blicke über die Schulter, scanne die Situation. Sehe drei Männer in Militärkleidung, registriere das rasierte Hakenkreuz in ihren Nacken, ihre kurzgeschorenen Haare. Sie haben zwei hilflose Mädchen, zwischen zwei Elektrofahrzeugen, einem VW E-Golf und einem Ford E-Focus, in die Enge getrieben. Niemand der Anwesenden ist älter als fünfundzwanzig und jeder der männlichen Subjekte passt in das Bild eines gewaltbereiten Menschen. Ihre Mimik verströmt Ignoranz und Hass und sie scheinen jeglicher Möglichkeit beraubt, logische oder liebevolle Gedankengänge zu spinnen. Die zwei Mädchen sind jünger. Die Asiatin, versucht ihre dunkelhäutige Freundin, mit ausgestreckten Händen zu schützen, bekommt aber einen fürchterlichen Faustschlag seitlich in den Bauch gerammt und bricht stöhnend zusammen. Ihr exotisches Gesicht wird von Tränen überflutet. Sie liegt wie ein Häufchen Elend auf dem kalten Steinboden und hält sich, krümmend vor Schmerzen, den Unterleib.
»Das habt ihr davon, unser Land zu verpesten. Ihr asoziales Pack!«, werden sie mit erhobenen Fäusten beschimpft. Mein Magen zieht sich zusammen, als ich einen Schlagring aufblitzen sehe.
»Bro, die verstehen dich nicht. Die können kein deutsch. Die verstehen nur eine Sprache«, geifert der angsteinflößende Kerl neben dem Typen mit dem Schlagring.
»Ja, die Prügelsprache«, lacht der Dritte. Er zückt eine schwarze Lackdose und sprüht dem Mädchen ins Gesicht. Sie schafft es gerade noch, den Kopf abzuwenden. Der Lack trifft sie auf Hals, Nacken und in den Haaren. Das verängstigte Ding fleht um Gnade, sieht voller Furcht zu, wie der Typ ein schwarzes Hakenkreuz auf ihr Shirt sprüht, dann blickt sie zu ihrer Freundin, die niedergestreckt am Boden liegt und vor Schmerzen schluchzt. Sie hat es böse erwischt. Mir fällt sofort auf, was den drei Angreifern offensichtlich verborgen bleibt. Beide Frauen sprechen akzentfrei deutsch. Vermutlich sind sie hier geboren und aufgewachsen. Als würde das irgendetwas bedeuten oder an der Situation etwas ändern, wo jemand geboren wurde. Eine Sekunde lang überfluten mich die Eindrücke.
Der Flüchtlingsstrom aus Afrika und Asien ist seit ein paar Jahren versiegt. Die Auffanglager gehören der Vergangenheit an, denn mittlerweile sind alle Flüchtlinge ein Teil unserer Gesellschaft geworden. Die Klassen auf den staatlichen Schulen setzen sich multikulturell zusammen. Europäer, Afrikaner, Asiaten und die Nachkommen der Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten sind nahezu zu gleichen Anteilen vertreten. Doch in gleichem Maße, wie die Integration vorangeschritten ist, haben auch die Proteste und rechtsradikalen Gruppierungen immer weiter an Stärke gewonnen. Sie haben es noch immer nicht begriffen, dass wir auf dem gleichen Planeten leben und diese drei Hirnamputierten sind der Beweis dafür, dass es eine Minderheit immer wieder schafft, Böses zu tun, während der Großteil der Bevölkerung wegsieht oder es einfach nicht mitbekommt. Ich gehöre nicht zu denen. Ich bin zur Hälfte eine Begnadete und unsere Aufgabe ist es, für Frieden in der Welt zu sorgen und das Böse auszumerzen.
Die bewaffnete Faust holt erneut zum Schlag aus. Der Schlagring fährt hinab, um auf den Kopf des asiatischen Mädchens niederzufahren. Die pure Gewalt hätte dort verheerenden Schaden angerichtet, doch die feige Attacke wird aufgehalten, abgefangen. Von mir!
Ich komme von hinten, schmettere ihm mein Knie in die Kniekehlen und packe ihn bei den Schultern. Er sackt zusammen nach allen Gesetzen der Physik.
Ich wende mich schnell wie eine Katze und wehre, seinen erneuten Versuch, mit der Faust einen Treffer zu landen, mit meinem Unterarm ab. Überrascht, verdutzt, sprachlos über die unerwartete Gegenwehr sind geeignete Adjektive, um den Gesichtsausdruck der drei Männer zu beschreiben.
»Verpiss dich du Hure!«, sagt der Typ rechts. Das ist äußerst geistreich. Immerhin ist er der Erste, der seine Sprache wiedergefunden hat, was ich ihm positiv ankreide.
Der, dessen Faust ich immer noch gefangen halte, will mich zu Fall bringen, was ich verhindere, indem ich ihn loslasse, seinen eigenen Schwung und sein Körpergewicht dazu verwende, ihn herumzuwirbeln und gegen den Golf zu katapultieren. Er kracht unsanft mit der Stirn gegen das Blech, was ein hohles Geräusch verursacht. Er flucht in seiner Muttersprache. Die beiden anderen wollen mich packen, doch ihr Versuch endet kläglich. Ich habe mich blitzschnell zur Seite gedreht, ducke mich unter den Angreifern hindurch und packe das hilflose Mädchen am Arm, um sie hinter mich zu schieben.
Die Situation hat sich um 180 Grad gewendet. Die drei dilettantischen Schwachköpfe stehen zusammengedrängt in der engen Schlucht, zwischen zwei Autos, die an der Wand in einer Sackgasse endet. Vor Wut schlägt ihr Anführer gegen die Fahrerscheibe des Ford und bringt sie mit dem Schlagring zum Bersten. Ich breite beide Arme aus, um die Mädchen zu schützen.
»Ihr kommt hier nicht raus, bis die Polizei hier ist«, sage ich und hoffe, dass mein Bluff funktioniert, denn niemand hat die Polizei informiert. Noch bevor ich den Satz beenden kann, springen sie in meine Richtung. Ich wende das an, was ich in Jiu Jitsu gelernt habe, lege alle Energie in die nächste Ausatmung, schreie und treffe den Ersten mit der flachen Hand auf der Brust. Es reißt ihn von den Füßen und er wird nach hinten geworfen, wo er seine Kumpanen zu Fall bringt.
»Jetzt! Lauft! Schnell weg hier!«, brülle ich die zwei verängstigten Mädchen an und dann fliehen wir.
Die kleine süddeutsche Perle, wie seine Schwester Freiburg immer beschrieben hat, ist erstaunlich groß. In einer Bäckerei am Münster hat er sich vor einer halben Stunde eine deutsche Laugenbrezel und einen Kaffee gekauft. Er stand an einem der Stehtische mit Blick auf den belebten Marktplatz und das Münster. Danach hat er sich zur S-Bahn begeben, wo er jetzt mit dem Gesicht der Länge nach auf dem Boden liegt. Zac wurde glatt niedergemäht, als habe ihn ein Bulldozer überfahren, genauso fühlt es sich an.
Er blickt auf und kann sein Glück kaum fassen. Sie ist es! Er hat sie gefunden. Oder verhält es sich umgekehrt? Hat sie etwa ihn aufgespürt?
Sie ist über ihn gestolpert und gemeinsam sind sie umgefallen. Sie ist auf ihm gelandet, irgendwie atemlos und unbeholfen. Ein Hauch von Parfüm und ihrem weiblichen Duft, steigt ihm in die Nase, bevor sie sich wieder aufrappelt.
Die Person, die für sein Niederstrecken verantwortlich ist, steht nun mit großen Augen über ihm und entschuldigt sich auf äußerst charmante Weise.
»Das tut mir sehr leid. Wirklich. Das passiert mir manchmal und ist niemals Absicht«, sagt das attraktive Mädchen auf liebenswerte Weise. Sie hat einen so entzückenden Augenaufschlag, der es Zac unmöglich macht, ihre Ungeschicktheit nicht unmittelbar zu verzeihen. Die S-Bahn Linie 4 kommt in diesem Moment an der Haltestelle des Stadttheaters an. Die Menschen machen einen Schritt nach vorne, wissen, dass sich die Türen der S-Bahn gleich öffnen, was sie einen Wimpernschlag später auch tun. Als hätte jemand den Schalter umgelegt, herrscht auf einmal ein riesiges Durcheinander.
Die Digitalisierung hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Welt verändert. Über achtzig Prozent der Bevölkerung der USE, der United States of Europe, trägt ein sogenanntes View, entweder als Brille oder Kontaktlinse und ist allzeit mit der Datenwelt des Netzes verbunden. Ein Erlass verbietet es in manchen Regionen, Autos selbst zu steuern. Gesetze und Computersysteme nehmen dem Menschen die ethischen Entscheidungen in kritischen Verkehrssituationen ab, wo es um Leben und Tod geht.
Aber die Menschen haben sich noch nicht verändert. Ihnen gelingt es nicht, so etwas einfaches wie den Einstieg in die S-Bahn zu koordinieren. Jeder scheint nur sein eigenes, egoistisches Ziel zu verfolgen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Zac fällt es schwer, die Ruhe zu bewahren, geschweige denn aufzustehen und die Vorstellung abzuschütteln, totgetrampelt zu werden. Freiburg ist nicht im mindesten so groß wie Sankt Petersburg, dennoch, die vielen Eindrücke überwältigen ihn für einen Moment, dann endlich erkennt er die helfende Hand, die sie ihm reicht und erstaunt über ihre Kraft, lässt er sich von ihr hochziehen.
»Alles okay mit dir?«, fragt das Mädchen. Sie hat dunkle Augen, fast könnte man meinen, Iris und Pupillen verschmelzen zu kleinen schwarzen Murmeln und durch die Wimperntusche wirken sie geradezu riesig. Sie trägt keine View. Weder als Brille noch als Kontaktlinse. Das bewaffnete Auge würde bei Tageslicht irisierend schimmern und bei Nacht schwach leuchten. Ist sie eine der wenigen, die der Neuen Welt den Rücken kehren? Aber seine vorliegenden Informationen, sagen ihm etwas anderes. Ihr Talent macht nur in einer Zeit wie dieser Sinn.
Er betrachtet sie, erfasst ihre komplette Erscheinung in weniger als einer Sekunde. Ihr Körper wirkt weder stark noch robust. Eher schlank und von einer schönen Struktur, wie es für heranwachsende Frauen in ihrem Alter üblich ist. Ihre zarten, weichen Hände stehen im Widerspruch zu der physischen Kraft, die sie aufbringt, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.
Ihr Gesicht? Es ist noch schöner als auf dem Foto.
Es hat etwas Reines, Unergründliches. Zac bewegt vorsichtig seinen Kopf nach links und rechts, prüft, ob noch alles am rechten Fleck sitzt.
»Tut mir aufrichtig leid«, sagt sie ehrlich und hat den Kopf jetzt auch schräg gelegt, um ihr schmales Gesicht auf die gleiche Ebene wie Zacs zu bringen. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare fallen dabei zur Seite und entblößen ein frisch gestochenes Tattoo, eine kleine Mondsichel unter einem transparenten Pflaster auf ihrem Hals.
»Ich muss weiter«, sagt sie mit einem Bedauern in der Stimme und dem Blick auf zwei Mädchen gerichtet. Eine Asiatin und eine Afrikanerin, die ziemlich mitgenommen aussehen. »Aber ich gehe erst, wenn du einen Ton gesagt hast.« Ihre Brauen stehen in einer sorgenvollen Linie über ihren Augen. Zac will ansetzen ihrer Aufforderung nachzukommen, will etwas sagen, aber dann wird ihre Aufmerksamkeit wieder fortgezogen.
»Naomi, wo bleibst du denn?«, fragt eine hübsche Blondine, welche die beiden Mädchen an den Händen nimmt und ihnen hilft, in die S-Bahn einzusteigen. Dazwischen fließen die letzten Überreste der einsteigenden und abwesend wirkenden Fahrgäste vorbei. Das andere Mädchen muss Phoenix sein, Naomis beste Freundin, vermutet Zac. Ihre äußere Erscheinung ist geradezu einschüchternd. Auch sie trägt keine View. Zumindest nicht als Brille. Eventuell eine Kontaktlinse. Schwer aus dieser Entfernung zu sagen.
»Naomi, kommst du jetzt bitte? Weißt du, die Bahn fährt bestimmt auch ohne dich ab. Und es gibt keinen Fahrer, den ich bezirzen könnte, damit du noch länger mit diesem fremden Jungen flirten kannst«, erklärt sie und durchbohrt währenddessen Zac mit aufblitzenden, grünen Augen.
»Ich hoffe, dir tut nichts weh. Ich werde dich jetzt loslassen müssen«, sagt Naomi und sieht hinab auf ihre Hand, die immer noch Zacs umklammert. Sie lächelt bezaubernd, was wie eine weitere Entschuldigung wirkt und will sich aufmachen.
»Warte«, sagt Zac und hält Naomis Hand fest. Sie wendet erstaunt den Kopf und blickt ihn verwundert an.
»Ja?«, fragt sie langsam.
»Pass auf dich auf. Die Welt braucht dich!«
Naomi schaut ihn verblüfft an, blickt dann wieder zu den beiden eingeschüchterten Mädchen, die von Phoenix in die S-Bahn bugsiert werden.
»O-k-a-y«, sagt sie und jeder Buchstabe kommt etappenweise über ihre Lippen, dann lässt sie seine Hand endgültig los.
Zac vermisst prompt die Berührung ihrer Haut. Schon wirbelt Naomi auf der Stelle herum, um im letzten Moment, bevor der Autopilot den Befehl zum Schließen der Türen anordnet, in die S-Bahn zu hüpfen.
Die Linie 4 ist im Begriff loszufahren, als Zac durch die staubigen Scheiben ins Innere blickt und Naomi nachschaut. Sein Blick bleibt an ihren nackten Beinen haften, die in halbhohen braunen Lederstiefeln enden. Sie trägt ein weißes, enganliegendes Top, darüber einen weißen Bolero und einen knittrigen, kurzen schneeweißen Plisseerock. Zac schaut ihr amüsiert zu, wie sie sich mühelos im Innern der S-Bahn einen Weg durch die zusammengepferchten Menschen bahnt. Sie geht einfach hindurch, ohne auf Berührungen oder Rempeleien zu achten. Und dabei bewegt sie sich mit Anmut und Selbstsicherheit, scheint aber nicht das geringste Gespür dafür zu haben, wer außer ihr noch da ist. Unterwegs bringt sie ein halbes Dutzend Personen aus dem Gleichgewicht. Der eine oder andere dreht sich empört zu ihr um. Ihre kindliche Tollpatschigkeit bringt Zac zum Schmunzeln.
Schließlich, kurz bevor die Linie 4 losfährt, hat sie den Stehplatz direkt neben ihrer blonden Freundin und den beiden exotischen Mädchen erreicht. Die S-Bahn nimmt an Geschwindigkeit zu. Sie wird schon bald aus Zacs Blickfeld entschwinden. Naomi dreht sich ein letztes Mal zu ihm um, sieht Zac an und ihre Blicke finden sich für einen Moment, um sich ineinander zu verhaken.
Zac glaubt nicht an Zufälle. Es ist Schicksal, dass sie sich begegnet sind, dass er sie einen Tag vor dem Zeitplan getroffen hat. Besser ausgedrückt: Sie ihn über den Haufen gerannt hat, so als wäre sie auf der Flucht gewesen.
Ihre Blicke werden voneinander getrennt. Sommerlicher Fahrtwind bläst durch das geöffnete Fenster und wirbelt Naomis braunschwarze Haare auf, dann verschwindet die Linie 4 mit ihren Fahrgästen in Richtung Stadtmitte.
Zac zieht das Foto aus seiner Hosentasche. Es ist eine Kopie des Originals und es ist nicht digital, was entscheidend ist.
Würde die Menschheit Spuren hinterlassen, wenn alle digitalen Informationen verloren gehen würden? Sie ausgelöscht würden? Was würde übrig bleiben? Was könnten nachfolgende Generationen über die jetzige in Erfahrung bringen? Papier übersteht keine tausend Jahre, außer man geht sorgsam damit um. Zac streicht über die künstliche Oberfläche, eine Art Harz, welche das Foto vor äußeren Einflüssen schützt. Vor schweißnassen Händen, vor Regen, Wind und Staub. Vor dem Altern.
Er betrachtet das, was sich unter der schützenden Hülle befindet. Die Oberfläche und die beiden abgebildeten Personen, und sein Herz zieht sich für einen kurzen Moment zusammen. Gibt es wirklich so etwas wie Liebe auf den ersten Blick?
Naomi ist vor wenigen Minuten gegangen. Seine Tochter hat sich von ihm verabschiedet. Ihn zum Abschied so fest gedrückt wie noch nie. So als würden sie sich lange nicht wiedersehen. Oder vielleicht nie mehr? Levi schüttelt diese Gedanken ab, beobachtet durch das Fenster wie sie zu ihrer Freundin stößt und von dannen zieht. Es war ein unangekündigter Besuch, überraschend aber wohltuend. Er liebt seine Tochter und dankt Gott, dass sie die Verbindung nicht abgebrochen hat. Dass sie sich immer noch regelmäßig treffen. Er denkt nach. Unterdrückt den Impuls loszuheulen. Er hat ihr ein wundervolles Geschenk zum achtzehnten Geburtstag gekauft. Aber sie wird sich noch ein paar Tage gedulden müssen. Dann nehmen ihn seine Ängste in die Mangel. Wird sie ihren Geburtstag überleben?
Es kann einfach kein Zufall sein. Kein Zufall. Kein Zufall.
Diese Worte haben Levi die letzten Jahre mehr als alles andere beschäftigt. Er geht in die kleine Küche und gießt sich eine Cola ein. Dann betritt er das in eleganter Schlichtheit eingerichtete Wohnzimmer. Tageslicht dringt durch bodentiefe Fenstern und die Balkontür. Genau hier hat ihm Aeia den sexy walk dargeboten. Hier haben sie sich geliebt, auf diesem Fußboden, auf der Couch, so ziemlich an jedem Ort in der gesamten Wohnung. Es war ihr Liebesnest. Aus und vorbei. Warum nur kommt ihm ihre alte kleine Studentenwohnung nur so kalt und leer vor, beinahe fremd? Es riecht anders. Aeias Duft fehlt. Ein Stich geht durch seine Brust, und eine Sekunde spielt er mit dem Gedanken, sie anzurufen. Aber das wäre aussichtslos. Schließlich hat sie mit ihm Schluss gemacht. Im Klinikum hat Aeia ihre Beziehung beendet, klar und sachlich, wie man einen Mietvertrag kündigt.
Levi war aus allen Wolken gefallen, hat versucht, sie umzustimmen, sie bekniet, ihrer gemeinsamen Zukunft noch eine Chance zu geben. Nach dem Tod ihres Sohnes hatten sie beide jeden Trost und Liebe dieser Welt nötig. Levi hat nichts falsch gemacht, nichts, bis auf den Umstand, dass er ein Mensch ist und er und Aeia laut den alten Traditionen der Begnadeten, nicht füreinander bestimmt sind. Sie gab sich die Schuld an allem. Und vor allem, an dem Tod ihres Sohnes. Levi hat natürlich protestiert. Er würde alles für sie und ihre gemeinsame Tochter tun. Auf all seine Wünsche verzichten, auf seine Karriere, seine Laufbahn im Uniklinikum. Aber Aeia war nicht umzustimmen. Sie fürchtete um das Leben ihrer Tochter und sah die einzige logische Konsequenz darin, Levi zu verlassen und sich ganz in die Obhut des TREECSS zu begeben. Wie eine Spritze, die man sich geben lässt, um das Schlimmste abzuwenden. Levi war über die kaltblütige Logik Aeias Argumentation zuerst sprachlos, dann wütend. Schließlich hat er sich in die Arbeit gestürzt, nur ein Ziel verfolgend. Naomis Leben zu retten.
Levi setzt sich an seinen Schreibtisch, blickt auf die Archivdatei des Freiburger Klinikums. Betrachtet die Ziffern, die erst Sinn ergeben, wenn man sie als Uhrzeit versteht. Die Geburtsminute seines Sohnes Joshua. Levi lächelt. Dann vergleicht er die Zahl mit der zweiten Archivdatei. Der Eintrag der Minute seines Todes. Sie stimmen exakt überein. Joshua ist auf die Minute genau achtzehn Jahre nach seiner Geburt gestorben. Levi weint. Es ist wie ein Alptraum, der sich Nacht für Nacht wiederholt und Levi verfolgt nur ein Ziel, er will genau das verhindern. Er will die Endlosschleife durchbrechen und herausfinden, warum Joshua so früh sterben musste. Denn es kann kein Zufall sein!
Levi muss es herausfinden und er hat nur noch so wenig Zeit, denn in wenigen Tagen schon wird seine Tochter achtzehn. Er studiert auch ihren Eintrag in den Dateien des Krankenhauses.
Zwei Uhr dreiunddreißig. Die Uhrzeit von Naomis Geburt, auf die Minute genau.
Was wenn sie das gleiche Schicksal ereilt? Levi würde das nicht verkraften. Er muss an Aeia denken. Hatte ihre Liebe denn nie eine Chance auf ein Happy End? War der Tod ihrer Kinder vorherbestimmt, seit dem Tag ihrer Geburt? Levi wünscht sich, dem wäre nicht so, aber die Fakten sprechen eine andere Sprache. Er kann es immer noch nicht glauben, als er die Erkenntnisse seiner Recherchen, die letzten Jahre seiner Ermittlungen, in seinem Kopf Revue passieren lässt. Seit dem Tod Joshuas und der Trennung von Aeia hat er alles aufgegeben. Seinen Job, seine Freunde, sein normales Leben. Aber er hat nicht die Hoffnung aufgegeben, die Ursache herauszufinden. Die Zuversicht, seiner Tochter das Leben retten zu können. Erschüttert sackt er auf dem Bürostuhl in seiner kleinen Wohnung zusammen. Er weiß jetzt so viel mehr, aber das Ergebnis ist erschreckend grausam. Levi blickt sich um, er bricht in Tränen aus und kann nicht mehr aufhören.
Hier hat alles angefangen. Vor über 21 Jahren hat er sich in Aeia verliebt, hat in diesen vier Wänden mit ihr geschlafen, gegessen, gelacht. Hier hat er sie nächtelang betäubt, ihr Blut abgenommen. Hier hat er herausgefunden, wer oder was sie eigentlich wirklich ist. Ein Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten. Er hat sie geliebt. Er liebt sie heute noch, auch wenn es kein Zurück mehr gibt.
Levi hat ihre alte Wohnung gekauft und sich in seine Erinnerungen zurückgezogen. Sie haben ihm Kraft gegeben, die Trennung zu überstehen. Energie, um zu recherchieren, warum Joshua nicht länger leben durfte. Die Erkenntnisse sind bitter. Letztlich hat ihn seine Tochter und ihr Medikament auf die entscheidende Spur gebracht. Naomis Medikament enthält Gold.
Die Heimat der ersten Alchemisten, der Ursprung der Alchemie, kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden, aber es gibt Spuren, die nach Ägypten führen. Spuren die Levi verfolgt hat und ihn zu Thoth geführt haben. Der ibisköpfige, der paviangestaltige Gott des Mondes, der Magie, der Wissenschaft und der Weisheit. Eine Reihe geheimnisvoller Schriften über Medizin, Metallscheidekunst und Alchemie, sollen auf Thoth zurückzuführen sein. Mysteriöse Tafeln mit magischen Inschriften, sollen nach alchemistischer Legende in der Cheopspyramide gefunden worden sein. Sehr oft wird angenommen, dass der Hauptzweck der Alchemie in der Kunst des Goldmachens zu suchen ist. Das stimmt nicht. Denn das philosophische Konzept der Alchimie strebte in jeder Hinsicht nach Vervollkommnung und Veredelung. Es wurde gleichermaßen auf den Menschen, die Elemente und den Kosmos angewandt. Das Hauptziel blieb jedoch stets, das Allheilmittel zu finden und damit das Leben zu verlängern.
Das Leben?
Alle Erbanlagen sind in den Nukleinsäuren gespeichert. Jede Zelle besteht aus 46 Chromosomen. Nur die Keimzelle aus 23 winzigen, stäbchenförmigen Gebilden. Bei jedem Befruchtungsprozess ergänzen sie sich zu neuen, vollständigen Chromosomensätzen. Aeias Gene und die von Levi sind je zur Hälfte in der DNS eingebettet. Alle Flüche und Segnungen der Vorfahren, seit Beginn des Lebens darin enthalten. Eine Hinterlassenschaft für ihre Kinder und künftige Generationen. Die DNS ist die Substanz der Unendlichkeit. Sie überlebt in den Nachkommen. DNS ist der Stoff, aus dem Gespenster gemacht werden, denn in ihr verfolgen die Geister einstiger Generationen ein Wesen, das nach ihrem Entwurf entstand. Im Grunde nichts weiter als ein Programm, das Gesundheit und Krankheit gewissermaßen vorbestimmt. Angenommen es steht hinter dem Programm eine hochentwickelte Intelligenz, was zum Teufel hat sie veranlasst, dass in den Nachkommen von Begnadeten und Menschen eine innere Zeitbombe tickt? Wer ist gleichzeitig in der Lage ein Programm zu schreiben, das übernatürliche Fähigkeiten erzeugt und die Fortpflanzung mit der Spezies Mensch verhindert?
Levi hat all das herausgefunden. Moderne Wissenschaft und antike Überlieferungen zusammengeführt. Alchemie, die Einflussnahme auf das Leben und seine Formen geht weit über die Erkenntnisse der Genforschung hinaus. Einflussnahme auf die Lebensspanne? Übernatürliche Fähigkeiten? Ein Menschheitstraum.
Leider sieht er keine Möglichkeit einzugreifen. Levi rauft sich die Haare aufgrund seiner Ohnmacht, als es an der Tür klingelt. Eine steinalte Frau begrüßt ihn. Er hat sie noch nie zuvor gesehen. Kann nicht ahnen, mit welcher Fähigkeit sie seit Jahrzehnten Erinnerungen ausradiert und falls erforderlich durch Neue ersetzt. Es wird für Levi wie eine Befreiung sein. Alle Verbindungen zu TREECSS werden aufgelöst.
Alle. Ausnahmslos.
Stunden später findet er sich auf der Autobahn wieder. Er hat keine Ahnung, wie er hier her gekommen ist. Warum er auf dem Weg nach München ist. Weiß nichts mehr über seine Freunde und Kollegen, hat keine Erinnerung an seine Familie. Aeia, Naomi und Joshua, der auf dem Hauptfriedhof in Freiburg liegt. Er hat alles vergessen, einfach alles, was er über die Programme und die Gene wusste. Levi fährt weiter. Etwas zieht ihn nach München und weg von Freiburg. Etwas, das er sich nicht erklären kann.
Hauptkommissar Volker Tygs holt eine Plastiktüte aus seiner Umhängetasche und stülpt sie sich über die Finger wie einen Handschuh. Damit fasst er den Schlagring an und betrachtet ihn genauer. Keine Frage, das ist die Tatwaffe. Die drei Opfer liegen, mit schwersten Kopfverletzungen, um ihr Leben ringend, im Freiburger Uniklinikum. Seine Stirn legt sich in Falten, als er sich den Tatvorgang auszumalen versucht. Er wird einfach nicht schlau aus den Fakten. Auf den ersten Blick sieht alles nach einem relativ einfachen Fall aus. Ein Streit unter zwei radikalen Gruppen, der fast tödlich endete.
Als Tygs vorhin die Tiefgarage in der Freiburger Innenstadt betreten hat, ist Zorn in ihm aufgestiegen, den er bis jetzt nicht abgelegt hat. Die ATON mischt sich in den Fall ein, als wäre es ein Akt des Terrors gewesen und keine Schlägerei, von der Sorte, die in der letzten Zeit immer häufiger vorkommen. Diese Antiterrororganisation mischt sich in die Ermittlungen ein und das passt Tygs überhaupt nicht in den Kram.
»Wir haben eine Idee, wer das getan hat«, sagt der hochgewachsene Mann der ATON, der Tygs mehr an einen Soldaten oder Söldner erinnert, als einen Vertreter der Rechte, terrorisierter Bürger.
»Haben Sie einen Namen?«
»Nein, aber eine Adresse. Ein Institut, das sich selbst TREECSS nennt. Ganz in der Nähe von Freiburg.«
»Und warum meinen Sie das?«
»Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Es wird jeder aufgezeichnet, der hineingeht oder die Tiefgarage verlässt.« Der ATON Mann spult zu den entscheidenden Szenen, zeigt Tygs, wie die drei zwielichtigen Opfer, die Tiefgarage betreten und ihnen kurz darauf ein Mädchen folgt. »Keine zehn Minuten später hat sie den Tatort fluchtartig wieder verlassen. Zum Glück waren zwei unserer Männer ganz in der Nähe und sind ihrem Instinkt gefolgt und in die Tiefgarage gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Dort haben sie die drei Opfer gefunden.«
»Es war ein Mädchen?«, fragt Tygs ungläubig.
»Nein, nicht nur ein Mädchen. Sondern eine Terroristin«, sagt der Mann der ATON.
Aeia,
die Jahre seit unserer Trennung, fühlen sich an wie hundert Winter, ich fühle mich um hundert Jahre gealtert - ohne Dich - hundert trostlose Jahre. Ich kann mir noch immer kein Leben ohne Dich und ohne unsere Tochter vorstellen. Wie soll ich den Alltag bestreiten, wie soll ich überleben, ohne zu wissen, wie es Dir geht? Mich quälen die unbeantworteten Briefe, das Schweigen, das Dich umgibt, raubt mir den Verstand und die Erinnerungen quälen mich, Dein Gesicht, Deine Stimme, Dein Herzschlag, den ich unter meiner Hand spürte und so sehr vermisse.
Könnte ich die Ereignisse, die unsere Liebe in Schatten versinken ließen, verändern, ich würde keine Sekunde zögern und es tun. Doch ich weiß das ist unmöglich. Niemand kann das, was wir verloren haben, wieder lebendig machen.
Aeia, vermisst Du mich nicht auch? Ich hoffe, eines Tages findest Du zu mir zurück.
Ich vermisse Dich, ich vermisse meine Frau, meine Geliebte, meine Freundin und einzige Liebe.
Ich weiß, Du wirst auch auf diesen Brief nicht antworten und ich habe Deine Entscheidung zu akzeptieren, aber haben wir das wirklich verdient? Hast Du das verdient?
Möge das Leben schön für Dich werden und möge unsere Tochter glücklich werden. Ich vermisse Dich und werde Dich immer lieben.
Dein Levi
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie hält Levis Brief zwischen ihren zittrigen Fingern. Das Papier ist dick, porös, elfenbeinfarbig und fängt jeden einzelnen salzigen Tropfen auf. Sie faltet langsam das Papier und legt den Brief in die Holzkiste zu all den anderen, von denen jeder einzelne so - sehr - weh - tut. Die Gedanken und Erinnerungen an Levi fühlen sich an wie eine blutende Wunde, aus der beständig Lebensenergie strömt. Sie wünscht sich, es gäbe ein Heilmittel, um die Verletzung zu schließen und um die qualvollen, nächteraubenden Schmerzen endlich zu stillen.
Sie liebt ihn noch immer, aber es gibt kein Zurück mehr. Selbst wenn sie es wollte. Das TREECSS hat Levi alle Erinnerungen genommen. Die Xmemorarenikation ist ein Verfahren, eine Fähigkeit, über das die wenigsten irgendetwas wissen. Das war sein letzter Brief und es ist bestimmt besser so.
Aeia denkt an Naomi ihre wundervolle Tochter und versinkt in noch tieferer Traurigkeit. Was soll aus Naomi werden? Wird sie überleben und das TREECSS eines Tages als erwachsene Frau verlassen?
Sie ist ja erst siebzehn Jahre alt. Viel zu jung, um diese Welt schon wieder zu verlassen. Manchmal hätte Aeia gerne so eine Art Kalender, an dem sie jeden Abend ein Blatt abreißen könnte. Ein Tag länger, an dem sie ihrer Tochter in die Augen blicken kann. In nicht einmal einer Woche wird Naomi achtzehn. Sie betet zu Gott, dass es nicht die letzten sieben Blätter des Kalenders sind. Dann wäre sie erwachsen und könnte tun und lassen, was sie will. Naomi ist zur Hälfte ein Mensch, ihr steht dieses Recht zu.
Aeia ist nach dem Tod ihres Sohnes eine echte Glucke geworden. Sie hat nach der Trennung von Levi, als alleinerziehende Mutter, eine Menge neuer Fähigkeiten dazugewonnen. Ihr könnten bei TREECSS ganz neue berufliche Wege offenstehen.
Sie musste jahrelang ihre Arbeit als Kriminalpsychologin stark zurückschrauben, musste so viele Dinge des Familienalltags gleichzeitig im Kopf haben. Alltägliches, das sich ständig kompliziert gegenseitig beeinflusste und das sich durch die unberechenbaren und irrwitzigen Arbeitszeiten bei TREECSS und das unkontrollierbare Verhalten ihrer heranreifenden Tochter einer Kampfansage an den Alltag glich. Die Zeit ist vorbei, als Naomi an ihr zerrte und pausenlos auf sie einredete, während Aeia verzweifelt versuchte, in einem Fall zu recherchieren und nebenbei für ihre Tochter da zu sein. Aeia wäre jetzt ganz sicher fit für einen hohen Managerposten bei einem der großen Multi-Konzerne in der Europäischen Union. Ein größeres Irrenhaus als das ihre, kann das auch nicht sein. Und die Vorstellung, dafür dann auch noch vollkommen unangemessen hoch bezahlt zu werden, findet sie auch sehr reizvoll.
Sie hat sich oft gefragt, warum nicht die hardcore, organisationserprobten, Multitasking-Mamas in der Wirtschaft alle Spitzenposten besetzen? Aber eigentlich ist es klar, warum das nicht so ist: Sie werden bei ihrer Familie dringender gebraucht, und wenn die Kinder irgendwann ausgezogen sind, haben sie kein Bedürfnis mehr danach.
Als alleinerziehende Mutter wurde sie zu einer hochqualifizierten Konfliktmanagerin und könnte auch Beraterin oder Mediatorin werden, aber dazu hat sie sicher auch keine Lust. Eventuell hat sie auch gute berufliche Chancen im Personenschutz. Sie war jahrelang der perfekte Bodyguard - mit einem Blick konnte sie bereits aus weiter Entfernung, selbst in größeren Menschenmengen, alle sich nähernden Gefahren erfassen und von ihrer Tochter abwenden.
Leider gibt es auf dieser Welt Gefahren, gegen die auch Aeia nichts ausrichten kann. Sie denkt an ihr verstorbenes Kind, an ihren Sohn. Schiebt die unsagbar traurigen Gedanken an seinen Verlust in eine Kammer, tief in ihrem Unterbewusstsein. Versucht sich wieder, auf die Gegenwart zu besinnen.
Vielleicht sollte sie Kyalas Ratschlag, einfach erst mal ein Jahr lang nur zu schlafen, in Erwägung ziehen. Doch sie hat sich dem TREECSS und der Mission verschrieben, zu einer friedvolleren Welt beizutragen. Eine Auszeit kommt nicht in Frage.
Ein Blick auf ihren Smartscreen verrät Aeia, dass sie spät dran ist. Sie will Herr Davidi, den Leiter des Instituts und einen langjährigen Freund, nicht warten lassen und macht sich mitten in der Nacht auf den Weg zu seinem Büro.
Palo Davidi wurde am 28. Oktober 1951 als einziges Kind von zwei füreinander bestimmten Begnadeten in England geboren. In seiner Akte steht, er war ein Kind mit schwächlicher Konstitution, das mit einer leicht deformierten Wirbelsäule zur Welt kam. Schon zur Schulzeit war er seinen menschlichen Klassenkameraden weit voraus, aber einsam, und seine Eltern machten sich große Sorgen um ihn. Davidi erlebte den Kosmos der wüsten Nachkriegszeit. Seine Eltern waren Intellektuelle und geprägt von den alten Sagen, die vom Ursprung der Begnadeten berichten. Er studierte Philosophie und seine einzigartige Fähigkeit: Sich niemals zu irren, entwickelte sich mit seinem 21. Lebensjahr zu seiner vollen Reife. Er verliebte sich in Kyala, die ihn an einen Ort in seinem Herzen entführte, von dem er nie geahnt hätte, dass es ihn überhaupt gab. Seit Jahrzehnten ist er einer der drei Leiter des TREECSS. Er hat nie geheiratet und die gemeinsamen Tage mit Kyala in England, ihre kurze Liebe, zählt wohl zu seinen schönsten Lebensabschnitten.
»LOYALITÄT«, sagt Davidi und schließt seine Hand.
»AUFRICHTIGKEIT«, sagt er mit geöffneter Hand.
»TRADITION«, seine Hand schließt sich wieder.
Aeia nickt, wiederholt den traditionellen Gruß.
»Naomi ist dir so ähnlich«, beginnt Davidi. Der Institutsleiter schenkt Whisky in zwei Gläser ein und sieht Aeia erwartungsvoll an. Sein Körper ist in die Jahre gekommen, sein Gesicht knittrig. Er ist dünn, nur noch ein Schatten seiner alten Tage. Palo Davidi wirkt wie ein lebendes Fossil, aber seine Augen haben noch immer den Glanz, die Klarheit und den gleichen Scharfsinn wie damals, als Aeia sein Büro zum ersten Mal betrat.
Sie nimmt in dem Sessel vor Davidis Schreibtisch Platz, schlägt ihre Beine übereinander und blickt sich um. Nichts hat sich hier verändert. Die Zeit scheint in diesem Raum seit einundzwanzig Jahren still zu stehen. Alles ist beständig, bis auf die Leute, die ein und ausgehen. Aeia sucht den Blick ihres alten Mentors, ihres Freundes, hält die entstandene Pause geduldig aus und wartet darauf, bis Davidi fortfährt. Er lehnt sich zurück und legt seine Hände in den Schoß.
»Wenn ich deine Tochter ansehe, dann sehe ich dich. Ich sehe die gleiche Sturheit und Dickköpfigkeit. Ich sehe in ihr eine Rebellin und ...«, er hält kurz inne, um das richtige Wort auszuwählen, »... vielleicht auch eine Einzelkämpferin.« Davidi schielt Aeia über den Rand seiner Brille hinweg an, nimmt einen Schluck Whisky. Sie trinkt auch einen winzigen Schluck, hüstelt etwas und wartet geduldig ab, was noch kommt. »Und ich sehe in ihr dein Lächeln. Ein Lächeln, das alles auf dieser Welt an seinen rechten Platz rücken kann.«
»Wow, stur, dickköpfig, egoistisch? Ich sehe, du hast das Süßholzraspeln nicht verlernt und weißt genau, welche Worte das Herz einer Frau erwärmen«, sagt Aeia schmunzelnd.
»Schöne Worte kann es schließlich nie genug geben aber eins kannst du mir glauben, Komplimente klingen nur gut, wenn sie wirklich ehrlich gemeint sind. Du solltest das wissen. Schließlich würdest du jede Heuchelei und nur so dahingesagte Schmeichelei sofort entlarven.« Aeia schenkt ihrem Mentor ein warmes Lächeln.
»Das hast du schön gesagt. Vielleicht wollen wir Frauen im Grunde auch gar nicht hübscher sein als jede andere. Vielleicht wollen wir nur in Momenten wie diesen für unseren Charme und unsere individuellen Talente und nicht für unser Aussehen bewundert werden. Ich denke, ein gutes Kompliment bestätigt unsere Einzigartigkeit. Das ist es, was sich gut anfühlt.«
»So habe ich das noch nie gesehen. Du überraschst mich noch immer, Aeia Engel und das nach so vielen Jahren. Im Übrigen habe ich schon erwähnt, dass deine Haare ganz wundervoll duften?«
»Schmeichler, oder sollte ich eher sagen: Lügner!«, grinst Aeia, die kritisch eine Augenbraue hochzieht. Davidi holt Luft, als wäre es anstrengend und belastend dieser Notwendigkeit nachzukommen. Aeia fasst ihn scharf ins Auge. »Du hast mich sicher nicht mitten in der Nacht herbestellt, um mir zu sagen, wie toll du meine Tochter und mich findest. Oder vielleicht doch? Willst du mir etwa einen Heiratsantrag machen?«
»Mach dir keine Illusionen, ich möchte nur ein bisschen plaudern«, lügt Davidi lächelnd, dann wird er nachdenklich und seine Miene verfinstert sich.
»Palo was ist los? Ich sehe dir an, dass etwas nicht stimmt. Geht es um Naomi?«
»Naomi? Ja, es geht natürlich um sie«, meint Davidi. »Aeia, du bist mein Schützling und ich respektiere dich, schätze deine Fähigkeit und deine Leistungen für das TREECSS.« Davidi legt wieder eine künstliche Pause ein. Atmet noch schwerer. »Obwohl ich deine Entscheidung verurteilt habe, Kinder mit einem Menschen zu zeugen und mit der Tradition und den Regeln zu brechen, habe ich zugestimmt, nach deinem schweren Schicksalsschlag, dem Tod deines Sohnes, deine Tochter bei TREECSS zu unterrichten.«
»Dafür werde ich dir immer dankbar sein«, sagt Aeia und nickt. »Macht Naomi Probleme? Fügt sie sich in die Familie nicht richtig ein? Wird sie nicht akzeptiert? Hat sie jemanden verletzt?«
»Wie schon erwähnt, deine Tochter ist ein Sturschädel. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ...«
»Du brauchst nichts weiter zu sagen. Ich weiß, was du meinst«, seufzt Aeia und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Aber was ist mit ihren Leistungen in den Pflichtfächern und Wahlkursen? In Mathematik ist sie ganz gut, oder?«
»Naomi ist eine der Schlechtesten. Aber nicht aus dem Grund, den du vielleicht vermutest. Naomi ist in dieser Hinsicht vielleicht nicht ganz ehrlich.«
»Naomi sagt immer die Wahrheit«, meint Aeia. Der Institutsleiter, hält kurz inne. Er verzieht keine Miene, aber ein fast unmerkliches Zucken um Nase und Mund und ein leichtes Anspannen der Schultern verraten Aeia, dass er grübelt.
»Ja, das passt tatsächlich zusammen. Weißt du eigentlich, was der Name deiner Tochter bedeutet?«
»Naomi, die Ehrliche und die Hübsche.« Davidi lacht. »Was ist daran so komisch?«