Von Trump zu Biden: Wie geht es weiter in den USA? Watergate-Aufdecker Bob Woodward
liefert erschütternde Blicke hinter die Kulissen. Das bleibende Buch über eine große
Demokratie in der Krise
Es war einer der gefährlichsten Momente der US-amerikanischen Geschichte: der Übergang
von Präsident Trump zu Präsident Biden. Die Bilder vom Sturm auf das Kapitol gingen
um die Welt — sie sind das Symbol einer Demokratie in der Krise. Bob Woodward und
Robert Costa erläutern ihre Hintergründe so klar wie nie zuvor. Sie haben Interviews
geführt, Tagebücher, E-Mails, vertrauliche Telefonate und geheime Regierungsdokumente
ausgewertet. Ihr Fazit: Was die USA bis heute durchmachen, ist mehr als eine nationale
Unruhe. ,Gefahr‹ ist die erschütternde Reportage über das Ende einer Präsidentschaft
und den Beginn einer neuen — das bleibende Buch über die großen Herausforderungen
eines Landes, die auch den Rest der Welt noch lange in Atem halten werden.
Bob Woodward
Robert Costa
Gefahr
Die amerikanische Demokratie in der Krise
Aus dem Englischen von Karsten Petersen, Hans-Peter Remmler, Heike Schlatterer, Sigrid Schmid, Thomas Stauder
Hanser
Immer für die Eltern:
Alfred E. Woodward und Jane Barnes
Tom und Dillon Costa
Wir haben viel zu tun in diesem Winter der Gefahr.
Präsident Joseph R. Biden jr. in seiner Antrittsrede am 20. Januar 2021 vor dem Kapitol der Vereinigten Staaten von Amerika
Claire McMullen, 27, eine Anwältin und Autorin aus Australien, arbeitete als Assistentin an diesem Buch mit. Als unsere Mitarbeiterin war sie umfassend in die investigative Berichterstattung und Recherche eingebunden, sie war unser Antrieb, noch gründlicher nachzuforschen, noch mehr Fragen zu stellen und noch präziser zu sein. In jeder Phase war sie fokussiert, ideenreich und hartnäckig, auch in schwierigen Momenten, und sie war immer entschlossen, jeden einzelnen Schritt mit Akribie und Sorgfalt zu erledigen. Claires kreative Hingabe an harte Arbeit geht über bloßes Pflichtbewusstsein weit hinaus.
Sie setzte sich an jedem Tag und zu jeder Stunde für die Sache ein. Bereitwillig ging sie früh am Morgen ans Werk und blieb bis spät in der Nacht, opferte auch zahllose Wochenenden unserer gemeinsamen Arbeit. Sie brachte zudem ihre brillanten Einsichten in Menschenrechtsfragen, Außenpolitik und die menschliche Natur in dieses Projekt ein. Ihre Karriere ist mehr als grenzenlos vielversprechend. Sie ist einfach die Beste.
Wir werden für ihre Freundschaft und Hingabe ewig dankbar sein.
Zwei Tage nach dem 6. Januar 2021, dem Tag der gewalttätigen Angriffe auf das Kapitol der Vereinigten Staaten durch Anhänger von Präsident Donald Trump, tätigte General Mark Milley, Chef des Generalstabs der Streitkräfte der USA, um 7:03 Uhr morgens einen dringenden Anruf über eine geheime Leitung bei seinem chinesischen Pendant, General Li Zuocheng, dem Leiter des Generalstabs der Volksbefreiungsarmee.
Milley wusste aus ausführlichen Berichten, dass Li und die chinesische Führung angesichts der Fernsehbilder von dem beispiellosen Angriff auf Amerikas Legislative fassungslos und höchst irritiert waren.
Li bombardierte Milley mit Fragen. War die Supermacht Amerika instabil? Stand sie gar vor dem Kollaps? Was ging da vor? Würde das US-Militär einschreiten?
»Die Dinge mögen im Moment instabil aussehen«, sagte Milley und versuchte, Li zu beschwichtigen, den er seit fünf Jahren kannte. »Aber so ist das eben in der Demokratie, General Li. Wir sind zu 100 Prozent stabil. Alles ist gut. Aber die Demokratie kann mitunter schludrig sein.«
Es dauerte eineinhalb Stunden — die Hälfte davon war dem notwendigen Einsatz von Dolmetschern geschuldet —, um Li einigermaßen zu beruhigen.
Als Milley auflegte, war er überzeugt, dass die Lage sehr ernst war. Li blieb ungewöhnlich aufgewühlt und sah die beiden Nationen am Rand einer Katastrophe.
Die Chinesen waren ohnehin bereits auf höchster Alarmstufe wegen der Absichten der USA. Wie vertrauliche Geheimdienstinformationen belegen, gingen die Chinesen am 30. Oktober, vier Tage vor der Präsidentschaftswahl, davon aus, die USA würden heimlich einen Angriff auf sie vorbereiten. Die Chinesen nahmen an, Trump würde in seiner Verzweiflung eine Krise heraufbeschwören, um sich selbst als Retter hinzustellen und sich mit diesem Schachzug seine Wiederwahl zu sichern.
Milley wusste, dass die Behauptung, Amerika würde einen geheimen Militärschlag gegen China aushecken, unsinnig war. Er hatte auch damals General Li über die gleiche Geheimleitung angerufen, um beruhigend auf die Chinesen einzuwirken. Er betonte die langjährigen Beziehungen der Staaten und versicherte, die USA würden keinesfalls einen Angriff planen. Zu der Zeit ging er davon aus, General Li, der die Botschaft an Chinas Präsidenten Xi Jinping weiterleiten sollte, erfolgreich beschwichtigt zu haben.
Nun jedoch, zwei Monate später, am 8. Januar, waren Chinas Befürchtungen durch den Aufstand ganz offenkundig nur noch angeheizt worden.
»Wir verstehen die Chinesen nicht«, erzählte Milley seinem Führungsstab, »und die Chinesen verstehen uns nicht.« Das war an sich schon gefährlich genug. Aber das war noch nicht alles.
Milley hatte aus nächster Nähe miterlebt, wie impulsiv und unberechenbar Trump war. Nicht besser wurde die Sache durch Milleys inzwischen gewachsene Gewissheit, dass Trump im Nachgang der Wahlen geistig spürbar abgebaut hatte. Inzwischen führte sich Trump nahezu irrsinnig auf, er schrie seine Beamten an und konstruierte seine eigene, alternative Realität mit endlosen Verschwörungen im Zusammenhang mit den Wahlen.
Die Szenen eines brüllenden Trump im Oval Office erinnerten an Full Metal Jacket, den Film aus dem Jahr 1987, in dem ein Unteroffizier der Marines seine Rekruten auf übelste Weise mit entmenschlichenden Obszönitäten traktiert.1
»Man weiß nie genau, wo der Triggerpunkt eines Präsidenten liegt«, sagte Milley seinem Führungsstab. Wann würde die Verbindung aus bestimmten Ereignissen und Druck von verschiedenen Seiten einen Präsidenten veranlassen, militärisches Eingreifen anzuordnen?
Dass der Präsident zugleich militärischer Oberbefehlshaber des Landes ist, bedeutet eine gewaltige Machtkonzentration in einer Hand. Die Verfassung gibt dem Präsidenten damit die Entscheidungsgewalt, die Streitkräfte nach Gutdünken im Alleingang einzusetzen.
Milley ging davon aus, dass Trump zwar keinen Krieg wollte, aber zweifellos willens war, Militärschläge durchzuführen, wie im Iran, in Somalia, Jemen und Syrien bereits geschehen.
»Ich erinnerte ihn immer wieder daran«, sagte Milley, »dass wir uns, je nachdem, wo und gegen wen ein solcher Schlag geführt wird, in einem Krieg wiederfinden könnten.«
Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die heimischen Nachwehen des Aufstands am Kapitol richtete, erkannte Milley insgeheim, dass die USA in eine neue Periode mit außergewöhnlichen Risiken auf internationaler Ebene geraten waren. Es war just die Art von hochsensiblem Szenario, in dem ein Unfall oder eine Fehlinterpretation katastrophal eskalieren konnte.
Alles entwickelte sich schnell und abseits der öffentlichen Wahrnehmung, und in mancher Hinsicht hatte das Ganze Ähnlichkeit mit den Spannungen während der Kuba-Krise im Oktober 1962, als die USA und die Sowjetunion wegen des Disputs über die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba nur haarscharf an einem Krieg vorbeischrammten.
Milley, 62 und ein ehemaliger Eishockeyspieler an der Universität Princeton, stämmig und kerzengerade mit seinen 1,75 m, wusste nicht, was China als Nächstes vorhatte. Sehr wohl wusste er aber aus 39 Jahren Erfahrung in der Army und nach vielen blutigen Kampfeinsätzen, dass ein Gegner dann am gefährlichsten war, wenn er Angst hatte und glaubte, er könnte angegriffen werden.
Wenn ein Widersacher wie China das jemals wollte, sagte er, »dann konnten sie sich zu etwas entschließen, was wir als ›Erstschlagsvorteil‹ oder auch schlicht ›Pearl Harbor‹ bezeichnen, und zu einem Präventivschlag greifen.«
Die Chinesen investierten gerade massiv in die Expansion ihres Militärs und rüsteten sich de facto zum Supermachtstatus hoch.2
Nur 16 Monate zuvor hatte Präsident Xi, der mächtigste chinesische Führer seit Mao Zedong, anlässlich einer eindrucksvollen Militärparade auf dem Tiananmen-Platz in Peking gesagt, es gebe »keine Kraft, die das Voranschreiten des chinesischen Volkes und der chinesischen Nation aufhalten kann«.3 Die Chinesen enthüllten bei der Gelegenheit auch ihre neueste »bahnbrechende« Waffe, eine Überschallrakete mit fünffacher Schallgeschwindigkeit.4
Milley erzählte leitenden Mitarbeitern, »es gibt Möglichkeiten im Cyberspace oder im Weltraum, einer großen und komplexen Industriegesellschaft wie den USA wirklich erheblichen Schaden zuzufügen, und dies auch noch sehr, sehr schnell mittels extrem leistungsstarker Werkzeuge, die bereits existieren. China ist dabei, all diese Möglichkeiten aufzubauen.«
China exerzierte auch auf aggressive Weise Kriegsspiele und schickte täglich Militärflugzeuge in Richtung Taiwan, den unabhängigen Staat vor der Küste Chinas, den China als Teil seines Landes betrachtet und den die USA zu beschützen gelobt hatten.5 Im Jahr zuvor hatte General Li angekündigt, China würde Taiwan »entschlossen zerschmettern«, falls nötig.6 Alleine schon Taiwan war nicht weniger als ein Pulverfass.
Im Südchinesischen Meer war China auf dem Vormarsch wie nie zuvor, installierte Militärbasen auf künstlichen Inseln und stellte sich, aggressiv und unter Inkaufnahme bisweilen haarsträubender Risiken, Schiffen der US-Marine auf wichtigen Welthandelsrouten entgegen.7
Die anstehenden Manöver der U. S. Navy unter dem Motto »Freedom of Navigation« in der Region um Taiwan und im Südchinesischen Meer sowie eine Übung von Bombern der U. S. Air Force beunruhigten Milley zutiefst.
Derartige simulierte Attacken stellten Kriegssituationen so realistisch wie möglich nach und waren nicht selten machohafte, provozierende Unterfangen, bei denen US-Marineschiffe absichtlich mit hoher Geschwindigkeit gegen Chinas Ansprüche auf international anerkannte maritime Territorien angingen.
Wutentbrannt versuchten chinesische Kapitäne mehrfach, die US-Schiffe vom Kurs abzudrängen, indem sie sie mit geringem Abstand verfolgten oder frontal auf sie zusteuerten. Schon aufgrund der Größe der Schiffe waren rasche Wendemanöver grundsätzlich mit Gefahren verbunden — Unfälle, die eine katastrophale Kettenreaktion auslösen konnten, waren geradezu vorprogrammiert.
Der Vorsitzende des Generalstabs ist der hochrangigste Offizier der Streitkräfte und der führende militärische Berater des Präsidenten. Kraft Gesetzes hat dieser Generalstabschef eine Rolle der Aufsicht und Beratung inne. Er ist zwar nicht Teil der militärischen Befehlskette, in der Praxis ist der Posten jedoch mit sehr viel Macht und Einfluss verbunden. Einige von Milleys Vorgängern waren große Symbolfiguren der US-Militärgeschichte — Omar Bradley, Maxwell Taylor und Colin Powell sind prominente Namen.
Kurz nach dem Gespräch mit General Li am 8. Januar rief Milley Admiral Philip Davidson, den Leiter des Indo-Pazifik-Kommandos der USA, das China im Auge behält, auf einer abhörsicheren Leitung an.
Phil, sagte Milley und erinnerte ihn zuerst einmal daran, dass er in seiner Funktion als Chef des Generalstabs keine Befehlsgewalt habe. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie zu tun haben. Aber vielleicht sollten Sie diese Übungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt überdenken. Angesichts dessen, was in den USA gerade los ist, könnte das von den Chinesen als Provokation verstanden werden.«
Davidson ordnete unverzüglich eine Verschiebung der Übung an.
Die geplanten Manöver erinnerten potenziell an eine ähnliche Begebenheit in den 1980er-Jahren, als die Führer der damaligen Sowjetunion glaubten, die USA und das Vereinigte Königreich planten einen atomaren Präventivschlag. Ein NATO-Militärmanöver mit Namen ABLE ARCHER verstärkte diesen Verdacht der Sowjets noch zusätzlich.8 Der spätere CIA-Direktor und Verteidigungsminister Robert Gates sagte, »das Erschreckendste an ABLE ARCHER war, dass wir möglicherweise am Rande eines Atomkriegs standen.«9
Genau diese heikle Situation bereitete Milley Sorgen. Er befand sich quasi genau an diesem Rand.
Die Beziehung zu China war die bei Weitem sensibelste und gefährlichste in der amerikanischen Außenpolitik. Aber aus den Erkenntnissen der US-Geheimdienste ging hervor, dass der Aufruhr vom 6. Januar nicht nur China in helle Aufregung versetzt hatte. Auch Russland und der Iran sowie weitere Nationen schalteten auf höchste Alarmstufe und behielten das US-Militär und die politischen Geschehnisse in den USA genauestens im Auge.
»Die halbe Welt war verflucht nervös«, sagte Milley. Viele Länder intensivierten ihr militärisches Operationstempo und die Nutzung von Spionagesatelliten. Die Chinesen ließen bereits ihre Spionage- und Aufklärungssatelliten Ausschau halten, ob sich in den USA irgendetwas Ungewöhnliches oder Unberechenbares abspielte oder ob die Supermacht irgendwelche militärischen Operationen vorbereitete.
Milley war jetzt von morgens bis abends in höchster Alarmbereitschaft. Er behielt den Weltraum, Vorgänge im Cyberspace, abgefeuerte Raketen, Militärbewegungen zu Wasser, zu Land und in der Luft sowie Geheimdienstoperationen im Blick. Er hatte abgeschirmte Telefonleitungen in nahezu jedem Raum von Quarters 6, der Residenz des Vorsitzenden in der Joint Base Myer-Henderson Hall, Virginia, über die er sofort eine Verbindung mit dem War Room im Pentagon, dem Weißen Haus oder mit Kommandeuren der kämpfenden Truppen auf dem gesamten Globus herstellen konnte.
Milley sagte den Befehlshabern von Army, Navy, Air Force und Marines — dem Generalstab —, sie müssten alles »rund um die Uhr« im Auge behalten.
Er rief Paul Nakasone an, den Direktor der National Security Agency (NSA), und berichtete von seinem Telefonat mit Li. Die NSA ist für die Überwachung der weltweiten Kommunikation zuständig.
»Sperrt Augen und Ohren auf«, sagte Milley, »beobachtet und scannt weiter.« Konzentriert euch besonders auf China, aber achtet auch darauf, dass die Russen nicht versuchen, »die Situation mit einer opportunistischen Aktion zu ihrem Vorteil auszuschlachten«.
»Wir haben unsere Kommunikationswege im Blick«, versicherte ihm Nakasone.
Milley rief CIA-Direktorin Gina Haspel an und ließ ihr ein Protokoll des Telefonats mit Li zukommen.
»Beobachten Sie aggressiv alles, in alle Richtungen«, sagte Milley zu Haspel. »Im Moment müssen wir leider mit absolut allem rechnen. Ich will einfach nur irgendwie bis zum Mittag des 20. Januar durchkommen« — die Stunde der Amtseinführung von Joe Biden als Präsident.
Was auch immer geschah, Milley überwachte die Mobilisierung der nationalen Sicherheitskräfte Amerikas, ohne dass die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger und der Rest der Welt etwas davon ahnten.
Milley hatte General Li getäuscht mit seiner Behauptung, die Vereinigten Staaten seien »zu 100 Prozent stabil« und der Aufstand des 6. Januar sei bloß ein Beispiel für eine etwas »schludrige« Demokratie.
Ganz im Gegenteil: Milley hielt den 6. Januar für eine geplante, koordinierte, synchronisierte Attacke mitten ins Herz der amerikanischen Demokratie, darauf angelegt, die Regierung zu stürzen, um die verfassungsgemäße Bestätigung einer legitimen, von Joe Biden gewonnenen Wahl zu verhindern.
Es war in der Tat ein Putschversuch und nichts Geringeres als »Verrat«, sagte er, und Trump könnte noch immer auf etwas aus sein, was Milley als »Reichstagsmoment« bezeichnete.10 1933 hatte Adolf Hitler die absolute Macht für sich selbst und die NSDAP inmitten von Straßenterror und Reichstagsbrand zementiert.
Milley konnte nicht ausschließen, dass der Angriff vom 6. Januar, so unerwartet und chaotisch er war, eine Generalprobe für etwas viel Größeres gewesen sein könnte, zumal Trump öffentlich wie im privaten Kreis an seinem Glauben festhielt, die Wahl sei zugunsten Bidens verfälscht und der Wahlsieg ihm, Trump, gestohlen worden.
Milley war fokussiert auf den von der Verfassung vorgesehenen Countdown: noch zwölf Tage Trump als Präsident. Er war fest entschlossen, alles zu tun, um eine friedliche Machtübergabe zu gewährleisten.
Unerwartet betrat Milleys Stabsoffizier das Büro und reichte ihm eine handschriftliche Notiz: »Sprecherin Pelosi möchte ASAP mit Ihnen reden. Thema: Nachfolge. 25. Verfassungszusatz.« Nancy Pelosi, Demokratin aus Kalifornien und die Sprecherin des Repräsentantenhauses, würde im Fall der Fälle nach dem Vizepräsidenten die Nachfolge des Präsidenten antreten und erhielt detaillierte Briefings zu Befehlsgewalt und Kontrolle über das Atomwaffenarsenal der USA. Die Veteranin mit 34 Dienstjahren im Repräsentantenhaus war in allen Fragen, die mit nationaler Sicherheit, Militär und Geheimdiensten zu tun hatten, bestens informiert.
Milley nahm Pelosis Anruf auf seinem persönlichen Mobiltelefon entgegen, eine nicht speziell abgeschirmte Leitung, und schaltete den Lautsprecher ein, damit seine Berater mithören konnten.
Das Folgende ist eine Mitschrift des Telefonats, die den Autoren vorliegt.
»Welche Sicherheitsvorkehrungen sind vorhanden«, fragte Pelosi, »um zu verhindern, dass ein instabiler Präsident feindselige militärische Aktivitäten auslöst oder sich Zugang zu den Startcodes verschafft und einen Atomschlag befiehlt? Diese Situation mit einem geistig verwirrten Präsidenten ist extrem gefährlich. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um das amerikanische Volk vor seinem extremen Anschlag auf unser Land und unsere Demokratie zu schützen.«
Pelosi sagte, sie würde Milley in seiner Funktion als hochrangigen Offizier anrufen, weil Christopher Miller, kurz zuvor von Trump als amtierender Verteidigungsminister installiert, noch nicht vom Senat bestätigt worden war.
»Ich kann Ihnen versichern, dass wir eine Menge Kontrollinstanzen im System haben«, sagte Milley. »Und ich kann Ihnen garantieren, darauf können Sie sich verlassen, dass wir, dass die nuklearen Auslöser sicher sind und wir nicht — wir werden nicht zulassen, dass irgendetwas Verrücktes, Ungesetzliches, Unmoralisches oder Unethisches geschieht.«
»Und wie wollen Sie das anstellen? Wollen Sie ihm den Football oder was auch immer wegnehmen?«, fragte sie.
Sie wusste natürlich, dass mit dem Football der Aktenkoffer gemeint war, den ein hoher Offizier zum Präsidenten brachte und der die versiegelten Authentifizierungscodes enthielt, die für den Einsatz von Atomwaffen benötigt wurden, sowie ein sogenanntes »Schwarzes Buch«, in dem Angriffsoptionen und mögliche Ziele aufgelistet sind.
»Nun«, antwortete Milley, »es sind bestimmte Prozeduren festgelegt. Es gibt Startcodes und Prozeduren, die erforderlich sind, um das zu machen. Und ich kann Ihnen versichern, als Vorsitzender des Generalstabs kann ich Ihnen versichern, dass das nicht passieren wird.«
»Wenn Sie nun gewisse Bedenken hätten, dass es doch passieren könnte, wie würden Sie vorgehen?«
»Wenn ich auch nur eine Nanosekunde glauben würde, dass — ich habe keine unmittelbare Entscheidungsbefugnis«, sagte er, »aber ich habe viele Möglichkeiten, schlimme Dinge zu verhindern, in meiner eigenen kleinen …«
Pelosi unterbrach ihn, »Das amerikanische Volk braucht eine gewisse Zusicherung von Ihnen in dieser Sache, General. Was können Sie öffentlich darüber sagen?«
»Ich kann das nicht, offen gesagt, Madam Speaker. Öffentlich sollte ich mich, glaube ich, im Moment besser nicht äußern. Ich glaube, dass alles, was ich als Individuum sagen würde, auf zehn verschiedene Arten fehlinterpretiert würde.«
»Nun, sehen wir es mal objektiv und sprechen nicht von einem bestimmten Präsidenten«, sagte Pelosi. »Angesichts all der Macht, über die der Präsident verfügt — ich wiederhole mich —, wo sind da die Sicherheitsvorkehrungen?«
»Die Sicherheitsvorkehrungen sind die Prozeduren, die wir festgelegt haben«, sagte er, »sie verlangen eine Authentifizierung, eine Zertifizierung, und alle Instruktionen müssen von einer kompetenten Autorität kommen, und sie müssen gesetzeskonform sein. Und jeder Einsatz von Atomwaffen muss logisch begründet sein. Nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, überhaupt der Einsatz von Gewalt. Ich kann Ihnen versichern, wir haben stabile Systeme einsatzbereit. Es gibt nicht den Hauch einer Chance für diesen Präsidenten, oder für irgendeinen Präsidenten, Atomwaffen auf ungesetzliche, unmoralische, unethische Weise einzusetzen, ohne angemessene Zertifizierung durch …«
»Und Sie haben gesagt, nicht bloß Atomwaffen, sondern Gewalt grundsätzlich?«, hakte sie nach.
»Absolut«, sagte Milley. »Viele Menschen sind besorgt, und mit vollem Recht besorgt, über einen möglichen Zwischenfall in, sagen wir, im Iran. Ich behalte das im Auge und sehe sehr genau hin. Die Dinge im Ausland sind rund um die Uhr unter Beobachtung. Und daheim in den USA ist es nicht anders, Dinge wie Ausnahmezustand oder Kriegsrecht, der Insurrection Act, der den Umgang mit einem Aufstand regelt.«
»Das ist einer dieser Momente, Madam Speaker, da müssen Sie mir einfach vertrauen. Ich garantiere es Ihnen. Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich kann nichts davon öffentlich verlauten lassen, weil ich nicht die Befugnis habe, und es würde in 50 verschiedene Richtungen falsch gedeutet werden, aber ich kann Ihnen versichern, dass das Militär der Vereinigten Staaten felsenfest steht und dass wir nichts Ungesetzliches oder Unmoralisches oder Unethisches mit dem Einsatz von Gewalt tun werden. Das werden wir nicht tun.«
Pelosi hielt dagegen. »Aber er hat gerade erst etwas Ungesetzliches und Unmoralisches und Unethisches getan, und niemand hat ihn aufgehalten. Niemand. Niemand im Weißen Haus. Das Ganze ist so eskaliert, wie es eskaliert ist, weil es die Absicht des Präsidenten war. Der Präsident hat dazu angestachelt, und niemand im Weißen Haus hat etwas dagegen getan. Niemand im Weißen Haus ist ihm in den Arm gefallen und hat ihn aufgehalten.«
»Ich kann Ihnen da nicht widersprechen«, antwortete Milley.
»Sie sagen also, Sie sorgen dafür, dass es nicht passiert?«, fragte die Sprecherin. »Es ist doch bereits passiert. Ein Anschlag auf unsere Demokratie ist geschehen, und niemand sagte ihm, das können Sie nicht machen. Niemand.«
»Nun, Madam Speaker, das Abschießen von Atomwaffen und das Anstiften zu einem Aufruhr …«
»Ich kenne den Unterschied, vielen Dank auch. Was ich sagen will, ist, dass, wenn Sie ihn nicht einmal an einem Anschlag auf das Kapitol hindern konnten, wer weiß, was er noch alles anstellt? Und gibt es da irgendeinen Verantwortlichen im Weißen Haus, der etwas anderes getan hat, als ihm wegen dieser Sache in seinen fetten Arsch zu kriechen?«
Sie redete weiter. »Gibt es irgendeinen Grund anzunehmen, dass jemand, irgendeine Stimme der Vernunft, eingreift und ihm in den Arm fällt? Was das angeht, wir sind sehr, sehr stark getroffen von dieser Sache. Das ist kein Unfall. Das ist nichts, wo man sagen kann, na schön, jetzt wo es passiert ist, sollten wir doch lieber nach vorne schauen. Machen wir einfach weiter. So funktioniert das nicht. Das ist eine tiefgreifende Sache, die er da gemacht hat. Er hat die Mitarbeiter traumatisiert. Er hat das Kapitol angegriffen und das alles. Und er darf damit nicht ungestraft davonkommen. Er darf nicht die Macht bekommen, noch mehr Unheil anzurichten.«
Pelosi erwähnte Präsident Richard Nixon, der wegen des Watergate-Skandals 1974 zum Rücktritt gezwungen worden war.
»Nixon hat viel weniger Schlimmes angerichtet, und die Republikaner sagten ihm trotzdem, ›Sie müssen gehen‹. Seine Verfehlungen spielen in einer ganz anderen Liga. ›Sie müssen gehen.‹ Die Republikaner ermöglichen dieses Verhalten doch erst, und ich frage mich einfach, ob da im Weißen Haus noch irgendjemand bei Sinnen ist? Ob irgendjemand da ist, der ihm sagt, das geht zu weit? Gestern brachten sie dieses verlogene — dieses, äh — Video mit, in dem er sagt, er habe nichts damit zu tun, weil sie wissen, dass sie in Schwierigkeiten sind. Das ist übel, aber wer weiß, was er anstellen könnte. Er ist wahnsinnig. Sie wissen, dass er wahnsinnig ist. Und er ist nicht erst seit gestern wahnsinnig. Also sagen Sie nicht, Sie wissen nicht, wie es um seinen Geisteszustand bestellt ist. Er ist wahnsinnig, und was er gestern gemacht hat, ist nur ein weiterer Beweis für seinen Wahnsinn. Aber wie auch immer, ich weiß zu schätzen, was Sie gesagt haben.«
»Madam Speaker«, sagte Milley. »Ich stimme Ihnen in jedem Punkt zu.«
»Was kann ich meinen Kolleginnen und Kollegen sagen, die Antworten verlangen, die wissen wollen, was geschieht, um ihn davon abzuhalten, irgendwelche wie auch immer gearteten feindseligen Aktionen zu initiieren, und auch, ihm diese riesige Macht aus der Hand zu nehmen? Und die einzige Möglichkeit, das zu tun, besteht darin, ihn loszuwerden, weil niemand da ist, der den Mut hat, ihn an der Stürmung des Kapitols zu hindern und daran, einen Aufstand anzuzetteln. Und da ist er nun, der Präsident der Vereinigten Staaten, mittendrin. Und Sie haben meine Frage beantwortet. Vielen Dank, General. Ich danke Ihnen.«
Pelosi hielt einen Moment inne und fragte: »Ist dieser Dummkopf im Verteidigungsministerium, der amtierende Minister, hat er irgendeine Macht, was das angeht? Lohnt es sich, auch nur eine Sekunde mit ihm zu telefonieren?«
»Ich stimme allem, was Sie gesagt haben, zu 100 Prozent zu«, antwortete Milley. »Das eine, was ich Ihnen garantieren kann, ist, dass ich als Vorsitzender des Generalstabs, ich möchte, dass Sie das wissen — ich möchte, dass Sie in Ihrem tiefsten Inneren wissen, ich kann Ihnen zu 110 Prozent garantieren, dass das Militär, der Einsatz militärischer Gewalt, ob es Atomwaffen sind oder irgendein Schlag in einem anderen Land, wir werden nichts Ungesetzliches oder Verrücktes anstellen. Wir werden nicht …«
»Nun«, fragte Pelosi, »was meinen Sie mit ungesetzlich oder verrückt? Ungesetzlich nach wessen Urteil darüber, was ungesetzlich ist? Er hat es bereits getan, und niemand hat etwas dagegen unternommen.«
»Also, ich rede vom Einsatz des US-Militärs«, sagte Milley. »Ich rede davon, dass wir einen Schlag führen, einen Militärschlag. US-Militärgewalt im eigenen Land und/oder international.«
»Ich kann nicht behaupten, dass mich das beruhigt«, sagte sie, »aber ich werde sagen, dass ich Sie danach gefragt habe — nur damit Sie das wissen. Weil …«11
»Ich kann Ihnen mein Wort geben«, sagte Milley. »Das Beste, was ich tun kann, ist Ihnen mein Wort zu geben, und ich werde zu verhindern wissen, dass dergleichen beim Militär der Vereinigten Staaten geschieht.«
»Nun«, sagte sie, »ich hoffe, Sie können sich auch in dieser irrsinnigen Schlangengrube namens Oval Office durchsetzen, und auch gegen die ganze verrückte Familie. Man sollte eigentlich annehmen, es hätte inzwischen jemand eingreifen müssen. Die Republikaner haben Blut an den Händen, und jedem, der ihm ermöglicht, das zu tun, was er tut, klebt das Blut an den Händen, und jeder von ihnen ist schuldig an den traumatischen Auswirkungen auf unser Land.
Und unsere jungen Leute, die idealistisch sind und die hier arbeiten, ich sage Ihnen, diese Leute auf beiden Seiten des Repräsentantenhauses wurden in extremer Weise traumatisiert, weil dieser Mann komplett wahnsinnig ist, und jeder weiß das, und niemand unternimmt etwas deswegen. Wir werden also weiter auf den 25. Verfassungszusatz drängen und darauf, dass irgendwelche führenden Leute bei den Republikanern sich dafür einsetzen, den Präsidenten auszutauschen. Aber es ist ein Armutszeugnis für unser Land, dass wir von einem Diktator gekapert wurden, der mit Gewalt gegen ein anderes Organ der Regierung vorgegangen ist. Und er sitzt noch immer da. Er hätte in Haft genommen werden müssen. Er hätte unverzüglich verhaftet werden müssen. Er hat einen Staatsstreich gegen uns verübt, um selbst im Amt bleiben zu können. Es muss eine Möglichkeit geben, ihn abzusetzen. Aber wie auch immer, es ist sinnlos, damit Ihre Zeit zu verschwenden. Ich sehe das ein. Vielen Dank, General. Ich danke Ihnen.«
»Madam Speaker, Sie haben mein Wort. Ich kenne das System, und wir sind okay. Nur der Präsident kann den Einsatz von Atomwaffen befehlen. Aber er trifft diese Entscheidung nicht alleine. Eine Person kann den Einsatz befehlen, aber es braucht mehrere Leute, um den Einsatz wirklich auszulösen. Vielen Dank, Madam Speaker.«
Milley war klar, dass Pelosi durchaus recht hatte. Ihre schweren Bedenken waren allesamt wohlbegründet. Seit dem Beginn des nuklearen Zeitalters waren die Prozeduren, Techniken, selbst die Mittel und die Ausrüstung zur Kontrolle eines möglichen Einsatzes von Atomwaffen analysiert, diskutiert und mitunter auch verändert worden.
Milley sagte oft, dass der Einsatz von Atomwaffen »gesetzeskonform« sein muss und das Militär dafür ein strenges Prozedere vorsieht.
Aber kein System war idiotensicher, ganz gleich wie fein abgestimmt und eingeübt es sein mochte. Die Kontrolle von Nuklearwaffen lag auch in der Hand von Menschen, und Menschen machten nun einmal Fehler, auch er selbst. Praktisch gesehen war es unwahrscheinlich, dass ein Team aus Anwälten oder Offizieren des Militärs in der Lage wäre, einen Präsidenten aufzuhalten, wenn er entschlossen war, sie einzusetzen.
Der ehemalige Verteidigungsminister William J. Perry sagte seit Jahren, dass der Präsident die alleinige Kontrolle über den Einsatz der amerikanischen Atomwaffen hat.12
In einem Anfang 2021 veröffentlichten Artikel schrieb Perry: »Sobald ein Präsident im Amt ist, erlangt er die absolute Verfügungsgewalt, einen Atomkrieg zu beginnen. Innerhalb von Minuten kann Trump Hunderte Atomwaffen auf den Weg schicken, oder auch nur eine. Er muss dafür keine zweite Meinung einholen.«13
Nun, mit Pelosis bohrenden Nachfragen und den deutlichen Alarmsignalen aus China, wollte Milley einen Weg finden, diese zweite Meinung ins System einzubinden, wenn nicht sogar verbindlich vorzuschreiben.
Er entwickelte dazu die Formulierung »der absolut dunkelste Moment einer theoretischen Möglichkeit«.
Das war ebenso nuanciert wie real. Es gab die dunkle und theoretische Möglichkeit, dass Präsident Trump völlig durchdreht und eine Militäraktion oder den Einsatz von Atomwaffen befiehlt, ohne sich an das vorgeschriebene Prozedere zu halten.
Milley war sich nicht absolut sicher, ob das Militär Trump unter Kontrolle halten oder ihm vertrauen könnte. Milley betrachtete es als seine Pflicht als hochrangiger Offizier, das Undenkbare zu denken und wirklich alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen, ohne Ausnahme.
Er sah sich als heimlichen Historiker und besaß eine Privatbibliothek mit mehreren Tausend Büchern.
»Den Schlesinger machen«, das würde er tun müssen, um Trump im Zaum zu halten und eine möglichst straffe Kontrolle über die Kommunikationskanäle des Militärs und die Befehlsbefugnis zu behalten.
Das spielte auf einen Erlass des früheren Verteidigungsministers James Schlesinger an hochrangige Militärs im August 1974 an. Schlesinger hatte verfügt, die Offiziere sollten Befehle, die direkt von Präsident Nixon — dieser stand vor einem Amtsenthebungsverfahren — oder aus dem Weißen Haus kamen, nur nach Rücksprache mit Schlesinger und seinem JCS-Vorsitzenden, General George Brown, befolgen.
Zwei Wochen nach Nixons Rücktritt wegen des Watergate-Skandals brachte die New York Times die Story unter dem Titel: »Das Pentagon hatte in Nixons letzten Tagen im Amt die Zügel fest in der Hand.«14
Schlesinger und General Brown fürchteten, Nixon könnte die Befehlskette umgehen und eigenmächtig Kontakt zu Offizieren oder einer militärischen Einheit aufnehmen, um einen Militärschlag anzuordnen, was möglicherweise das Land und die ganze Welt in Gefahr gebracht hätte. Das Risiko wollten sie einfach nicht eingehen.
Milley sah alarmierende Parallelen zwischen Nixon und Trump. 1974 war Nixon zunehmend irrational geworden und immer mehr isoliert. Er trank stark, und in seiner Verzweiflung betete er fortwährend mit dem damaligen Außenminister Henry Kissinger.15
Milley entschied sich zum Handeln. Er bestellte unverzüglich hohe Offiziere des National Military Command Center (NMCC) ein. Das ist der »War Room« im Pentagon, der zur Kommunikation von Notfallbefehlen durch die National Command Authority — den Präsidenten oder dessen Nachfolger — dient, in denen militärisches Handeln oder der Einsatz von Atomwaffen angeordnet wird.
Das NMCC ist Teil des Generalstabs und täglich rund um die Uhr besetzt. Fünf Teams, an deren Spitze jeweils ein Ein-Sterne-General oder Admiral stehen muss, wechseln sich im Schichtbetrieb ab.
Zügig versammelten sich ein Ein-Sterne-General und mehrere Oberste, allesamt hohe Offiziere im NMCC, in Milleys Büro. Für die meisten war es der erste Besuch im Büro des Stabschefs. Die meisten wirkten nervös und verunsichert wegen dieser Einbestellung.
Ohne einen Grund zu nennen, sagte Milley, er wolle die Prozeduren und Verfahren für den Start von Atomraketen durchgehen. Nur der Präsident konnte den Befehl dazu erteilen, sagte er.
Aber dann stellte er klar, dass er, der Vorsitzende des Generalstabs, unmittelbar involviert werden müsse. Die gegenwärtige Prozedur sah eine Telefonkonferenz in einem geschützten Netzwerk vor, an der der Verteidigungsminister, der JCS-Vorsitzende und Juristen teilnahmen.
»Wenn Sie Anrufe bekommen«, sagte Milley, »egal von wem, wir haben hier einen Prozess, ein festes Prozedere. Was auch immer Ihnen gesagt wird, halten Sie sich an die vorgegebene Prozedur. Halten Sie sich an den Prozess. Und ich bin ein Teil dieser Prozedur. Sie müssen sicherstellen, dass die richtigen Leute im Netzwerk eingebunden sind.«
Und falls es noch irgendwelche Zweifel gab, worauf er damit hatte hinweisen wollen, ergänzte er: »Stellen Sie sicher, dass ich in dieses Netzwerk eingebunden bin.«
»Vergessen Sie das nicht. Vergessen Sie das auf keinen Fall.« Er sagte, seine Ansagen gälten für jede Form von militärischer Handlung, nicht nur den Einsatz von Atomwaffen. Er musste in jedem Fall eingebunden sein.
Zusammenfassend meinte er, »die strikten Prozeduren sind explizit dazu da, versehentliche Irrtümer und Unfälle zu vermeiden, oder böswillige, unbeabsichtigte, ungesetzliche, unmoralische, unethische Handlungen, die das Starten der gefährlichsten Waffensysteme der Welt auslösen.«
Das war sein »Schlesinger«, vor den versammelten NMCC-Offizieren vermied er allerdings diesen Begriff.
Stellen Sie sicher, dass jeder, der in jeder einzelnen Schicht Dienst tut, diese Übersicht bekommt, sagte er.
»Sie sind 24/7 vor Ort, jeden Tag, rund um die Uhr.« Die Überwachungsteams probten die Prozedur mehrmals täglich.
Bei jedem Zweifel, jeder Unregelmäßigkeit, rufen Sie zuerst mich direkt und unverzüglich an. Ergreifen Sie vorher keinerlei Maßnahmen.
Er zeigte mit dem Finger auf sich selbst.
Dann drehte er eine Runde durch den Raum und bat jeden Offizier um Bestätigung, dass er diese Anweisungen verstanden hatte, und sah jedem einzelnen dabei in die Augen.
»Verstanden?«, fragte Milley.
»Ja, Sir.«
»Verstanden?«, fragte er den nächsten.
»Ja, Sir.«
»Verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Verstanden?«
»Ja, Sir.«
Milley betrachtete es als Eid.
Plötzlich, gegen 12:03 Uhr mittags, bemerkte Milley, wie der Nachrichtenticker am Fernseher in seinem Büro auf CNN wechselte — der Ton war ausgeschaltet:
PELOSI BESPRACH MIT GENERALSTABSCHEF, WIE DAS »AUSLÖSEN MILITÄRISCHER FEINDSELIGKEITEN« ODER DER »BEFEHL EINES ATOMSCHLAGS« DURCH TRUMP ZU VERHINDERN SEI.16
»Was zum Teufel ist das?«, fragte ein Offizier.
Milley hörte sich die Meldung auf CNN an und erkannte rasch, dass Pelosi nicht enthüllt hatte, was er zu ihr gesagt hatte — sie hatte nur den Teil an die Presse weitergegeben, den sie ihm selbst mitgeteilt hatte. Sie erwähnte auch nicht ihren Verweis auf Nixon. Was sie öffentlich kundgetan hatte, war jedenfalls in Inhalt und Umfang so weit korrekt. Konnte Trump, fragte sich Milley, in diesen letzten Tagen als Präsident tatsächlich die amerikanische Demokratie und die gesamte Weltordnung untergraben, die seit dem Zweiten Weltkrieg so sorgfältig aufgebaut worden war?
Milley würde einen instabilen Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der seiner Ansicht nach eine auf Verrat hinauslaufende Verletzung seines Amtseids begangen hatte, um das Militär in unangemessener Weise einzusetzen, keinesfalls dulden.
Der Rückgriff auf Schlesinger, 47 Jahre nach Nixon, war notwendig gewesen, eine kluge Vorsichtsmaßnahme, sorgfältig austariert, da war sich Milley sicher.
Stellte das eine Unterwanderung der Macht des Präsidenten dar? Manche könnten der Ansicht sein, Milley hätte seine Kompetenzen überschritten und übermäßig viel Macht für sich selbst reklamiert.
Aber sein Handeln war, davon war er überzeugt, eine Vorsichtsmaßnahme nach bestem Wissen und Gewissen, die sicherstellen sollte, dass es nicht zu einem historischen Bruch in der Weltordnung kam, zu keinem versehentlichen Krieg mit China oder anderen und zu keinem Einsatz von Atomwaffen.