Rudolf Steiner: Die Geheimnisse der christlichen Esoterik

Hans Stolp


ISBN: 978-3-96861-248-5
1. Auflage 2021
© Aquamarin Verlag GmbH

© der Holländischen Originalausgabe: 2020 Hans Stolp
Übersetzung aus dem Holländischen: Andrea Fischer
Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Für Loes

 

Viele Menschen durftest du tragen – ein Leben lang.

Aber wer hat dich getragen? Du hast gegeben und gegeben.

 

Doch in der Stille, unerwartet, wurdest du gerufen:

der Meister selbst wandte sich an dich.

 

Als ER sanft und leise dein Herz zu erfüllen begann,

brach etwas in dir auf. Das Kind in dir erwachte.

 

Und ER, der Meister selbst, erweckte mit seiner Liebe

verborgene Kräfte in dir. So wurdest du zu einer Wissenden.

 

Eine neue Liebe und eine höhere Weisheit erwachten

in dir zum Leben, durchdrangen einander und wurden eins.

 

So wurdest du seine Schülerin – eine Gerufene.

Vielen Dank!

 


Zwei Menschen haben das Manuskript zu diesem Buch gelesen:

Margarete van den Brink und Ton Westenbroek.

Ich danke ihnen von Herzen für all ihre Tipps,

Korrekturen und Anregungen.

 

Mit Margarete teile ich schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren meine Liebe zum Werk Rudolf Steiners. Daher war sie allen voran diejenige, die mir beim Verfassen dieses Werkes zahlreiche wertvolle Anregungen geben und mit mir auch die Freude über

die Geschichten teilen konnte, die ich in diesem Buch

niederlegen durfte. Ich danke dir!


 

Rudolf Steiner

Der große Meister unserer Zeit

 

Schlank von Gestalt war er, doch er strahlte

so viel Geisteskraft, solch ein aufrichtiges Interesse

und so viel erworbenes praktisches Wissen aus,

dass jeder, der ihm begegnete,

ihn als große, beeindruckende Gestalt erlebte.

Er tröstete und erwärmte die Herzen der Menschen,

erweckte sie und schenkte ihnen so viele Erkenntnisse,

dass dies ihr Leben für immer veränderte.

 

In seiner Jugend gab es nahezu niemanden,

der seine wahre Größe erahnte oder erkannte.

Lediglich zwei Menschen waren dazu imstande:

Ein einfacher Kräutermann und ein Meister,

der im Verborgenen lebte und arbeitete.

 

Erst als er körperlich und seelisch frei war,

um seine Mission zu erfüllen,

war es Christus höchstpersönlich, der ihn rief.

Tagelang stand er vor dem Mysterium von Golgatha

und ergründete es.

Es berührte ihn bis ins Tiefste seiner Seele.

So wurde er zum Diener Christi auf Erden.

 

Ab diesem Moment begann der Geist in ihm zu wirken.

Eine hohe Erkenntnis nach der anderen

durfte er in Worte fassen,

so dass die Menschen, dadurch angeleitet,

eine ganz neue Lebensperspektive erhielten.

 

So wurde er zum Meister, den die Menschheit so sehr braucht,

um einen Ausweg aus ihrer Krise

zu finden – den Weg des Geistes.

 

Später konnte er, immer wenn jemand ihn darum bat,

Ratschläge geben, wie er diese Erkenntnisse

zum Zwecke einer Umformung der Gesellschaft

anwenden könnte.

So entstand die Bewegung der Waldorfschulen,

der biologisch-dynamischen Landwirtschaft,

der Heilpädagogik und noch vieles andere.

 

Noch viel mehr hatte er uns schenken wollen.

Doch wir Menschen konnten es noch nicht verarbeiten.

Daher kehrte er zurück in die geistige Welt,

um uns von dort aus zu führen und zu motivieren.

Jeden Einzelnen fragt er von dort aus:

»Möchtest du mein Werk auf Erden fortsetzen?«

Sehnsüchtig wartet er darauf,

dass wir uns dazu bereit erklären.

 

Zum Geleit

Vor Jahren suchte ich auf einem Flohmarkt nach Dingen, die ich gebrauchen konnte. Dabei stieß ich plötzlich – inmitten von abgegriffenen Spielsachen und in die Jahre gekommenem Geschirr – auf vier Bücher von Rudolf Steiner, die den vier Evangelien gewidmet waren. Sie kosteten einen Gulden pro Stück – das war noch vor der Einführung des Euro. Jedes Buch enthielt eine Auslegung zu einem der vier Evangelien.

Weil ich schon immer eine große Liebe für das Evangelium des Johannes gehegt hatte, begann ich zuerst das Buch zu lesen, das Rudolf Steiner darüber geschrieben hat.1 Sobald ich mit der Lektüre begonnen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich hatte bereits viele Bücher mit einer Erläuterung oder einem Kommentar zum Johannes-Evangelium gelesen, aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich die tiefere Bedeutung dieses Evangeliums noch nicht erfasst hatte. Ich spürte immer wieder: Es ist anders, tiefgründiger, vielsagender. Doch so sehr ich danach auch suchte – ich konnte seine Bedeutung nicht erkennen. Als ich jedoch die Auslegung von Rudolf Steiner las, war es, als ob ich auf alle meine Fragen eine Antwort erhielt.

Ich habe es damals in einer einzigen Nacht am Stück durchgelesen, und das, obwohl es keine einfache Lektüre war. Aber ich spürte: »Das hier ist wahr. Das sind die Antworten, die ich die ganze Zeit über gesucht habe.«

Seitdem lese ich auch andere Bücher von Rudolf Steiner. Es sind jedoch so viele, dass ich immer noch nicht fertig bin. Es sind Bücher, die mein Leben verändert und mir Einblick in meine Lebensaufgabe auf Erden, in die lebendige und dauerhafte Verbindung mit meinen verstorbenen Angehörigen und in das Warum und Wie meiner hellseherischen Erfahrungen geschenkt haben.

Aber das vielleicht Wichtigste war, dass Rudolf Steiner in seinen Büchern die Geheimnisse Christi verständlich erklärt – und genau danach hatte ich mein ganzes Leben lang gesucht. Als Kind in der Kirche hörte ich den Pfarrer Sonntag für Sonntag über Jesus Christus sprechen. Doch ich spürte: »Was er sagt, ist nicht wahr, es ist anders.« Eigentlich ist es seltsam, dass ein Kind so etwas spüren kann. Aber was es genau war, wusste ich nicht. Selbst während meines Theologie-Studiums erhielt ich keine zufriedenstellende Antwort. Erst als ich Rudolf Steiners Buch mit seiner Auslegung des Johannes-Evangeliums las, erhielt ich zum ersten Mal eine Antwort, zu der mein Herz sofort sagte: »Ja, so ist es!« Daher sind die Erkenntnisse, die ich von ihm erhalten habe, das größte Geschenk, das ich je in meinem Leben bekommen habe.

Niemals zuvor hatte ich den Mut, ein Buch über Rudolf Steiner zu schreiben; denn je mehr ich las, desto mehr begann ich zu verstehen, was für ein unglaublich großer Geist er war. Und wer bin ich, um ein Buch über ein so besonderes Leben und einen so besonderen Menschen zu schreiben? Dieses Gefühl wog umso schwerer, als ich noch immer nicht alle seine Bücher gelesen hatte. Das ist im Übrigen auch nicht möglich, denn wenn man ein Buch von ihm wirklich mit ganzem Herzen und ganzer Seele erfassen will, muss man es mindestens fünf oder sechs Mal lesen – und jedes Mal entdeckt man dabei wieder neue Erkenntnisse, die einem bei einer früheren Lektüre entgangen sind.

Aber der innere Drang, dennoch ein Buch über ihn zu schreiben und damit andere einzuladen, sich mit ihm so zu verbinden, wie ich selbst es tat, wurde immer dringlicher. Vor allem auch, so denke ich, weil mir immer bewusster geworden ist, dass das Werk Rudolf Steiners die Entwicklung einer ganz neuen Kultur ermöglicht – und zwar einer spirituellen Kultur, einer Kultur der Erkenntnis, die aus der Liebe heraus entsteht. Wie dringend braucht unsere Zeit diese neue Kultur!

Wir sind zu Menschen geworden, die alles verstehen wollen. Wir können nicht mehr einfach an die Autorität eines anderen glauben: Eines Priesters, eines Pfarrers, eines Imams oder eines anderen. Frühere Generationen konnten das noch, doch wir können das nicht mehr. Wir müssen uns also selbst auf die Suche begeben. Aber wo können wir die Erkenntnisse finden, die uns helfen, die Entwicklungen unserer Zeit zu verstehen? Wo können wir Einblick in das Leben nach dem Tod finden? Wer kann uns sagen, warum die Menschen in unserer heutigen Zeit immer mehr hellsichtige Erfahrungen machen? Wer kann uns die Hinweise geben, die wir brauchen, um uns unserer persönlichen Lebensaufgabe bewusst zu werden? Wer kann uns Einblick in die großen Geheimnisse des Lebens und Sterbens Jesu Christi geben?

Der vielleicht bedeutendste Schüler Rudolf Steiners in den letzten Jahrzehnten war der Russe Sergej O. Prokofieff (er verstarb 2014). Er schrieb (und ich zitiere nur einen Teil eines längeren Satzes): »(…) dass Rudolf Steiner jemand ist, der mit neuen geistigen Fähigkeiten gelebt und von dort heraus gearbeitet hat – Fähigkeiten, die die Menschheit erst in ferner Zukunft entwickeln wird.«2 Wenn wir diese Aussage auf uns wirken lassen, beginnt es uns wahrscheinlich ein wenig zu dämmern, dass wir es bei Rudolf Steiner wirklich mit einem ganz besonderen, bedeutenden Menschen zu tun haben – mit jemandem, der weiter entwickelt war als andere Menschen, und der deshalb sehen, wahrnehmen und verstehen konnte, was uns noch verborgen ist.

Einer der ersten Schüler Rudolf Steiners in den Niederlanden war der Arzt und Psychiater Dr. F. W. Zeylmans van Emmichoven. Im Jahr 1920 – er war damals siebenundzwanzig Jahre alt – ging er nach Dornach in die Schweiz, um Rudolf Steiner kennen zu lernen und einen Vortrag von ihm zu besuchen – und diese Begegnung wurde richtungsweisend für sein ganzes weiteres Leben. Ihm wurde sehr bald bewusst, dass Rudolf Steiner ein Mann war, der über besondere geistige Kräfte verfügte. Er hat darüber Folgendes geschrieben: »Man erlebt eine Kraft, die nur von höheren Mächten stammen kann.«3 Auch das ist eine bezeichnende Aussage – als ob die höheren Engel direkt durch Rudolf Steiner sprechen und sich durch ihn für uns zu erkennen geben würden!

Zeylmans van Emmichoven schrieb auch: »Mit ihm kündigt sich eine neue Ära an.«4 Nicht nur durch mein Studium des Werkes von Rudolf Steiner, sondern auch, indem ich aufmerksam verfolgt habe, welche neuen Bewegungen und Entwicklungen seine Schüler in aller Welt anstoßen, durfte ich erfahren, wie wahr diese Aussage ist. Deshalb habe ich als holländischen Titel dieses Buches gewählt: »Rudolf Steiner – Begründer einer neuen Kultur«.

Anhand des oben Gesagten wird vielleicht schon deutlich, dass es unglaublich viel über Rudolf Steiner und seine Einsichten zu erzählen gibt. Aber es gibt immer noch niemanden, der wirklich alles, was er uns an Erkenntnissen hinterlassen hat, überblicken kann. Ich vermute, dass Sergej Prokofieff derjenige war, der dem noch am nächsten kam. Aber gerade weil Rudolf Steiners Werk so umfassend ist, wählt jeder, der etwas über ihn schreiben will, seine eigene Perspektive. Meine ist die des esoterischen Christentums. Ich hoffe, aus diesem Blickwinkel heraus etwas von Rudolf Steiners wahrer Größe aufzeigen zu können.

Im Laufe der Jahre haben mein Respekt und meine tiefe Dankbarkeit für das, was Rudolf Steiner uns geschenkt hat, nur noch zugenommen. Ich hoffe, dass ich mit diesem Buch auch in Ihrem Herzen etwas von diesem Wunder, dieser Ehrfurcht und Dankbarkeit für diesen so besonderen Menschen wecken kann.

Teil I: Die Erkenntnisse

1. Eine Flut neuer Entwicklungen

Es scheint, als würde der Name Rudolf Steiner in letzter Zeit immer häufiger fallen:

Wenn man über diese Einsichten liest oder sie gemeinsam diskutiert, landet man bald bei Rudolf Steiner. Er war es, der uns diese uralten Einsichten auf eine neue, dem modernen, unabhängig denkenden Menschen angemessene Weise vermittelt hat. Auf diese Weise wurde eine grundlegende Erneuerung auch im Bereich der Religion möglich.

Einige Studenten kamen zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu Rudolf Steiner und baten ihn um Rat und Hilfe. Er hat sie ihnen gerne gewährt. Als sich jedoch herausstellte, dass eine Erneuerung der Kirche im Sinne Rudolf Steiners nicht möglich war, wurde 1922 unter der Leitung von Friedrich Rittelmeyer die Christengemeinschaft gegründet. Heutzutage ist diese Bewegung für religiöse Erneuerung auf allen Kontinenten zu finden.

Eine aufrichtige Reaktion auf die vielen Klischees

In all diesen Bereichen – anthroposophische Heilkunde, biologisch-dynamische Landwirtschaft, freie Schulbildung, esoterisches Christentum, Christengemeinschaft, Eurythmie, soziale Dreigliederung und Heilpädagogik (und das ist bei Weitem noch nicht alles, was man erwähnen könnte) – stehen wir erst am Anfang einer großen Entwicklung. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt engagieren sich für diese Initiativen, treiben ihre Entwicklung voran und tragen sie immer weiter in die Welt hinaus. Allein schon aus diesem Grund wird der Name des Mannes, der all diese Entwicklungen mit seinen Erkenntnissen ermöglicht hat – Rudolf Steiner – immer öfter genannt.

Deshalb möchte ich in diesem Buch jeden, der sich für die oben genannten Entwicklungen interessiert, mit dieser so besonderen Person vertraut machen, die uns einen Weg in eine große Zukunft weist. Wer war dieser Mensch? Was war sein Geheimnis? Was war das Besondere an seinen Erkenntnissen? Was hat ihn zu dem Mann gemacht, der fast hundert Jahre nach seinem Tod beginnt, immer mehr Menschen zu inspirieren?

Ich habe dieses Buch auch geschrieben, weil ich feststelle, dass immer mehr Menschen über Rudolf Steiner urteilen, obwohl sie kaum etwas über sein Leben und Werk wissen. Die Zahl der oberflächlichen, klischeehaften Aussagen über Rudolf Steiner nimmt immer mehr zu. Es ist wichtig, dem Folgendes gegenüberzustellen: Eine ehrliche Beschreibung dessen, wer Rudolf Steiner war, was ihn antrieb und inspirierte.

Die konkrete Umsetzung der Esoterik

Eines der ersten Bücher, die Rudolf Steiner geschrieben hat, war das Buch: »Die Philosophie der Freiheit«.10 Damals verstand er sich als Philosoph. Doch er wurde zum großen Esoterik-Lehrer, der mit seinen Erkenntnissen das alte esoterische Wissen jedem zugänglich machte, der sich dafür interessierte. Aber was für ein besonderer esoterischer Lehrer er war: Er war der Erste in der ganzen Weltgeschichte, dem es gelang, das jahrhundertealte esoterische Wissen in ganz konkrete Hinweise für gesellschaftliche Umstrukturierungen in allen möglichen Bereichen zu verwandeln. Noch nie zuvor war dergleichen aufgezeigt worden, noch nie war die Esoterik so praktisch, so konkret gelehrt geworden.

Das wirft Fragen auf, etwa die: »Wer war der Mann, der zu solch weitreichenden Innovationen und so großen Erkenntnissen fähig war? Wie konnte dieser Mann zu einem Lehrer werden, der uns die vielen Hinweise gab, die es uns ermöglichen, das Leben auf der Erde in eine Kultur des Friedens, der Weisheit und der Einsicht zu verwandeln? Und was ist denn das Besondere an seinen Erkenntnissen?«

Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf seine letzten Lebensjahre und seinen Tod, insbesondere die Jahre 1924 und 1925, lenken.

2. Ein Wassertropfen wie ein strahlender Diamant

Ein Abschied bei vollem Bewusstsein

Am 30. März 1925 – vor fast 100 Jahren – starb Rudolf Steiner in seiner Wohnung auf dem Hügel in Dornach, unweit von Basel. Für seine vielen Freunde und Freundinnen, seine Mitarbeiter und Schüler war sein Tod ein tiefgreifendes Ereignis.

Aber nicht nur für seine Freundinnen und Freunde in Dornach, die ihn sehr liebten, war sein Tod ein großer Schock. Sein Tod hat auch seine Schüler an anderen Orten der Welt tief getroffen: In Skandinavien, Russland, England, Frankreich, in den Niederlanden und in Deutschland. Viele hatten in diesem Moment das Gefühl, verwaist zu sein. Sie fühlten sich in der Tiefe ihrer Seele einsam, da sie ihren geliebten Lehrer verloren hatten, der ihnen so große und alles entscheidende Einsichten geschenkt hatte. Nun mussten sie lernen, ohne seine direkte Inspiration sein Werk fortzusetzen. Doch zugleich wurde ihnen allen klar – jedem auf seine ganz persönliche Art und Weise – dass Rudolf Steiner ihnen eine Aufgabe hinterlassen hatte, die ihren ganzen Einsatz, ihre ganze Hingabe und ihr ganzes Engagement erfordern würde. Seitdem haben sich viele von ihnen mit all ihrer Geisteskraft und all ihren Fähigkeiten der Aufgabe gewidmet, die – so empfanden sie es – Rudolf Steiner selbst in ihre Hände gelegt hatte.

Sechs Monate lang war er krank gewesen und hatte das Bett hüten müssen, bis er am 30. März 1925 ganz bewusst, ohne jeden Kampf, in einer Atmosphäre des tiefen Friedens und der Hingabe starb. Ita Wegman, seine Freundin und Mitarbeiterin,11 sowie auch der Arzt, der sich all die Monate um ihn gekümmert hatte, erzählten von seinem Tod: »Es war wie ein Wunder. Er ging, als ob es selbstverständlich wäre. (…) Er schaute eine Weile ruhig vor sich hin, sagte noch ein paar liebevolle Worte zu mir, schloss bewusst die Augen und faltete seine Hände.«12 Dann tat er seinen letzten Atemzug.

Ita Wegman fügte jenen Worten über diesen einschneidenden Moment in ihrem Leben – schließlich liebte sie Rudolf Steiner über alles – folgende Überlegung hinzu: »In der geistigen Welt brauchte man ihn, das war offensichtlich. Es war auch offensichtlich, dass er der geistigen Welt etwas Wichtiges mitzuteilen hatte, das nur er mitteilen konnte.«

Nahezu vier Wochen später beschrieb Ita Wegman in einem kurzen Artikel Rudolf Steiners Zeit im Krankenbett und seine letzten Tage und Stunden. Sie schloss den Artikel mit folgenden Worten ab: »Wir müssen jetzt die Zeit vorbereiten, in der eine neue irdische Aufgabe auf ihn zukommen wird. Diese Zeit wird bald kommen.« Es ist die Vorbereitung auf das neue irdische Leben Rudolf Steiners, der sie seit seinem und bis zu ihrem Tod – achtzehn Jahre später – im Jahr 1943 ihre ganze Kraft widmete. Diese Haltung, diesen Weitblick in die Zukunft und das volle Engagement, diese Zukunft zu ermöglichen, hatte sie (neben so vielen anderen Dingen) von Rudolf Steiner übernommen.

Der letzte Vortrag

Sechs Monate zuvor, am 28. September 1924, hatte er seinen letzten Vortrag gehalten. An den beiden vorangegangenen Tagen hatte er wegen völliger Erschöpfung noch alle seine Aktivitäten absagen müssen – Vorträge, Gruppendiskussionen und Einzelgespräche. Aber an jenem Tag, am 28. September, dem Vortag des Michaeli-Festes, das am 29. September gefeiert wird, wollte er sich persönlich an seine Schüler, Freunde und Interessierte wenden. Er begann seine Rede mit den Worten: »Ich war gestern und vorgestern nicht in der Lage, zu euch zu sprechen. Aber ich wollte die heutige festliche Michaeli-Stimmung nicht auslassen, die den morgigen Tag aus unserem Herzen, unserem tiefsten Inneren heraus erstrahlen lassen kann, ohne auch nur kurz zu euch, meine liebsten Freunde, gesprochen zu haben.«13

Zwanzig Minuten lang dauerte seine Rede. Fast 600 Menschen waren gekommen, obwohl dieser Vortrag erst am Tag zuvor angekündigt worden war; aber über Mund-zu-Mund-Propaganda hatten all diese Menschen davon erfahren und waren voller Sehnsucht gekommen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, jeder lauschte atemlos den Worten Rudolf Steiners.14 Damit stellte er den Menschen ein neues Mysterium über die verschiedenen Inkarnationen des Johannes, des Jüngers Jesu, vor, das viele schockierte. Es ist ein Mysterium, das seine Anhänger bis heute beschäftigt.15

Interessanterweise hatte Rudolf Steiner auch sein erstes »esoterisches« Buch Johannes gewidmet. Das macht deutlich, dass jeder, der etwas von Rudolf Steiner verstehen will, sich zunächst mit dem Mysterium vertraut machen muss, dass der Evangelist Johannes kein anderer ist als derjenige, der im Evangelium »Lazarus«, der Bruder von Martha und Maria, genannt wird.16

Rudolf Steiner hatte noch (viel) mehr erzählen wollen, aber seine begrenzte Energie erlaubte ihm nur diesen kurzen Vortrag von zwanzig Minuten. Viele der Anwesenden spürten genau, dass dies das letzte Mal war, dass sie Rudolf Steiner begegnen durften. Assja Turgenieff sagte: »Wir wussten, dass es ein Abschied war.« Albert Steffen schrieb später: »Wir gingen verwirrt und bestürzt nach Hause. Alle spürten, dass Rudolf Steiners Worte wie ein Vermächtnis waren, das er uns hinterlassen hatte, aber keiner wagte es, darüber zu sprechen.«17

Er selbst glaubte lange Zeit, dass er wieder genesen würde: Zunächst betrachtete er seine Krankheit als eine Phase der Erschöpfung. Auch seine Ärztin und Freundin Ita Wegman dachte zunächst in diese Richtung. Das war auch nur zu verständlich; denn den ersten neun Monaten des Jahres 1924 hatte Rudolf Steiner bis zum Zeitpunkt seines letzten Vortrags (am 28. September) unglaublich viel geleistet.

Übermenschlich viel. Er unternahm mehrere Reisen, um in anderen Teilen Europas Vorträge zu halten. Zum Beispiel – um nur eines zu nennen – war er in Torquai (das liegt in Devon, England) und hielt in den zweieinhalb Wochen, die er dort verbrachte, siebzig Vorträge – alles verschiedene Vorträge mit neuen, weiterführenden Einsichten.

Zurück in Dornach hielt er einen Kurs über die Offenbarung des Johannes für Geistliche der Christengemeinschaft. Gleichzeitig gab er ein Ausbildungsseminar für junge Ärzte; nicht zuletzt dadurch wurde die anthroposophische Medizin möglich, die in Zukunft von entscheidender Bedeutung für die Menschheit werden soll, weil diese Medizin nicht nur auf den Körper des Kranken, sondern auch auf den Bewohner dieses Körpers ausgerichtet ist. In der Vormittagspause hielt er zudem täglich einen Vortrag für die Arbeiter, die am Bau des (zweiten) Goetheanums, des Internationalen Zentrums für Anthroposophie in Dornach, arbeiteten. Außerdem gab er einen Kurs für Schauspieler: Schließlich müssen Kunst, Medizin und Religion wieder eine Einheit bilden und sich gegenseitig befruchten, wie es einst in den alten Mysterienschulen der Fall war.

Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, hielt er am Abend auch noch Vorträge für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft. Nicht nur Ita Wegman, sondern auch Marie Steiner, Rudolf Steiners Ehefrau, hatten ihn mehrfach, aber vergeblich, vor der Überlastung gewarnt, der er durch all diese Tätigkeiten ausgesetzt war.

Wenn man auf die ersten neun Monate des Jahres 1924 zurückblickt, wird deutlich, dass es in geistiger Hinsicht das reichste Jahr im Leben Rudolf Steiners war. Während dieser Monate schenkte er den Menschen eine Fülle neuer Erkenntnisse und ergriff alle möglichen neuen Initiativen, zum Beispiel im Bereich der Landwirtschaft.

So hielt er – um nur eines von vielen Beispielen zu nennen – zu Pfingsten 1924 acht Vorträge über die Landwirtschaft vor einem Publikum von mehr als hundert Bauern, Grundbesitzern und anderen Interessierten. Gerade diese Vorträge sind es, die die Entwicklung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft ermöglicht haben.18

Ein Märtyrertod

Dennoch waren es nicht die vielen Vorträge, die eine Überlastung verursacht hatten. Rudolf Steiner selbst sagte, dass es vor allem der endlose Strom von Besuchern war, die ihm alle ihre ganz persönlichen Fragen stellen wollten – sie waren es, die ihm seine letzten Kräfte raubten.19 Er konnte und wollte nicht »Nein« sagen, wenn ihn jemand um Rat oder Hilfe bat. So empfing er an den Tagen, an denen er die oben genannten Vorträge und Kurse hielt, Hunderte von Menschen zu einem persönlichen Gespräch.

Diese totale Erschöpfung war folglich der Auslöser für seine Erkrankung. Tatsächlich aber war seine Gesundheit bereits seit Januar 1923 angegriffen. Ein Jahr später, im Januar 1924, verschlimmerte sich seine Krankheit. Er litt unter seinem Verdauungssystem und vertrug praktisch keine Nahrung mehr. Ein weiteres Jahr später, im Januar 1925 – als er also bereits drei Monate lang das Bett gehütet hatte – sprach er nicht mehr von Erschöpfung, sondern von Karma als der tieferen Ursache seiner Erkrankung.20 Ita Wegman erzählte, dass Rudolf Steiner ihr dies wie folgt erklärt hatte: »Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was ich will und den Mitgliedern mitteile, sowie dem, was die Mitglieder tatsächlich verstehen und aufnehmen.«21 Die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft konnten also viel weniger in ihren Herzen und Seelen aufnehmen, als Rudolf Steiner ihnen eigentlich mit auf den Weg geben wollte. Es ist vor allem diese Einschränkung, die letztlich zu seinem Tod geführt hat: Da er nun keine weitergehenden Erkenntnisse mehr auf der Erde mitteilen konnte, machte es für ihn mehr Sinn, sich in die geistige Welt zurückzuziehen, um von dort aus an der weiteren Verbreitung seiner Erkenntnisse zu arbeiten. Dort konnte er den Engeln auch von den Widerständen berichten, auf die seine Arbeit auf der Erde stieß – die Engel verstehen nämlich nicht, wie das Böse auf Erden wirkt.

Ita Wegman fügte ihren Ausführungen über die Ursache seiner Krankheit hinzu, dass neben dem Unverständnis seiner Anhänger auch böswilliger Widerstand von Menschen aller Art (z.B. vonseiten der Kirchen oder der Politik) und Angriffe aus der Dämonenwelt Ursache seiner Krankheit waren. In Anbetracht all dessen ist es verständlich, dass sein Tod auch als »Märtyrertod« bezeichnet wird.22

Die reinste Folter

In dem Atelier, in dem das Krankenbett Rudolf Steiners stand, hatte er viele Jahre lang kreativ gearbeitet. Außerdem hatte er dort Tausende von Menschen beraten. Auch während der Monate, in denen er krank war, hatte er dort kontinuierlich gearbeitet. Günther Wachsmuth erzählt: »Wenn man in jenen Wochen und Monaten das Atelier betrat, fand man Rudolf Steiner meist halb aufgerichtet auf seinem Bett vor, lesend und schreibend. Er arbeitete ununterbrochen weiter.«23 Zu jener Zeit schrieb er die »Leitsätze« – prägnante Beschreibungen wichtiger Themen, insbesondere über den großen Erzengel Michael.24 Seine Notizen über Michael aus jener Zeit werden auch »Michael-Briefe« genannt.25 Es war, als wollte er seinen Schülern auf jeden Fall zumindest noch diese Einsichten zu Michael vermitteln – als ob die Zukunft seiner Arbeit mit diesen Einsichten stand oder fiel.

Während seiner Krankheit besuchte ihn Marie Steiner jeden Tag, außer wenn sie auf Reisen war, um anderswo in der Welt Eurythmie-Aufführungen zu geben. Auch die (anderen) Vorstandsmitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft besuchten ihn regelmäßig an seinem Krankenbett. Aber abgesehen davon, so erzählt Ita Wegman, lebten sie im Atelier in stiller Abgeschiedenheit. Auch während seiner Krankheit bekamen seine Tage einen festen Rhythmus: Um fünf Uhr morgens wachte er auf und rief sofort nach Ita Wegman – es durfte keine kostbare Zeit verloren gehen. Er nahm nur eine Tasse Tee mit etwas Zitronensaft zu sich und machte sich dann an die Arbeit. Bis sieben Uhr (manchmal auch bis acht Uhr) schrieb er Texte. Danach nahm er sich die Zeit, um zu lesen, geschäftliche Dinge zu regeln und Besucher zu empfangen. Aber danach musste er endlich etwas essen – und sofort schwand seine ganze Energie, und er wurde todmüde. Es war klar: Sein Verdauungs- und Stoffwechselsystem funktionierte nur noch sehr schwach. Erst in der Nacht, gegen Morgen, verschwand diese tödliche Müdigkeit. Trotzdem musste er etwas essen: Unterernährung war eine ständige Bedrohung. Es ist verständlich, dass Ita Wegman seine Krankheit als »Martyrium«, als Folter, bezeichnet.

Das Atelier wurde zum Tempel

26

Nach seinem Tod konnten sich seine Freundinnen und Freunde sowie all seine Schüler von ihm verabschieden. Sein Körper lag auf dem Bett, zu Füßen der hölzernen Christus-Statue. Sein Gesicht strahlte vollkommene Ruhe und Erhabenheit aus, und seine Hände waren zum Gebet gefaltet. Scharen von Menschen kamen, um Abschied zu nehmen. Sie alle waren berührt von der besonderen Energie, die man im Atelier verspürte, und die zweifellos ihr Wesen verändert hat.

Ein Wassertropfen wie ein strahlender Diamant

Die Abschiedsfeier – Rudolf Steiners Leiche wurde eingeäschert – fand in dem Raum neben dem Atelier statt, dem großen Saal, in dem Rudolf Steiner seinen letzten Vortrag gehalten hatte. Die Zeremonie wurde von Friedrich Rittelmeyer, Priester der Christengemeinschaft, geleitet.27 1928, drei Jahre nach dem Tod von Rudolf Steiner, schrieb er das Buch: »Meine Begegnung mit Rudolf Steiner«. In diesem Buch erzählt er Folgendes über die Abschiedsfeier:

»Als ich auf Bitten von Marie Steiner in dem feierlich geschmückten Auditorium, in dem Steiner die meisten seiner Vorträge gehalten hatte, die Trauerfeier nach dem Ritual der Christengemeinschaft leitete, fiel ein Wassertropfen von dem verspritzten Weihwasser mitten auf seine Stirn und leuchtete dort während der gesamten Zeremonie wie ein strahlender Diamant. Das Licht der vielen Kerzen spiegelte sich in diesem strahlenden Diamanten wider – so wie sich die Offenbarungen des Lichts höherer Welten in diesem Geist widergespiegelt hatten. Mit dem Edelstein, der seine Stirn schmückte, versank der Körper im Sarg. Für mich war es, als hätten uns höhere Geister in einem irdischen Bild auf das hingewiesen, was wir miterlebt hatten.

Als die Zeremonie beendet war, war ich bis ins Tiefste meiner Seele hinein der festen Überzeugung: »Dieses Werk ist nun vollbracht. Als eine große Aufforderung an die Menschheit steht sie da. Wenn alle, die zu ihm gehören, ihre ganze Kraft gemeinsam dafür einsetzen, wird es sich durchsetzen.«28

Das Bild von diesem Tropfen, diesem strahlenden Diamanten, ist ein Bild, das auch viele Menschen in unserer heutigen Zeit berührt, die den Weg zu Rudolf Steiner gefunden haben: Sie erkennen darin die Bildersprache, in welcher die geistige Welt zu uns über diesen besonderen Menschen spricht.