SCM ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-27039-6 (E-Book)
ISBN 978-3-417-28948-0 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2022 SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 | 71088 Holzgerlingen
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Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart
Titelbild und Illustrationen: Elke Broska, Wiesbaden
Satz: Katrin Schäder, Velbert
Vorgeschichte
1. Das dritte Logbuch
2. Ein blinder Passagier
3. Der Zugang zur Schattenburg
4. Blamage auf der Schlittschuhbahn
5. Im Innern der Burg
6. Ein Wachmann wird überlistet
7. Du bist nicht allein
8. Gefangen in Mellum
9. Ein großes Missgeschick
10. Am Kap der Guten Hoffnung
11. Verbrecherjagd
12. Auf dem Piratenschiff
13. Kurs auf die Schatzinsel
14. Eine freche Frage
15. In größter Gefahr
16. Der Schatz der Nebelberge
17. Dinge werden geradegerückt
18. Auf Messers Schneide
Lenny
11 Jahre alt
Ruhiger als seine Schwester Anne
Er kann sehr schnell rennen
und weit springen, aber ganz
schlecht Bälle werfen.
Anne
8 Jahre alt
Lieblingsfach: Deutsch
Hassfach: Mathe
Obwohl sie oft mit ihrem
Bruder Lenny streitet,
hält sie immer zu ihm,
wenn es drauf ankommt.
Wilbert Boynen Sturm
Kapitän der Esmeralda
21 Jahre alt
Beste Freunde:
Seebär und Brummel
Safira Alminetti
11 Jahre alt
Artistin
Sie hasst es, das Schiffsdeck
zu schrubben.
Igor atmete erleichtert auf. Er hatte es tatsächlich geschafft! Stolz schaute er auf den rubinroten Lederbeutel, den er soeben Graf Robos gestohlen hatte.
Gestohlen? Nein, er hatte dem Grafen, diesem Halunken, nicht wirklich etwas gestohlen. Es war eigentlich genau andersherum: Graf Robos hatte zusammen mit seinen Gefolgsleuten einen einzelnen Matrosen verprügelt und ihm diesen Beutel abgenommen. Und damit dieses Verbrechen nicht bekannt wurde, hatten sie den armen Kerl in eine Kutsche für Strafgefangene gesteckt. Diese Kutsche sollte ihn in den Kerker der Stadt Mellum bringen.
Der zwölfjährige Igor hatte alles genau beobachtet und kannte als Einziger die Wahrheit: Rudolf Schmidt, der Matrose, war unschuldig. Der wahre Übeltäter war Graf Robos von Mellum. Das konnte er bezeugen!
Die Worte des Grafen klangen ihm noch deutlich in den Ohren: „Endlich habe ich ihn, den rubinroten Lederbeutel! Ja, das Geheimnis der Familie Alminetti liegt jetzt in meinen Händen. Jetzt muss ich dem Räuberhauptmann Rakan nur noch die Holzkugel mit der darin versteckten Schatzkarte abkaufen. Und dann wird mich nichts mehr davon abhalten, den Schatz der Nebelberge zu finden!“
Der Graf hatte vor sich hin gekichert, bevor er weitergesprochen hatte: „Rakan hat glücklicherweise keine Ahnung, was für ein wertvolles Objekt er da geraubt hat. Vermutlich liegt diese Holzkugel schon seit Jahren irgendwo in seiner Schatzkammer herum – zwischen unzähligen anderen Sachen. Deshalb brauche ich Rakan nicht viel zu bezahlen und erhalte im Gegenzug einen riesigen Schatz. Ja, wenn ich nicht überall so gute Spione hätte, wäre ich niemals so reich geworden, wie ich es heute bin!“
Igor konnte zwar mit dem, was der Graf gesagt hatte, nichts anfangen. Aber eins war ihm klar: Er musste diesem Schurken den Beutel wieder abnehmen, um ihn dem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.
Hochzufrieden hatte Graf Robos den Beutel in seine Manteltasche gesteckt und sich auf den Weg zu seinem Schloss gemacht. Igor war ihm gefolgt. Und als sich der Graf auf dem Fischmarkt durch eine dichte Menschenmenge drängte, hatte Igor sich an ihn herangepirscht und ihm den geheimnisvollen Beutel einfach aus der Tasche gezogen.
Das war vor drei Minuten gewesen, und jetzt wollte er so schnell wie möglich verschwinden. Hoffentlich hatte ihn niemand beobachtet!
Doch diese Hoffnung erfüllte sich leider nicht. Im selben Augenblick hörte Igor nämlich eine Marktfrau laut aufschreien. Sie starrte ihn an und zeigte mit dem Finger auf ihn: „Ein Dieb! Ein gemeiner Dieb!“
Sofort wandten alle Umstehenden ihre Köpfe und schauten den Jungen neugierig an.
„Das ist doch nicht zu glauben. Was für eine ungeheuerliche Frechheit! Stellt euch vor, dieser Junge da hat dem Grafen einfach etwas aus der Tasche stibitzt!“
Igor erschrak so sehr, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Sein Herz raste. Was würde jetzt passieren?
Nun wurde auch der Graf auf ihn aufmerksam. Er drehte sich um, zog sein Schwert und machte ein grimmiges Gesicht.
Die Leute traten automatisch zurück und bildeten eine Gasse für den Grafen. Denn alle hatten Angst vor ihm; niemand wagte es, sich gegen ihn zu wehren.
Langsam ging Graf Robos auf Igor zu, begleitet von fünf seiner Spießgesellen. Igor hielt den Atem an …
Käpten Sturm war gerade auf dem Fischmarkt der russischen Stadt Mellum, um Handelswaren einzukaufen. Durch das Geschrei der empörten Frau bekam er mit, was sich ganz in seiner Nähe abspielte. Er blickte auf den Jungen, der von böse dreinschauenden Männern umzingelt war. Einer von ihnen war besonders vornehm gekleidet und hatte sein Schwert gezogen.
Soll ich mich da einmischen?, überlegte Käpten Sturm rasch.
Aber nein, die Sache war ja eindeutig: Diese Frau hatte den etwa zwölf Jahre alten Jungen beim Stehlen erwischt. Er würde vor Gericht angeklagt werden und eine angemessene Strafe bekommen. Daraus würde er hoffentlich etwas lernen und in Zukunft kein Dieb mehr sein.
Käpten Sturm bezahlte den Fisch, den er ausgesucht hatte. Zwei kräftige Matrosen, die ihn begleiteten, hoben je drei übereinandergestapelte große Kisten hoch. Das taten sie so lässig, als würde es sich nur um ein paar Federkissen handeln. Dabei waren diese Kisten unheimlich schwer! Aber die beiden Matrosen waren auch bärenstark.
Im Hafen wartete bereits ein Ruderboot auf die drei Männer, es würde sie zurück zu ihrem Schiff Esmeralda bringen. In einer halben Stunde würden sie dann schon wieder auf dem Weg nach Hause sein, wo sie den hier erworbenen Fisch bestimmt mit gutem Gewinn verkaufen konnten.
Graf Robos schaute den Jungen zornig an und sprach mit fieser Stimme: „Du hast mich bestohlen – mich, den Grafen Robos von Mellum!“
Einer seiner Begleiter versetzte Igor einen heftigen Stoß. Danach packte er ihn am Arm und nahm ihm den Lederbeutel ab, den er sogleich dem Grafen übergab.
Igor konnte sich nicht wehren – gegen sechs erwachsene Männer hatte er keine Chance. Und er wusste, dass ihm kein einziger Bewohner von Mellum helfen würde. Denn alle fürchteten sich vor dem mächtigen Grafen.
Nun wurde Graf Robos’ Stimme lauter – er schrie sogar so laut, dass man es auf dem ganzen Markt hören konnte: „Du hast mich bestohlen! Du bist ein Verbrecher! Und dafür wirst du hart bestraft werden! Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“
Trotzig schaute Igor dem wütenden Mann direkt ins Gesicht.
Dessen Stimme überschlug sich jetzt beinahe. „Und damit jeder hier in Mellum ein für alle Mal weiß, welche Strafe auf Diebstahl steht, werde ich jetzt sofort das Urteil verkünden! Oder hast du vorher noch etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Der Graf hielt inne und stieß ein höhnisches Lachen aus.
Da löste sich Igor aus seiner Erstarrung, er konnte plötzlich wieder reden. „Ja, natürlich will ich etwas sagen. Ich bin kein Dieb!“, rief er laut. „Der wahre Dieb sind Sie!“
Der Graf starrte Igor mit feurigen Augen an. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre Igor wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen. Aber zum Glück ist ein böser Blick keine tödliche Waffe, so gefährlich er auch wirken mag.
Graf Robos stutzte, er überlegte blitzschnell. Dann steckte er sein Schwert wieder in die dazugehörige Lederhülse und fing schallend an zu lachen. Amüsiert hielt er den Beutel hoch, der sich kurz zuvor noch in Igors Hand befunden hatte. „Na klar! Ich bin der Dieb! Und diesen Beutel habe ich mir gerade selber aus der Tasche gezogen! Völlig klar!“
Alle um ihn herum brachen in lautes Gelächter aus.
Doch Igor ließ sich nicht beirren. Im Gegenteil: Er nahm jetzt allen Mut zusammen und beharrte auf seiner Aussage: „Ich habe Ihnen etwas weggenommen, was Ihnen gar nicht gehört. Dieser Lederbeutel gehört nämlich einem Matrosen mit Namen Rudolf Schmidt! Ich habe genau beobachtet, was geschehen ist: Sie und ihre Männer haben diesem Matrosen aufgelauert, ihn zusammengeschlagen und ausgeraubt. Dann haben Sie den Befehl erteilt, ihn verschwinden zu lassen. Sie sind der Dieb, Graf Robos, nicht ich!“
Dem Grafen klappte vor lauter Erstaunen der Unterkiefer herunter. So etwas hatte er noch nie erlebt! Da stand doch tatsächlich irgend so ein dahergelaufener Junge vor ihm und klagte ihn vor den Bewohnern seiner Grafschaft eines Verbrechens an. Woher nahm dieses Bürschchen nur so viel Mut und Entschlossenheit?
Aber eine derartige Aufsässigkeit durfte er auf keinen Fall dulden, sonst würden sich andere Leute womöglich noch ein Beispiel daran nehmen. Die Miene des Grafen verfinsterte sich und er erklärte: „Junge – du redest dich um Kopf und Kragen! Für diese freche Lüge musst du sterben, und zwar hier und jetzt.“
Dann rief er laut: „Als höchster Richter der Stadt Mellum verurteile ich dich hiermit zum Tode. Das Urteil wird sofort vollstreckt!“
Igor schloss die Augen. War es jetzt um ihn geschehen?
Graf Robos zog erneut sein Schwert und reckte es hoch in die Luft, um zuzuschlagen.
Doch plötzlich ertönte hinter ihm eine energische Stimme: „Halt! Warten Sie!“
Verblüfft ließ der Graf die Waffe sinken und drehte sich um.
Ein gut aussehender Mann mit blonden Haaren und einem Kapitänshut auf dem Kopf trat ihm entgegen. „Ist es hier in Mellum so üblich, dass man einen Menschen einfach umbringt, ohne dass dieser die Möglichkeit hatte, sich richtig zu verteidigen?“, erkundigte er sich höflich.
Der Graf runzelte die Stirn. „Wer bist du, Fremder, und wie kannst du es wagen, dich in unsere Angelegenheiten einzumischen?“
„Mein Name ist Käpten Wilbert Boynen Sturm. Sie haben gehört, was der Junge gesagt hat. Jeder hier Anwesende hat es gehört.“
„Was dieser Lausebengel behauptet, ist eine freche Lüge. Dafür muss er sterben!“
Bevor der aufgebrachte Mann weitersprechen konnte, legte ihm Käpten Sturm freundlich die Hand auf die Schulter. „Ich verstehe Ihre Wut, Herr Graf. Aber Sie müssen doch zugeben: Wenn Sie den Jungen jetzt töten, könnten die Bewohner dieser wundervollen Stadt womöglich glauben, dass er die Wahrheit gesagt hat. Und es ist für Sie doch bestimmt eine Kleinigkeit, das Gegenteil zu beweisen.“
Graf Robos wurde unsicher. Er schaute sich um und konnte an den Gesichtern der Leute ablesen, dass sie diesem Fremden zustimmten: Er sprach aus, was jeder dachte, aber niemand zu äußern wagte. Jeder Einwohner von Mellum wusste, dass Graf Robos skrupellos war und dass man ihm nicht trauen konnte.
Außerdem waren alle insgeheim von Igors Mut und Entschlossenheit beeindruckt, und seine Geschichte klang sehr überzeugend. Er sah wirklich nicht wie ein Lügner aus.
Graf Robos fluchte vor sich hin. Er war es gewohnt, immer recht zu haben. Wenn ihm keine guten Argumente mehr einfielen, regelte er die Dinge eben mit Gewalt. Schließlich war er der mächtigste Mann weit und breit! „Verschwinde von hier, Fremder!“, brüllte er. „Der Junge lügt und ist ein gemeiner Dieb. Dafür muss er sterben.“
Er hob sein Schwert und wollte zuschlagen.
Doch Käpten Sturm zog blitzschnell seinen Degen und fuhr dazwischen. Er wehrte Graf Robos’ Schwerthieb so geschickt ab, dass dieser verblüfft einen Schritt zurückwich.
Diese Gelegenheit nutzte Igor zur Flucht. Er schlüpfte einfach zwischen den verdutzten Männern hindurch, die ihn umringten, und rannte davon.
Die Leute in der Menschenmenge machten ihm sofort Platz. Keiner wollte ihn aufhalten.
Igor lief auf eine Häusergruppe zu, die sich in der Nähe des Fischmarkts befand. Zwischen zwei Gebäuden gab es einen schmalen Spalt, und im nächsten Augenblick war Igor darin verschwunden.
Als Robos’ Leute sich von dem Schreck erholt hatten, nahmen sie sofort die Verfolgung auf. Doch der Spalt, in den Igor sich gerettet hatte, war so schmal, dass sie sich nicht hineinzwängen konnten.
Schimpfend rannten sie um die Häusergruppe herum, um ihn auf der anderen Seite zu fassen. Doch der Junge war wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte es tatsächlich geschafft zu entkommen!
„Da siehst du, was du angerichtet hast!“, wandte sich Graf Robos empört an Käpten Sturm. „Dafür werde ich dich töten!“ Er fuchtelte mit seinem Schwert herum und versuchte, Käpten Sturm damit zu durchbohren.
Doch der wich elegant aus.
Ein Raunen ging durch die Menge. Dieser Fremde war nicht nur mutig – er bewies auch, dass man ihn nicht unterschätzen durfte.
Aber der Graf ließ nicht locker. Er glühte vor Zorn und griff seinen Gegner mit wuchtigen Schlägen an.
Da setzte auch Käpten Sturm seinen Degen ein, sodass sich ein heftiger Kampf entwickelte. Man hätte meinen können, dass der junge Käpten mit seinem leichten Degen gegen das massive Schwert des Grafen keine Chance hätte.
Doch in Käpten Sturms Blick war keinerlei Angst zu erkennen. Nein, ganz im Gegenteil: Seine Augen blitzten vor Abenteuerlust. Wie ein Akrobat tanzte er um seinen Gegner herum und brachte ihn mit seiner grandiosen Fechtkunst fast zum Wahnsinn.
„Lassen wir es gut sein, Herr Graf, sonst geschieht Ihnen noch etwas!“, rief Käpten Sturm schließlich und lachte vergnügt.
„Was soll mir schon geschehen, du Hund? Ich werde dich in Stücke hauen!“, erwiderte Graf Robos erbost.
Robos’ Männer waren inzwischen von ihrer vergeblichen Verfolgungsjagd zurückgekehrt und hatten den Kampf mit offenem Mund beobachtet. Dass jemand es wagen konnte, sich mit ihrem mächtigen Herrscher anzulegen, konnten sie kaum glauben. Deshalb hielten sie sich erst einmal zurück.
Doch jetzt meinte einer von ihnen, er müsse sich einmischen. Er trat von hinten an Käpten Sturm heran und zog sein Schwert.
Die Umstehenden schnappten erschrocken nach Luft. Diesen gemeinen Angriff konnte der mutige Fremde auf keinen Fall überleben.
Aber der schien sogar hinten Augen zu haben. Denn er holte blitzschnell einen langen Dolch aus der Tasche und fing damit den Schlag des zweiten Angreifers ab. Danach wirbelte er herum und stieß ihn mit seinem rechten Fuß so geschickt, dass er zusammensackte und liegen blieb.
Graf Robos witterte seine Gelegenheit und stürmte vorwärts, um Käpten Sturm endgültig zu besiegen.
Doch dieser wehrte die Attacke lässig mit seinem Dolch ab. Mehr noch – mit einer geschickten Bewegung seines Degens gelang es ihm sogar, Graf Robos das Schwert aus der Hand zu schlagen. Es fiel dem Grafen direkt vor die Füße, sodass er darüberstolperte und der Länge nach hinfiel.
Zwar wollte er sofort wieder aufspringen, aber er hatte seinen Gegner unterschätzt.
Denn Käpten Sturm schnappte sich ein robustes Fischernetz, das direkt vor seiner Nase an einem Verkaufsstand hing, und warf es über den Grafen. Bevor dieser reagieren konnte, hatte Käpten Sturm ihn darin eingewickelt, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte.
Einige Beobachter fingen spontan an zu klatschen. Es war einfach unglaublich, mit welcher Leichtigkeit dieser Fremde mit seinem Gegner fertigwurde.
„Schluss jetzt!“, rief Käpten Sturm versöhnlich. „Wir sollten es nicht übertreiben, Herr Graf. Wenn Sie einverstanden sind, trennen wir uns jetzt in aller Freundschaft!“
Anstatt auf dieses Friedensangebot einzugehen, fauchte Graf Robos: „Du bist wohl verrückt! Ich brauche meinen Leuten nur ein Wort zu sagen, dann werden sie dich in Stücke hauen!“
Er sah die übrigen vier Männer auffordernd an. „Wird’s bald, ihr Faulpelze?“
Widerwillig gingen seine Leute auf Käpten Sturm zu. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als dem Grafen zu gehorchen, deshalb zückten sie ihre Degen.
Aber nun reichte es Käpten Sturm. Er zog eine Pistole und richtete sie auf die Männer, die ihn ungläubig anstarrten. „Lassen wir es einfach gut sein! Ihr habt verloren. Und jetzt Platz da!“
Mit diesen Worten spazierte er mitten durch die Menge hindurch und verschwand in Richtung Meer. Niemand folgte ihm.
Im Hafen erwarteten ihn bereits die beiden Matrosen, die die schweren Kisten getragen hatten. Sie grinsten übers ganze Gesicht.
„Denen hast du es aber gezeigt!“, kicherte der eine, dessen Spitzname Seebär lautete. Er hatte einen Vollbart und trug eine lustige blaue Kappe mit gelben Tupfern.
Der andere – sein Spitzname war Brummel – fügte lachend hinzu: „Also, hier können wir uns künftig auch nicht mehr sehen lassen, nachdem du ausgerechnet den Grafen dieses lausigen Fischernestes verprügeln musstest!“
Brummel strich durch seine lockigen braunen Haare, die unter einer roten Kappe mit weißen Punkten hervorsahen. Dann fuhr er mit gespieltem Ernst fort: „Oder hättest du etwa Hilfe gebraucht?“
Käpten Sturm musste lachen. „Hilfe? Ach was! Es waren ja nur sechs bis an die Zähne bewaffnete Gegner, die mich beinahe zu Fischfutter verarbeitet hätten. Aber ich denke, letztlich konnte ich den Grafen und seine Spießgesellen mit ein paar schlagkräftigen Argumenten davon überzeugen, dass ich recht hatte.“
Vergnügt ruderten sie zur Esmeralda hinüber, wo Käpten Sturm auch vom Rest der Mannschaft begrüßt wurde.
Jeder respektierte den erst einundzwanzig Jahre alten Kapitän und war bereit, mit ihm durch dick und dünn zu gehen. Ja, auf seine Mannschaft konnte er sich voll und ganz verlassen.
Käpten Sturm gab den Befehl zum Ablegen. Daraufhin zogen einige Matrosen das Ruderboot aus dem Wasser und verstauten es auf dem Schiff. Anschließend holten sie den Anker ein und hissten die Segel. Und nur wenige Minuten später segelte die Esmeralda Richtung Süden, der Heimat entgegen.
Keiner der Männer bemerkte, dass eine Person zu viel an Bord war.
Endlich Wochenende!“, rief Lenny am Freitagmittag erleichtert. Er knallte seine Schultasche in die erstbeste Ecke und holte sich etwas zu trinken. Dann warf er sich auf das gemütliche Sofa, das in der riesigen Küche vor dem Kamin stand.
Der elfjährige Lenny und seine achtjährige Schwester Anne lebten noch nicht lange an der Ostsee. Ihre Eltern hatten hier ein altes Schmugglerhaus gekauft, das sich mitten im Wald befand. Darin hatte vor vielen Jahren ein geheimnisvoller Kapitän gewohnt, der sich Käpten Wilbert Boynen Sturm nannte. Was er alles mit seiner Mannschaft erlebt hatte, war in mehreren Logbüchern aufgeschrieben.
Die beiden Geschwister hatten schon ein paar dieser Logbücher entdeckt und hofften, bald ein weiteres zu finden. Denn in diesem alten Haus wimmelte es nur so von Geheimgängen und merkwürdigen Verstecken. Manchmal musste man sogar ein Rätsel lösen, um auf den nächsten Hinweis zu stoßen …
Opa Abraham hatte den Kindern bei dieser aufregenden Suche geholfen. Er konnte auch die altmodische Handschrift entziffern, in der die Einträge in den Logbüchern verfasst waren. Die ganze Familie freute sich, wenn er ihnen daraus vorlas. Dazu versammelten sich alle regelmäßig vor dem Kamin und verfolgten gespannt, wie Käpten Sturm die nächste Herausforderung bewältigte.
„Heute kommen Opa Abraham und Oma Sarah wieder von ihrer Reise zurück“, murmelte Anne, die am Esstisch saß und malte.
„Wird ja auch langsam Zeit. Sie waren jetzt über eine Woche weg.“
Anne warf ihrem Bruder einen verschwörerischen Blick zu. „Meinst du, Opa Abraham schafft es, die Tür zu dem Versteck zu öffnen?“
Die Kinder hatten nämlich einen Zettel entdeckt, auf dem beschrieben war, wo das dritte Logbuch stecken musste. Sie hatten alle Anweisungen genau befolgt und waren vor einer verschlossenen Tür gelandet. Leider wussten sie nicht, wie man das merkwürdige Schloss aufbekam, mit dem die Tür gesichert war.
„Pssst!“ Lenny zog die Augenbrauen hoch und legte schnell seinen Zeigefinger an den Mund. Dann schaute er sich um: Hörte ihnen jemand zu?
Doch Papa war noch bei der Arbeit und Mama war am Herd mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt. Da in der Küche leise Musik lief, würde sie nicht mitbekommen, was die beiden Kinder sagten.
„Klar schafft Opa Abraham das“, erklärte Lenny nun zuversichtlich. „Er hatte vor der Abreise nur keine Zeit mehr dafür. Aber glaub mir: Er brennt genauso wie wir darauf, das nächste Logbuch zu finden. Bestimmt wird er sich gleich heute darum kümmern.“
Stirnrunzelnd griff der Elfjährige nach einer Holzkugel, die auf dem Sofa lag. Er wog sie in der Hand, wie er es schon einige Male getan hatte, und überlegte laut: „Also, wir müssen davon ausgehen, dass diese Kugel irgendwie wichtig ist, weil wir sie in einer von Käptens Sturm Seefahrerkisten gefunden haben. Nur ist es uns bisher noch nicht gelungen, sie zu öffnen …“
Er verstummte und zuckte mit den Achseln.
Anne schaute ihn fragend an. „Was willst du damit sagen?“
„Eigentlich nichts. Ich habe nur laut gedacht. Aber ist dir schon aufgefallen, dass diese alte Holzkugel innen leer sein muss?“
„Was meinst du mit ‚leer‘?“
„Na, eben, dass gar nichts drin ist. Ich glaube, dass sich darin nur Luft befindet, sonst nichts.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, widersprach Anne.
Lenny schüttelte die Kugel vor ihren Augen und übergab sie ihr anschließend. „Hier, probier es mal selber aus.“
Nachdem Anne die Holzkugel vorsichtig hin und her geschwenkt hatte, kam sie zum gleichen Ergebnis. „Du hast recht! Da ist nichts drin, außer Luft. Aber wenn sie ohnehin leer ist – warum willst du sie dann öffnen?“
„Weil diese Kugel Safira gehört hat und weil sie es damals geschafft hat, sie aufzumachen. Was sie kann, müssten wir doch auch hinkriegen. Vielleicht sollten wir das Ding auch einfach mal auf den Boden werfen. So hat Safira die Kugel damals ja aufbekommen.“
Lenny stand auf und hielt die Kugel hoch über seinen Kopf, um sie herunterfallen zu lassen.
Doch in diesem Moment läutete die Haustürglocke. Anne sprang sofort auf und ging in den Flur. Nach kurzem Zögern legte Lenny die Holzkugel beiseite und folgte seiner Schwester. Er konnte es ja später noch versuchen.
An der Haustür waren Opa Abraham und Oma Sarah.
Oma Sarah umarmte die beiden Kinder zur Begrüßung und eilte dann in die Küche. Dort übergab sie Mama einen frischen Salatkopf, den sie ihr mitgebracht hatte. Und weil Mama mit dem Essen noch nicht fertig war, krempelte Oma Sarah sofort die Ärmel hoch und half ihr.
Opa Abraham hingegen schaute Lenny und Anne geheimnisvoll an. „Es gibt Neuigkeiten!“, verkündete er und zwinkerte ihnen zu.
Schnell stiegen alle drei die Treppe hinauf ins erste Stockwerk, marschierten durch den Flur und betraten Annes Zimmer.
Dort ließ Opa Abraham die Katze aus dem Sack: „Ich habe die Fotos von diesem geheimnisvollen Schloss in Hamburg einem Spezialisten gezeigt, der angeblich jedes Schloss auf der Welt kennt. Der war total begeistert und hat seine Archive danach abgesucht. Und wisst ihr, was er herausgefunden hat?“
Die Kinder schüttelten den Kopf und Opa Abraham sprach weiter: „Er hat absolut nichts herausgefunden. Er meinte, dass er so ein Schloss wie dieses noch nie in seinem Leben gesehen hätte. Und er wüsste auch nicht, wie man so etwas öffnet. Das Ding hat ja nicht einmal ein Schlüsselloch.“
„Dann sind wir also genauso weit wie vorher“, murmelte Lenny enttäuscht.
„Nein, nicht ganz. Denn auf dem Rückweg von Hamburg hatte ich eine Idee.“
Erwartungsvoll blickten die beiden Kinder ihren Großvater an.
„Ich glaube, dass es sich gar nicht um ein Schloss handelt.“
„Worum denn dann?“, fragte Anne erstaunt.
„Um einen bestimmten Mechanismus. Damit man diese Tür aufbekommt, braucht man keinen Schlüssel, sondern nur die richtige Idee.“
„Na ja, Ideen hast du ja eine ganze Menge“, kicherte Lenny. „Dann würde ich vorschlagen, dass du dir alles noch einmal genau anschaust. Vielleicht kommst du ja dahinter.“
„Das hoffe ich ebenfalls. Denn ich möchte unbedingt Käpten Sturms drittes Logbuch lesen.“