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MICHAEL HERBST,
FELIX EIFFLER

Mündig!

LEBENDIGES CHRISTSEIN
VOLLER KLARHEIT

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

INHALT

Über die Autoren

Einführung

Teil 1 | Klarheit gewinnen über Gott

Gottes Alleinstellungsmerkmal: Vergebung

Gottes Abstieg: Jesus tut, was getan werden muss

Gottes Aufstieg: Ostern als Wendepunkt unserer Geschichte

Jesus, der Mann mit den Schlüsseln

Jesus beruft Menschen wie Petrus

Warum beruft Jesus Menschen wie Petrus, dich und mich?

Wer ist der Heilige Geist und was tut er?

Teil 2 | Klarheit gewinnen über mich selbst

Ich bin getauft oder: Gott verbündet sich mit mir

Zwei Wege, Gott zu entdecken: Suchen und finden

Zwei Arten, Gott zu dienen: Glaube vs. Religion

Mündige Selbsteinschätzung: Ich, geliebtes Kind …

Mündige Selbsteinschätzung: Bin ich überhaupt Christ?

Mündig glauben: Gottes Wort im Boden meines Lebens

Teil 3 | Klar glauben und mündig leben

Mündig beten – als Kind des Vaters

Mündige Nüchternheit: Sei nicht übertrieben gerecht!?

Vom kindlichen Sorgen zum mündigen Unternehmertum

Mündig hoffen: Jesus kommt wieder

Zielfoto: Mündige Nachfolge

Anmerkungen

ÜBER DIE AUTOREN

Autor

Michael Herbst (Jg. 1955) war nach dem Theologiestudium wiss. Assistent (Erlangen), Pfarrer in Münster und im Kinderkrankenhaus Bethel. Von 1996–2021 war er Prof. für Praktische Theologie (Greifswald) und gründete 2004 das »Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung«.

Autor

Felix Eiffler (Jg. 1984) ist stellv. Direktor des »Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung« der Universität Greifswald und Vikar im Ehrenamt in der Nordkirche. Er hat sich viele Jahre in der »Jungen Kirche Berlin« sowie bei »GreifBar« in Greifswald engagiert.

EINFÜHRUNG

Volljährig. Erwachsen. Geschäftsfähig. Straffähig. Alles das umfasst Mündigkeit. Aber was bedeutet es, im Glauben an Jesus Christus mündig zu werden? Wie äußert sich Mündigkeit, und wie erreicht man sie? Also: Wie wird man eine mündige Christin bzw. ein mündiger Christ?

Wenn man den Begriff »mündig« als rechtlichen Begriff versteht, dann bedeutet »mündig glauben« so viel wie »erwachsen glauben«. Es beschreibt einen Glauben, der reif und den Kinderschuhen entwachsen ist. Mündiger Glaube ist Glaube, der nicht kindisch ist – also nicht unreif, nicht unreflektiert und nicht bequem.

Damit ist keineswegs gemeint, dass Glaube nicht kindlich sein soll – so wie es Jesus fordert (Markus 10,13-16) –, im Gegenteil! Kindlich sein bedeutet neugierig, vertrauensvoll und abhängig zu sein. Kinder wissen, dass sie vieles (noch) nicht können und Hilfe brauchen. Zudem wissen Kinder, dass ihre Eltern (normalerweise) für sie da sind und sie unterstützen. Kinder schätzen damit sich und ihre Situation durchaus zutreffend ein. Das kommt unserer Beschreibung von Mündigkeit schon ziemlich nah. Wenn wir von einem reifen Glauben sprechen, dann meinen wir einen Glauben, der in diesem Sinne kindlich ist: einen Glauben, der ein Gespür für die richtigen Verhältnisse hat. Einen Glauben, der neugierig und vertrauensvoll ist und von Gott und seiner Güte abhängig bleibt.

Aber wir verbinden noch mehr mit »mündig«. Im Anschluss an eine berühmte Formulierung des Philosophen Immanuel Kant lautet der Grundgedanke dieses Buches. Mündigkeit ist der Ausgang aus geistlicher Unmündigkeit, indem man über zwei Dinge Klarheit gewinnt: über sich selbst und über Gott. Oder anders: Mündig zu sein bedeutet, sich selbst zu durchschauen und Gott zu erkennen.

Sich selbst durchschauen heißt, dass wir keine Illusionen über uns haben, sondern uns so wahrnehmen, wie wir sind, sodass wir uns selbst realistisch einschätzen. Wir nehmen unsere Ambivalenzen wahr. Wir sind weder nur gut noch nur schlecht, sondern wir entdecken beides in uns: die Fähigkeit zu Gutem und zu Schlechtem. Sich zu durchschauen umfasst auch, dass wir den unangenehmen Seiten unseres Charakters nicht ausweichen und nicht nur unsere Schokoladenseiten betrachten. Letztlich bedeutet Selbsterkenntnis, dass wir uns so sehen, wie Gott uns sieht. Dann entdecken wir, dass wir zutiefst geliebt sind und zugleich von tiefem Misstrauen Gott (und anderen) gegenüber geprägt sind.

Selbsterkenntnis hängt also eng mit Gotteserkenntnis zusammen. Gott zu erkennen beschreibt einen sehr persönlichen und intimen Vorgang. Das hebräische Wort für »Gott erkennen« wird in der Bibel auch zur Beschreibung von Sex gebraucht (1. Mose 4,1). Sex beschreibt die intensivste und exklusivste Form, wie Menschen sich begegnen, sich empfangen und sich erkennen können. Die Erkenntnis Gottes hat auch diese Qualität: die intensive und exklusive Intimität. Es ist die Entdeckung des Herzens Gottes. Sein Wesen, seine Liebe und sein Charakter. Das innere Geheimnis Gottes beschreibet Johannes als Liebe (1. Johannes 4,7-21). Das Wunder dieser dynamischen Liebe beschreiben Christen mit dem Begriff »Trinität«. Gott ist nicht allein. Er ist drei in eins. Er ist Beziehung, Leben und Liebe. Und er lädt uns ein, Teil seiner Liebesbeziehung zu sein.

Mündiger Glaube ist der Glaube eines Menschen, der auskunftsfähig ist – über sich selbst und über Gott. Das bedeutet Mündigsein im wörtlichen Sinne: einen Mund und etwas zu sagen haben. Mit anderen Worten: Mündige Christen schätzen sich selbst und Gott realistisch ein. Sie verlassen sich nicht auf Vermutungen über Gott und geben sich keinen Illusionen über sich selbst hin. Sie kennen ihre Stärken und Abgründe. Sie stehen zu sich und versuchen nicht besser zu sein, als sie sind. Sie lassen sich nicht von Umständen, Scheitern, Erfolgen oder selbst von Menschen sagen, was sie wert sind. Sie lassen sich gefallen, was Gott über sie sagt: dass sie geliebt und vermisst, verloren und gefunden sind. Mündige Christen lassen sich von Gott lieben und vertrauen ihm letztlich mehr als sich selbst. Sie kennen Gottes und ihr eigenes Herz. Sie schließen von Gott auf ihre Umstände und nicht andersherum.

Und wie geht das? Wie wird man mündig? Wie gestaltet sich mündiges Christsein konkret? Woran merke ich, dass ich mündig bin? Wie durchschaue ich mich? Wie lerne und wo lerne ich Gott kennen? Woran merke ich, dass meine Beziehung zu Gott wächst? Solchen Fragen geht dieses Buch nach.

Wir freuen uns, dass Sie sich mit uns auf die Suche nach dem Geheimnis mündigen Glaubens machen. Wir wünschen Ihnen, dass Ihr Glaube durch die Lektüre an Klarheit gewinnt.

Wir danken denen, die uns geholfen haben, dieses Buch fertigzustellen: Lara Nayomi Keller und Stella Falgenhauer haben Korrektur gelesen. Der SCM Verlag hat unser Buch in sein Verlagsprogramm aufgenommen; wir danken Annalena Pabst, Christiane Kathmann, Heike Hütter und Carola Spengler für die Mühe mit unserem Buch. Wir danken unserer Gemeinde »GreifBar«, in der wir manches aus diesem Buch in unseren Predigten vorstellen konnten. Wir danken unseren Ehefrauen; ohne die Gemeinschaft mit ihnen könnten wir kaum schreiben, was wir geschrieben haben. Denn sie gehören wesentlich zu denen, die uns auf unserer Reise zu mündigem Christsein geholfen haben.

Michael Herbst und Felix Eiffler
Weitenhagen und Greifswald, im August 2021

Teil 1: Klarheit gewinnen über GottTeil

Gottes Alleinstellungsmerkmal: Vergebung

Ich mag diesen »kleinen Propheten« schon wegen seines Namens: Micha. Das muss ja gut werden! Micha, Kurzform für Michael. Als ich geboren wurde – und das ist noch nicht so lange her –, da war Michael die Nr. 1 unter den Jungennamen. Mit Abstand. Wenn damals ein Kind geboren wurde, hieß es Angelika oder Michael. Michael – deutlich vor Klaus, Peter, Hans, Jürgen und Thomas. Das waren noch Zeiten. Heute lauten die Spitzenreiter bei den Jungennamen Noah, Ben, Matteo und Finn. Und was wurde aus Michael? Es ist eine Schande: Michael liegt auf Platz 92, hinter (hinter!) Pepe, Fiete und Fritz. Verrückte Zeiten.

Micha lebte vor über 2700 Jahren in Israel, 750 Jahre vor unserer Zeitrechnung, und hatte einen besonderen Beruf – er war Prophet. Nicht, weil er Voraussagen über die Zukunft gemacht hätte, sondern weil er sagen konnte, wie es um sein Volk stand, und »klare Kante« zeigte. Micha nahm keine Rücksicht auf zartbesaitete Gemüter. Er kritisierte die Zustände in seinem Land hart. Er machte mehr als deutlich, dass Gott, in dessen Dienst er stand, überhaupt nicht einverstanden war mit dem, was er sah. Und was sah er? Er sah, wie Reiche immer reicher und Arme immer ärmer wurden. Er sah Korruption und Betrug, er sah rücksichtslose und verlogene Machthaber. Und Micha sagte: »Gott wird sich das nicht mehr länger anschauen.«

Interessant: Gott findet solche Zustände nicht lustig! Prophet war Micha, weil er das laut und deutlich aussprach. Prophet war Micha, weil er dazu aufrief, umzukehren, sein Leben zu ändern, anders miteinander umzugehen.

Mündig sein heißt: sich unangenehmen Wahrheiten stellen

Sein Buch ist eher ein Büchlein, gerade mal sieben Kapitel lang – aber sieben Kapitel, die es in sich haben. Micha wettert, zetert, kritisiert, schimpft, klagt. Er lässt kein gutes Haar an seinen Zeitgenossen. Und damit zeigt er uns einen Ausschnitt vom Leben, der nicht wirklich schön ist. Er zeigt uns, was Schuld macht. Und er sagt: »Das ist wirklich hässlich, und für dieses Problem braucht ihr eine Lösung. Habt ihr eine Lösung?«

Wir müssen uns auf dem Weg zum mündigen Christsein über dieses unangenehme Thema verständigen. Denn es gehört (leider! Leider?) zum Mündigwerden, sich unangenehmen Themen zu stellen.

Sprechen wir also über Schuld. Und darüber, was sie anstellt. Nicht weil die frommen Leute immer Spaß daran haben, alle anderen als Sünder zu sehen. Sondern weil Schuld das Leben so sehr beeinträchtigt. Weil Schuld so viel kaputt macht. Weil Schuld uns in eine fatale Form von Unmündigkeit verfrachtet.

Wie sieht das aus? Ich will es bei einem Beispiel belassen. Nur eines. Und zwar eines, bei dem ich vermute, dass die meisten sagen werden: »Das ist wirklich nicht gut. Es ist hässlich. Es macht so viel kaputt. Wir brauchen eine Lösung!« Aber haben wir eine Lösung? Ein Beispiel, bei dem sich bei den meisten innerlich etwas regt und das Gewissen schlägt. Das Beispiel stammt von Micha.

Der Prophet beschreibt in wenigen Kapiteln das Leben zu seiner Zeit: Familien, Beziehungen und so weiter. Und er zeigt, was Schuld da anstellt. In Familien. In Beziehungen. Schuld ist ein Killer. Schuld bringt Beziehungen an den Abgrund, denn Schuld zerstört Familien (Micha 7,5-7):

Niemand kann seinem Nächsten noch über den Weg trauen. Niemand kann sich auf seinen Freund verlassen. Man muss aufpassen, worüber man redet, wenn man mit diesem oder jener spricht. Kann ich ihm vertrauen? Was wird sie damit machen? Söhne verachten ihre Väter. Töchter wollen mit ihren Müttern nichts mehr zu tun haben. Am schlimmsten ist es mit Schwiegermüttern. Tatsächlich. Ist so. Steht so in der Bibel! Und dann fasst Micha das alles zusammen, fast wie in einem Sprichwort: »Jeder Mensch hat seine Feinde im eigenen Haus« (Micha 7,6). Das alles wird durch Schuld verursacht.

Gott sei Dank ist es nicht immer so. Es gibt auch andere Verhältnisse. Familien können gut funktionieren und Menschen können einander vertrauen. Alt und Jung leben friedlich miteinander, selbst mit der Schwiegermutter.

Aber wir wissen ebenso: Immer wieder passiert es. Schuld macht kaputt. Irgendwann läuft etwas schief. Anfangs ist es gar nicht so schlimm. Eine Kleinigkeit. Ein Fehler. Ein Versäumnis. Jemand hat etwas vergessen. Die Tochter hat mich enttäuscht. Der Partner hatte einen schlechten Tag. Aber dann wird mehr daraus. Das Gespräch erstirbt. Böse Worte fallen. Gutes wird nicht mehr getan. Schweigen kehrt ein. Es wird nicht mehr verziehen. Schweigend liegt man nebeneinander. Jeder geht seine eigenen Wege und das Vertrauen schwindet.

Und schließlich kommt man an den Punkt, da wird aus einem Streit ein Konflikt, und aus dem Konflikt wird langsam Feindschaft. Irgendwann legt einer den Schalter um: Der andere tut nicht nur Böses, er ist böse. Irgendwann ist vergessen, dass man einander einmal so sehr gemocht, vertraut und geliebt hat. Jetzt entzieht jeder dem anderen seine Zuneigung und Hilfe. Schlägt zurück. Wird schuldig, macht Fehler, ohne Reue, jetzt, wo der Schalter umgelegt ist.

Schuld zerstört. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: Ich tue es auch. Ich beteilige mich an elenden Teufelskreisen und wirke eifrig daran mit, dass es wahr wird: »Jeder Mensch hat seine Feinde im eigenen Haus« (Micha 7,6).

Irgendwann ist es dann so weit. Schuld greift um sich. Ganze Dörfer sind betroffen und zeigen, was passiert: Niemand kann seinem Nächsten über den Weg trauen. »Jeder Mensch hat seine Feinde im eigenen Haus.« Das stellt Schuld an. Ach, seien wir doch ehrlich: Das stellen wir an. Ich. Du. Wir alle.

Und oft genug finden wir keinen Ausweg mehr. Innerlich verbittert. Oder voller Scham. Ratlos, aber auch gründlich verärgert. Kein Weg führt mehr zurück zu dem Menschen, der einmal so wichtig war, so herzlich verbunden, so vertraut. Zu dem Kind, das wir im Arm hielten, oder zu dem Vater, in dessen Arme wir sprangen. Zu dem Freund, mit dem wir stundenlang redeten, oder zu der Liebsten, für die wir täglich an der Bushaltestelle standen. Kein Weg zurück. Zwischen uns ist es tot. In uns ist es dunkel. Und wir wissen, dass wir nicht unschuldig sind. Wenn wir ehrlich sind, dann spüren wir es in einem Winkel unseres Herzens. Auch ich. Nicht nur der andere. Auch ich. Ganz selten nur liegt es nur an einem, ganz oft liegt es auch an mir. Wir sind so. Es liegt auch an mir.

Mündig? Nein, die Schuld hat uns den Mund verboten, besser noch: verschlossen. Wir agieren wie unter Zwang. Wir sind gefangen im Teufelskreis von Missgunst und Bitterkeit, von Verletzen und Verletztwerden.

Wie wäre es, wenn …

Micha fragt: »Ist es nicht so?« »Nicht immer«, sagen wir. Aber doch viel zu oft. Wir kennen das. Wir waren selbst schon da, wo es so ist. Vielleicht sind wir dort auch jetzt.

Micha fragt: »Wie wäre es, wenn es jemanden gäbe, der damit fertigwird?«

»Wo sollte so jemand sein?«, könnten wir fragen.

Micha entgegnet: »Was, wenn im Himmel eine Macht wäre, die mit Schuld fertigwird? Was, wenn Gott den Willen und die Kraft hätte, Schuld zu vergeben? Was, wenn es dem, von dem alles kommt, das Herz zerreißt, wenn er sieht, wie ihr euch quält? Was, wenn es Gottes Alleinstellungsmerkmal ist, zu vergeben?«

»Moment«, sagen jetzt die einen. »Gott? Gott kommt in unserer Rechnung nicht vor. So sind wir nicht erzogen worden. Unsere Stadt im Osten ist eine Stadt ohne Gott! Das hat man uns so beigebracht. Mündige Menschen sind vernünftig ohne Gott! ›Der Himmel ist leer‹, das war unser Bekenntnis. Wo soll jetzt auf einmal ein Gott herkommen?«

»Einen Augenblick«, sagen die anderen. »Gott? Also gut, wir denken schon, dass Gott da ist. Wir gehen auch davon aus, dass er etwas mit uns zu tun hat. Er hat die Welt geschaffen. Er hat Gebote verordnet. Und er wird uns am Ende unserer Tage zur Rechenschaft ziehen. Wir haben den Eindruck: Er ist gerecht. Er ist streng. Hat Micha nicht wieder und wieder gesagt: ›Gott lässt sich das nicht bieten!‹? Hat er nicht hart kritisiert, wie es hier zugeht, und Strafe angekündigt, wenn wir unser Leben nicht ändern?«

Und dann sagen sie beide, die einen und die anderen: »Gott? Diese Lösung enttäuscht uns. Falls es dich gibt, sagst du uns hiermit also, wie es um uns steht. Okay, schuldig im Sinne der Anklage! Aber deine Lösung? Müssten mündige Menschen nicht selbst damit fertigwerden?«

Aber Micha bleibt auf Kurs. »Ach was«, sagt er. Zunächst mal: »Sehnt ihr euch nicht nach einer Lösung? Nach einem Neuanfang? Nach Entlastung von alten Verfehlungen? Nach Verzeihen und Versöhnung? Nach einem frischen Start? Noch einmal anfangen können? Ganz von vorne? Immer wieder? Ohne die alten Schulden? Dann hört doch wenigstens mal zu! Hört zu, wie Gott ist:

Gibt es einen Gott, der so handelt wie du, der Schuld vergibt und Fehler nicht anrechnet? Tut er es nicht für den Rest seines Eigentums? Ja, er hält nicht für immer fest an seinem Zorn. Denn die Güte liegt ihm mehr am Herzen. Er wird wieder Erbarmen mit uns haben: Er wird unsere Schuld zertreten und alle unsere Vergehen tief im Meer versenken. Ja, du wirst Jakob die Treue halten und Abraham mit Güte begegnen. So hast du es unseren Vorfahren geschworen, und zwar von Anfang an.«

Micha 7,18-20

In die Tonne gekloppt und ins Meer versenkt

Warum solltet ihr bei den alten Geschichten bleiben? Stadt ohne Gott? Wer sagt, dass eure Lehrer damals in der Schule recht gehabt haben? Warum muss es stimmen, was man euch eingeimpft hat? Was, wenn jene Menschen die Wahrheit sagen, die behaupten: »Es war Gott, der mich ins Leben gerufen hat. Es ist Gott, der für mich sorgt. Ich habe es erfahren: Es ist Gott, der mich entschuldet. Er hat mir einen neuen Anfang geschenkt. Er hat alte Lasten von mir genommen«?

Micha beschreibt es so: »Er zertritt die Schuld.« Bei uns in Westfalen heißt es: »etwas in die Tonne kloppen«. Gott kloppt die Schuld in die Tonne. Micha gebraucht noch eine andere Wendung: »Er versenkt die Schuld in den Tiefen des Meeres.« An der Ostsee muss man dazu ziemlich weit rausfahren. Ganz weit weg, ganz tief unten. Mülleimer und Meer erzählen es: »Sie ist weg, die Schuld, wenn Gott sich ihrer annimmt. In die Tonne gekloppt. Im Meer versunken. Denkt doch mal! Wenn das wahr wäre! Wäre es nicht einen Versuch wert?«

Und ihr, habt ihr Gott wirklich schon ganz verstanden? Ihr glaubt an ihn. Recht so! Ihr seht, dass er euch das Leben gegeben hat und es erhält. Ja. Ihr erkennt an, dass er die Regeln für ein gutes Leben aufgestellt hat? So ist es! Ihr habt verstanden, dass Gott es nicht ausstehen kann, wenn ihr Arme unterdrückt, betrügt und lügt, eure Beziehungen vor die Wand fahrt und aus Liebe Feindschaft werden lasst? Ihr seht, dass ihr eines Tages für euer Leben Rechenschaft ablegen müsst? So ist es, so ist es wirklich.

Mündiges Dasein ist rechenschaftspflichtig. Man erkennt den Erwachsenen daran, dass er weiß: Zu alledem muss ich »ich« sagen. Ich muss für mein Dasein geradestehen. Ich werde zur Verantwortung gezogen. Als mündiger Mensch entziehe ich mich der Verantwortung nicht. Wie auch, es würde ja sowieso nicht funktionieren!

Aber wenn das alles ist, was ihr von Gott begriffen habt, dann tut ihr mir leid. Dann habt ihr das Ende nicht gelesen! Dann seht ihr nur das halbe Bild. Micha sagt all das, was ihr auch sagt. Aber dann erklärt er: Für jeden anderen wäre dies das Ende. Nicht für Gott. Dieser leidenschaftliche Gott erträgt es nicht, euch loszulassen. Es zerreißt ihm das Herz. Er sucht einen anderen Weg. Die Schuld muss weg. Gott wird einen gewaltigen Preis dafür bezahlen, dass sie wegkommt. Aber das ist eine andere, eine lange Geschichte. Vergebung heißt Gottes Lösung. Vergebung für jeden, der es sich gefallen lässt. Vergebung für jede, die sich danach sehnt. Noch einmal anfangen. Alle Rechnungen beglichen. Das Gewissen frei und froh, das Herz leicht, die Last vom Rücken gehoben, der Gang aufrecht, mündiges Leben »reloaded«.

Vergebung! Vergebung?

Micha sagt: »Genau das, haargenau das will ich euch doch sagen: Das ist Gottes Alleinstellungsmerkmal. Vergebung! Für jeden, der sie will. Für jede, die es sagt: Vergib, mein Gott, verzeih mir, was ich angestellt und kaputt gemacht habe. Entschuldige mich! Und Gott? Gott tut, was Gott tun will: Er tritt Schuld in die Tonne. Er versenkt Versagen im tiefsten Meer. Weg. Frei. Neu. Und dann spürst du: Ich fange noch einmal an. Von vorne. Ein erstes Mal. Und wenn es sein muss, an jedem neuen Tag noch einmal.«

»Nun mal langsam«, möchten manche jetzt antworten, »nehmen wir an, es sei so mit Gott. Er sei so: Barmherzig nennt ihr das, mitfühlend und warmherzig, nicht hart und kalt. Okay. Nehmen wir weiter an: Man kann mit ihm reden. Man kann über Sachen mit ihm reden, über die man nicht gerne redet. Über Scham. Schuld. Feindschaft. Zerbrochene Liebe. Verbitterte Kinder. Verlorene Töchter. Verlorene Väter. Man könnte sagen: Ich möchte meine Schuld loswerden. Und er hätte tatsächlich die Macht, Schuld zu vergeben. Und – jetzt wage ich mich weit vor!!! – ich würde es spüren, wäre frei und wie neugeboren. All das mal vorausgesetzt, jedenfalls für den Moment – was dann? Wird dann alles gut? Freunde vertrauen einander wieder? Gespräche leben auf? Paare gehen wieder Hand in Hand? Väter und Söhne sitzen abends mit einem Bier am Feuer? Schwiegermütter werden zu Vertrauten? Alte Geschichten werden beerdigt? Und man fängt noch einmal neu miteinander an? Echt jetzt?«

»Tja«, sagt Micha, »das kann alles passieren. Das ist alles schon passiert. Es fängt an. Aber ehrlich: Es ist immer erst einmal: ein Anfang. Hier und da. Ein Anruf. Ein vorsichtiges Kontaktaufnehmen – keine großen Versprechungen! Ein klärendes Gespräch. Anfängliches Vertrauen. Eine ausgestreckte Hand. Es fängt an.«

Wir wagen es mit der Beichte und hören, wie Gott uns ausrichten lässt: »Dir sind deine Sünden vergeben!« Nicht allgemein, sondern persönlich, spürbar, gewiss! Dann geht es weiter: Wir suchen uns Hilfe. Wir gehen zur Beratungsstelle. Wir arbeiten mit einem Seelsorger, einer Therapeutin an alten Geschichten. Wir lernen neu, was es heißt, zu lieben, zu verzeihen, füreinander da zu sein. Es fängt an. Noch fängt es nur an. Manche Narbe bleibt. Manches kommt nur allmählich zur Ruhe. Manches bleibt noch lange schwierig. Vielleicht noch nicht wieder Hand in Hand, noch nicht zusammen mit dem Bier am Feuer. Vielleicht aber auch nicht mehr stumm, verbittert und verbrettert, nicht mehr auseinander, sondern zueinander.

»Aber«, sagt Micha, »so fängt es an. Es fängt in euch an. Im Herzen. Im Gewissen. Da, wo die quälende Schuld hockt. Wo der Unrat sich breitgemacht hat. Der muss in die Tonne gekloppt werden. Das muss im Meer versenkt werden. Und so kann es anfangen. Wieder. Von Neuem. So fängt Gott an. So macht er das!« Das ist die Grundlage mündigen Lebens. Einmal und dann immer wieder!

Micha. So heißt der Mann, der das erzählt. So endet sein Buch. Er ist ein cleveres Kerlchen, der Micha. Sein Name ist Programm. Alle Michas tragen es in ihrem Namen. Micha ist nämlich die Kurzform von Michaja oder Michael und bedeutet auf Deutsch: »Wer ist wie Jahwe?« Oder: »Wer ist wie Gott?«

Wer ist so? Wem zerreißt es das Herz, wenn er an uns denkt? Wer kann Schuld in die Tonne kloppen wie er? Wer ist wie Gott? So warmherzig und barmherzig mit mir?

»Keiner«, sagt Micha. So ein schöner Name: Michael. Wer ist wie Gott? Man sollte wieder mehr Kinder so nennen. (mh)

Gottes Abstieg: Jesus tut, was getan werden muss

Es gibt Momente im Leben …

Es gibt Momente im Leben, in denen ganz klar ist, was zu tun ist. In denen man weiß: Das muss jetzt passieren. Vielleicht geht man an einem See vorbei. Auf dem Steg spielen zwei Kinder, vielleicht sieben Jahre alt. Eines stolpert, fällt ins Wasser und kann offensichtlich nicht schwimmen. Dann ist völlig klar, was zu tun ist: Man muss da jetzt reinspringen und dieses Kind rausholen. Man wird in so einem Moment nicht überlegen, ob das Wasser vielleicht kalt ist oder schmutzig, man wird nicht denken: »Ich habe die Hose gerade heute frisch angezogen. Nachher stinkt die nach Fischwasser.« Das alles denkt man nicht für eine Sekunde, sondern man weiß, was jetzt getan werden muss: Man muss dieses Kind retten.

Oder ein cineastisches Beispiel: Django, der Held des Films »Django unchained«, ist ein Sklave, der freikommt und sich mithilfe des Kopfgeldjägers Dr. King Schultz auf die Suche nach seiner Frau Hildi macht, von der er vor längerer Zeit getrennt wurde. Er weiß nicht einmal, ob sie noch lebt, aber er will sie suchen. Schließlich findet er heraus, dass Hildi an den Plantagenbesitzer Calvin Candie verkauft wurde – ein ziemlich übler Kerl. Django gelangt mithilfe seines Kopfgeldjägerfreundes zu der Plantage von Candie. Da es auffällig wäre, wenn sie nach einer einfachen Sklavin fragen würden, geben sie vor, einen besonderen Sklaven kaufen zu wollen, um Hildi mitzukaufen und auf diesem Weg zu befreien.

Hildi ist unglaublich begeistert und völlig fassungslos, dass Django noch lebt. Und auch Django hätte vermutlich nicht gedacht, dass er seine Frau noch einmal wiedersieht – vor allem gesund und unversehrt. Ihr Leben war schwierig und hart und sicherlich nicht schön, aber sie lebt und es geht ihr weitestgehend gut.

Calvin Candie merkt jedoch, dass die beiden Männer eigentlich Hildi kaufen wollen und keinen anderen Sklaven, und er bedroht Hildi mit einer geladenen Flinte. Calvin Candie ist niemand, der Skrupel hätte, eine Sklavin zu erschießen. Sie ist sein Besitz, das Leben dieser Person zählt nichts.

Was tut Django? Django, der seine Hildi vermisst, sich nach ihr gesehnt, sie gesucht und viele Mühen auf sich genommen hat, um sie zu finden? Der sie letztlich findet – gesund, lebendig, wohlauf –, er tut das einzig Sinnvolle, das jetzt getan werden muss: Er stellt sich zwischen die Flinte und seine Hildi. Wie gesagt ist Calvin Candie niemand, der Skrupel hätte, jemanden zu erschießen, vor allem keinen Schwarzen. Kein vernünftiger Mensch würde sich normalerweise vor eine Flinte stellen, die dieser Mann in der Hand hält. Aber in dieser Situation ist es das einzig Richtige – eben das, was getan werden muss. Django drückt damit aus: »Wenn irgendjemand heute hier zu Schaden kommt, dann bin ich es und nicht Hildi.«

Mündige Menschen zeichnet aus, dass sie wissen, was zu tun ist. Mündige Christen zeichnet aus, dass sie Situationen richtig einschätzen und sich ihrer Verantwortung nicht entziehen, sondern tun, was getan werden muss.

Der Menschensohn

Es gibt Momente im Leben, in denen ganz klar ist, was getan werden muss. Von solch einem Moment spricht Jesus, wenn er sagt: »Der Menschensohn muss erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat« (Johannes 3,14-15). Jesus spricht öfter von diesem Menschensohn. Die Leute um ihn herum – seine Zeitgenossen, Freunde, Bekannten, Weggefährten, die Menschen, die ihm zuhören – wissen, wer der Menschensohn ist. Sie kennen die alte Verheißung aus dem Buch Daniel (7,13-14), einem der Prophetenbücher ihrer heiligen Schriften. Daniel hatte eine Vision und berichtet, dass am Ende der Zeit ein besonderer Mensch kommen wird – ein Menschensohn. Wörtlich heißt es eigentlich nur ein »Mensch«. Ein Mensch, dem Gott alle Macht überträgt. Ein Mensch, dem Gott alles anvertraut. Ein Mensch, der die Welt regieren soll, der alle Macht bekommt, der gerecht und aufrichtig diese Welt regieren und Gutes bringen wird. Eine Erlösergestalt. Der Menschensohn ist ein hoher Titel, der bei den Juden damals viele Erwartungen und Hoffnungen weckt.

Jesus spricht immer öfter von diesem Menschensohn. Er tut es meist in der dritten Person. Anfangs ist den Leuten vermutlich gar nicht so klar, wen er damit meint. »Von wem spricht er? Wir kennen diese Figur, aber wer ist das? Warum spricht er vom Menschensohn?« Nach und nach merken sie, dass Jesus sich selbst meinen könnte. Und schließlich wird immer deutlicher: Ja, er spricht von sich selbst. Er spricht von sich in der dritten Person und identifiziert sich mit diesem Menschensohn – mit dieser Figur ganz am Ende der Geschichte, diesem Menschen – diesem besten Menschen, den man sich vorstellen kann. Ein Mensch im besten Sinn des Wortes, ein gerechter, ein guter, ein edler, einer, der von Gott alle Macht bekommt, einer, der eine ganz enge Verbindung zwischen den Menschen und Gott herstellt. Das ist ein ziemlich großer Anspruch.

Aber die Leute, die mit Jesus unterwegs sind, erleben genau das in der Begegnung mit ihm – sein Umgang mit den Menschen, seine Zuwendung, seine Vollmacht, sein klarer Blick ins Herz jeder und jedes Einzelnen –, diese Erfahrungen bestätigen ihnen, dass dieser Anspruch stimmen könnte. Die Menschen erleben, dass Jesus sie kennt. Männer treffen ihn zum allerersten Mal und nach einem kurzen Augenblick schaut Jesus tief in ihr Herz. Frauen, die ihm begegnen, merken: Dieser Mann kennt mich besser, als ich mich selbst kenne. Er versteht mein Leben so klar, so eindeutig, als wäre es vor ihm ausgebreitet.

Diese Erkenntnis ist ziemlich erschreckend, aber letztlich doch sehr wohltuend. Die Menschen erleben, dass Jesus sie kennt und durchschaut.

Aber da ist noch mehr: Sie entdecken, dass Jesus nicht nur sie, sondern auch Gott auf eine intime und persönliche – auf eine sehr unmittelbare – Art und Weise kennt, die sie sich nicht einmal vorstellen können. Er beschreibt Gott mit Worten und Bildern, die uns Menschen unvorstellbar sind und gleichzeitig so wahr klingen und Sehnsucht in uns wecken.

Jesus kennt die Menschen und er kennt Gott. Jesus kennt beide genau, detailliert und er verbindet damit zwei Welten miteinander, die eigentlich getrennt sind.

Menschensohn und Gottessohn

Zwei Welten, deren Beziehung von Misstrauen und Skepsis geprägt ist, bringt dieser Mann zusammen, denn in ihm kommen beide zusammen: Gott und Menschheit. Neben Menschensohn gibt es da nämlich noch diesen anderen Titel von Jesus: Sohn Gottes. Dieser sagt sehr viel darüber aus, wer Jesus ist.

Wenn ich eine Statue von mir bauen würde und so begabt wäre wie Michelangelo (das bin ich zwar nicht, aber sagen wir mal, ich wäre es) – dann würde mir diese Figur rein äußerlich in allem ähneln: Größe, Statur, Gesicht und so weiter. Meine Tochter hingegen sieht ziemlich anders aus als ich. Wir haben zwar die gleiche Augenfarbe und sogar die gleiche Frisur (ich hoffe, dass sich das bei ihr noch ändert), aber abgesehen davon sind wir uns nicht sehr ähnlich. Sie ist deutlich kleiner und hat so dicke Backen und sieht in fast jeder Hinsicht ganz anders aus – und trotzdem ist sie mir viel ähnlicher als diese Marmorstatue. Die Statue sieht mir zwar ähnlicher, aber sie hat eine ganz andere Qualität, denn sie hat nicht mein Wesen. Sie ist kein Mensch. Meine Tochter aber ist ein Mensch – und mein Kind – und mir deshalb ähnlich.

Wenn Jesus also sagt: »Ich bin der Sohn Gottes«, dann sagt er: »Ich bin göttlich, weil Gott und ich das gleiche Wesen haben. Wir sind verwandt. Ich komme von Gott. Mehr noch: Ich bin Gott.« Jesus verbindet diese zwei Welten. Jesus ist – das dämmert den Menschen, die mit ihm unterwegs sind, nach und nach –, Jesus ist mehr als nur ein Mensch, der Gott gut kennt. Jesus ist Gott. In ihm kommt Gott selbst. Deshalb kennt er die Menschen so gut, durchschaut sie, liebt sie, blickt ihnen tief ins Herz. Und deshalb kennt er Gott so gut, nennt ihn Vater und spricht von ihm als einem wahren Freund. Jesus gibt Gott ein Gesicht. Er stellt Gott vor und an ihm kann man ablesen, wer und wie Gott ist: ein liebender Vater. Alles Rätseln und Mutmaßen ist damit vorbei. Alle Spekulationen, wie Gott sein könnte und wie wir ihn uns vorzustellen haben, haben ein Ende, denn Jesus zeigt uns, wie Gott ist. Jesus ist so etwas wie Gottes ganz großes Ausrufezeichen hinter dem Satz: Ich liebe euch und ich möchte bei euch sein, da ihr mir fehlt!

So sendet Gott seinen Sohn. Sein Bestes. Ja sich selbst. Als Geschenk. Als Kind in einer Krippe. Als Helfer inmitten der Nöte seiner Zeit. Als beliebter Partygast. Als vollmächtiger Prediger, der Gott kennt und weiß, wovon er redet. Als Freund derer, die am Rand stehen und keine Freunde haben. Als Provokateur, der mit vielen Konventionen bricht. Als Förderer von Frauen, lange bevor der Feminismus erfunden wurde. Als Verteidiger der Rechte von Kindern. Als Einladung an alle Menschen, ihm zu vertrauen. Ihm zu glauben und sich gefallen zu lassen, was Gott durch ihn tut.

Mündiges Christsein bedeutet, dass ein Mensch Klarheit darüber gewonnen hat, wie Gott ist. Dass ein Mensch unterscheiden kann zwischen seinen eigenen Vorstellungen, Wunsch- oder Zerrbildern von Gott und Gott selbst. Mündiges Christsein lernt von Jesus, wer und wie Gott ist: Gott als liebender Vater. Gott als treuer Freund. Gott als Zuhause für meine Seele und mein Herz. Mündiges Christsein sucht Gott nicht in den (Un-)Tiefen der eigenen Seele, sondern dort, wo er sich zeigt: in Jesus und seinem Weg.

Der Menschensohn muss erhöht werden

Gott stellt sich in Jesus vor und die Menschen, die mit Jesus unterwegs sind, merken: Wenn Jesus vom Menschensohn spricht, dann spricht er von sich. Ihnen dämmert: Er meint sich selbst. Die Ereignisse, an die der Palmsonntag erinnert, scheinen das zu bestätigen, denn Jesus zieht in Jerusalem ein wie ein König. Er wird begeistert empfangen. Die Leute jubeln ihm zu, sie loben ihn, sie stimmen Lieder an, sie wedeln mit Palmen. Das macht man für Könige. Sie ziehen ihre Mäntel aus und legen sie auf den Boden. Sie sagen: »Das ist gerade gut genug, dass du mit deinem Esel darüberreitest.« Sie ehren Jesus, sie erhöhen ihn, sie jubeln ihm zu.

Der Menschensohn muss erhöht werden.

Jesus kündigt es an – lange vorher. Und es sieht alles ganz gut aus. Genau das passiert doch nun: Der Menschensohn wird erhöht. Aber den meisten ist sicherlich bekannt, dass es dann anders kam. Am Sonntag wird Jesus begeistert empfangen und noch in derselben Woche (welche die Evangelien sehr detailliert schildern) wird Jesus verraten. Wird verhaftet, verachtet, verspottet und verurteilt. Am Freitag dieser Woche – dem Karfreitag – wird er schließlich hingerichtet. Er stirbt an einem römischen Kreuz auf eine äußerst grausame und brutale Art. Es ist offensichtlich anders gekommen als erwartet. Zumindest anders, als es die Freunde von Jesus erwartet haben.

Aber: Ist es wirklich anders gekommen? Was wäre, wenn da überhaupt nichts schiefgelaufen, sondern alles nach Plan verlaufen ist?

Der Menschensohn muss erhöht werden.

Versteht Jesus unter Erhöhung etwas ganz anderes? Versteht er darunter vielleicht nicht Jubel und Ehrung, einen festlichen Empfang oder eine Krönung? Vielleicht versteht er darunter die schlichte Erhöhung einer Person zwei Meter vom Erdboden. Die schlichte physische Erhöhung, wenn ein Mensch an ein Kreuz genagelt wird.

Wenn man die Evangelien liest, dann wird deutlich: Jesus wollte und musste das tun. Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass es von Anfang an genau so geplant war. Jesus spricht sehr häufig davon. Er sagt es seinen Freunden immer wieder: »So wird es geschehen. Ich werde verraten, verachtet, verspottet, verurteilt und gekreuzigt werden.« Aber auch dies sagt er ihnen: »Am dritten Tage werde ich auferstehen« (vgl. Matthäus 16,21; 17,22-23; 20,17-19).

Erhöht? Erhöht!

Der Autor des Johannesevangeliums benutzt den Begriff »Erhöhung«. Er ist der einzige der vier Evangelisten, der das tut, und er verwendet diesen Begriff, der beides beschreibt, vermutlich sehr absichtsvoll: die Erhöhung als eine Ehrung, als Anerkennung, wer Jesus ist. Und die Erhöhung als eine Kreuzigung. Die brutale Wirklichkeit einer Kreuzigung. Die brutale Wirklichkeit, wenn ein Mensch auf diese Art und Weise erhöht wird, ganz physisch, ganz konkret.

Johannes beschreibt aber auch die darin liegende Schönheit. In all dem Verstörenden und Grausamen liegt etwas Wunderschönes, denn der Menschensohn tut etwas, was nur er tun kann.

Die Einheit zwischen Gott und Mensch, die in Jesus so deutlich wird, möchte er nicht für sich behalten. Sie soll ein Vorgeschmack darauf sein, was in der Beziehung zwischen Gott und Menschheit möglich ist. Das Leben von Jesus ist ein Leben voller Liebe und voller Sehnsucht. Ein Leben auf der Suche. Wie bei Django und Hildi. Django, der sich aufmacht und seine Geliebte sucht. Nicht weiß, wie es ihr geht und was sie macht. Ob sie ihn vermisst, ob sie noch an ihn denkt. Und Hildi, die vermutlich denkt, dass Django längst tot ist. Die vielleicht schon aufgehört hat, an ihn zu denken. Aber er sucht sie und er findet sie. Und so sucht Gott diese Welt auf. Er sehnt sich nach uns. Wir haben ihn vielleicht vergessen. Wir denken möglicherweise, dass er tot ist, und erwarten nichts von ihm. Aber er sucht uns, weil er sich nach uns sehnt. Und so kommt er selbst zu uns in diese Welt und tut, was getan werden muss.

Genau das beschreibt der Begriff »Erhöhung«: die Ambivalenz, dass in diesem verstörenden, brutalen Vorgang etwas Wunderschönes geschieht. Denn das Kreuz deckt die Brutalität dieser Welt auf – schonungslos und radikal. Das Kreuz hält der Menschheit den Spiegel vor. Darin erblicken wir eine Welt, die diesen Mann, in dem Gott und Menschen zusammenkommen, brutal hinrichtet. Eine Welt, die ihn hinausstößt. Das zeigt das Kreuz. Das Kreuz zeigt aber auch die Tiefe der Liebe Gottes. Wie weit Gott bereit ist, zu gehen, um uns zu suchen, zu retten, nach Hause zu holen.

Der Menschensohn muss erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat.

Mündige Christen entdecken diese Ambivalenz und lösen sie nicht in eine Richtung auf, sondern ertragen die Spannung, die in dem Begriff der »Erhöhung« liegt. Mündige Christen entdecken in der skandalösen Botschaft des Kreuzes die Weisheit und Schönheit Gottes (vgl. 1. Korinther 2,6-8), die Tiefe und Ernsthaftigkeit seiner Liebe zu uns.

Warum musste das passieren?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich ein Beispiel aus meinem Leben erzählen: Vor ein paar Jahren liehen wir uns von Freunden ein Auto, um zu einer Hochzeit zu fahren. Als wir zurückfuhren, begann der Motor kurz vor Greifswald, komische Geräusche zu machen, und ging dann mitten auf der Autobahn aus. Das war ziemlich knapp und andererseits wirklich gutes Timing, denn der Motor stotterte und knarrte kurz vor der Ausfahrt – dann war er aus und das Auto rollte gerade noch bis zum Parkplatz.