Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Annika Martin bei LYX
Impressum
Most Wanted Enemy
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Francine fällt aus allen Wolken, als sie herausfindet, dass sie verheiratet ist – ausgerechnet mit Benny, ihrem ehemaligen Arbeitskollegen und verschworenen Feind. Doch da gab es diese eine Nacht in Las Vegas vor zehn Jahren, in der sie beide viel zu viel getrunken haben … Als sie Benny ausfindig macht, um ihn um die Scheidung zu bitten, ist von dem unfreundlichen Nerd von damals nicht mehr viel übrig: Benny ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, Milliardär und verboten gut aussehend. Er willigt ein, die Scheidungspapiere zu unterschreiben, aber nur unter einer Bedingung: Francine soll für die nächsten drei Wochen seine perfekte Ehefrau spielen.
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung:
Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche
Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Ich mache gerade in der Ecke einer der großen Trainingsräume im Gotham-Metropolitan-Ballet-Komplex meine Aufwärmübungen, als der legendäre Choreograf Dusty Sevigny hereingestürmt kommt.
Er bleibt vor mir stehen, seine buschigen Augenbrauen so tief herabgezogen, dass man darunter kaum seine Augen sieht.
»Sie sollen sich in Rosemarys Büro melden«, sagt er mit seinem starken russischen Akzent und deutet mit dem Kopf auf den Bereich, wo das Unterstützungspersonal der Truppe sich abrackert.
Sevigny ist schwer zu durchschauen mit seinen Augenbrauen, seiner Einstein-Frisur und seinem stürmischen Künstlergehabe, aber es lässt sich zweifellos sagen, dass er verärgert ist.
»Sofort?«, frage ich unsicher. Die Aufforderung ist seltsam, wenn man bedenkt, dass wir jede Sekunde Training bei dem Stück Plamya brauchen, seiner großen Comeback-Show. Sagen wir einfach, dass der halsbrecherische Takt viele Tänzer ins Stolpern bringt. An einer Stelle finden sich dreißig Arabesken.
»Unverzüglich«, sagt er.
Ich setze eine strahlende Miene auf. »Bin schon weg!«
Und schon hat er den Raum wieder verlassen.
Meine Tänzerkollegen haben sich überall auf dem Parkett niedergelassen, polstern ihre Ballettschuhe aus und massieren sich die Muskeln in Vorbereitung auf unsere fünfstündige Probe, aber jetzt ruhen aller Augen auf mir.
Ich erhebe mich und gehe mit hämmerndem Herzen auf die Tür zu, vorbei an einer entsetzten Gruppe von Kollegen, die offensichtlich denken, dass ich in Schwierigkeiten stecke.
Da sind sie nicht die Einzigen.
Ich lege eine Hand auf meinen Mundwinkel und souffliere: »Sevigny ist von ihrer Leistung so beeindruckt, das gibt es gar nicht!«
Die Leute bedenken mich mit einem mitfühlenden Lächeln.
Ich versuche einen aufmunternden Spruch, der die schlimme Sache, die gerade passiert, ins Lächerliche zieht, macht man ja so, ist jedoch nicht besonders effektiv. Ich gehe an ihnen vorbei, aber ich bin noch nicht fertig. Ich drehe mich um, laufe rückwärts und füge hinzu: »Er schickt sie ins Büro, damit sie sich einen riesigen Bonus abholen kann und einen gewaltigen Blumenstrauß!«
Irgendjemand schnaubt.
Ich drehe mich um, trete durch die Tür und eile die Treppe hinunter.
Die Verwaltung des riesigen, frisch renovierten Gebäudes befindet sich in einem auf Hochglanz gewienerten gekachelten Flur hinter Gründerzeittüren mit gewelltem Milchglas. Auf den Türen stehen Worte wie »Verwaltung« und »Eintrittskarten«. Es wirkt wie eine Kulisse zu einem Film noir.
Was könnte der Anlass sein? Was konnte nicht warten, bis die Probe vorüber ist?
Es fühlt sich jedenfalls übel an. Wie ein gerade zerplatzender Traum.
Ich bin als zweite Solistin für diese Aufführung ausgewählt worden, das war die größte Ehre meines Lebens. Nur die Primaballerina und der erste Solist haben wichtigere Rollen. Gleich nach unserer Premiere hier werden wir zu einer Europatournee aufbrechen, zu der drei Abendauftritte in meinem Traumtheater gehören: Teatro Romano de Mérida in Spanien, einem magischen Ort, umringt von uralten Marmorsäulen und Statuen.
Rosemarys Schreibtisch scheint genau wie ihre Bürotür in einen Film noir zu gehören, doch Rosemary selbst ist sehr modern, eine von vielen hippen und weltgewandten Frauen von über fünfzig, die in der New Yorker Tanzwelt hinter den Kulissen arbeiten. Sie war in den Achtzigern selbst Tänzerin. Wenn ich es nicht aus Gesprächen mit ihr wüsste, würde ihr Aussehen es mir verraten – eine ehemalige Tänzerin kann ich immer daran erkennen, wie sie sich bewegt.
»Mr Sevigny hat gesagt, ich solle mich bei Ihnen melden?«, frage ich.
Ihr Gesichtsausdruck wird grimmig, und sie seufzt. »Stimmt. Nehmen Sie Platz. Wir haben ein Problem. Es ist …« Sie schüttelt den Kopf und tippt etwas auf ihrer Tastatur. »Es ist … nicht gut. Es geht um die Visa.«
»Visa?«, wiederhole ich und zermartere mir das Hirn, was dahinterstecken könnte. Mein Pass ist noch für mindestens ein ganzes Jahr gültig, daran kann es also nicht liegen. »Was ist mit den Visa?«
Sie hebt einen Finger. Ich soll warten, während sie auf weitere Tasten drückt.
Ich schaue auf den schwarzen Bildschirm meines Handys und mache mir nicht die Mühe, ihn zum Leben zu erwecken. Ich werde ohnehin nicht in der Lage sein, irgendetwas zu verstehen, nicht solange mein Puls in meinen Ohren rauscht. Was ist los? Es muss etwas Ernstes sein, wenn man mich auffordert, die Probe zu versäumen. In diesem Stadium ist jede Trainingseinheit entscheidend und kostbar.
»Also gut.« Rosemary späht mich über ihre strenge Lesebrille hinweg an. »Drei von den fünfzehn Ländern, durch die unsere Tournee uns führen wird, haben Ihre Visa-Anträge abgelehnt.«
»Abgelehnt?« Mein Herz hämmert. »Warum?«
Sie sieht mich jetzt direkt an. »Für EU-Visa müssen Sie Ihren Familienstand korrekt angeben. Sie haben in Ihren Anträgen geschrieben, Sie seien ledig. Seien nie verheiratet gewesen.«
Ich nicke. »Das ist richtig. Das ist korrekt.«
Sie sieht mich an, als versuche sie herauszufinden, ob ich lüge. »Sind Sie sich da sicher?«
»Selbstverständlich.«
Sie schaut wieder auf den Bildschirm. »Nach den Unterlagen der Sozialversicherung ist Ihr Familienstand verheiratet.«
»Wie bitte?«, frage ich. »Da muss ein Irrtum vorliegen. Ich bin nicht verheiratet. Bin es nie gewesen.«
»Der Sozialversicherung nach sind Sie seit neun Jahren verheiratet, und die Diskrepanz führt dazu, dass man Sie gekennzeichnet und abgelehnt hat. Die Behörden sind heutzutage sehr penibel bei solchen Sachen. Terrorismus und so weiter.«
»Da muss eine Verwechslung vorliegen. Vielleicht hat jemand meine Sozialversicherungsnummer benutzt oder irgendetwas.« Ich versuche es mit einem Lächeln. »Ich meine, ich würde es doch wissen, wenn ich verheiratet wäre, richtig?«
Sie liest meine Sozialversicherungsnummer vor, und ich bestätige, dass sie korrekt ist. Stirnrunzelnd schaut sie auf ihren Bildschirm.
»Mit wem soll ich denn verheiratet sein?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Da steht nur Ihr Familienstand. Verheiratet.«
»Können Sie das nicht klarstellen?«, frage ich. Das Tourneebüro der Truppe regelt solche Sachen normalerweise.
Rosemary setzt mich davon in Kenntnis, dass nur ich eine so persönliche Angelegenheit regeln kann. Ich werde eine notariell beglaubigte eidesstattliche Erklärung in Bezug auf meinen Familienstand benötigen, die ich persönlich bei einem Justizbeamten der Stadt New York am Obersten Gerichtshof des Bundesstaates New York abholen soll.
»Ich gehe gleich morgen früh hin«, sage ich, erpicht darauf, zur Probe zurückzukehren.
»Nein, hören Sie«, sagt Rosemary, und ihr Ton wird sanfter. »Verwechslung hin oder her, wenn wir das nicht klären können, können wir Sie nicht mitnehmen. Im Moment sind Sie jemand, den wir in drei unserer Gastgeberländer nicht mitbringen können.«
»Aber ich bin nicht verheiratet! Es ist offensichtlich ein Tippfehler oder so etwas.«
»Ich weiß, das verstehe ich, aber wir müssen das unbedingt klären. Daneen wird heute an Ihrer Stelle tanzen.«
»Was?«, stoße ich hervor.
»Sie müssen diese Angelegenheit zu Ihrer obersten Priorität machen. Sie haben einen Monat Zeit, um diese eidesstattliche Erklärung zu besorgen. Ich habe mit meinen Kontaktpersonen gesprochen, und das wird mir genug Zeit geben, um diese Visa in Ordnung zu bringen. Sie halten sie offen; sie müssen nur die eidesstattliche Erklärung sehen, und dann werden sie Ihnen die mögliche Freigabe geben.«
Ich kann mein Gesicht kaum spüren. Ich werde vielleicht nicht mitfahren? Nach alldem werde ich vielleicht nicht mitfahren? »Wir können doch einfach ›verheiratet‹ als meinen Familienstand angeben und uns dann um das Problem kümmern, wenn ich zurück bin?«
»Dafür ist es zu spät«, antwortet Rosemary. »Es ist eine große Sache, wenn man seine Unterschrift auf dieser Art von offiziellem Dokument unter falsche Angaben setzt. Jetzt müssen Sie beweisen, dass die Information korrekt ist.« Sie gibt mir die Adresse des Obersten Gerichtshofes des Bundesstaates New York. Das Gericht schließt um sechzehn Uhr dreißig.
»Ich kümmere mich darum«, sage ich.
»Melden Sie sich, sobald Sie zurück sind. Wir müssen wissen, ob Sie das auf die Reihe kriegen können. Wenn Sie die Sache nicht regeln können, hat es keinen Sinn …«
Keinen Sinn, mit der Truppe zu proben. Sie braucht den Satz nicht zu beenden. »Ich werde Ihnen diese eidesstattliche Erklärung besorgen. Ich werde alles tun, was notwendig ist. Und ich werde Sie über jeden Schritt auf dem Laufenden halten. Die Sache wird sich aufklären. Das können Sie auch Mr Sevigny sagen.«
Vor dreißig Minuten war das schlimmste Problem in meinem Leben meine Knieverletzung und die Frage, ob ich mein Knie zuerst kühle und dann wärme oder umgekehrt.
Und jetzt drohen all meine kostbarsten Träume zu zerplatzen.
Nicht mal eine Stunde später sitze ich gesetzwidriger Weise auf dem Beifahrersitz von Noelles Post-Transporter, während wir die Canal Street entlangbrausen. Sie hat darauf bestanden, herzukommen und mich abzuholen, als ich angerufen habe. Sie will mit mir zu dem Verwaltungsbeamten gehen.
»Du denkst wirklich, du kannst einen Verwaltungsbeamten beeinflussen?«, frage ich. »Nur weil du Briefträgerin bist?«
»Ich würde nicht sagen, dass ich Einfluss habe«, sagt sie. »Eher so etwas wie eine innere Verbindung. Das sind meine Leute. Und ich bin gut darin, auf den Punkt zu kommen.«
Ich halte mich gut fest, als sie um eine Ecke biegt.
»Willst du damit sagen, ich komme nicht auf den Punkt?«
Sie schenkt mir ein schnelles Grinsen, umfährt geschickt einen Hindernisparcours aus Lieferwagen und in der zweiten Reihe parkenden Autos, während sie grimmig auf die Hupe schlägt. »Du inszenierst die Fakten manchmal, Francine, wohingegen ein Angestellter der Regierung das ganze Wann, Was, Wo und Warum schlicht und ohne Drama präsentiert haben will.«
»Willst du damit sagen, ich sei eine Drama-Queen?«, frage ich.
Sie zuckt die Achseln und biegt um eine weitere Ecke. »Das Gericht ist im nächsten Häuserblock.«
Ich nicke, und es folgt dieses Schweigen, das mich an nichts anderes denken lässt als an die vernichtende Aussicht, bei dieser Tournee nicht dabei zu sein.
»Wir werden das in Ordnung bringen«, sagt Noelle.
»Ich schwebe buchstäblich seit Monaten auf Wolke sieben«, entgegne ich. »Und ich war so vorsichtig. Ich habe nie zum Spaß Rad geschlagen. Bin über keine Pfütze gesprungen. Wann immer ich auch nur einen Fußgängerüberweg betrete, halte ich zwanghaft Ausschau nach zu schnell fahrenden Motorrädern und Fußgängern, die am Handy kleben. Wer hätte gedacht, dass mich irgendein bizarrer bürokratischer Schnitzer zu Fall bringt? Als ob ich verheiratet wäre!«
»Du bist definitiv die letzte Person, von der ich mir jemals vorstellen würde, dass sie heiratet. Du wärst eher der Typ für eine Bemerkung wie ›zum Teufel mit diesem Stück Papier!‹«, stellt sie fest.
»Wenn und falls ich mich verliebe, werde ich kein Stück Papier brauchen, um den Deal zu zementieren«, erkläre ich. »Womit ich natürlich keine unserer verheirateten Freundinnen beleidigen will. Selbst wenn sie mit Milliardären verheiratet sind«, füge ich hinzu und versuche, das Wort nicht mit dem ganzen Abscheu der Welt auszusprechen.
Noelle schnaubt. »Sag mir, wie du wirklich zu Milliardären stehst.«
Ich lache. »Du weißt, wie ich zu Milliardären stehe.«
»Ja, aber ich will es aus deinem Mund hören«, neckt Noelle mich.
Ich strahle sie an, dankbar dafür, dass sie mich auf den Arm nimmt und von meinen Problemen ablenkt. Was auch immer passiert, meine Mädels von Nummer 341 auf der 45. Straße West sind für mich da. »Du bist so eine gute Freundin.«
Sie legt eine Hand auf meinen Ärmel. »Das gebe ich gern zurück.«
Es erweist sich als wunderbar, Noelle bei mir zu haben. Sie bekommt einen Parkplatz ganz vorn in der Mitte, der für offizielle Fahrzeuge reserviert ist. Dann bringt sie mich in die genau richtige Etage, ohne auch nur auf den Wegweiser des Gebäudes zu schauen, während ich das Ding eine Stunde lang hätte studieren müssen. Sie stellt sich gut gelaunt in die Schlange.
Als wir vorn ankommen, habe ich wirklich das Gefühl, dass zwischen ihr und dem Verwaltungsbeamten ein ganz eigenes Verständnis besteht. Der Angestellte ist ein Mann mit grau meliertem Haar und dicken Brillengläsern.
»Pinoy?«, frage ich ihn.
Er sieht mich verwundert an.
»Vergessen Sie’s«, sage ich. Noelle wirft mir einen Blick zu, der deutlich sagt, ich solle nicht vom Thema abschweifen, dann erklärt sie blitzschnell die Lage und skizziert die Situation, als sei das ganze unser Puzzle, das wir zusammen hinkriegen müssen, als gehörten wir zur selben Mannschaft, als sei es niemandes Schuld.
»Man hat Sie als verheiratet aufgeführt …«, sagt er und tippt auf die Tasten.
»Sie können sich vorstellen, wie geschockt ich war, das zu hören. Es ist so was von verrückt!«, berichte ich ihm, während ich in meiner Handtasche stöbere. »Ich bin mir nicht einmal sicher, wie ich zum Thema Ehe im Allgemeinen stehe. Ich habe da noch keine Entscheidung getroffen. Natürlich sehe ich einige Vorteile …«
Noelle räuspert sich, und ich überreiche ihm meine zahlreichen Ausweispapiere. Der Angestellte tippt einige Kommandos in die Tastatur.
»Waren Sie vor neun Jahren in Las Vegas oder haben dort eine Weile verbracht?«, fragt er.
Ich versteife mich. »Ich habe einen Sommer lang dort gelebt«, antworte ich. »Ich schätze, das war vor neun Jahren.«
Er dreht sich um, schnappt sich einen Bogen Papier aus einem Drucker und schiebt ihn über den Schreibtisch. »Kommt Ihnen das hier bekannt vor? Ist das Ihre Unterschrift?«
Ich blinzle, während mein Geist die Worte interpretiert. Es ist eine Heiratsurkunde aus Nevada. Mein Name steht darauf. Und ja, es ist meine Unterschrift.
Ich überfliege die andere Spalte.
Wo der Name meines Ehemannes steht.
Benjamin Stearnes.
Ich starre auf die Buchstaben, während mein Herz rast. Benny.
Ich sehe ihn vor mir, als wäre es erst gestern gewesen. Sein sandfarbenes gewelltes Haar auf einer Seite verwuschelt, weil er sich hektisch mit den Fingern hindurchfährt. Sein intensiver Blick durch für sein Gesicht zu riesige Brillengläser – besagte Intensität, die in den meisten Fällen von seinem gewaltigen Ärger über mich herrührt. Ich stelle mir vor, wie er mit seinen ruckartigen, unkoordinierten Bewegungen einen Stapel Papiere vom Spieltisch nimmt. Er ist eher schlaksig als anmutig. Und diese Lippen – so ausdrucksvoll und schön, selbst wenn sie für gewöhnlich missbilligend verzogen sind.
»Was denken Sie?«, fragt der Angestellte.
»Da muss ein Irrtum vorliegen«, antworte ich.
»Sieht das hier wie Ihre Unterschrift aus?«, fragt er.
»Es sieht wie meine Unterschrift aus«, bestätige ich.
»Kennen Sie Benjamin Stearnes?«
Ich spüre, wie meine Wangen vor Scham heiß werden, wie es immer passiert, wenn ich an Benny denke. Ich kann auch spüren, dass Noelles Blick sich in mein Gesicht bohrt.
»Weißt du, wer das ist, Francine?«, erkundigt sie sich.
»Na ja, ich habe ihn mal gekannt«, entgegne ich. »Aber ich erinnere mich nicht daran, ihn geheiratet zu haben. Ich denke, ich würde mich daran erinnern. Es hätte eine Hochzeit gegeben. Blumen. Ein Kleid, vorzugsweise eine anständige Abendrobe …«
»Seid ihr zwei zusammen gewesen oder so etwas?«, fragt Noelle, bevor ich das Ganze näher erläutern kann.
»Nein, nicht wirklich.«
Sie kneift die Augen zusammen. »Nicht wirklich?«
Sie will mehr, aber ich weiß nicht, ob ich es ihr geben kann. Ich habe keine Ahnung, wie ich charakterisieren soll, was Benny und ich waren. »Wir haben zusammen gearbeitet. Wir waren eher Arbeitskollegen als irgendetwas anderes.«
»Hören Sie«, schaltet der Angestellte sich ein. »Ich kann Ihnen keine notariell beglaubigte Erklärung ausstellen, die Sie als ledig ausweist, bis ich einen Beweis dafür habe, dass diese Ehe ungültig ist. Und es tut mir leid, aber ich kann ehrlich gesagt nichts finden, das für mich darauf hindeutet, dass dies kein rechtsgültiges juristisches Dokument ist.«
»Ich brauche ganz schnell für eine Auslandsreise eine eidesstattliche Erklärung, die meinen ledigen Status bestätigt«, flehe ich.
»Dann werden Sie einen Beweis dafür finden müssen, dass dieses Dokument ungültig ist«, sagt der Angestellte. »Mein Vorschlag wären Scheidungspapiere. Laden Sie Scheidungspapiere herunter, spüren Sie diesen Typen auf, und lassen Sie sie unterschreiben. Wenn Sie mir das zeigen, werde ich Ihnen Ihre eidesstattliche Erklärung geben.«
»Wie lange wird das dauern?«, frage ich.
»Das kann ich hier ausstellen, aber um einen Richter dazu zu bewegen, Ihr Scheidungsurteil zu unterzeichnen, wenn das Ihr Wunsch ist, das könnte einige Wochen in Anspruch nehmen. Vorausgesetzt, es gibt keine Streitfragen.«
»Benny ist … wahrscheinlich nicht mein größter Fan«, flüstere ich, während ich beobachte, wie meine Welt zusammenbricht.
»Sei nicht verrückt. Alle lieben dich.« Noelle zupft an meinem Ärmel. »Komm mit.«
»Ich weiß nicht einmal, wo ich ihn finden kann …«, fahre ich fort.
Jemand brummt hinter uns etwas Unverständliches. Ich merke, dass Noelle und der Angestellte Blicke tauschen.
»Komm, lass uns nach einer Lösung suchen, während er sich um den nächsten Kunden kümmert.« Sie zieht mich aus dem großen Raum, der sich jetzt stickig anfühlt. Wir setzen uns im Flur auf Plastikstühle. Ich starre verwundert auf das Papier.
»Hör mal, das funktioniert trotzdem«, beteuert Noelle. »Wir wissen, wie wir das Problem beheben können. Du musst ihn sofort finden und dir diese Unterschrift geben lassen, und dann hoffen wir auf einen Richter, der die Sache sofort über die Bühne bringen kann. Das lässt sich machen!«
»Mir bleibt nur ein Monat«, sage ich, »oder sie werden sich eine andere zweite Solistin suchen!«
»Es gibt keinen Grund, warum wir das nicht auf die Reihe kriegen sollten«, sagt sie. »Stimmt’s?« Sie umarmt mich leicht. Ich bin mir sicher, dass es sich für sie so anfühlt, als würde sie eine große Mumie umarmen.
Benjamin Stearnes?
»Das schaffen wir!«, verspricht sie. Süße Noelle. Immer so positiv. Es war ihr positives Denken, das unser Gebäude vor dem Abriss gerettet hat.
Aber sie kennt Benny nicht.
»Er wird nicht gerade begeistert sein, mich zu sehen«, brumme ich.
»Wer wäre nicht begeistert, dich zu sehen?«, erwidert Noelle.
»Benny zum Beispiel.«
»Also war er dein Kollege?«
»Er war der verantwortliche Techniker bei der Show, in der ich getanzt habe. Ein totaler Nerd, mürrisch und eine soziale Null, und ich war damals ein außer Kontrolle geratener charismatischer Schmetterling und … es war seltsam zwischen uns.«
»Ihr habt euch nicht gut verstanden?«, hakt Noelle nach.
Ich denke eine Weile darüber nach und beobachte all die Leute, die durch den Flur zu ihren verschiedenen Gerichtsterminen gehen. »Tatsächlich war ich in ihn verknallt. Es war eine dieser seltsamen Schwärmereien. Ich meine, er war total nicht mein Typ damals. Und er hat meine Zuneigung definitiv nicht erwidert. Er hat sich wirklich, wirklich über mich geärgert. Ich schätze, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, daher habe ich richtig Gas gegeben. Irgendwie so, als würde man in einen Bienenstock piksen. Es war eine Art Zwang. Ich war ein wenig fasziniert von ihm.«
»Ist es möglich, dass ihr in einer einzigen Nacht keine hasserfüllten Gegner wart?«, fragt sie.
Ich starre auf das Blatt Papier. »Ähm … möglich wäre das«, gebe ich zu.
»Schluck«, sagt Noelle und wartet auf mehr. »Erzähl.«
Ich zeichne mit dem Zeigefinger die feinen Linien des Plastikstuhls nach. »Es gab da eine kleine betrunkene Eskapade.«
»So etwas wie einen One-Night-Stand?«
»Nein, wir hatten keinen Sex. Es war mehr so, dass wir uns beide auf der Party am letzten Abend der Show total betrunken haben, und wir haben diese lustige, wilde Nacht miteinander verbracht. Benny hat diese wirklich witzige Version von Alejandro gesungen – die ganze Show war um Alejandro herum aufgebaut, diesen Song von Lady Gaga – und für mich war es das Wunderbarste überhaupt, als Benny das Lied gesungen hat, und dann gab es noch mehr Tequila. Und dann waren Benny und ich irgendwo anders, haben angeregte Gespräche geführt, und alles war spaßig und crazy und aufregend. Dann bin ich am nächsten Morgen in seinem Bett aufgewacht.«
»Aber ihr habt nicht …«
»Nein, ich war angezogen. Er lag auf dem Sofa. Aber ich habe versucht, ihn anzumachen. Es war so … uh! Er hatte wirklich gar kein Interesse!« Ich winde mich bei der Erinnerung daran, wie er mit sanfter Gewalt meine Hände von seiner Brust gezogen hat, als seien es riesige Kletten. »Ich war so gedemütigt, als ich mich daran erinnerte, was ich getan hatte! Die Show war ohnehin vorbei, und ich wollte definitiv nicht bleiben und abwarten, was er für sarkastische, genervte Dinge zu sagen haben würde. Oder schlimmer noch, ich wollte mir sein Mitleid und seine Abscheu nicht antun. Ich bin verschwunden, sobald ich aufgewacht bin.«
»Du bist gegangen?«
»Na, die Show war zu Ende, und ich fand die ganze Sache schrecklich demütigend! Ich habe sogar meinen Flug vorverlegt.«
»Ist es möglich, dass er dich gernhatte?«
»Auf keinen Fall. Benny interessierte sich nur für Computerspiele und Robotertechnik, und er hat sehr deutlich gemacht, dass ich ihn geärgert habe. Oder ihn genervt habe – das ist das Wort, das er verwenden würde. ›Dieser Router ist total nervig‹«, sage ich mit meiner verärgertsten Benny-Stimme. »›Dieser Router ist zu achtundneunzig Komma fünf Prozent pure Nervigkeit!‹«
»Komm schon, Nervensäge«, sagt Noelle und zieht mich von dem Stuhl hoch. »Ich muss zurück zu meiner Route, und du musst einen Ehemann finden.«
»Einen Ehemann«, wiederhole ich und folge ihr zu dem antiken Aufzug des Gerichtsgebäudes.
»Ich kann nicht glauben, dass du all diese Jahre verheiratet warst und es nicht einmal selbst gewusst hast! Das sieht dir derart ähnlich.« Sie drückt auf den Knopf nach unten und dreht sich zu mir um. »Aber auf eine sympathische Weise«, fügt sie angesichts meines Stirnrunzelns hinzu.
»Wenn ich überhaupt mit ihm verheiratet bin. Vielleicht findet irgendjemand so was ja komisch?«, sage ich hoffnungsvoll. »Vielleicht haben unsere Freunde aus der Show das arrangiert.«
»Ein ziemlich derber Scherz«, erwidert sie. »Gefälschte Dokumente einzureichen und so weiter.«
»Ich muss das in Ordnung bringen«, murmele ich. »Diese Tournee bedeutet mir alles.«
Verheiratet mit Benny!
Wir steigen aus dem Aufzug und verlassen das Gebäude. Der Gehsteig ist belebt, es ist Ende April, diese herrliche Zeit, bevor die Hitze anfängt, die Mülltonnen zu grillen.
»Du hast gedacht, er sei Filipino«, bemerkt sie. Sie weiß von meinem Trick, dass ich, wann immer ich jemanden sehe, den ich für einen Filipino halte, frage: »Pinoy?«, und wenn der Betreffende verwirrt wirkt, weiß ich, dass er kein Filipino ist, aber wenn der andere grinst und mich in ein Gespräch verwickelt, gibt es eine Verbindung und vielleicht sogar ein witziges Gespräch.
»Ich habe es für möglich gehalten«, entgegne ich.
»Ich hatte total vergessen, dass du mal in Vegas warst«, bemerkt Noelle, sobald wir in ihrem Posttransporter sitzen und uns auf den Rückweg machen. »Du redest nie darüber.«
»Es war nur ein einziger Sommer«, sage ich, während ich Benny googele. Mein Vierunddreißig-Monate-Vertrag mit der Nevada Met war ausgelaufen, und ich hatte ein Auge auf Gotham geworfen und auf einige der anderen Truppen hier, aber das Vortanzen fand erst im Winter statt, daher hatte ich einen Sommer Zeit, um zu arbeiten und Geld zu sparen. Beau Cirque Fantastique hat Leute gesucht, und sie haben wirklich gut bezahlt.«
»Ist das so etwas wie der Cirque du Soleil?«, fragt sie.
»Ja. Eine ballettlastige Version des Cirque. Mehr Springen, weniger Trapeze. Glamouröse Aufmachung mit kunstvoller Beleuchtung.« Ich scrolle durch die endlosen Benjamin Stearneses. »Das ist schlecht. Es gibt da draußen jede Menge Ben Stearneses! Wie ist das möglich, dass dieser Name so weit verbreitet ist?«
»In den USA leben 365 Millionen Menschen«, antwortet Noelle. »So ziemlich jeder Name ist weit verbreitet, wenn jemand nicht gerade Podunk Katzweiler heißt.«
»Wer würde sein Kind so nennen?«
»Das willst du gar nicht wissen.« Als Postbotin weiß Noelle solche Dinge.
»Vielleicht ist er ja immer noch in Vegas. Vielleicht finde ich ihn, wenn ich es auf Facebook versuche …« Ich google Ben Stearnes und Las Vegas auf Facebook. Ich finde einige, aber die Bilder sind falsch. Bei vielen der Konten ist gar kein Foto beigefügt. Was ist, wenn es sich bei einem von ihnen um Benny handelt? Er wäre genau der Typ Mann, der auf Facebook kein Foto veröffentlichen würde. Vielleicht ist er nicht einmal bei Facebook. Er war nie ein großer Fan von sozialer Interaktion.
»Steht auf der Heiratsurkunde nicht seine Sozialversicherungsnummer?«, fragt sie.
»Oh, richtig«, sage ich. »Wie suche ich damit?«
»Wir werden Willow darauf ansetzen«, schlägt Noelle vor. »Oder sogar Lizzie. Cookie Madness stellt ständig Leute ein. Sie hat wahrscheinlich einen Service, der Background-Checks erledigt.«
»Wie konnte das nur passieren? Es ist wahrscheinlich meine Schuld. Ich war damals superverrückt.«
»Mit einundzwanzig waren wir alle verrückt«, besänftigt sie mich. »Aber Mann! Du warst in einer dieser großen, glamourösen Vegas-Shows? Das ist unglaublich cool!«
»Ich war nur eine Backgroundtänzerin. Benny hatte den großen Job – er war für die gesamte Technik zuständig. Zu einer gewaltigen Lightshow, wie wir sie im Beau Cirque hatten, gehört eine Wahnsinnsmenge an Robotik und Computerisierung.«
»Denkst du, er könnte immer noch in der Theaterwelt sein?«, fragt Noelle. »Vielleicht ist er nach Los Angeles gezogen oder irgendetwas.«
»Ich weiß nicht. Er hat es gehasst, wenn man ihm gesagt hat, was er tun soll, hat es gehasst, für andere Leute zu arbeiten. Die meisten Leute hassen Bosse, aber Benny …« Ich ertappe mich bei einem Lächeln, als ich mich an seine mürrische Unbeholfenheit erinnere. »Benny hat Menschen im Allgemeinen gehasst.«
Allein der Gedanke daran, ihn zu berühren, erschien mir seltsam verboten, als hätte er ein intensives Kraftfeld um sich herum. Ein Kraftfeld, das ich niemals durchdringen könnte. Bis zu jener Nacht, in der ich mich wie eine sexsüchtige Idiotin aufgeführt habe.
»Mit Bestimmtheit weiß ich nur, dass er wahrscheinlich am Ende bei irgendeiner total technischen Beschäftigung gelandet ist. Und ich kann ihn mir definitiv nicht verheiratet vorstellen, mit einer Familie oder etwas Derartigem.«
»Na ja, Francine, nach dem Stück Papier zu urteilen, das du da hast, ist er mit dir verheiratet.«
»Nein, das ist nicht real.«
»Es ist real, und was noch hinzukommt, eine gegenwärtige Ehe ist die Art von Sache, die aufgeflogen wäre, wenn er sich um eine Heiratslizenz bemüht hätte. Genau wie im Fall deiner Visa. Er wird wahrscheinlich genauso überrascht sein wie du.«
Ich klammere mich daran fest, als gelte es um mein Leben, als sie um eine Ecke biegt.
»Denkst du nicht?«, ruft sie laut, um Presslufthämmer in der Nähe zu übertönen. »Vielleicht wird er überrascht sein. Vielleicht wird er es sogar witzig finden!«
Ich sitze da und schaue zu, wie die Gebäude vorbeiziehen. »Er wird es nicht witzig finden.«