Elias Raatz (Hrsg.)
Textsorbet
Volume 3G:
gesehen, gelesen, gestaunt.
Die Dichterwettstreit deluxe Anthologie – Band 3
© 2022 Dichterwettstreit deluxe, Villingen-Schwenningen
www.dichterwettstreit-deluxe.de
Lektorat: Elias Raatz
Druck: Druck & Kalendermarketing Sosset GmbH, Kießlegg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und
öffentliche Zugänglichmachung.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar.
ISBN: 978-3-9820358-6-4
ISBN E-Book: 978-3-9820358-7-1
Disclaimer: Diese E-Book-Version unterscheidet sich in der Gestaltung von der Print-Version.
Mit Beiträgen von
Lena Ahlfänger ● Sarah Altenaichinger
Anna Lisa Azur ● Mbayo Bona
Edith Brünnler ● Lukas Bühner
Lenny Felling ● Florian Hacke
Carina Hansen ● Sven Hensel
Michael Jakob ● Karl Kaspar
Harry Kienzler ● Richard König & Elias Raatz
Erik Leichter ● Tara Meister
Ivica Mijajlovic ● Kathi Mock
Jonas Pan ● Lennard Rosar
Inke Sommerlang ● Marvin Suckut
Nektarios Vlachopoulos ● Gina Walter
Leah Weigand ● Katharina Wenty
Wortwin & Slamson ● Artem Zolotarov
Herausgegeben von
Elias Raatz
Der 1997 geborene Moderator, Autor, Kulturschaffende und Medienwissenschaftler Elias Raatz ist Gastgeber diverser Kleinkunstveranstaltungen. Gemeinsam mit dem Dichterwettstreit deluxe versammelt er regelmäßig die besten deutschsprachigen Slam Poet*innen auf Bühnen und nun zum dritten Mal in einem Buch. An seine Projekte geht er mit viel Leidenschaft und Herzblut für die Kunst – das merkt man. Mehr unter: www.elias-raatz.de und/oder www.dichterwettstreit-deluxe.de
Inhaltsverzeichnis
„Es ist nicht Deine Schuld,
dass die Welt ist, wie sie ist.
Es wär’ nur Deine Schuld,
wenn sie so bleibt.“
Die Ärzte
Vorwort:
Über den Titel und weitere Gedanken
Elias Raatz
Internetführerschein
Erik Leichter
Mein Lieblingswort
Jonas Pan
In the Spaghetto
Gina Walter
Apfelkompott
Anna Lisa Azur
Sport!
Michael Jakob
10. Juli
Ivica Mijajlovic
Der super tighte Mathe-Rap
Karl Kaspar
Anne Frank
Lena Ahlfänger
2143: Ein Vermächtnis in Plastik
Lennard Rosar
Über (d)eine Wolke
Carina Hansen
Helikoptermutter
Marvin Suckut
Die einsame Mauer
Harry Kienzler
Spezi, Fabian und der Weltuntergang
Lukas Bühner
Die Welt ist nicht rosa
Tara Meister
Über das Dünnsein
Lenny Felling
Privilegien – eine Bestandsaufnahme
Inke Sommerlang
Wie ich Schauspieler wurde
Florian Hacke
Vergissmeinnicht
Leah Weigand
Wie ein Mädchen
Kathi Mock
Liebe Linke
Mbayo Bona
Ich bin zu alt für diesen Scheiß
Nektarios Vlachopoulos
Alles bleibt anders & Flussabwärts
Edith Brünnler
Globuli-Rezepte für Einsteiger
Richard König und Elias Raatz
Sommerkind
Sarah Altenaichinger
Sex-Tipps mit Sven, hey!
Sven Hensel
Don’t cross the border
Katharina Wenty
Es geht immer noch schlimmer
Wortwin & Slamson
Goethes Adler-Fantasien
Artem Zolotarov
Vorwort:
Über den Titel & weitere Gedanken
Von Elias Raatz
Zeiten ändern sich. Bei den ersten beiden Teilen der (sehr guten!) Sammelband-Reihe Textsorbet haben wir noch mit geballter Kreativität, Schweiß und Tränen nach dem passgenauesten, dem perfekten Titel gesucht. Bei diesem dritten Teil ist er uns quasi zugeflogen – ein stilistisches Geschenk aus der Zeit, die wohl viele von uns am liebsten vergessen möchten: Textsorbet 3G: gesehen, gelesen, gestaunt.
Liebe*r Leser*in, ich möchte ehrlich mit Ihnen sein: Die Entstehung dieses Bandes war, abgesehen von der Titelsuche, so schwierig wie keines unserer Verlagsprojekte beim Dichterwettstreit deluxe zuvor. „Kreativität, Schweiß und Tränen“ – so beschrieb ich die Arbeit an den vorherigen Teilen. Bei diesem Buch, einem während der Corona-Zeit entstandenen Projekt, blieben häufig nur noch Tränen übrig.
Was kann ich als Kulturschaffender auch erwarten, wenn die Welt stillsteht? Also außer geschlossener Bühnen, finanzieller Engpässen und perspektivloser Langeweile, da nicht nur der Beruf, sondern auch die größte Leidenschaft wegfällt. Sie können sich vielleicht gar nicht vorstellen, wie oft ich in meinem Büro saß, dieses Buchmanuskript geöffnet hatte, mich auf meinem Schreibtischstuhl zurücklehnte und das Manuskript anstarrte – nur, um es Stunden später unbearbeitet wieder zu schließen. Weil Kunst und Kultur einfach nicht systemrelevant waren. Weil sich fast niemand für uns zu interessieren schien. Weil es einsam war.
Zeiten ändern sich eben. Aber auch wenn das Leben manchmal (oder öfters) trist erscheint, sind es doch vielmehr die kleinen Momente, die es wirklich lebenswert machen: das gute Gespräch mit einem Freund, der kleine Gefallen einer Kollegin/Kommilitonin, das aufrichtige Lächeln eines Fremden.
Es sind diese kleinen Momente, die es deutlich mehr wertzuschätzen oder vielleicht sogar zu schenken gilt. Da wäre beispielsweise das freundliche „Hallo“ zum Busfahrer, das Hinschauen, wenn es jemandem schlechter geht, oder die kleine, aufrichtig-freundliche Geste gegenüber anderen.
Aber ich möchte dieses Vorwort nicht als Ersatztagebuch zur Verarbeitung meiner Gefühlswelt ausnutzen. Schließlich ist Tagebuch schreiben eigentlich nur etwas für drei Arten von Menschen:
Für Menschen, denen es von ihrem Therapeuten empfohlen wurde (oder denen es einfach so guttut), für Menschen, die schiffbrüchig auf einer einsamen Insel gestrandet sind, und für Konrad Kujau, um dem Stern ein wenig Geld abzuluchsen.
Nun, liebe*r Leser*in, Sie halten ein fertiges Buch in Ihren Händen. Trotz aller Schwierigkeiten ist es also vollbracht. Und es ist gut geworden. Vor allem durch den unbeugsamen Willen, die unendliche Motivation und die unglaublichen Texte aller Autor*innen, die einen Beitrag zu diesem Sammelband beisteuerten.
Alles in allem erwartet Sie mit diesem Textsorbet ein wahres Potpourri der Gefühle mit so bunten und thematisch breit gefächerten Texten, dass selbst der schönste Pfau nur deprimiert auf sein eigenes Federkleid schauen kann.
Für mich ist Textsorbet übrigens einer dieser kleinen Momente geworden, die das Leben ein bisschen besser machen. Und ich hoffe von Herzen, dass es auch für Sie zu einem dieser kleinen Momente wird und Sie dieses Buch gern gelesen haben werden.
Und wenn Ihnen ein Text besonders gut gefällt, schreiben Sie das der Autor*in doch einfach – damit schenken Sie auf jeden Fall ein Lächeln!
Ich danke Ihnen, liebe*r Leser*in, dass Sie dieses Buch in Ihren Händen halten. Danke, dass Sie junge Kunst und Kultur unterstützen. Ich wünsche Ihnen eine unterhaltsame Reise durch Textsorbet 3G. Bleiben Sie glücklich!
Ihr Elias Raatz
Erik Leichter
Der Poetry Slammer, Lesebühnenautor, Moderator und Psychologe Erik Leichter stammt aus Zwickau (Sachsen/Dunkeldeutschland), ist aber einer alten Familientradition gefolgt und für die Arbeit in den Westen gezogen.
Seit 2009 ist er auf Poetry Slam-Bühnen zu sehen und erreichte zwischenzeitlich das Finale der deutschsprachigen Meisterschaften. Erik Leichter schreibt Texte für Verrückte und Versager, immer an der Grenze zur Unterlassungsklage. Sein Mix aus trockenem Milieu-Humor und Kapitalismus-Kritik lässt sich leider nicht mehr abtrainieren.
Mehr unter: www.fb.com/erikleichterofficial
Internetführerschein
oder: Denn sie wissen nicht, was sie tun
Von Erik Leichter
Ich betrete mit weit umschatteten, vom letzten Blut meines fahlen Angesichts unterfütterten Augen den Klassenraum. Hinter mir eine Fahne aus Energydrink-Aftershave, das ich nach dem Rasieren aufgetragen und danach ausgetrunken habe. Ich hatte wenig Schlaf. Die Albträume meines Berufs jagen mich durch die Nacht, wie sonst nur der maskierte Rächer Xavier Naidoo irgendwelche fantasierte, pädophile Reptilienmenschen. Das machen Xavier und meine Albträume jede Nacht und ohne Grund. Wir beide weinen dabei.
„Guten Morgen Abschlussklasse!“
„Guten Morgen Herr Leichter!“, dröhnt es aus ihren Fress- und Sprachlöchern, hinter deren hohlen Schädelwölbungen in den letzten Monaten nichts, aber auch gar nichts, hängen geblieben ist.
„Willkommen zur theoretischen Abschlussprüfung“, sage ich, ohne den Blick zu heben, „zum Internetführerschein der Klasse A.“
Dumpfe Langeweile im Raum. Nur der Gesundheitspass ist einfacher als der Internetführerschein zu erhalten, da die auf informative VHS-Kassetten aus den Siebzigern zurückgreifen können. Während der Mittagspause lachen mich die ausgeschlafenen Augen der Gesundheitsprüfer von den gegenüberliegenden Cafeteriatischen mitleidig an.
„Alsoooo…, hat jemand noch Fragen?“, sage ich, weil ich es muss, und spüre einen starken Druck auf meinem Brustkorb. Wenn ich Glück habe, ist es ein Herzinfarkt.
„Ja, Warius“, sage ich, da Warius sich gemeldet hat. Das macht Sinn. Weniger Sinn macht der Name Warius, den seine Eltern ihm gegeben haben, weil sein Zwillingsbruder schon Marius heißt. Er ist mir fast so egal wie seinen Eltern. Ich fokussiere mich kurz auf meinen Brustbereich. Ich habe Angst, es könnte tatsächlich kein Herzinfarkt sein, sondern nur normale Verzweiflung.
„Kann…“, beginnt Warius, bevor ich ihn unterbreche: „Nein. Google kann nicht für dich antworten.“
„Ok Google, leite gerichtliche Schritte ein, ich werde diskriminiert!“
Das Handy in meiner Hosentasche vibriert wegen einer neuen E-Mail, in der mir meine Rechtsschutzversicherung eine Beitragserhöhung mitteilt. Ich atme lange aus. Warte. Warte. Und Warte. Dann atme ich leider wieder ein. Man kann es wenigstens versuchen.
„Beginnen wir“, beginne ich.
Frage 1: Fakenews sind…
A) alle Nachrichten, die ich nicht mag.
B) alle Nachrichten, die Menschen mögen, die ich nicht mag.
C) alle Infos, die nicht auf YouTube oder in meiner WhatsApp-/Telegrammgruppe geteilt werden.
D) einfach überall, weil es jedem scheißegal geworden ist, wieviel Wahrheitsgehalt eine Aussage hat und dass man über Dinge mehr als drei Sekunden nachdenken muss. Oder, weil niemand mehr zwischen einem von sieben Leuten überprüften journalistischen Beitrag und einem fix dahingestammelten Facebook-Livevideo unterscheidet. Quellenbewertung heißt nicht einfach, mag ich die oder nicht, sondern wie arbeiten die und macht es Sinn, was die da sagen, auch wenn es nicht in mein Weltbild passt. Und vielleicht kann ich ja auch mal die Unsicherheit aushalten, nicht direkt eine Meinung zu haben und die überall reinkloppen zu müssen.
Alle Schülerinnen und Schüler haben ein Tablet vor sich. Der ältere Herr in der ersten Reihe leckt es ab, aber er ist Fetischist und bezahlt die Prüfungsgebühr regelmäßig. Er lächelt. Er ist mein Lieblingsschüler. Er und die Katze in der vierten Reihe, die überraschend zielgerichtet auf das Tablet klopft. An den Augäpfeln einiger Schüler sammeln sich Tränen.
„Die richtige Antwort ist D“, sage ich. Ein rotes Piepen und Blinken auf den Tablets. Die Hälfte der Klasse packt ihre Sachen. So auch Warius. Meine Rechtsschutzversicherung vibriert sich in meiner Hose heiß. Ich versuche, das Gefühl zu genießen.
Frage 2: Eine Person des öffentlichen Lebens hat eine kontroverse Meinung vertreten. In den Kommentaren des Onlineartikels der ZEIT zum Thema…
A) drücke ich aus, dass ich mir wünsche, dass diese Person getötet wird, denn das scheint mir ein hervorragendes Argument meinerseits.
B) wünsche ich allen anderen Menschen, die diese Meinung gut oder schlecht finden, dass sie sterben.
C) sage ich, dass ich unterdrückt werde, weil jemand nicht gut findet, was ich gut finde, und das sagt. Ich gehe in den bewaffneten Widerstand und erzwinge mit Waffengewalt, dass ein gewisser veganer Matchadrink wieder bei Kaufland verkauft wird, indem ich 200 Kauflandangestellte als Geisel nehme.
D) äußere ich meine Meinung sachlich zum Thema und bringe gerne auch sachliche Begründungen für meine Haltung.
Im nur noch halbvollen Klassenraum blinkt es wieder gefährlich rot. Ein Mann, der einen „Fuck Greta“-Sticker auf das Tablet der Schule angebracht hat, möchte nicht akzeptieren, dass die richtige Antwort D ist und wirf das Tablet nach mir. Einige tun es ihm gleich. Ich verschanze mich hinter dem Lehrerpult. Das hat mir ein Kinderführerschein-Lehrer aus Dankbarkeit beigebracht, als ich ihn bei einer Zigarettenpause kurz an meinem mit veganem Meth gefüllten Apple-Vaper ziehen ließ.
Als die Klassentür hinter den Versagern zufällt, richte ich mich wieder auf. Der Klassenraum ist leer. Zumindest bis auf den leckenden alten Mann, die Katze und einen pickelbesprengten, hoodietragenden Jugendlichen.
Frage 3: Ich schicke Bilder von meinen Geschlechtsteilen nur we…
Bevor ich die Frage fertiglesen konnte, piepst und leuchtet das erste Tablet auf. Der Mann in der vordersten Reihe steht auf.
„Bis nächste Woche“, sagt er.
Ich gebe ihm die Hand und das auf dem Boden liegende „Fuck Greta“-Tablet. Beides leckt er dankend ab. Ich versuche, das Gefühl zu genießen.
„Dann kommt jetzt die letzte Frage“, verlautbare ich und versuche dabei zu verbergen, dass ich seit drei Monaten nicht mehr so viele Fragen stellen musste. Das letzte Mal, als ich zur vierten Frage kam, stellte sich heraus, dass jemand in der letzten Reihe gestorben war und mit der Nase auf D lag. Leider war er so schnell abgekühlt, dass das Tablet seine Antwort bei der letzten Frage nicht mehr erkannte. Ich hätte ihm seinen Führerschein ausgeteilt. „Verdient ist verdient, wiederholen ist gestohlen und das Totenhemd hat keine Taschen“, hat meine Mutter immer gesagt.
Influencer sind
A) super vertrauenswürdig und machen nur Werbung, weil sie gut finden, was sie zeigen. Vor allem, wenn sie das sagen, sollte ich ihnen glauben.
B) einfach verlässliche Quellen für alles, was so gerade los ist. Ich meine, klar gibt es Experten, aber waren die schon in Hollywood wie beispielsweise Detlev D Soost, der weithin für seine ruhige und gesammelte Art zu kommunizieren bekannt ist?
C) meine besten Freunde.
D) auch nur Leute, die Content produzieren und nicht anders als irgendein Schauspieler oder Autor. Nur, weil ich sie jeden Tag sehe und sie zu allem eine Meinung haben, heißt das nicht, dass sie von irgendetwas mehr Ahnung haben als ich oder irgendein anderer meiner doch recht umschränkten Freunde, deren Meinung auch nicht auf Wissenschaft, sondern auf Medienrezeption basiert.
Der Hoodie-Teenie schwitzt stark. Ich auch. Wir beide füllen den Raum mit Energydrink-Odeur. Schließlich kneift er seine Augen zu, drückt auf sein Tablet und es beginnt zu piepsen und leuchten.
„Aber PewDiePie hat Recht, PewDiePie forever!“, brüllt er, „Warum hast du mir überhaupt zu sagen, wie ich das Internet zu nutzen habe? Das Internet ist Freiheit für alles Dumme und Schlechte und Gute und Witzige. Für alles Verbotene und alles Erlaubte. Es ist wie die Luft, die meine Stimme trägt, mit der ich alles sagen kann, was ich will. Wer gibt dir das Recht? Wer gibt dir das Recht!“
„Ähm, wenn wir schon alle im Internet rumhängen und das Internet überall ist, dann darf man wohl eine gewisse Etikette erwarten. Egal ob bei meiner Mutti in der WhatsApp-Gruppe oder bei irgendwelchen schwäbischen Wirrsinnsdemonstranten. So wie du überlegst, wo du hinscheißt, solltest du überlegen, wohin du welche Kommentare schickst. Einfach, weil du auch nicht willst, dass andere sich dir gegenüber beschissen verhalten“, sage ich in den fast leeren Raum. Der Teenager ist schon zur Tür raus. Die Katze staut mich stumm an. Sie hat D gedrückt.
In den nächsten Wochen schaffen es sehr Wenige durch die Internetprüfung und Viele, die es schaffen, lecken sich währenddessen ausgiebig. Für das Internet bedeutet das mehr Stille, weniger Hass und hin und wieder ein Video von süßen Miezen aus deiner Umgebung.
Jonas Pan
Noch im letzten Jahrtausend geboren, präsentierte Jonas Pan seine Texte zunächst in der Waldorfschule tanzend und lernte parallel die Magie zu schätzen. Seine Initiativbewerbung bei Hogwarts scheitere trotz seines Titels zum deutschen Vizejugendmeister der Zauberkunst, weswegen er sich gezwungen sah, seine Talente auf die Magie der Worte zu transferieren.
Jonas Pan steht mehr als sein halbes Leben auf der Bühne und vereint in verschriftlichten Gedankengängen seine persönlichen und künstlerischen Erfahrungen, die er über die Jahre sammeln durfte.
Mehr unter: www.jonas-pan.de
Mein Lieblingswort
Von Jonas Pan
I
Superkalifragilistikexpialigetisch. Das war mein Lieblingswort als Kind. Ein Wort, das man immer sagen kann und mit dem man niemals falsch liegt. So hatte es mir Mary Poppins beigebracht. Und auch heute noch löst das Wort bei mir Gefühle von kindlicher Sorglosigkeit und Erinnerungen an Disney-Magie aus. Dabei hat es überhaupt keinen tieferen Sinn.
Heute bin ich eher Fan von Worten, die mich auf ihre Art faszinieren und auch etwas ausdrücken können. In mancherlei Hinsicht sind uns andere Sprachen hier voraus. So gibt es im Finnischen das Wort „Kalsarikännit“, was so viel bedeutet wie „sich allein Zuhause in Unterhose betrinken“. Das Spannendste daran ist, dass es anscheinend in Finnland den Bedarf dafür gab, für genau so eine Situation ein eigenes Wort zu kreieren.
Für unsere Sprache brauchen wir so etwas auch! Darum hier mein persönlicher Vorschlag für eine Wortneuschöpfung: „napflixen“, was so viel bedeuten soll wie „allein Zuhause in Unterhose ein Schläfchen machen und dabei eine Serie von einem Online-Streamingdienst anschauen“.
Manche großartigen Worte entstehen auch, wenn sich Ärzt*innen für Scherzkekse halten. So wird das Wort „Hippopotomonstrosesquippedaliophobie“ von Betroffenen wohl eher selten verwendet, denn dabei handelt es sich um die Angst vor langen Wörtern.
Ein Synonym von „Stuhl“ wiederum umfasst gleich drei Zustände des menschlichen Körpers: „Sitz-Geh-Legen-Heit“. Das muss man erstmal einer Person erklären, die gerade erst Deutsch lernt.
Ebenfalls faszinierend ist, wie wir mit dem Wort „Quantensprung“ umgehen. Häufig wird es genutzt, um Ereignisse zu beschreiben, die die Welt maßgeblich verändern werden. Rein physikalisch betrachtet, handelt es sich bei einem Quantensprung allerdings um die kleinstmögliche Veränderung eines Zustandes.
Doch was ist heute mein Lieblingswort? Ein Wort, das seine tiefere Bedeutung erst seit etwa 70 Jahren hat und kaum in eine andere Sprache übersetzbar ist: die Würde.
II
Eine Schule in Nürnberg im Sommer 2017. Es ist acht Uhr morgens, die Glocke hat gerade geklingelt und die Schüler*innen sitzen auf ihren Plätzen.
Zumindest bis zwei blaue Wagen vorfahren, die Beamt*innen sich durch die Klassenzimmer zu Asef durchfragen, der sich, ohne Klagen, zum Polizeiwagen bringen lässt.
Asef ist 21 Jahre alt und Afghane. Vor fünf Jahren kam er nach Deutschland, das für ihn für Frieden und eine bessere Zukunft stand.
So lernte er pflichtbewusst die Sprache und hat jetzt sogar eine Ausbildung in Sicht. Seine Mitschüler*innen bezeichnen ihn als gut integriert und wäre es nicht so makaber, was hier gerade passiert, könnte man darüber lachen. Denn es ist eine wahrlich ironische Situation, heute ist Projekttag, dessen Thema: Migration.
Und so wollen etwa 20 Schüler*innen Asef nicht gehen lassen, setzen sich auf die Straße und blockieren seine Abschiebung. Immer mehr Jugendliche kommen dazu, dann auch Lehrer*innen und weitere Demonstrierende. Die Polizei ruft Verstärkung. Steine, Schlagstöcke, Pfefferspray. Irgendjemand randaliert und alle sind sich einig: die Situation eskaliert.
Von wem die Gewalt ausging, ist später schwer zu sagen. Schlussendlich wird Asef in Handschellen zum dritten Streifenwagen getragen und dann fortgefahren. Für Schüler*innen, Lehrkräfte und selbst für die Polizei ist der Tag unfassbar. Weiterhin bleibt unklar, wer hier falsch gehandelt und wer sich etwas zu Schulden kommen lassen hat.
Doch einer der Schüler wird später sagen: „Heute habe ich gelernt, die Würde des Menschen ist doch antastbar.“
III
Artikel 1 der Bundesverfassung der Schweiz lautet: „Das Schweizervolk und die Kantone Zürich, Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden und Nidwalden, Glarus, Zug, Freiburg, Solothurn, Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden, St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt, Wallis, Neuenburg, Genf und Jura bilden die Schweizerische Eidgenossenschaft.“