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Abbild der Vergangenheit

Maron Fuchs

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2018

Cover gestaltet mit Bildern von © Barbara Gerlach

ISBN: 978-3-86196-774-3 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-527-3 - E-Book

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1:

Kapitel 2:

Kapitel 3:

Kapitel 4:

Kapitel 5:

Kapitel 6:

Kapitel 7:

Kapitel 8:

Kapitel 9:

Kapitel 10:

Kapitel 11:

Kapitel 12:

Kapitel 13:

Kapitel 14:

Kapitel 15:

Kapitel 16:

Kapitel 17:

Kapitel 18:

Kapitel 19:

Kapitel 20:

Kapitel 21:

Danksagung

Die Autorin

Unser Buchtipp

*

Für meine beste Freundin Andrea,

die schon seit unserer Schulzeit

meine wichtigste Vertraute,

ehrlichste Gesprächspartnerin

und liebste Gefährtin ist.

Danke für all die wundervollen Jahre

und die einzigartigen Momente mit dir!

*

Vorwort

Unwissenheit soll ein Segen sein?

Das behaupten doch auch nur solche Menschen, die niemals im völligen Dunkeln getappt sind und deshalb vor Verzweiflung nur noch schreien wollten.

*

Kapitel 1:

Auseinandergerissen

„Ich … ich … hab mich … in dich verliebt, Meike.“

Am liebsten hätte ich geheult. Das durfte doch nicht wahr sein. Nicht er! Jeder, aber doch nicht mein bester Freund!

„E-es, es tut mir leid, Noah“, stammelte ich. „Aber ich … ich kann deine … Gefühle nicht erwidern …“

Noah fasste sich mit einer Hand an den Hinterkopf und brachte sein braunes Haar dabei durcheinander. „Oh, okay ... Verstehe ... Äh, dann vergiss das einfach“, murmelte er hektisch. „Wir, ähm … sehen uns nach der Mittagspause …“ Eilig stapfte er davon, zurück in die Mensa.

Ich ließ den Kopf hängen. So ein Mist. Dass ausgerechnet mein bester Freund so etwas zu mir sagen würde, hätte ich nie gedacht. Verunsichert schaute ich Noah hinterher, dann wandte ich den Blick ab. Helles Licht schien durch die langen Fenster in den Gang. Es war nun Anfang Mai und der Schulgarten, den ich von hier aus sehen konnte, bot ein herrliches Bild. Doch die vielen Blumen heiterten mich gerade nicht auf.

Frustriert raufte ich mir die langen rotbraunen Locken. Wieder ein Tag, an dem ich die Geschehnisse hier verfluchte. Ich ging zwar auf die größte und teuerste Privatschule der Stadt, die Christophorus-Schule, aber ich war froh, dass ich sie nicht mehr lange besuchen musste. Ich war nun 16 Jahre alt und in der zehnten Klasse, also sollte ich in zwei Jahren mein Abitur haben. Wenn ich nicht aus lauter Verzweiflung schon vorher aus der Schule flüchtete.

Im Großen und Ganzen verstand ich mich gut mit meinen Mitschülern, doch in letzter Zeit häufte es sich, dass mich die Jungs aus meinem Jahrgang nach Dates fragten. Inzwischen machte ich mich ziemlich unbeliebt, weil ich bisher immer abgelehnt hatte. Denn ich war sicher, dass sich diese Kerle einen schlechten Scherz mit mir erlaubten, vielleicht sogar darauf gewettet hatten, mit wem ich ausgehen würde. Außerdem gab es für mich nur den einen. Auch wenn ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde …

Hastig schüttelte ich den Kopf, um diese finsteren Gedanken zu vertreiben.

„Meike, wo bleibst du denn?“, rief mir plötzlich jemand über den langen Gang zu, sodass ich mich umdrehte. Meine beste Freundin Elisa lief zu mir. „Warum kommst du nicht in die Mensa? Und was hast du mit Noah besprochen? Ich hab ewig auf dich gewartet!“

Halbherzig zog ich einen Mundwinkel hoch. „Es ist schon wieder passiert“, erklärte ich.

Sie zupfte an ihrer dunklen Bluse herum, die perfekt zu ihrem blonden Pferdeschwanz passte. An der Christophorus gab es zwar keine Uniform, doch die Schulleitung hatte sehr deutlich gemacht, wie viel Wert auf eine gehobene Garderobe gelegt wurde. Deswegen zogen die Jungs meistens Hemden oder Poloshirts an, die Mädchen Blusen oder Kleider. Ich war nur froh, dass die Lehrer uns nicht schon für das Tragen von Jeans ermahnten.

„Sag bloß, dieses Mal hat Noah dir seine Liebe gestanden?“, fragte sie. „Oje … Dabei wart ihr doch Freunde …“

„Sind wir immer noch“, entgegnete ich. „Hoffentlich ...“

„Aber warum hast du nicht zugestimmt?“, wollte sie wissen. „Ich dachte, du magst ihn. Auch wenn er ein arroganter Depp ist. Dann hätte der Ansturm der Geständnisse an dich bestimmt aufgehört.“

„Das kann ich nicht machen“, seufzte ich, ohne auf ihre Beleidigung für Noah einzugehen. Ich wusste ja, wie schlecht sich die beiden verstanden. „Ich kann nicht mit jemandem ausgehen, den ich nicht … auf diese Art mag. Einerseits will ich mich nicht selbst belügen, andererseits wäre es ihm gegenüber unfair.“

Wir setzten uns nun in Bewegung, um vor dem Nachmittagsunterricht noch etwas zu essen. „Aber du wirst immer öfter von Jungs gefragt. Ist da denn niemand für dich dabei?“

„Nein, niemand.“ Ich befürchtete ja, dass sie ein Spiel daraus gemacht hatten, wer mich herumkriegte, weil ich jeden abblitzen ließ und bekanntlich als einziges Mädchen in der Klasse noch keinen Freund gehabt hatte. Aber diese Vermutung äußerte ich lieber nicht laut.

„Warum eigentlich?“, wunderte sich Elisa. „Das hast du mir nie gesagt! Gibt es etwa schon einen anderen?“

Ich biss die Zähne zusammen und überlegte, ob ich ihr das erzählen sollte. Klar, sie war meine beste Freundin, aber ich redete nicht gerne darüber, was vor meinem Umzug nach Meridenau passiert war. Ich hatte seit damals nicht mehr darüber geredet.

Meine Familie war erst vor vier Jahren in diese Großstadt gezogen. Meine Mutter hatte sich hier einen Namen als Anwältin gemacht, mein Vater leitete ein Reisebüro und mein fünfjähriger Bruder Paul ging noch in den Kindergarten. Inzwischen waren Elisa und ich bei der Essensausgabe angekommen und standen in der Warteschlange. Ich nahm ein Tablett vom Stapel und ließ mir von unserer netten Köchin das nächstbeste Menü geben, das auf der Karte stand. Hauptsache irgendwas, um den Tag zu überstehen. Auch Elisa hatte etwas zu essen bekommen, dann suchten wir uns einen freien Platz. Fast alle Tische in der Mensa waren besetzt, die großen Fenster wurden zur Hälfte von Jalousien verdeckt, damit die Schüler nicht geblendet wurden. Einige aßen, andere machten Hausaufgaben oder unterhielten sich. „Jetzt sag schon“, drängelte Elisa. „Bist du etwa schon verliebt? Raus mit der Sprache, bitte!“

Ich wollte meine beste Freundin nicht anlügen. „Ja“, gab ich zu. Und da ich schon wusste, was die nächste Frage wäre, fügte ich hinzu: „In Leon.“

Ihre Augen weiteten sich, mit dieser Neuigkeit hatte sie wohl nicht gerechnet. „Leon? Der Spinner aus unserer Klasse? Ernsthaft?!“

„Nein, nicht der!“ Ich schüttelte heftig den Kopf. Sie redete vom schmächtigen, hellblonden Leon Braun, ich sprach von einer ganz anderen Person. „Jemand, den ich von früher kenne.“

„Erzähl mir alles“, forderte sie mich auf. „Von der Geschichte hab ich noch nie gehört, wieso hast du denn nie was gesagt?“

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir genug Zeit hatten, bis der Unterricht wieder begann. Nur wollte ich mich nicht an diese Geschichte erinnern, denn sie machte mich verdammt traurig. Vor allem, weil ich nichts daran ändern konnte. Aber vielleicht fühlte ich mich besser, wenn ich meine beste Freundin einweihte …

Einen Versuch war es wert.

Ich sah in Elisas blaue Augen, die mich erwartungsvoll musterten. „Okay. Ich erzähl es dir, aber tu mir einen Gefallen. Sag es niemandem, erst recht nicht den Jungs hier.“ Mir war es lieber, meine Mitschüler machten sich weiterhin einen Spaß daraus, dass ich mit niemandem ausging, als dass sie den Grund dafür kannten.

Sie nickte entschlossen. „Versprochen!“

Ich lächelte schief. „Na gut. Vor vier Jahren bin ich mit meiner Familie hierhergezogen. Davor haben wir in Puros gewohnt.“

„Das sagt mir gar nichts“, murmelte sie.

„Ist ja auch ein Kuhdorf am Ende der Welt“, lachte ich. „Der Umzug war echt die Hölle – mein kleiner Bruder ist damals erst ein Jahr alt gewesen und hat die ganze Zeit gebrüllt. Aber das Schlimmste war, zu wissen, dass ich Leon wohl nie wiedersehen würde.“ Sofort war Elisa Feuer und Flamme, was mich etwas irritierte.

„Das klingt so dramatisch! Wie eine verbotene Liebe!“

Ich schmunzelte. „Nicht ganz.“

„Okay, erzähl weiter!“, forderte sie mich auf. Am Nebentisch ließ jemand eine Gabel auf den Boden fallen, es schepperte leise, dann kicherte ein Mädchen an dem Tisch. Ich fand es gut, dass gerade jeder mit sich selbst beschäftigt war. Keiner beachtete Elisa und mich, keiner lauschte. Noah saß bei ein paar Freunden am anderen Ende der Mensa und stocherte lustlos in seinem Salat herum. Auch sein Stück Lasagne lag unangetastet auf dem Teller vor ihm. Ich wandte schnell den Blick von ihm ab und verdrängte mein schlechtes Gewissen weitestgehend. So ein blöder Tag. Erst verletzte ich meinen besten Freund und jetzt kramte ich eine so deprimierende Geschichte aus. „Na ja, das erste Mal habe ich Leon vor … knapp zehn Jahren getroffen. Da war ich sechs und bin zum ersten Mal allein unterwegs gewesen. Ich wollte nur etwas durchs Dorf laufen, aber dann hab ich diese großen Felder gesehen und bin weitergegangen. Bis ich keinen Plan mehr hatte, wo ich war …“

„Wie süß“, kicherte Elisa. „Du hast dich verlaufen?“

Ich nickte. „Total. Und damals war ich so ein Feigling, dass ich mich nicht getraut hab, irgendjemanden nach dem Weg zu fragen. Ich hab sowieso niemanden getroffen, und an wildfremden Türen wollte ich nicht klingeln. Eigentlich ist das ja total peinlich“, lachte ich. „Ich hab weinend am Wegrand gesessen und gehofft, dass meine Eltern mich finden.“

„Ach komm, du warst sechs, da darf man so was noch“, beruhigte sie mich.

Ich musste lächeln. „Tja, und dann hab ich Leon getroffen. Oder besser gesagt, er hat mich gefunden. Damals kam er mir vor wie ein Held.“

Sie grinste. „Wie sieht er denn aus?“

Typisch, dass sie das am meisten interessierte. Genau so kannte ich meine beste Freundin. „Er hat dunkles, schon fast schwarzes Haar, dunkelbraune Augen und total sanfte Gesichtszüge“, erinnerte ich mich. „Und er hat mich so besorgt angeschaut!“

„Ist ja niedlich! Und dann?“

„Ich war wahnsinnig erleichtert, dass ich doch nicht ganz allein war. Leon hat mir so geholfen! Er ist mein liebster Freund geworden …“ Und plötzlich spielte sich vor meinem inneren Auge wieder ab, was damals passiert war.

***

„Ist alles okay?“, fragte Leon unsicher.

Mit tränennassen Augen blickte ich zu ihm auf. Er war etwas älter als ich, doch er erschien mir auf den ersten Blick sympathisch. In dem Moment machte ich mir keine Sorgen mehr. Er würde mir helfen, das wusste ich einfach. „Ich hab mich verlaufen“, schluchzte ich. „Ich weiß nicht mehr, wie ich zurückkomme.“

„Wo wohnst du denn?“, wollte er wissen. Schnell nannte ich ihm meine Adresse in Puros, da wurde er hellhörig. „Ich wohne neben dir!“, fiel ihm auf. „Und ich wollte sowieso nach Hause, wir können zusammen gehen.“ Dann streckte er mir die Hand hin. „Komm!“

Ich ergriff sie und er zog mich hoch. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Erst vor dem großen weißen Haus, in dem ich wohnte, blieben wir stehen.

Leon zeigte auf das Haus nebenan. „Da wohne ich.“

„Wir sind wirklich Nachbarn!“, staunte ich. Der Junge war mir zuvor nie aufgefallen. Vielleicht weil mich meine Eltern nur selten allein draußen spielen ließen. Eigentlich hätte ich auch heute nicht weggehen sollen, doch mir war so langweilig gewesen ...

„Dann bis bald“, verabschiedete er sich von mir und lief zu sich nach Hause.

„Danke!“, rief ich ihm hinterher, woraufhin er mich kurz anlächelte.

Kaum hatte ich bei mir zu Hause geklingelt, wurde die Tür aufgerissen. Meine Mutter blickte mich mit ihren weit aufgerissenen grünen Augen an. „Meike, wo warst du? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht! Du kannst doch nicht heimlich abhauen! Und das auch noch alleine! Wir haben schon die Polizei gerufen!“

Beschämt zog ich den Kopf ein. „Es tut mir leid!“

Bestimmt bemerkte sie mein schlechtes Gewissen, jedenfalls schimpfte sie mich nicht aus, sondern umarmte mich fest. „Oh du … Komm schnell rein.“

Am nächsten Tag spielte ich in unserem Garten. Ich hatte meine Mutter so lange angebettelt, bis sie mich allein nach draußen gelassen hatte, während sie im Büro saß und arbeitete. Mir war inzwischen aufgefallen, dass ich nicht mal den Namen des Jungen von gestern kannte. Ob ich bei unseren Nachbarn klingeln sollte?

„Hallo!“, rief es plötzlich von der Grundstücksgrenze. „Hallo!“ Der Junge von gestern stand am Zaun und winkte mir zu. „Weißt du noch? Ich hab dich gestern nach Hause gebracht.“

„Klar weiß ich das noch!“, antwortete ich und lief zum Zaun.

„Ich wollte dich fragen, wie du heißt!“

„Ich bin Meike Parker. Du?“

„Leon Englert“, stellte er sich vor. „Und ich bin zehn. Wie alt bist du denn?“

„Ich bin sechs“, murmelte ich eingeschüchtert. Dass er schon so alt war, hätte ich nicht gedacht. Doch ihn störte das anscheinend nicht.

Er grinste mich an. „Wollen wir was unternehmen?“

„Was denn?“

Kurz überlegte er. „Vielleicht zum Bach gehen?“

Nachdem wir unsere Eltern um Erlaubnis gefragt hatten, machten wir uns auf den Weg. Aber wir mussten schon nach einer halben Stunde zurück, weil Leon ins Wasser gefallen war. Triefnass stand er da, nachdem er wieder aus dem Bach hinausgeklettert war. Ich konnte nicht aufhören, zu lachen. Allerdings hatte Leon sich an diesem Tag erkältet, darum besuchte ich ihn von da an, bis er sich erholt hatte.

Wir trafen uns oft, stellten immer viel Unsinn an, gingen allen Leuten der Umgebung auf die Nerven und wurden unzertrennlich. Wir besuchten sogar dieselbe Grundschule und verbrachten jede Pause zusammen.

Nach einer Weile bemerkten wir, dass wir beide leidenschaftlich gern fotografierten – wir liebten es, besondere Momente in Bildern einzufangen, wobei mein liebstes Motiv die Natur war und er bei Porträts aufblühte. Es gab keine besseren Personenaufnahmen als seine, fand ich. Seitdem wuchs meine Liebe zur Fotografie stetig, weil wir oft zusammen losgezogen waren, um Bilder zu machen. Vermutlich hing ich deswegen noch heute so sehr an diesem Hobby, ich hatte inzwischen sogar gelernt, meine Fotos professioneller zu bearbeiten.

So schön unsere gemeinsame Zeit war, sie nahm ein abruptes Ende. In den Sommerferien, als ich zwölf war, änderte sich alles. Für immer. Und die letzten sechs Jahre Freundschaft wurden auf einen Schlag ausradiert.

Ich war für drei Wochen zu Besuch bei meiner Tante und ihrem Mann auf deren großem Bauernhof. Obwohl ich die Zeit dort genoss, freute ich mich schon darauf, zurück nach Puros zu kommen. Denn Leon und ich hatten ausgemacht, dass wir uns in den restlichen Ferien jeden Tag treffen und etwas unternehmen würden.

Mein Vater holte mich vom Bahnhof ab und mir fiel auf, wie übermüdet und unglücklich er aussah. Auf der Fahrt redeten wir kaum. Und als wir daheim in Puros ankamen, wusste ich auch warum.

Als ich vor meinem Zuhause stand, glaubte ich nicht, was ich sah. Das Haus von Leon und seiner Familie war abgebrannt – graue und schwarze Asche bedeckte den Rasen, das Dach des Hauses war völlig zerstört und einige Wände waren eingebrochen.

„Meike, hör mal …“, begann mein Vater, doch ich wartete seine Erklärung nicht ab. Ich stieg aus dem Auto und rannte auf das Nachbargrundstück.

Im Garten, etwas abseits von den Trümmern, fand ich Leon. Zusammengekauert saß er auf der Wiese und weinte bitterlich. Seine schwarze Hose und sein weißes Hemd waren schmutzig vom Ruß, sein dunkles Haar wirr. Der Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich. In diesem Moment wirkte er nicht wie der freche 16-Jährige, den ich kannte, sondern wie der traurigste Mensch der Welt.

Ich ging vor ihm in die Hocke und legte zaghaft eine Hand auf seine Schulter. „Leon, was ist passiert?“, fragte ich entsetzt.

Er drehte sich überrascht zu mir um, seine Augen waren rot und geschwollen, dicke Tränen liefen über sein Gesicht. „Geh weg!“, rief er. „Ich will nicht, dass du mich so siehst, Meike!“

Erschrocken zuckte ich zurück. So traurig und verzweifelt hatte ich ihn noch nie gesehen – und es tat mir im Herzen weh. Darum wollte ich ihn nicht unter Druck setzen. Wenn er so weit war, würde er mit mir reden, das wusste ich. Denn auch wenn er manchmal bockte, erzählte er mir am Ende doch immer alles. Und dann verstand ich bestimmt, warum er hier alleine saß und weinte.

„Okay, ich lass dich in Ruhe“, flüsterte ich. „Aber morgen komme ich wieder. Und übermorgen. Und irgendwann erzählst du mir, was passiert ist, ja?“

Meine Worte zauberten ihm ein schwaches Lächeln aufs Gesicht. „Danke. Ich wusste, du würdest es verstehen.“

Ich strich ihm vorsichtig übers Haar. „Ich warte. Bis morgen, Leon.“

„Bis dann, Meike“, verabschiedete er sich leise von mir.

Und dann machte ich den größten Fehler meines Lebens – ich ging weg, zu mir nach Hause. Mein Vater wartete schon mit meinem Koffer an der Haustür. Er musterte mich bedrückt, tiefe Ringe zeichneten sich unter seinen blauen Augen ab. „Was ist hier bloß los?“, fragte ich ängstlich.

„Komm ins Wohnzimmer, du solltest dich hinsetzen“, riet er mir.

Wir setzten uns aufs Sofa, auch meine Mutter gesellte sich dazu. Sie sah genauso niedergeschlagen aus wie mein Vater. Ich verstand nicht, was diese unheimliche Atmosphäre bedeutete.

„Hör zu, Meike … Vor drei Tagen hat es bei unseren Nachbarn plötzlich gebrannt“, erzählte er leise. „Die Spurensuche ermittelt noch, wie das Feuer ausbrechen konnte. Dabei ist etwas Schreckliches passiert … Es … Es war … Leons Eltern sind umgekommen. Heute früh war die Beerdigung, wir waren alle dabei.“

Ich hielt die Luft an. Das konnte doch nicht … Nein, das konnte nicht sein! „Seine … seine Eltern sind … tot?“

Die Verzweiflung packte mich, ich fühlte mich wie gelähmt. Da stiegen mir schon die ersten Tränen in die Augen. Leons Eltern waren immer so nett gewesen und nun sollten sie für immer verschwunden sein?

Meine Mutter umarmte mich fest. „Leider ja, Mäuschen. Leon hat zum Glück bei einem Freund übernachtet, doch Sven und Emma … kamen nicht rechtzeitig aus dem Haus …“

„Oh Gott!“, schluchzte ich. „Nein! Warum? Warum ist das passiert? Warum war ich in den letzten Tagen nicht bei Leon?“

„Meike, du konntest nicht da sein, du wusstest ja nichts davon“, redete sie auf mich ein. „Und am Telefon wollten wir dir das alles nicht erzählen.“

„Aber ihr hättet es mir sagen müssen!“, warf ich meinen Eltern vor. „Ich wäre doch sofort zurückgekommen!“

„Du hättest nichts tun können“, flüsterte mein Vater und strich über meinen Arm. „Leons Großeltern, die Eltern seiner Mutter, werden ihn heute mit zu sich nehmen, er zieht von hier weg. Er hat ja keine anderen Verwandten hier …“

„Ich glaube, das hat er noch nicht mal wirklich mitbekommen“, ergänzte meine Mutter. „Kein Wunder, er ist noch völlig geschockt …“

„Ich weiß nicht mal, wo seine Großeltern wohnen“, fiel meinem Vater auf.

Das war zu viel … Das durfte alles nicht wahr sein! Er ging fort? Er hatte nicht nur sein Zuhause, sondern auch die beiden wichtigsten Menschen seines Lebens verloren und nun musste er obendrein von hier wegziehen? Und ich konnte nichts für ihn tun?!

„Nein!“, schluchzte ich. „Wieso? Wieso?!“

Mein Vater drückte mich nun auch an sich. „Ich weiß, das ist schrecklich … Aber mach dich nicht verrückt, du kannst daran nichts ändern.“

„Doch, das kann ich!“, rief ich trotzig.

Ich wollte noch ein letztes Mal für Leon da sein. Oder ihn dazu bringen, nicht aus Puros fortzuziehen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte. Aber der Gedanke, ihn nicht mehr zu sehen, ihn nicht mehr in meiner Nähe zu haben und ihm nicht mal in der schwersten Zeit seines Lebens helfen zu können, erschien mir unerträglich. Also riss ich mich von meinen Eltern los und eilte nach nebenan in den Garten, wo Leon bis eben noch gesessen hatte. Aber er war nicht mehr da. Das gesamte Grundstück war verlassen. „Leon?“, rief ich unsicher. „Leon, wo bist du?“ Keine Antwort. „Leon!“

Hektisch blickte ich mich um. Da sah ich ein Auto auf der Straße vorbeifahren. Und auf dem Rücksitz saß Leon! Er blickte starr geradeaus, das Auto wurde in der Ferne immer kleiner.

In mir zerbrach etwas. Kraftlos sank ich auf den Knien ins Gras. Er war weg. Und er käme nicht zurück. Ich hatte mich nicht mal von ihm verabschieden können. Tränen rannen über meine Wangen, ich krallte meine Finger in die Erde und weinte. Ich war zu spät gekommen, ich hatte ihn nicht mehr aufmuntern oder aufhalten können. Das Letzte, was ich von ihm gesehen hatte, war dieses grauenhaft schmerzverzerrte Gesicht gewesen. Das Gesicht, das mir nie wieder aus dem Kopf gehen würde.

Erst da wurde mir klar, dass ich mich schon vor langer Zeit unbemerkt in ihn verliebt hatte. Und auch, dass es nun aussichtslos war. Ich konnte ihm meine Gefühle nicht mehr gestehen. Ich hatte meine Chance verpasst.

***

„Das ist die ganze Geschichte, Elisa“, beendete ich die Erzählung. „Darum lasse ich alle Jungs abblitzen.“ Mutlos lachte ich auf. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Denn ich komme nicht von diesen Gefühlen los.“ Mir wurde elend, als ich mich zurückerinnerte. Meine Sehnsucht nach Leon hatte auch nach vier Jahren noch nicht nachgelassen. Die bereits leicht verblasste Erinnerung an damals wurde jetzt wieder lebendiger. Wenn ich doch nur darüber hinwegkommen könnte …

Elisa sah mich mitleidig an. „Das ist ja die Hölle! Wie … wie geht’s dir denn damit?“

Ich lächelte halbherzig. „Nicht so besonders. Aber Leon macht mir viel mehr Sorgen – was wohl aus ihm geworden ist?“

„Du …“ Sie wurde von der lauten Klingel unterbrochen, die Mittagspause war vorbei. Zum Glück. Ich wollte nicht weiter auf diese alte Geschichte eingehen. Dass ich ihr überhaupt alles erzählt hatte, wunderte mich. „Wir müssen zur nächsten Stunde“, sagte ich. „Komm.“

Ich hatte fast nichts gegessen, doch ich brachte jetzt sowieso keinen Bissen herunter. Zögerlich folgte Elisa mir zum Klassenzimmer im Erdgeschoss. Es stand Erdkunde auf dem Stundenplan, das hieß, ich saß in dieser Stunde neben Noah. Das konnte unangenehm werden …

Ich setzte mich auf meinen Platz und zog das Schulheft aus meiner Tasche, die ich vor der Mittagspause hier im Zimmer gelassen hatte. Kaum begann Frau Schmitz zu reden, brachen Geschrei und Gelächter aus – Erdkunde war bei uns das einzige Fach, in dem das Chaos herrschte, weil es unserer Referendarin an Durchsetzungsvermögen mangelte. Anfangs hatten fast alle dabei mitgemacht, doch inzwischen nervte es mich nur noch und viele andere auch, Frau Schmitz zu quälen. Wir lernten gar nichts mehr und machten die arme angehende Lehrerin wahnsinnig.

Jemand schnippte ihr eine Papierkugel an den Hinterkopf, als sie sich zur Tafel gedreht hatte. Sie wirbelte wütend herum. „Hört auf mit dem Unsinn, Kinder. Das führt doch zu nichts!“ Dann drehte sie sich wieder an die Tafel und schrieb einen Hefteintrag an, es ging um die Versalzung des Bodens in heißen Ländern.

Ich zeichnete das Schema ab und schrieb in aller Ruhe mit, während die halbe Klasse das Leben für Frau Schmitz zur Hölle machte.

„Ich werde noch nicht aufgeben“, flüsterte Noah plötzlich.

Ich drehte mich zu ihm um. „Was?“

Er kritzelte mit einem Kugelschreiber den Rand seines Hefts voll. „Ich werde dich noch nicht aufgeben“, erklärte er, ohne mich dabei anzusehen. „Ich kann nicht einfach wieder auf Freundschaft umschalten, nachdem ich meinen Mut zusammengekratzt und es dir gestanden habe.“

Ich seufzte gequält. „Noah, du bist mein bester Freund. Aber nicht mehr.“

„Wir werden sehen“, entgegnete er und widmete sich weiterhin den Zeichnungen und Figuren in seinem Heft. Dass er auf einmal so zuversichtlich war, beunruhigte mich ein wenig.

In der nächsten Stunde, Englisch, saß ich neben Elisa, wie in fast jedem anderen Fach auch. Weitaus erholsamer als Erdkunde neben Noah …

Herr Frank gab uns die Schulaufgabe von letzter Woche zurück. „Ihr habt wirklich gute Arbeit geleistet!“ Er machte sich ans Austeilen. Vor meinem und Elisas Platz blieb er stehen. „Miss Parker, gute Arbeit“, lobte er mich und gab mir das Blatt. Begeistert sah ich den Test an.

„Wie cool! Du hast ’ne Eins!“, staunte Elisa. „Da werden deine Eltern sicher zufrieden sein.“

„Wie erhofft“, lachte ich. Meine Eltern bezahlten ziemlich viel, damit ich auf die Christophorus gehen konnte. Dementsprechend erwarteten sie gute Noten von mir, auch wenn das nicht in jedem Fach so gut klappte wie in Englisch. „Und Glückwunsch zu deiner Zwei!“

„Danke! Ich bin froh, dass du mir die Grammatik noch mal erklärt hast!“

„Immer doch“, winkte ich ab.

Nach der Stunde endete der offizielle Unterricht. Ich hatte aber noch Foto-AG. Ich war die Einzige aus meiner Klasse, die freitagnachmittags in der Schule blieb und mit anderen fotografierte oder Klassenfotos und Ausstellungen plante.

Mit meiner Tasche auf dem Rücken lief ich durch den Garten ins Nebengebäude, in dem die Klubaktivitäten stattfanden. Die Luft war warm, die Sonne strahlte immer noch und meine Laune besserte sich wieder etwas. Ich bemühte mich, nicht mehr an die schwierige Situation mit Noah oder die alte Geschichte mit Leon zu denken, sondern mich auf die AG zu freuen.

Kühle Luft schlug mir im Gebäude entgegen, die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Ich öffnete die Tür zum Klubraum, in dem es Kameras, Objektive, Stative, Studiolampen, Sofas, Schreibtische und zwei Computer mit großen Bildschirmen gab. Die anderen sieben Mitglieder aus den verschiedensten Jahrgängen waren alle schon da. Einige lächelten mir zu.

„Da bist du ja! Dann können wir anfangen“, freute sich Oliver aus der elften Klasse, mit dem ich in der AG immer zusammenarbeitete. Bei ihm fühlte ich mich richtig wohl, er war wirklich freundlich zu mir und wir verstanden uns gut. Außerdem konnte ich mir sicher sein, dass er mich niemals um ein Date bitten würde. Denn er fand keinerlei Gefallen an Mädchen, was nur wenige Eingeweihte wussten.

„Unbedingt“, stimmte ich zu und setzte mich zu ihm auf eins der alten, aber bequemen Sofas. Vor mir stellte ich meine Schultasche ab.

„Nein, können wir noch nicht“, sprach Herr Zwick, ein Kunstlehrer und der Leiter des Klubs, ein. Er saß auf einem der beiden Schreibtische und grinste uns an. „Wir haben einen Neuzugang.“

„Endlich mal Verstärkung!“, freute sich Oliver. „Dann ist es nicht immer so ein Stress, die Klassenfotos rechtzeitig fertig zu kriegen. Wer ist es denn?“

„Er kommt bestimmt gleich“, antwortete der Lehrer.

Gespannt blickten wir zur Tür, als ein weiterer Schüler eintrat. Mir klappte der Unterkiefer runter. Was wollte Noah denn hier? Seit wann interessierte er sich für Fotografie?

„Hi, ich bin Noah“, stellte er sich vor. „Ich gehe in dieselbe Klasse wie Meike und bin ab heute auch dabei. Aber ich hab noch nicht viel Erfahrung.“

„Keine Sorge, wir bringen dir alles bei! Erst mal willkommen im Team“, begrüßte ihn Herr Zwick.

Ich schnaubte, weil ich kein Wort davon glaubte. Noah wirkte immer ein wenig genervt, wenn ich länger von meinen Bildern sprach. Und auf einmal trat er der Foto-AG bei?

„Was ist denn los?“, flüsterte Oliver und fuhr sich durchs blonde Haar. „Hast du was dagegen, dass er hier ist?“

„Nein, aber ich dachte immer, er interessiert sich nicht für Fotografie und …“

„Warum ist er dann hier?“

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte nicht über Noah herziehen, auch wenn ich befürchtete, dass sein Beitritt zur AG etwas mit mir zu tun hatte.

„Setz dich doch, Noah, bei Meike und Oliver ist noch ein Platz auf dem Sofa frei“, forderte Herr Zwick ihn auf.

„Irgendwer da oben muss mich hassen“, dachte ich, während ich aus dem Fenster in Richtung Himmel blickte. Nun fühlte ich mich in der Foto-AG tatsächlich unbehaglich, obwohl sie mein liebstes Hobby war!

„Unser heutiges Thema ist Ärger und Freude“, verkündete der Lehrer. „Bis zum Sommerfest soll unsere Ausstellung dazu fertig sein, also bildet Teams, schnappt euch eine Kamera und fangt eure Eindrücke zu dem Thema ein.“

„Oliver, gehen wir raus?“, schlug ich vor und stand auf. Mir entging nicht, dass Noah mich enttäuscht musterte, weil ich kein Team mit ihm bildete.

„Klar, gerne“, stimmte der blonde Elftklässler zu und nahm eine Kamera sowie ein Objektiv und ein Stativ mit. „Bei dem schönen Wetter willst du draußen bestimmt Freude einfangen, oder?“

Gemeinsam verließen wir den Klubraum. „Ja“, stimmte ich zu. In Gedanken ergänzte ich: „Denn wenn wir uns heute dem Ärger widmen, kommen bei mir nur Fotos von Noah raus.“

Während wir im Schulgarten Schmetterlinge fotografierten, atmete ich auf. Etwas Abstand zu Noah tat gerade gut. Hoffentlich sah er bald ein, dass ich seine Gefühle nicht erwidern konnte. Weil ich Leon liebte.

*

Kapitel 2:

So viel zu „Freundschaft“

Als ich von der Schule nach Hause kam, waren meine Eltern schon da. Sie saßen mit meinem Bruder auf dem Sofa im gemütlichen Wohnzimmer und spielten ein Fragespiel mit ihm. Als Paul mich entdeckte, weiteten sich seine hellbraunen Augen und er grinste mich an. „Meike!“

„Hallo, Paulchen“, antwortete ich und wuschelte ihm durchs strohblonde Haar, mit dem er mich selbst dann noch an einen kleinen Engel erinnerte, wenn er mir Streiche spielte oder sich unmöglich benahm.

„Na, wie war dein Tag?“, begrüßte mich meine Mutter Ulrike. An ihre neue Frisur hatte ich mich immer noch nicht ganz gewöhnt. Sie trug ihre braunen Haare nun ziemlich kurz und leicht aufgestellt.

„Ganz okay … Hab ’ne Eins in Englisch geschrieben.“

„Gute Arbeit!“, lobte mich mein Vater Thorsten stolz.

Ich lächelte schief. „Wie kommt’s, dass ihr heute beide schon da seid?“

Meine Mutter arbeitete oft bis in die Nacht in der Kanzlei, auch mein Vater verbrachte den ganzen Tag im Büro, weshalb wir ein Kindermädchen für meinen kleinen Bruder hatten.

„Wir mussten packen, übers Wochenende fahren wir weg“, antwortete mein Vater. Er fuhr sich mit einer Hand durchs struppige blonde Haar. „Ich habe Besprechungen und Ulrike muss zu einigen Mandanten.“

Ich verzog das Gesicht. In letzter Zeit sah ich die beiden wirklich selten und jetzt fuhren sie auch noch das ganze Wochenende weg. „Oh, okay.“

„Sonntagabend müsste ich auf jeden Fall wieder da sein“, ergänzte meine Mutter. „Thorsten will schon mittags zurückkommen.“

„Allerdings“, erwähnte dieser, „hat Lena dieses Wochenende frei, du musst auf Paul aufpassen.“

„Kein Problem“, stimmte ich zu. Es waren ja nur zwei Tage, außerdem passte ich öfter auf meinen Bruder auf. Unser Kindermädchen nahm sich so selten frei, dass wir sie an ihren freien Tagen nicht mal in Notfällen riefen.

Mein Vater klopfte mir auf die Schulter. „Sehr gut. Dann lass uns was essen.“

„Oh ja, ich hab riesigen Hunger“, seufzte ich. „Die Schule war anstrengend. Zum Glück kann ich die Hausaufgaben auf morgen verschieben … Ich will nur noch was essen, duschen und ins Bett.“

„Ich hab auch Hunger!“, rief Paul und hüpfte vom Schoß unserer Mutter, um zu mir zu rennen und mein rechtes Bein zu umarmen.

Ich schmunzelte und schaute zu ihm hinunter. „Dann isst du ja bestimmt sogar zwei Scheiben Brot, oder?“

Er schüttelte den Kopf. „Mehr! Zehn!“

Unsere Eltern und ich mussten bei der Vorstellung lachen. „Das will ich sehen“, kicherte ich.

Natürlich erfüllte mein Bruder seine Vorhersage nicht, nach zweieinhalb Wurstbroten platzte er fast. Während unsere Mutter ihn ins Bett brachte und unser Vater die Küche aufräumte, lief ich die Treppen nach oben in den ersten Stock zu meinem Zimmer. Es lag genau unter dem Arbeitszimmer meines Vaters und gegenüber von den Schlafzimmern meiner Eltern und meines Bruders.

Ich schaltete das Deckenlicht an, da es draußen langsam dämmerte. Mein Zimmer war schlicht eingerichtet. Hier gab es bloß ein Bett, einen Schreibtisch, einen Kleiderschrank, zwei Regale und einen Nachtschrank mit Wecker und Lampe darauf. Und natürlich einige Fotos von meiner Familie und meinen beiden besten Freunden. Mehr brauchte ich nicht.

Mit meinem kurzen Schlafanzug ging ich ins Badezimmer und gönnte mir eine entspannend warme Dusche. Schnell trocknete ich mich ab, föhnte meine Haare und putzte meine Zähne, bevor ich mich ins Bett legte. Ich chattete über mein Handy noch etwas mit Elisa, dann deckte ich mich zu. Der heutige Tag hatte mich so erschöpft, dass ich relativ früh einschlief. Und wie in vielen Nächten träumte ich von Leon und diesem traurigen Ausdruck in seinen Augen.

Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker schon früh, damit ich vor Paul wach war und genug Zeit für die vielen Hausaufgaben hatte. Etwas verschlafen quälte ich mich aus dem Bett und zog mich um. Da ich heute keine Schule hatte, reichten ein bequemes T-Shirt und Shorts.

Im Bad wusch ich mir das Gesicht, um richtig wach zu werden, und band mir die langen Haare zum Pferdeschwanz. So leise wie möglich warf ich einen Blick in Pauls Zimmer.

Der Kleine schlief noch. Also schlich ich mich nach unten in die Küche und machte mir eine Schale Cornflakes zum Frühstück.

Meine Eltern hatten das Haus bereits verlassen. Es war ruhig. Schon fast ein wenig unheimlich. Hoffentlich wachte mein Bruder bald auf und sorgte für ordentlichen Krach. Das war mir lieber als die Stille. Nachdem ich ein Glas Orangensaft getrunken und mein Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, kam Paul auch schon in seinem hellblauen Pyjama in die Küche. Im Türrahmen blieb er stehen und rieb sich verschlafen die Augen. „Hunger“, murmelte er.

Ich lächelte ihn an. „Worauf denn?“

„Bunte Flakes!“

Typisch, dass er diese ungesunden, überzuckerten Frühstücksflocken wollte. Aber ich konnte ihm fast nichts abschlagen. „Na gut, ich hole sie dir. Setz dich schon mal an den Tisch.“

„Jaaa!“, jubelte er und tapste nach nebenan ins Esszimmer.

Ich brachte ihm eine Schale seiner Lieblingsflakes mit Milch sowie ein Glas Saft und leistete ihm beim Essen Gesellschaft. Danach räumte ich den Tisch ab.

„Willst du dich nicht anziehen?“, fragte ich meinen Bruder.

Er nickte. „Doch! Und dann will ich was malen!“

„Okay, ich hole dir Stifte und ein paar Bögen Papier.“

Er kehrte in sein Zimmer zurück, während ich ins Arbeitszimmer im zweiten Stock lief, um von dort Papier und Stifte zu holen. Ich suchte ihm einige Filzstifte in verschiedenen Farben heraus und nahm zusätzlich ein paar Blätter weißes Papier mit. Als ich beim Hinuntergehen an Pauls Zimmer vorbeikam, hatte er schon seine Schlafanzughose gegen Shorts getauscht und blickte begierig auf die Malsachen in meiner Hand. „Für mich?“

„Ja, für dich. Kommst du gleich mit ins Wohnzimmer?“ So konnte ich auf ihn aufpassen, während ich dort meine Hausaufgaben machte.

„Ja!“, rief er sofort und zog sich das T-Shirt so schnell über, dass er sich darin verhedderte, weil er nicht durchs Kopfloch kam.

„Ach, Paulchen, nicht so ungeduldig“, lachte ich und legte die Stifte sowie das Papier auf den Boden. Vor dem Kleinen ging ich in die Hocke und half ihm, das Oberteil richtig anzuziehen. „Besser?“

„Ich bin fertig!“, jubelte er und lief an mir vorbei aus dem Zimmer. „Malen!“

Amüsiert folgte ich ihm mit den Mal- und meinen Schulsachen nach unten. Zusammen setzten wir uns an den großen Wohnzimmertisch. Ich kam gut mit den Hausaufgaben voran, obwohl ich mich zwischendurch mit meinem Bruder unterhielt und eine Stunde mit ihm im Garten spielte. Aber wir konnten nicht den ganzen Tag drinnen herumsitzen. Mittags kochte ich uns Schinkennudeln, danach machte ich mich daran, die restlichen Hausaufgaben zu erledigen. Dass unsere Lehrer übers Wochenende immer so übertreiben mussten! Doch mein Bruder heiterte mich mit seinen frisch gemalten Bildern auf, die er mir gleich nach der Fertigstellung zeigte. An sich verlief alles ruhig, wie immer, wenn wir allein zu Hause waren.

Gegen halb drei klingelte es allerdings an der Tür. „Wer ist das denn jetzt? Warte kurz, Paulchen, ich mach nur schnell auf.“

„Okay“, murmelte er geistesabwesend, völlig auf sein Blatt Papier fixiert.

Erstaunt blickte ich den Besucher an. Noah stand auf einer der Stufen vor dem Haus und lächelte schief. Er war einer meiner wenigen Mitschüler, die ich auch ohne schicke Klamotten kannte. Wie die meisten anderen in normalen Outfits aussahen, konnte ich mir gar nicht vorstellen.

„Was machst du denn hier?“, wunderte ich mich und sah sein Fahrrad an, das er gegen die Hauswand gelehnt hatte. In den letzten zwei Schuljahren war er oft hergefahren, um mit mir Hausaufgaben zu machen. Bevor wir noch mehr Nachmittagsunterricht bekommen hatten.

„Ich dachte, wir könnten zusammen lernen“, erklärte er und deutete auf die Schultasche, die er auf dem Rücken trug.

Ich runzelte die Stirn. „Warum hast du mich vorher denn nicht wenigstens angerufen? Was, wenn ich nicht zu Hause gewesen wäre?“

„Wir hatten so viel Zeug auf, da musstest du ja zu Hause sein“, lachte er. „Darf ich reinkommen?“

Ich seufzte leise. Eigentlich wollte ich ja mit ihm lernen, zusammen fiel uns das viel leichter, außerdem mochte ich ihn – wenn auch auf eine andere Art als er mich. Aber nach dem gestrigen Geständnis fragte ich mich, ob es eine kluge Idee war, momentan außerhalb der Schule Zeit miteinander zu verbringen … Doch ich schob diese Sorgen beiseite. Er war schließlich mein bester Freund. „Ja, komm rein.“

Gemeinsam gingen wir ins Wohnzimmer, wo mein kleiner Bruder noch eifrig malte. „Hallo, Paulchen“, begrüßte Noah ihn mit dem Spitznamen, den sonst nur ich benutzte. Er setzte sich zu ihm an den Tisch. „Na, was malst du Schönes?“

Schnell verdeckte der Kleine das Blatt. „Du darfst mein Bild noch nicht sehen!“

„Warum das denn?“, lachte Noah.

Paul sprang auf. „Weil es geheim ist! Ich gehe in mein Zimmer und mache es da fertig“, verkündete er.

Ich musste lächeln. Mein kleiner Bruder war ein richtiger Künstler, auch wenn man meistens nicht wirklich erkannte, was seine Bilder darstellen sollten. Ich fand es niedlich. „Okay, stell aber nichts an“, bat ich.

Er nickte und rannte nach oben, während Noah seine Schulsachen ausbreitete und sortierte. „Lebhaft wie immer“, merkte er amüsiert an.

Ich setzte mich neben ihn an den Tisch. „Oh ja, du kennst Paulchen doch. Was für Fächer wollen wir denn heute machen?“

„Vielleicht Mathe und Deutsch“, schlug er vor. „Darin stehen doch die nächsten Schulaufgaben an.“

„Oh ja, vielleicht kannst du mir auch diese bescheuerte Polynomdivision erklären“, stöhnte ich. In Mathe war Noah deutlich besser als ich.

„Wenn du mir in Deutsch hilfst, jederzeit“, stimmte er zu und grinste.

Bis uns vor Zahlen und literarischen Epochen die Köpfe schwirrten, gingen wir den gesamten Stoff durch. Dann brauchten wir aber dringend eine Pause.

„Hey, es ist ja schon halb sieben!“, fiel Noah auf. „Wir haben echt lange durchgehalten. Mann, hab ich Hunger...“

„Ich könnte uns was zu essen machen. Paulchen malt schon seit Stunden, vielleicht möchte er auch etwas.“ Zwischendurch hatte ich ein paarmal nach meinem Bruder gesehen, doch er hatte mich jedes Mal aus seinem Zimmer gejagt, damit ich nicht sah, was er malte.

„Ja, bitte, sonst kippe ich um!“, jammerte er.

Also holte ich Paul und kochte Spaghetti mit Tomatensoße, während er und Noah den Tisch deckten. Mein Bruder und ich aßen so gerne Nudeln, dass wir sie auch zweimal am Tag mochten.

„Das war köstlich“, lobte mich Noah nach dem Essen.

„Toll gemacht, Meike!“, freute sich Paul.

Ich lächelte. „Danke. Schön, dass es geschmeckt hat.“

„Ich muss weitermalen!“, teilte Paul uns mit. „Stört mich bloß nicht!“

Wie konnte er stundenlang in seinem Zimmer sitzen und malen? Und wie viele Bilder hatte er schon fertig? Wahrscheinlich so viele, wie ich ihm Blätter gegeben hatte …

Mein kleiner Bruder rannte, so schnell er mit seinen kurzen Beinen konnte, aus dem Raum durchs Treppenhaus rauf in sein Zimmer. Kopfschüttelnd blickte ich ihm nach. „Er ist ganz schön aufgedreht heute“, merkte ich an.

„Stimmt“, pflichtete Noah mir bei. „Aber solange er nichts dabei kaputt macht oder nervt, ist das ja nicht schlimm.“

Strafend blickte ich ihn an. „Paulchen ist ein total lieber Junge!“

„Weiß ich doch“, winkte Noah ab. „Wollen wir noch etwas machen? Ich hätte noch Physik dabei.“

„Juhu, mein Lieblingsfach“, brummte ich sarkastisch.

„Hab dich nicht so, wir schaffen das“, ermutigte er mich. Im Gegensatz zu mir mochte Noah Physik, und er konnte das ganze Zeug auch großartig erklären.

Also setzten wir uns wieder ins Wohnzimmer und lernten weiter. Es half ja nichts, wir mussten den Kram können. Und zusammen machte das Lernen viel mehr Spaß, weil wir auch kurze Pausen einlegten, um uns etwas zu unterhalten. Es war, als wäre alles wie immer. Als hätte Noah mir nie gesagt, dass er sich in mich verliebt hatte.

Weil wir es auf den Stühlen inzwischen nicht mehr aushielten, setzten wir uns zur Abwechslung auf den Teppichboden und breiteten unsere Hefte sowie die Bücher vor uns aus.

„Wo sind überhaupt deine Eltern?“, fiel Noah da auf. „Es ist schon nach acht.“

Ich blickte vom Buch auf. „Sie sind beide geschäftlich bis morgen unterwegs“, erklärte ich. „Ich passe übers Wochenende auf Paulchen auf und hüte das Haus, bis sie wiederkommen.“

Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. „Ach so. Dann seid ihr ja ganz alleine.“

Ein wenig betrübt nickte ich. „Ja, Mama und Papa arbeiten eben viel ... In letzter Zeit noch mehr als sonst. Mama hat irgendeinen großen Prozess vor sich und Papa will eine neue Filiale für sein Reisebüro eröffnen.“

Noah bemerkte meinen Frust und legte mir seinen Arm um die Schultern, um mich an sich zu drücken. „Danach haben sie bestimmt wieder mehr Zeit.“

„Hoffentlich“, seufzte ich.

Er sagte nichts mehr, stattdessen sah er mich lange an. Skeptisch erwiderte ich seinen Blick, da zog er mich näher zu sich. Ich riss die Augen auf, als ich begriff, dass Noah mich küssen wollte. Zum Glück reagierte ich sofort, ich zuckte zurück und drückte meine rechte Hand gegen seine Stirn, um ihn von mir fernzuhalten.

Einen Moment lang starrten wir uns nur an. Er wirkte unsicher, ich hingegen bemühte mich, wütend zu wirken und mein Entsetzen zu verbergen. „Was soll das werden?!“

Ich war so sauer! Bis eben hatte ich noch gedacht, wir gingen ganz locker und freundschaftlich miteinander um, wie sonst auch. Dass er hergekommen war, um ganz ungezwungen etwas zu unternehmen. Dass wir befreundet blieben. Offensichtlich konnte ich das jedoch vergessen. Ich hatte ja gewusst, dass er ein sehr direkter Typ war. Aber dass er mich auf einmal küssen wollte, hätte ich nicht erwartet.

„Tut mir leid“, murmelte er und zog sich etwas zurück, sodass ich meine Hand gefahrlos von seiner Stirn nehmen konnte. „Ich dachte, das wäre der richtige Moment …“

„Wieso? Weil ich deprimiert darüber bin, dass ich meine Eltern kaum sehe?“, schnaubte ich.

Er zuckte mit den Schultern. „Na ja, ja …“

„Idiot!“, tobte ich. „Wehe, du machst das noch mal!“

Was sollte das denn? Sonst verbrachte ich so gerne Zeit mit ihm, aber nun wollte ich ihn mit einem heftigen Tritt vor die Tür setzen.

Was mich an dieser Sache am meisten frustrierte, war, dass sie mich an denjenigen erinnerte, den ich wirklich küssen wollte. Auch wenn ich vielleicht einer Illusion nachjagte. Auch wenn ich Leon vielleicht nie wiedersehen würde. Manchmal wünschte ich mir sogar, meine Zuneigung zu ihm vergessen zu können...

Noah hob abwehrend die Arme. „Ist ja gut, komm runter.“

Ich musterte ihn, verärgert und enttäuscht zugleich. „Du solltest jetzt gehen“, flüsterte ich.

Einen Moment lang wirkte er überrascht, doch dann nickte er. Er kramte seine Schulsachen zusammen und wir verabschiedeten uns voneinander, ohne dass sich die angespannte Atmosphäre zwischen uns lockerte. Ich schloss die Haustür hinter ihm und setzte mich wieder ins Wohnzimmer. Allein, ratlos und wütend.

Dieser Trottel! Verstand er denn nicht, dass ich so etwas nicht wollte? Hörte er mir denn überhaupt nicht zu? Und warum versetzte mir der Gedanke an das, was beinahe passiert wäre, einen schrecklichen Stich?

Klar, weil ich dabei an Leon denken musste. Weil diese alte Geschichte präsenter war als zuvor, seit ich sie Elisa erzählt hatte. Und weil Noah mir nahekommen wollte, obwohl ich in einen anderen verliebt war. Vielleicht sollte ich Noah sagen, dass ich seine Gefühle deshalb nicht erwidern konnte. Bestimmt glaubte er, ich wäre nur stur. Aber Leon ging ihn nichts an, und ein zweites Mal wollte ich die Geschichte sowieso nicht erzählen.