Johann starrte in den Lauf eines Mosin-Nagant-Gewehrs. Der Mann am anderen Ende war ein Soldat der Roten Armee, der genauso verdreckt und erschöpft aussah, wie Johann sich fühlte.
„Ergeben! Hände hoch!“, brüllte der Rotarmist in gebrochenem Deutsch.
Nach einem kurzen Blick aus dem Augenwinkel gehorchte Johann. Weiterkämpfen war sinnlos, da links und rechts seine Kameraden in genau der gleichen Situation waren. Langsam hob er beide Hände über den Kopf und sah seinem Gegenüber dabei in die Augen. Die Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht. Mein Krieg ist vorbei. Kein Kämpfen mehr. Kein Töten mehr.
Der Russe bedeutete ihm, seine Waffe wegzulegen und sich einer ganzen Kolonne von Wehrmachtsoldaten anzuschließen, die zusammengetrieben wurden. Während Johann dem Soldaten sein getreues MG34 aushändigte, überrollte ihn eine Welle der Erleichterung, gefolgt von unbeschreiblicher Angst. Er hatte die Kämpfe überlebt, aber was erwartete ihn als Nächstes?
Die Schauergeschichten über die Rote Armee waren nicht gerade dazu geeignet, seine Sorgen zu lindern. Die Wehrmachtsoldaten hatten sogar ein eigenes Wort für die Ängste erfunden, die eine Gefangennahme durch die Russen auslöste: der Russenschreck.
Eines der Gerüchte besagte, dass sie keine Gefangenen machten. Johann schluckte schwer und schlurfte hinüber zu seinen Kameraden. Jeden Moment rechnete er mit einer Kugel im Hinterkopf, doch nichts dergleichen geschah.
Die jungen Russen, die die Kriegsgefangenen bewachen sollten, schienen genauso so erleichtert zu sein wie er, die Schlacht um Warschau überlebt zu haben. Sie machten keine Anstalten, ihre ehemaligen Gegner zu töten. Manche lächelten sogar und fingen Gespräche an.
Johann sprach kein Russisch und zog es deshalb vor, sich von den Bewachern fernzuhalten, für alle Fälle. Er schlängelte sich in die Mitte der Gruppe und traf schließlich jemanden, den er kannte.
„Helmut!“
Sein langjähriger Kamerad drehte sich um und sah ihn mit hoffnungsvollem Blick an. „Johann. Hast du Wasser?“
Johann reichte ihm seine Feldflasche. „Schon lange hier?“
„Zwei Tage. Kein Essen, kein Wasser. Nur den Schnee zum Trinken, aber der ist jetzt auch weg.“
„Was haben die mit uns vor?“
„Keine Ahnung.“ Helmut gab ihm die Feldflasche zurück. „Sieht so aus, als wüssten sie das selbst nicht.“ Er nickte in Richtung eines sowjetischen Offiziers, ein kleiner Mann mit einer Fellmütze und einem langen, kakifarbenen Mantel mit roten Aufschlägen. „Ich glaube, der da hat das Sagen, aber er hat genauso wenig Ahnung wie der Rest.“
Das klang nicht sehr ermutigend. Johann hoffte, die Russen würden bald eine Entscheidung fällen und sie nicht hier draußen verrotten lassen, wo sie Wind und Wetter ausgesetzt waren. Ein Aufruhr auf der anderen Seite erregte seine Aufmerksamkeit. Die russischen Soldaten gingen von Gefangenem zu Gefangenem und machten irgendetwas.
„Wertsachen stehlen“, sagte Helmut. „Sie sind verrückt nach Armbanduhren, nehmen aber auch alles andere.“
Kurz darauf näherte sich einer der Rotarmisten und sagte „Uhri!“
Johann sah auf seine Armbanduhr, die Standardausstattung der Wehrmacht. Sie war weder schön noch wertvoll, hatte aber zuverlässig die Zeit angezeigt. Er würde sie vermissen.
Er nahm die Uhr ab und reichte sie dem Rotarmisten, der sie um sein rechtes Handgelenk schnallte, da am linken bereits drei Uhren prangten.
„Metalle.“
Johann blinzelte, unsicher, was der andere wollte.
„Er will deine Abzeichen“, erklärte Helmut.
Ein Blick auf den Oberkörper seines Freundes zeigte Johann, dass Helmuts eigene Uniform komplett leer war. Sämtliche Rangabzeichen waren abgerissen worden.
Tja, die würden ihm sowieso nichts mehr nützen. Er nahm die Schulterklappen ab und legte sie in die ausgestreckte Hand des Russen.
„Gürtel.“
Johann sah nach unten auf den Ledergürtel mit der Metallschnalle, auf der Gott mit uns stand. Dem Russen gefiel dieses Zögern nicht und er richtete seine Waffe auf Johann. „Schnell.“
„Ja.“ Er nickte und seine Finger bewegten sich, um die Schnalle zu öffnen und den Gürtel abzunehmen. Seine Hose rutschte bis auf die Hüften, ehe die Hosenträger sie aufhielten.
Der Russe schien zufrieden mit seiner Beute und wandte sich dem nächsten Gefangenen zu, während Johann einen abgrundtiefen, allerdings stummen Seufzer ausstieß. Er lebte noch. Um einige Dinge erleichtert, aber er lebte.
Wenigstens hatte er noch seine Feldflasche, Stift und Notizblock sowie das Foto seiner Freundin Lotte, Besteck, ein Stück Brot und seinen Rucksack mit Wechselwäsche und Waschsachen.
Und sein Soldbuch. Wenn die Russen ihnen erlaubten, das Büchlein zu behalten, das unter anderem als Ausweisdokument diente, hatten sie vielleicht wirklich vor, sie am Leben zu lassen.
Seine erschöpften Beine wankten und Johann hätte sich am liebsten hingesetzt, aber der halb gefrorene Matsch wirkte wenig einladend. Das Eis würde unter ihm wegtauen und seine Hose durchweichen, wodurch die feuchte Kälte in seine Knochen kriechen konnte.
Nein, er blieb lieber stehen.
Irgendwann setzte er sich doch, weil seine Beine unter ihm nachgaben.
Am nächsten Tag kam ein Fahrzeug mit einigen wichtig aussehenden russischen Offizieren angefahren. Sie berieten sich eine Weile und wiesen dann einige der einfachen Soldaten an, Stapel von etwas Weißem zu verteilen.
Johann beäugte sie neugierig und hoffte auf etwas Essbares, doch es stellte sich heraus, dass es nur Stoffstreifen waren, etwa 18 mal 25 cm groß, mit den kyrillischen Buchstaben W und P aufgedruckt.
„Das bedeutet wojenno plenni, und ist Russisch für Kriegsgefangener“, erklärte ein hilfsbereiter Kamerad.
Ein Russe zeigte auf Johanns linken Arm und Johann band den Stoffstreifen knapp über dem linken Ellbogen um seine Jacke. Es war nur ein Stück Stoff, aber es fühlte sich an wie eine schwere Last. Erniedrigend. Ab diesem Augenblick war er nicht mehr Leutnant Hauser, sondern schlicht ein Teil der ständig wachsenden anonymen Masse Kriegsgefangener.
Sobald alle Männer ihr neues Erkennungszeichen erhalten hatten, gab jemand den Marschbefehl. Noch immer auf etwas Essbares hoffend, reihte Johann sich in die Schlange ein. Als er an einem zerstörten Haus vorbeikam, streckte er die Hand aus, um etwas Schnee von einer Mauer zu greifen. Sofort durchzuckte ihn ein stechender Schmerz als ein Gewehrkolben auf seinen Arm herabkrachte.
„Weitergehen!“
Johann zog schnell die Hand zurück und hielt das bisschen Schnee fest, dass er zwischen die Finger bekommen hatte. Er wartete, bis sein Bewacher außer Sichtweite war, und stopfte sich die schmelzende Masse in den Mund. Die wenigen Tropfen reichten kaum, um seinen ausgetrockneten Mund anzufeuchten, geschweige denn, seinen Durst zu löschen.
Nach ungefähr einer Stunde Marsch scheuchten die Russen ihre Gefangenen in einen eingezäunten Bereich, in dem bereits Hunderte von elenden, entmutigten, dreckigen, irre blickenden und kahlrasierten Wehrmachtsoldaten auf dem blanken Boden hockten.
Die Wachen verteilten Schermesser an die Neuankömmlinge und bedeuteten ihnen, sich gegenseitig die Köpfe kahl zu rasieren.
Johann starrte Helmut an, „Was soll das alles?“
Helmut, der ein paar Brocken Russisch sprach, zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Unsere Häscher sind nicht gerade großzügig, was Erklärungen anbelangt. Wir machen allerdings besser, was sie wollen.“
„Wer zuerst?“, fragte Johann.
„Du natürlich. Dann kann ich mich für jeden Schnitt rächen, den du mir verpasst.“
„Ach wie nett, einem Freund in den Rücken zu fallen.“
Helmut senkte den Kopf, sodass Johann anfangen konnte, ihn zu rasieren – ohne Wasser oder Seife –, und murmelte: „Wenn es stimmt, was sie sagen, verlieren wir bald den Luxus von Freundschaften und dann ist jeder auf sich allein gestellt.“
Johann fing an, Helmuts blonde Haare mit dem stumpfen Messer wegzukratzen, und dachte über die Worte nach. Stimmte es, dass es ein Luxus war, Freunde zu haben? Und war ein gefangener Soldat allein wirklich besser dran? Er fand das nicht, aber was wusste er schon davon, in Gefangenschaft zu überleben?
Nichts.
„Fertig. Du siehst furchtbar aus“, sagte er zu Helmut und reichte ihm das Messer, damit der den Gefallen erwidern konnte.
„Und es ist schrecklich kalt“, antwortete Helmut, während er anfing, Johanns Kopf zu scheren.
Sein Freund hatte recht. Sobald die Strähnen seines hellbraunen Haars auf seine Schultern fielen, traf ein eisiger Windstoß Johanns Kopf. Die Russen hatten ihnen schon am Vortag die Helme abgenommen, aber er hoffte, dass sie wenigstens die Feldmützen behalten durften, um ihre Köpfe vor dem polnischen Winter zu schützen.
Weitere Befehle wurden in einer seltsamen Mischung aus Russisch und Deutsch gebrüllt, doch die Bedeutung war klar. Alle mussten sich für eine Leibesvisitation aufstellen.
Johann seufzte. Sie hatten ihn schon zweimal durchsucht. Was erwarteten die denn, was er versteckte? In ihren Aktionen lag weder Sinn noch Verstand, denn sie nahmen Helmut das Besteck ab, während Johann seins behalten durfte. Stattdessen stahlen sie seine Wollsocken.
Vielleicht vervollständigen die durchsuchenden Soldaten auch einfach nur ihre Ausrüstung mit dem, was ihnen gerade fehlte. Ein Offizier ging von Mann zu Mann, untersuchte ihre Schulterklappen und pickte scheinbar wahllos Gefangene heraus, die er auf die andere Seite des eingezäunten Bereichs schickte.
Johanns Stimmung rutschte in den Keller und seine Hoffnungen schwanden, als der Offizier auf ihn und Helmut zukam. Mehr und mehr Gefangene wurden auf die andere Seite geschickt. Er verstand den Auswahlprozess nicht und konnte auch nicht einschätzen, ob es besser war, auf dieser Seite zu bleiben oder auf die andere Seite geschickt zu werden. Obwohl er nie ein religiöser Mensch gewesen war, verspürte er den plötzlichen Drang zu beten. Bitte, lass mich leben.
Der Offizier erreichte Helmut, nickte ihm überraschend freundlich zu und bat um sein Soldbuch. „Gut. Gut.“ Er nahm das Büchlein, sah es sich an und gab es schließlich zurück. „Das sind Ihre Dokumente. Bewahren Sie sie sicher auf.“ Dann ging er weiter die Reihe entlang – und verschwand außer Sichtweite.
„Was jetzt?“, fragte Johann.
„Was weiß ich.“
Also warteten sie. Einige der Kameraden verließen die Reihe und suchten nach Schneeresten, um ihren Durst zu stillen. Niemand tötete oder schlug sie. Durch die fehlende Reaktion der Wachen ermutigt, folgten mehr und mehr Gefangene ihrem Beispiel, bis sie die letzten Spuren von Schnee und Eis aufgeleckt hatten.
„In die Reihe“, brüllte jemand und die Gefangenen beeilten sich, eine Linie zu bilden. Eine neue Gruppe von Russen kam und unternahm eine weitere Leibesvisitation. Diesmal nahmen sie nur die Soldbücher und warfen sie auf einen großen Haufen in der Mitte des eingezäunten Bereichs.
Johanns Herz rutschte ihm in die Hose. Der Offizier hatte ihnen gesagt, sie sollten sie sicher verwahren, denn das waren ihre Papiere. Hatten die Russen ihre Meinung geändert und würden sie jetzt alle töten?
Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er beobachtete, wie ein Rotarmist den Haufen in Brand steckte. All seine Hoffnungen gingen mit den Ausweispapieren zusammen in Rauch auf und neue Panik machte sich in ihm breit.
Wenigstens spendeten die brennenden Papiere etwas Wärme und er rückte näher heran, um seine steif gefrorenen Gliedmaßen aufzutauen. Während er in die tanzenden Flammen starrte, erfüllte ihn Traurigkeit. War das jetzt die Krönung seines Lebens? Er war neunundzwanzig Jahre alt und hatte nichts anderes gelernt, als ein Soldat zu sein.
Ursprünglich war er der Reichswehr, der Vorgängerorganisation der Wehrmacht und später der Partei beigetreten, weil er von Hitlers Versprechen fasziniert gewesen war, den ungerechten Versailler Vertrag außer Kraft zu setzen und Deutschland zu seiner früheren Größe zurückzuführen. Aber die Verfolgung von Juden und anderen Personengruppen hatte seine Begeisterung bald gedämpft.
Beschämt gestand sich Johann ein, dass er getäuscht worden war und geglaubt hatte, die Juden wären schuld an den unerträglichen Zuständen, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geherrscht hatten. Doch selbst wenn Hitlers Behauptungen wahr gewesen wären – und das bezweifelte er inzwischen ernsthaft – hatten die Juden diese unmenschliche Behandlung nicht verdient. Kein Mensch verdiente es, verfolgt, gefoltert und ausgemerzt zu werden.
„Alle da rüber!“ Der Befehl vertrieb Selbstmitleid und Schuldgefühle. Johann reihte sich hinter Helmut ein und wartete mit stockendem Atem, was wohl als Nächstes käme. Nach einer schier endlosen und zermürbenden Warterei kam er an die Reihe und fand sich vor einem langen Tisch wieder, an dem ein halbes Dutzend Rotarmisten saß und Notizen auf langen Listen machte.
„Name?“
„Johann Hauser.“
„Vorname des Vaters?“
Warum um alles in der Welt braucht er den? Doch er wagte es nicht, irgendwelche Fragen zu stellen, und sagte: „Hans.“
„Jahr?“
Johann sah ihn verwirrt an. „Ich verstehe nicht.“
„Geburtsjahr?“ Der Soldat wurde wütend, weil er sich wiederholen musste.
„1916.“
„Ort?“
„München, Deutschland.“
Der Soldat winkte ihn weiter und Johann fragte sich, warum sie die Soldbücher zerstört hatten. Es wäre sicher praktischer gewesen, die nötigen Informationen aus den Dokumenten zu übernehmen, anstatt jeden Gefangenen einzeln zu befragen.
Er drehte den Kopf nach links und sah zwei SS-Leute, die sich hastig die Abzeichen abrissen, ehe sie mit der Registrierung an der Reihe waren. Ohne die Soldbücher konnten diejenigen, die etwas zu verbergen hatten, bei der Registrierung leicht lügen. Johann hasste ihren Betrug, doch in Anbetracht der furchtbaren Geschichten, die über die Sonderbehandlung in Umlauf waren, welche die Rote Armee den Mitgliedern der SS angedeihen ließ, konnte er die beiden auch irgendwie verstehen.
Am nächsten Tag marschierte er mit mehr als tausend Gefangenen über eine Behelfsbrücke über die Weichsel und weiter zu einem Bauernhof. Dort bekamen sie endlich etwas zu essen – Brot und Suppe. Die mageren Rationen stillten seinen Hunger nicht, aber wenigstens löschte die Suppe den quälenden Durst. Danach wurden alle zu einem Appell in den Hof beordert.
Es war ein merkwürdiger Anblick, die Mitglieder der ehemals so stolzen, wenn nicht sogar unbesiegbaren Wehrmacht dort stehen zu sehen, entmutigt und niedergeschlagen.
„Was wollen sie jetzt schon wieder?“, flüsterte er Helmut zu, der nur den Kopf schüttelte.
„Ein klügerer Mann als ich ist nötig, um den russischen Verstand zu ergründen.“
Das stimmte. Bisher war keine ihrer Handlungen vorhersehbar oder auch nur nachvollziehbar gewesen.
Ein sowjetischer Offizier trat vor und fragte auf Englisch: „Sind hier britische oder amerikanische Bürger anwesend?“
Zwei Männer in Uniformen der britischen Royal Air Force traten vor und Johann fragte sich, wie um alles in der Welt sie es geschafft hatten, zusammen mit den Deutschen gefangen genommen zu werden. Die beiden Engländer wurden sofort zum Kommandanten gebracht.
„Franzosen?“
Dutzende Soldaten in Wehrmachtuniformen traten vor und gaben sich als malgré-nous, Männer der Region Elsass-Lothringen, zu erkennen, die von der Wehrmacht zwangsrekrutiert worden waren.
„Komm schon. Wenn der Kerl da drüben ein Franzose ist, bin ich Russe“, murmelte Helmut beim Anblick eines kleinen, dunkelhaarigen Mannes. „Der stammt aus dem Saarland.“
„Jedem das Seine“, murmelte Johann zurück. Doch wer konnte es dem Mann verübeln, dass er angesichts des Russenschrecks versuchte, einer Gefangennahme zu entgehen?
Die Fragerei ging weiter. Polen, Tschechen, Jugoslawen, Rumänen, Bulgaren, sogar Österreicher traten vor und wurden in Listen eingetragen. Doch zu ihrem Leidwesen wurden alle, die eine deutsche Uniform trugen, zurück in die Reihe geschickt, unabhängig von ihrer wahren oder behaupteten Nationalität. Nur die Männer, die eine alliierte Uniform trugen, wurden freigelassen.