Heftige Strafe

HEFTIGE STRAFE

EIN BERÜHRENDER HISTORISCHER ROMAN ÜBER EINEN KRIEGSGEFANGENEN IN RUSSLAND

MARION KUMMEROW

Übersetzt von ANNETTE SPRATTE

Marion Kummerow

INHALT

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Bücher von Marion Kummerow

Kontaktinformationen

NEWSLETTER

Wollen Sie wissen, wie alles anfing mit der Klausen-Familie?

Newsletter-Abonnenten bekommen die Kurzgeschichte “Gewagte Flucht” kostenlos zum Download.

Einfach hier anmelden:

https://marionkummerow.de

KAPITEL 1

Januar 1945, Warschau

Johann starrte in den Lauf eines Mosin-Nagant-Gewehrs. Der Mann am anderen Ende war ein Soldat der Roten Armee, der genauso verdreckt und erschöpft aussah, wie Johann sich fühlte.

„Ergeben! Hände hoch!“, brüllte der Rotarmist in gebrochenem Deutsch.

Nach einem kurzen Blick aus dem Augenwinkel gehorchte Johann. Weiterkämpfen war sinnlos, da links und rechts seine Kameraden in genau der gleichen Situation waren. Langsam hob er beide Hände über den Kopf und sah seinem Gegenüber dabei in die Augen. Die Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht. Mein Krieg ist vorbei. Kein Kämpfen mehr. Kein Töten mehr.

Der Russe bedeutete ihm, seine Waffe wegzulegen und sich einer ganzen Kolonne von Wehrmachtsoldaten anzuschließen, die zusammengetrieben wurden. Während Johann dem Soldaten sein getreues MG34 aushändigte, überrollte ihn eine Welle der Erleichterung, gefolgt von unbeschreiblicher Angst. Er hatte die Kämpfe überlebt, aber was erwartete ihn als Nächstes?

Die Schauergeschichten über die Rote Armee waren nicht gerade dazu geeignet, seine Sorgen zu lindern. Die Wehrmachtsoldaten hatten sogar ein eigenes Wort für die Ängste erfunden, die eine Gefangennahme durch die Russen auslöste: der Russenschreck.

Eines der Gerüchte besagte, dass sie keine Gefangenen machten. Johann schluckte schwer und schlurfte hinüber zu seinen Kameraden. Jeden Moment rechnete er mit einer Kugel im Hinterkopf, doch nichts dergleichen geschah.

Die jungen Russen, die die Kriegsgefangenen bewachen sollten, schienen genauso so erleichtert zu sein wie er, die Schlacht um Warschau überlebt zu haben. Sie machten keine Anstalten, ihre ehemaligen Gegner zu töten. Manche lächelten sogar und fingen Gespräche an.

Johann sprach kein Russisch und zog es deshalb vor, sich von den Bewachern fernzuhalten, für alle Fälle. Er schlängelte sich in die Mitte der Gruppe und traf schließlich jemanden, den er kannte.

„Helmut!“

Sein langjähriger Kamerad drehte sich um und sah ihn mit hoffnungsvollem Blick an. „Johann. Hast du Wasser?“

Johann reichte ihm seine Feldflasche. „Schon lange hier?“

„Zwei Tage. Kein Essen, kein Wasser. Nur den Schnee zum Trinken, aber der ist jetzt auch weg.“

„Was haben die mit uns vor?“

„Keine Ahnung.“ Helmut gab ihm die Feldflasche zurück. „Sieht so aus, als wüssten sie das selbst nicht.“ Er nickte in Richtung eines sowjetischen Offiziers, ein kleiner Mann mit einer Fellmütze und einem langen, kakifarbenen Mantel mit roten Aufschlägen. „Ich glaube, der da hat das Sagen, aber er hat genauso wenig Ahnung wie der Rest.“

Das klang nicht sehr ermutigend. Johann hoffte, die Russen würden bald eine Entscheidung fällen und sie nicht hier draußen verrotten lassen, wo sie Wind und Wetter ausgesetzt waren. Ein Aufruhr auf der anderen Seite erregte seine Aufmerksamkeit. Die russischen Soldaten gingen von Gefangenem zu Gefangenem und machten irgendetwas.

„Wertsachen stehlen“, sagte Helmut. „Sie sind verrückt nach Armbanduhren, nehmen aber auch alles andere.“

Kurz darauf näherte sich einer der Rotarmisten und sagte „Uhri!“

Johann sah auf seine Armbanduhr, die Standardausstattung der Wehrmacht. Sie war weder schön noch wertvoll, hatte aber zuverlässig die Zeit angezeigt. Er würde sie vermissen.

Er nahm die Uhr ab und reichte sie dem Rotarmisten, der sie um sein rechtes Handgelenk schnallte, da am linken bereits drei Uhren prangten.

„Metalle.“

Johann blinzelte, unsicher, was der andere wollte.

„Er will deine Abzeichen“, erklärte Helmut.

Ein Blick auf den Oberkörper seines Freundes zeigte Johann, dass Helmuts eigene Uniform komplett leer war. Sämtliche Rangabzeichen waren abgerissen worden.

Tja, die würden ihm sowieso nichts mehr nützen. Er nahm die Schulterklappen ab und legte sie in die ausgestreckte Hand des Russen.

„Gürtel.“

Johann sah nach unten auf den Ledergürtel mit der Metallschnalle, auf der Gott mit uns stand. Dem Russen gefiel dieses Zögern nicht und er richtete seine Waffe auf Johann. „Schnell.“

„Ja.“ Er nickte und seine Finger bewegten sich, um die Schnalle zu öffnen und den Gürtel abzunehmen. Seine Hose rutschte bis auf die Hüften, ehe die Hosenträger sie aufhielten.

Der Russe schien zufrieden mit seiner Beute und wandte sich dem nächsten Gefangenen zu, während Johann einen abgrundtiefen, allerdings stummen Seufzer ausstieß. Er lebte noch. Um einige Dinge erleichtert, aber er lebte.

Wenigstens hatte er noch seine Feldflasche, Stift und Notizblock sowie das Foto seiner Freundin Lotte, Besteck, ein Stück Brot und seinen Rucksack mit Wechselwäsche und Waschsachen.

Und sein Soldbuch. Wenn die Russen ihnen erlaubten, das Büchlein zu behalten, das unter anderem als Ausweisdokument diente, hatten sie vielleicht wirklich vor, sie am Leben zu lassen.

Seine erschöpften Beine wankten und Johann hätte sich am liebsten hingesetzt, aber der halb gefrorene Matsch wirkte wenig einladend. Das Eis würde unter ihm wegtauen und seine Hose durchweichen, wodurch die feuchte Kälte in seine Knochen kriechen konnte.

Nein, er blieb lieber stehen.

Irgendwann setzte er sich doch, weil seine Beine unter ihm nachgaben.

Am nächsten Tag kam ein Fahrzeug mit einigen wichtig aussehenden russischen Offizieren angefahren. Sie berieten sich eine Weile und wiesen dann einige der einfachen Soldaten an, Stapel von etwas Weißem zu verteilen.

Johann beäugte sie neugierig und hoffte auf etwas Essbares, doch es stellte sich heraus, dass es nur Stoffstreifen waren, etwa 18 mal 25 cm groß, mit den kyrillischen Buchstaben W und P aufgedruckt.

„Das bedeutet wojenno plenni, und ist Russisch für Kriegsgefangener“, erklärte ein hilfsbereiter Kamerad.

Ein Russe zeigte auf Johanns linken Arm und Johann band den Stoffstreifen knapp über dem linken Ellbogen um seine Jacke. Es war nur ein Stück Stoff, aber es fühlte sich an wie eine schwere Last. Erniedrigend. Ab diesem Augenblick war er nicht mehr Leutnant Hauser, sondern schlicht ein Teil der ständig wachsenden anonymen Masse Kriegsgefangener.

Sobald alle Männer ihr neues Erkennungszeichen erhalten hatten, gab jemand den Marschbefehl. Noch immer auf etwas Essbares hoffend, reihte Johann sich in die Schlange ein. Als er an einem zerstörten Haus vorbeikam, streckte er die Hand aus, um etwas Schnee von einer Mauer zu greifen. Sofort durchzuckte ihn ein stechender Schmerz als ein Gewehrkolben auf seinen Arm herabkrachte.

„Weitergehen!“

Johann zog schnell die Hand zurück und hielt das bisschen Schnee fest, dass er zwischen die Finger bekommen hatte. Er wartete, bis sein Bewacher außer Sichtweite war, und stopfte sich die schmelzende Masse in den Mund. Die wenigen Tropfen reichten kaum, um seinen ausgetrockneten Mund anzufeuchten, geschweige denn, seinen Durst zu löschen.

Nach ungefähr einer Stunde Marsch scheuchten die Russen ihre Gefangenen in einen eingezäunten Bereich, in dem bereits Hunderte von elenden, entmutigten, dreckigen, irre blickenden und kahlrasierten Wehrmachtsoldaten auf dem blanken Boden hockten.

Die Wachen verteilten Schermesser an die Neuankömmlinge und bedeuteten ihnen, sich gegenseitig die Köpfe kahl zu rasieren.

Johann starrte Helmut an, „Was soll das alles?“

Helmut, der ein paar Brocken Russisch sprach, zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Unsere Häscher sind nicht gerade großzügig, was Erklärungen anbelangt. Wir machen allerdings besser, was sie wollen.“

„Wer zuerst?“, fragte Johann.

„Du natürlich. Dann kann ich mich für jeden Schnitt rächen, den du mir verpasst.“

„Ach wie nett, einem Freund in den Rücken zu fallen.“

Helmut senkte den Kopf, sodass Johann anfangen konnte, ihn zu rasieren – ohne Wasser oder Seife –, und murmelte: „Wenn es stimmt, was sie sagen, verlieren wir bald den Luxus von Freundschaften und dann ist jeder auf sich allein gestellt.“

Johann fing an, Helmuts blonde Haare mit dem stumpfen Messer wegzukratzen, und dachte über die Worte nach. Stimmte es, dass es ein Luxus war, Freunde zu haben? Und war ein gefangener Soldat allein wirklich besser dran? Er fand das nicht, aber was wusste er schon davon, in Gefangenschaft zu überleben?

Nichts.

„Fertig. Du siehst furchtbar aus“, sagte er zu Helmut und reichte ihm das Messer, damit der den Gefallen erwidern konnte.

„Und es ist schrecklich kalt“, antwortete Helmut, während er anfing, Johanns Kopf zu scheren.

Sein Freund hatte recht. Sobald die Strähnen seines hellbraunen Haars auf seine Schultern fielen, traf ein eisiger Windstoß Johanns Kopf. Die Russen hatten ihnen schon am Vortag die Helme abgenommen, aber er hoffte, dass sie wenigstens die Feldmützen behalten durften, um ihre Köpfe vor dem polnischen Winter zu schützen.

Weitere Befehle wurden in einer seltsamen Mischung aus Russisch und Deutsch gebrüllt, doch die Bedeutung war klar. Alle mussten sich für eine Leibesvisitation aufstellen.

Johann seufzte. Sie hatten ihn schon zweimal durchsucht. Was erwarteten die denn, was er versteckte? In ihren Aktionen lag weder Sinn noch Verstand, denn sie nahmen Helmut das Besteck ab, während Johann seins behalten durfte. Stattdessen stahlen sie seine Wollsocken.

Vielleicht vervollständigen die durchsuchenden Soldaten auch einfach nur ihre Ausrüstung mit dem, was ihnen gerade fehlte. Ein Offizier ging von Mann zu Mann, untersuchte ihre Schulterklappen und pickte scheinbar wahllos Gefangene heraus, die er auf die andere Seite des eingezäunten Bereichs schickte.

Johanns Stimmung rutschte in den Keller und seine Hoffnungen schwanden, als der Offizier auf ihn und Helmut zukam. Mehr und mehr Gefangene wurden auf die andere Seite geschickt. Er verstand den Auswahlprozess nicht und konnte auch nicht einschätzen, ob es besser war, auf dieser Seite zu bleiben oder auf die andere Seite geschickt zu werden. Obwohl er nie ein religiöser Mensch gewesen war, verspürte er den plötzlichen Drang zu beten. Bitte, lass mich leben.

Der Offizier erreichte Helmut, nickte ihm überraschend freundlich zu und bat um sein Soldbuch. „Gut. Gut.“ Er nahm das Büchlein, sah es sich an und gab es schließlich zurück. „Das sind Ihre Dokumente. Bewahren Sie sie sicher auf.“ Dann ging er weiter die Reihe entlang – und verschwand außer Sichtweite.

„Was jetzt?“, fragte Johann.

„Was weiß ich.“

Also warteten sie. Einige der Kameraden verließen die Reihe und suchten nach Schneeresten, um ihren Durst zu stillen. Niemand tötete oder schlug sie. Durch die fehlende Reaktion der Wachen ermutigt, folgten mehr und mehr Gefangene ihrem Beispiel, bis sie die letzten Spuren von Schnee und Eis aufgeleckt hatten.

„In die Reihe“, brüllte jemand und die Gefangenen beeilten sich, eine Linie zu bilden. Eine neue Gruppe von Russen kam und unternahm eine weitere Leibesvisitation. Diesmal nahmen sie nur die Soldbücher und warfen sie auf einen großen Haufen in der Mitte des eingezäunten Bereichs.

Johanns Herz rutschte ihm in die Hose. Der Offizier hatte ihnen gesagt, sie sollten sie sicher verwahren, denn das waren ihre Papiere. Hatten die Russen ihre Meinung geändert und würden sie jetzt alle töten?

Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er beobachtete, wie ein Rotarmist den Haufen in Brand steckte. All seine Hoffnungen gingen mit den Ausweispapieren zusammen in Rauch auf und neue Panik machte sich in ihm breit.

Wenigstens spendeten die brennenden Papiere etwas Wärme und er rückte näher heran, um seine steif gefrorenen Gliedmaßen aufzutauen. Während er in die tanzenden Flammen starrte, erfüllte ihn Traurigkeit. War das jetzt die Krönung seines Lebens? Er war neunundzwanzig Jahre alt und hatte nichts anderes gelernt, als ein Soldat zu sein.

Ursprünglich war er der Reichswehr, der Vorgängerorganisation der Wehrmacht und später der Partei beigetreten, weil er von Hitlers Versprechen fasziniert gewesen war, den ungerechten Versailler Vertrag außer Kraft zu setzen und Deutschland zu seiner früheren Größe zurückzuführen. Aber die Verfolgung von Juden und anderen Personengruppen hatte seine Begeisterung bald gedämpft.

Beschämt gestand sich Johann ein, dass er getäuscht worden war und geglaubt hatte, die Juden wären schuld an den unerträglichen Zuständen, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geherrscht hatten. Doch selbst wenn Hitlers Behauptungen wahr gewesen wären – und das bezweifelte er inzwischen ernsthaft – hatten die Juden diese unmenschliche Behandlung nicht verdient. Kein Mensch verdiente es, verfolgt, gefoltert und ausgemerzt zu werden.

„Alle da rüber!“ Der Befehl vertrieb Selbstmitleid und Schuldgefühle. Johann reihte sich hinter Helmut ein und wartete mit stockendem Atem, was wohl als Nächstes käme. Nach einer schier endlosen und zermürbenden Warterei kam er an die Reihe und fand sich vor einem langen Tisch wieder, an dem ein halbes Dutzend Rotarmisten saß und Notizen auf langen Listen machte.

„Name?“

„Johann Hauser.“

„Vorname des Vaters?“

Warum um alles in der Welt braucht er den? Doch er wagte es nicht, irgendwelche Fragen zu stellen, und sagte: „Hans.“

„Jahr?“

Johann sah ihn verwirrt an. „Ich verstehe nicht.“

„Geburtsjahr?“ Der Soldat wurde wütend, weil er sich wiederholen musste.

„1916.“

„Ort?“

„München, Deutschland.“

Der Soldat winkte ihn weiter und Johann fragte sich, warum sie die Soldbücher zerstört hatten. Es wäre sicher praktischer gewesen, die nötigen Informationen aus den Dokumenten zu übernehmen, anstatt jeden Gefangenen einzeln zu befragen.

Er drehte den Kopf nach links und sah zwei SS-Leute, die sich hastig die Abzeichen abrissen, ehe sie mit der Registrierung an der Reihe waren. Ohne die Soldbücher konnten diejenigen, die etwas zu verbergen hatten, bei der Registrierung leicht lügen. Johann hasste ihren Betrug, doch in Anbetracht der furchtbaren Geschichten, die über die Sonderbehandlung in Umlauf waren, welche die Rote Armee den Mitgliedern der SS angedeihen ließ, konnte er die beiden auch irgendwie verstehen.

Am nächsten Tag marschierte er mit mehr als tausend Gefangenen über eine Behelfsbrücke über die Weichsel und weiter zu einem Bauernhof. Dort bekamen sie endlich etwas zu essen – Brot und Suppe. Die mageren Rationen stillten seinen Hunger nicht, aber wenigstens löschte die Suppe den quälenden Durst. Danach wurden alle zu einem Appell in den Hof beordert.

Es war ein merkwürdiger Anblick, die Mitglieder der ehemals so stolzen, wenn nicht sogar unbesiegbaren Wehrmacht dort stehen zu sehen, entmutigt und niedergeschlagen.

„Was wollen sie jetzt schon wieder?“, flüsterte er Helmut zu, der nur den Kopf schüttelte.

„Ein klügerer Mann als ich ist nötig, um den russischen Verstand zu ergründen.“

Das stimmte. Bisher war keine ihrer Handlungen vorhersehbar oder auch nur nachvollziehbar gewesen.

Ein sowjetischer Offizier trat vor und fragte auf Englisch: „Sind hier britische oder amerikanische Bürger anwesend?“

Zwei Männer in Uniformen der britischen Royal Air Force traten vor und Johann fragte sich, wie um alles in der Welt sie es geschafft hatten, zusammen mit den Deutschen gefangen genommen zu werden. Die beiden Engländer wurden sofort zum Kommandanten gebracht.

„Franzosen?“

Dutzende Soldaten in Wehrmachtuniformen traten vor und gaben sich als malgré-nous, Männer der Region Elsass-Lothringen, zu erkennen, die von der Wehrmacht zwangsrekrutiert worden waren.

„Komm schon. Wenn der Kerl da drüben ein Franzose ist, bin ich Russe“, murmelte Helmut beim Anblick eines kleinen, dunkelhaarigen Mannes. „Der stammt aus dem Saarland.“

„Jedem das Seine“, murmelte Johann zurück. Doch wer konnte es dem Mann verübeln, dass er angesichts des Russenschrecks versuchte, einer Gefangennahme zu entgehen?

Die Fragerei ging weiter. Polen, Tschechen, Jugoslawen, Rumänen, Bulgaren, sogar Österreicher traten vor und wurden in Listen eingetragen. Doch zu ihrem Leidwesen wurden alle, die eine deutsche Uniform trugen, zurück in die Reihe geschickt, unabhängig von ihrer wahren oder behaupteten Nationalität. Nur die Männer, die eine alliierte Uniform trugen, wurden freigelassen.

KAPITEL 2

Johann war bereits seit zwei Wochen auf dem ehemaligen Bauernhof und jeden Tag kamen neue Gefangene hinzu. Die Sowjets verkündeten, dies sei nur ein temporäres Lager, in dem sie gesammelt wurden, um später in ein richtiges Lager geschickt zu werden.

Doch da sich die Rote Armee gerade nach Berlin vorkämpfte, hatten sie verständlicherweise dringendere Probleme, als sich um ein paar zerlumpte Kriegsgefangene zu kümmern. Die Bewacher bewohnten die ausgebombten Gebäude, während die Gefangenen draußen Wind und Wetter ausgesetzt waren.

Seit dem Tag an dem er gefangen genommen worden war, hatte er nicht aufgehört zu frieren. Die unterkühlten Gliedmaßen waren zusammen mit dem nagenden Hunger seine ständigen Begleiter. Die Russen versorgten ihre Gefangenen einmal am Tag mit einer dünnen Suppe und etwas Brot, doch es war nie genug, insbesondere, da immer mehr Männer in das kleine Behelfslager gepfercht wurden und sich gegenseitig Platz und Nahrung streitig machten. Wenigstens konnten sie den rieselnden Schnee mit der Zunge auffangen, um damit den irren Durst zu löschen.

Ein weiteres Problem war die Langeweile – und die schwermütigen Gedanken, die damit einhergingen. Da Johann nichts hatte, womit er Hände oder Geist beschäftigen konnte, sorgte er sich ununterbrochen.

Um sich selbst und seine Zukunft. Um seine Eltern. Um seine Freunde. Aber am allermeisten um Lotte. Das letzte Mal hatte er sie vor einem halben Jahr in Warschau gesehen, wo er sie zusammen mit ihrer Freundin Gerlinde und ihrem Neffen Jan in einen Zug nach Berlin gesetzt hatte.

Lotte arbeitete als Funkerin für die Wehrmacht und war nach Stavanger in Norwegen versetzt worden. Er hätte sich freuen sollen, denn schließlich hatte er dabei seine Finger im Spiel gehabt. Stavanger war einer der sichersten Orte in diesem Krieg. Natürlich waren die Kämpfe nach der Invasion heftig gewesen – etwa einen Monat lang. Seither war in Norwegen nicht viel passiert, anders als an den grausameren Kriegsschauplätzen wie Warschau, wo er sie kennengelernt hatte.

Er berührte ihren Brief in seiner Brusttasche, doch seine Finger waren zu steif gefroren, um ihn herauszunehmen. Es spielte keine Rolle, denn er kannte den Inhalt auswendig. Nachdem er ihn bereits mehrere Dutzend Male gelesen hatte.

Seine Gedanken drifteten zum letzten Sommer und der drückenden Hitze in Warschau, die er jetzt mit offenen Armen willkommen heißen würde. Er hatte sich auf den ersten Blick in den frechen Rotschopf verguckt, der so ganz anders war als alle Mädels, die er davor kennengelernt hatte.

Erst viel später hatte er herausgefunden, wie anders sie in Wirklichkeit war … aber bis dahin war er schon bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen und hätte seinen rechten Arm gegeben, um sie zu beschützen. Gott sei Dank war es nicht so weit gekommen – obwohl er lügen, stehlen und täuschen musste, um ihr Leben zu retten.

„Ich weiß nicht, ob ich je wieder warm werde“, krächzte die Stimme seines Nachbarn. Die Gefangenen drängten sich eng aneinander, den Rücken dem eisigen Ostwind zugewandt.

Johann hob die Hände zu seinen aufgesprungenen Lippen und blies darauf. „Wie lange wollen sie uns noch hier draußen festhalten? Ich wünschte, sie würden uns endlich an unseren Zielort schicken, wo auch immer das sein mag.“

Ein Soldat namens Heinz stieß ein sarkastisches Lachen aus. „Sei vorsichtig, was du dir wünschst.“

„Es kann kaum schlimmer werden.“

„Du hast keine Ahnung. Wenn auch nur ein Zehntel der Gerüchte stimmt, steht uns eine böse Überraschung bevor.“

„Wir sollten versuchen zu fliehen.“

„Fliehen? Wohin denn?“, fragte Johann.

„Irgendwohin, egal wo, nur nicht hierbleiben.“ Heinz rieb sich die Eiszapfen von der Nase.

„Er hat recht. Die Russen haben nur ein paar Wachen zurückgelassen und es gibt noch nicht einmal einen Zaun um dieses Gelände“, stimmte ein anderer Mann zu.

Johann sah sich um und stellte fest, dass er recht hatte. Lediglich ein Dutzend bewaffneter Soldaten bewachte an die tausend Gefangene. Doch die zögerten nicht, jeden auf der Stelle zu erschießen, der zu fliehen versuchte. Ohne Deckung war ein Flüchtender in seiner feldgrauen Uniform in der weißen Landschaft kilometerweit sichtbar.

Selbst wenn ein Gefangener es schaffte, wohin sollte er gehen? Die polnische Bevölkerung war den ehemaligen Besatzern nicht gerade wohlgesonnen und würde einen Wehrmachtsoldaten eher lynchen, als ihm bei der Flucht vor den Russen zu helfen.

„Tu dir keinen Zwang an und lauf los“, sagte Johann und blickte auf den erbärmlichen Haufen zusammengekauerter Männer. Die meisten waren zu verletzt, zu krank oder zu unterernährt, um überhaupt an eine Flucht zu denken. Seit einer Woche wütete außerdem die Ruhr und nahm den Männern ein weiteres Stück Widerstandskraft, den harten Bedingungen zu trotzen.

Jeden Morgen schleppten die Gefangenen unzählige Leichen ans andere Ende des Feldes und warfen sie in tiefe, offene Gruben. Mit jedem Tag füllten sich die Gruben rascher und bald starben die Gefangenen schneller, als ihre Kameraden neue Gruben in der gefrorenen Erde ausheben konnten.

Ein Raunen ging durch die Menge, als mehrere Lastwagen mit Soldaten der Roten Armee anrollten.

„Was ist los?“, fragte Heinz.

„Weiß nicht“, sagte Johann. „Wir werden es bald genug herausfinden.“

„Alle in eine Reihe!“ Der gebellte Befehl brachte die ausgemergelte Menge dazu, in so etwas wie eine Linie zu stolpern.

Noch eine Durchsuchung? Johann stöhnte innerlich. Er hielt sich dicht an Helmut und griff sogar nach seinem Arm, damit sie nicht getrennt wurden. Was auch immer geschah, er wollte dem mit seinem einzigen Freund an der Seite begegnen. Heinz klammerte sich an sie, ebenso wie Karl und die vier schafften es, zusammen zu bleiben.

Die Sowjets zählten Gruppen von fünfhundert Gefangenen ab und ein Trupp nach dem anderen marschierte aus dem Lager. Als sie an der Reihe waren, überrollte Johann eine Welle des Heimwehs. So schlimm die Bedingungen waren, so hatte das Lager doch inzwischen etwas Vertrautes und bot so etwas wie eine sichere Umgebung.

Alles andere war unsicher. Er wusste weder, wohin sie gebracht wurden, noch, was sie dort erwartete. Die Russen hielten es auch nicht für nötig, etwas zu erklären. Erst als sie einen halben Tag marschiert waren, schnappte jemand ein Gespräch zwischen zwei Bewachern auf und die Neuigkeiten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. „Wir werden nach Plonsk überführt.“

„Das sind achtzig Kilometer nach Nordwesten. Bedeutet das etwa, dass sie uns nach Hause schicken?“, fragte Helmut.

„Das wäre regelrecht dumm von ihnen, denn der Krieg ist ja noch nicht vorbei.“ Johann schüttelte den Kopf. Die wahrscheinlichere Erklärung war, dass sowjetische Kriegsgefangene der Wehrmacht befreit worden waren und das Lager jetzt genutzt wurde, um die deutschen Gefangenen unterzubringen.

Ihm bereitete jedoch große Sorge, dass Plonsk gut drei Tagesmärsche weit weg war. Die Russen erwarteten nicht wirklich von den geschwächten Männern, die ganze Strecke zu laufen?

Er fand bald heraus, dass sie genau das taten.

Johann, Helmut, Heinz und Karl marschierten Seite an Seite von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit wenig bis gar keinem Essen oder Trinken. Und das Ganze bei eisigen Temperaturen. Wenn einer von ihnen stolperte, zogen ihn die anderen wieder hoch, denn die russischen Wachposten hatten nicht viel Geduld mit denen, die das Tempo nicht halten konnten.

Johann erkannte bald, wie sinnlos es war, sich über Hunger, Kälte und Schmerzen aufzuregen, und konzentrierte sich einzig und allein darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Schritt für mühsamen Schritt schleppte er sich nach Plonsk. Nicht einmal die Aussicht, nach Deutschland zurückzukehren, hob seine Stimmung.

Er schlurfte unter quälenden Schmerzen voran, bis ihn der Anblick eines im Schnee liegenden Kameraden aus seiner Apathie riss. Das blasse Gesicht des Mannes verschmolz mit dem Schnee und in diesem Augenblick erkannte Johann, dass der furchtbare Marsch auch ein Segen war. Wenn die Bewacher sie nicht zwangen, weiterzugehen, würden sich die Gefangenen im Schnee ausruhen und dort auf alle Ewigkeit festfrieren.

Das schmatzende Geräusch seiner durchweichten Lederstiefel wurde zu einer Melodie und Johann fand einen Rhythmus. Ein kurzes Quietschen links, ein längeres rechts. Seine Füße waren in den Schuhen zu gefühllosen Klumpen gefroren, sodass er weder das Scheuern der Haut noch die entstehenden Blasen spürte, die zweifellos irgendwann aufreißen und nässende Wunden bilden würden.

Am zweiten Tag war ihm alles egal. Während der wenigen klaren Momente fragte er sich, ob er eigentlich noch lebte oder sein Leiden eine Art Fegefeuer war, in dem er seine Sünden verbüßen musste.

Die Temperaturen waren in den letzten Tagen stetig gefallen und nach jeder Nacht, die sie dicht zusammengedrängt verbracht hatten, wachten Dutzende Männer nicht mehr auf. Er warf einen Blick auf ihre engelsgleichen Gesichter, die im Tod einen friedvollen Ausdruck angenommen hatten, jetzt da sie von sämtlichen Qualen erlöst waren. Für einen flüchtigen Moment wünschte er sich, ihnen dorthin zu folgen, wo auch immer sie sein mochten.

Nur der Gedanke an Lotte, die sich in seine Arme schmiegte und einen leidenschaftlichen Kuss auf seine Lippen presste, jagte ihm dringend benötigte Wärme in die Knochen und hielt ein winziges Fünkchen Lebenswillen am Brennen.

Er rutschte aus und die Erde hieß ihn willkommen. Sie lockte ihn, sich hinzulegen und zu entspannen. Ein Sonnenstrahl traf sein Gesicht und ließ ihn lächeln. Alles würde gut werden. Es gab keinen Schmerz mehr. Keinen Kummer. Nichts.

„Aufstehen“, brüllte einer der Wachmänner.

Helmut gab ihm eine Ohrfeige und zerrte ihn hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte Johann seinen Freund anschreien, er solle ihn an dem friedlichen Ort zurücklassen. Doch dann gewann sein Überlebenswille die Oberhand, er stolperte auf die Beine und wankte mit Helmuts Hilfe vorwärts. Schritt für qualvollen Schritt.

Stunden später marschierte er noch immer und wusste nicht, ob er seinem Freund danken oder ihn verfluchen sollte, weil er ihn nicht hatte sterben lassen. Es wäre so leicht gewesen. Die Augen schließen und einschlafen, um nie mehr zu erwachen.

Die Menge der sich voranschleppenden Männer schrumpfte weiter. Gegen Mittag stand die Sonne hoch genug, dass Johann ihre wärmenden Strahlen spüren konnte – nicht genug, um die Luft zu erwärmen, aber wenigstens schmolz die Eiskruste auf seiner Uniform.

Der Marsch wurde mühseliger, aber er konnte sich nicht erklären warum, bis er den Kopf hob und erkannte, dass sie einen Hügel hinaufgingen. Das Tempo wurde langsamer. Er quälte sich weiter. Eine Minute nach der anderen. Einen Meter nach dem anderen. Einen Schritt nach dem anderen.

Gott, ich wünschte, diese elende Plackerei würde aufhören.

Zwei Männer vor ihm rutschten auf dem trügerischen Anstieg aus und fielen hin. Sie rollten ein kurzes Stück den Weg hinunter. Die Wachen eilten mit erhobenen Waffen herbei und schrien: „Aufstehen! Dawai! Schnell!“

„Mein Knöchel … ich glaube, er ist gebrochen“, stöhnte einer der Männer, während der andere, von einem Wachmann geschubst, irgendwie wieder auf die Füße kam.