BETH REEKLES

Aus dem Englischen
von Sylvia Bieker

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Deutsche Erstausgabe August 2021

© Beth Reeks, 2021

The moral right of the author has been asserted.

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Kissing Booth 3. One Last Time« bei Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Aus dem Englischen von Sylvia Bieker

Lektorat: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Karsten Molesch, Liebenburg, unter Verwendung von Bildmaterial von © Netflix.
Netflix is a registered trademark of Netflix, Inc.,
and its affiliates. Artwork used with permission of Netflix, Inc.

kk · Herstellung: UK

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27723-9
V001

www.cbj-verlag.de

Hi, alle zusammen!

Tja, da wären wir. Fünf Bücher, drei Filme, insgesamt zehn Jahre The Kissing Booth, und jetzt geht die Geschichte von Elle, Lee und Noah zu Ende! Könnt ihr das glauben?

Mit fünfzehn schrieb ich The Kissing Booth und lud die Story bei Wattpad hoch. Ich war erstaunt, dass jeder sie lesen wollte, denn ich wagte kaum zu träumen, eines Tages überhaupt irgendwas zu veröffentlichen. (Bei den Kommentaren, dass das Ganze unbedingt verfilmt werden sollte, habe ich immer gelacht – das schien mir eine zu großartige und zu abwegige Vorstellung, um auch nur davon zu träumen …) Damals habe ich immer gesagt, dass ich nie vorhatte, eine Serie zu schreiben oder die Geschichte weiterzuspinnen, aber es fiel mir schwer, die Charaktere loszulassen. Sie haben mir so viel bedeutet und machten einen so großen Teil meines Lebens aus, dass ich froh bin, die Gelegenheit gehabt zu haben, an der Story von Elle, Lee und Noah weiterzuschreiben und jetzt alles in diesem Buch zu Ende zu erzählen.

Ich habe immer gewusst, worauf die Dinge bei Elle und Noah hinauslaufen würden – und bei Lee. Vielleicht wusste ich nicht immer, wie die Reise dorthin aussehen würde, aber ich kannte das Ziel. Und genau darin könnt ihr nun eintauchen, in dieser Folge von The Kissing Booth.

Dieses Buch war wirklich eine spannende Herausforderung. Ein Buch zu schreiben, das auf einer Verfilmung basiert, die auf Filmen basiert, die auf meinen Büchern basieren. Äh, total einfach, oder? Na ja, vielleicht doch nicht ganz »einfach« – aber eine Menge Spaß. Und auch wenn dieses Buch die Romanfassung des dritten Netflix-Films ist, werdet ihr bemerken, dass nicht alles mit dem Drehbuch des Films übereinstimmt. Obwohl die Geschichte hier der gleichen Handlung folgt, schließt sie gleichzeitig an den Band The Kissing Booth 2: Going the Distance an – also, statt Marco und Chloe im Film, werdet ihr Levi und Amanda wiedertreffen!

Außerdem werdet ihr hier ein paar Szenen und Dialoge finden, die im Film nicht vorkommen, und manche Charaktere anders kennenlernen. Ihr müsst nicht den Film schauen, um der Handlung dieses Buchs folgen zu können, und vielleicht habt ihr euch für das Buch entschieden und vorher nur die Filme gesehen – oder vielleicht seid ihr schon seit Wattpad-Zeiten Fans, also von Anfang an. Wie auch immer, danke, dass es euch gibt, und ich hoffe, das letzte Kapitel von Elles Geschichte gefällt euch.

Beth x

1

Dad räusperte sich und warf die Post auf den Küchentresen. Ein dicker Umschlag rutschte schwungvoll in meine Richtung.

»Was ist das?«, fragte ich, den Mund voller Cheerios.

Statt mir zu antworten, sagte Dad: »He, Brad, wie wär’s, du räumst dein Zimmer auf, bevor du rüber zu Benny gehst?«

»Aber …«

Doch da gab’s kein Aber, denn Dad beförderte Brad, meinen kleinen Bruder, einfach von seinem Hocker am Frühstückstresen und stellte ihn grummelnd auf die Füße. »Mach schon, Kumpel, dann musst du heute Morgen auch nicht mit Elle das Geschirr abwaschen.«

Das kam mir sofort verdächtig vor. Dad hatte in diesem Sommer entschieden, Brad mehr Verantwortung im Haus zu geben. Ich hatte meinem Bruder schon gezeigt, wie man die Wäsche zusammenlegt und Pasta kocht. Dad hatte ihm gezeigt, wie man am Wochenende den Rasen ordentlich mähte, und wir hatten uns gerade daran gewöhnt, dass er entweder Dad oder mir beim Spülen half. Dad meinte, Brad war nun in der Mittelstufe und alt genug, um im Haushalt mitzuhelfen, aber wir alle kannten den wahren Grund: Im Herbst würde ich aufs College gehen und dann nicht mehr hier sein, um all diese Dinge zu übernehmen.

Bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um. In ein paar Monaten war ich in Berkeley und alles würde sich so sehr verändern. Ohne mich brach das Haus zwar nicht total zusammen – wenn ich, wie in jedem Sommer, ein paar Wochen im Strandhaus der Flynns verbrachte, lief es hier ja auch immer gut. Und trotzdem. Ich machte mir schon irgendwie Sorgen bei dem Gedanken, dass die beiden sich allein durchschlagen mussten.

Erst vor wenigen Tagen war ich überglücklich über die Bühne gelaufen, um mein Highschool-Zeugnis entgegenzunehmen und mit allen anderen meinen Hut in die Luft zu werfen … Ich war gemeinsam mit meinem weltbesten Freund Lee Flynn an der University of California, Berkeley angenommen worden, so wie wir es immer geplant hatten, seitdem wir alt genug waren, um zu begreifen, was College überhaupt war. Wir hatten unser ganzes Leben miteinander verbracht, und auch das nächste Kapitel unseres Lebens als Studenten würden wir gemeinsam beginnen. So was von perfekt. Genau so sollte es sein.

Wir hatten gesagt, das Abschlussjahr würde unser Jahr sein – und klar, es war … ein bisschen holprig manchmal, aber trotzdem toll. Und am College würde es auch so sein. Obwohl mir Sorgen bereitete, wie sehr sich alles verändern würde, war der Gedanke daran dennoch aufregend.

»Was ist los?«, fragte ich und blickte zuerst mit schmalen Augen auf den Umschlag und dann zu Dad. Ich schaufelte mir den letzten Rest der Cheerios rein, wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und schob die Schüssel beiseite.

Dad setzte sich auf Brads Hocker und schob mit der Fingerspitze den Umschlag näher zu mir. »Vielleicht möchtest eher du mir sagen, was los ist. Das hier ist für dich gekommen.«

»Für mich?«

Ich nahm den Umschlag und drehte ihn um.

Ms R. Evans …

Darüber das gestempelte Logo der Harvard University.

Oh.

Oh, Shit.

Die Cheerios drohten sich wieder blicken zu lassen, und mein Herz schlug irgendwo in meinem Hals, während ich an dem Umschlag herumfummelte, um ihn zu öffnen. Das war jetzt nicht wahr. Das war jetzt einfach nicht wahr. Vor ein paar Monaten hatte ich einen Brief bekommen, in dem stand, dass ich mich auf der Warteliste befand, und eigentlich dachte ich, das war’s. Bloß … offensichtlich war’s das nicht.

Jetzt faltete ich den Brief auf und legte ihn flach auf den Tresen, um ihn zu lesen.

… erfreut, Sie zu informieren …

Ruckartig hob ich den Kopf, die Kinnlade hing mir herunter. »Ich … ich …«

Ich brachte kein weiteres Wort raus.

Dads Augen hinter den Brillengläsern wirkten etwas verwirrt und ungeduldig schnappte er sich den Brief, damit er ihn selbst lesen konnte. Ich beobachtete, wie seine Augen ein paarmal über die Zeilen flogen, bevor er in lautes Gelächter ausbrach und den Kopf schüttelte.

Ich zuckte zusammen, denn ich wusste, was als Nächstes kommen würde, und kam ihm aufstöhnend zuvor, ließ den Kopf nach vorne fallen und vergrub das Gesicht in den Armen. »Bitte, sag’s nicht. Bitte sag’s nicht.«

»Du bist in Harvard angenommen. Mein kleines Mädchen ist in Harvard angenommen. Du …« Dann räusperte er sich erneut. »Liebling, du hast mir nicht mal erzählt, dass du dich da beworben hast. Wegen … wegen Noah?«

Wieder stöhnte ich auf.

Das war eigentlich nicht vorgesehen.

Das erste College, für das ich mich beworben hatte, war Berkeley – weil, na logisch, so war’s eben. Und dann hatte ich mich zur Sicherheit noch an anderen Unis beworben. Natürlich. Das macht man schließlich so, oder etwa nicht? Hatte mir mein Vertrauenslehrer jedenfalls geraten. Also hatten Lee und ich versucht, die gleichen Uni-Alternativen auszusuchen.

Lee hatte davon geredet, sich an der Brown zu bewerben, weil sich seine feste Freundin Rachel dort beworben hatte, und …

Kann sein, sozusagen in einem Moment des Wahnsinns, hatte ich … eine Bewerbung an Harvard geschickt. Wo mein fester Freund, Lees älterer Bruder Noah, seit vergangenem Jahr studierte.

Wahnsinn, weil ich nicht davon ausging, ange­nom­men zu werden. Damit habe ich nie gerechnet und nie für möglich gehalten, dass es dazu kommt. Ich meine, sicher, ich habe für die Schule viel gelernt, meine Noten waren gut, und ich habe eine Reihe Wahlkurse belegt und bei den SATs, den Standardtests, mit denen die Studierfähigkeit bewertet wurde, gut abgeschnitten … aber … Das hier war Harvard, oder? Eigentlich nicht die Art von Uni, bei der man aus einer Laune heraus angenommen wird, sondern eine, auf die man seine ganze Highschool-Zeit über hinarbeitet.

Wahnsinn, diese Zusage kam komplett unerwartet.

»Irgendwie schon«, antwortete ich jetzt. Ich hob ein wenig den Kopf und verzog das Gesicht, als ich Dads Blick auffing. Argh. Er wirkte so verdammt stolz auf mich. Ich wünschte, er hätte damit aufgehört. »Ich … ich weiß nicht. Ich dachte, es wäre vielleicht nett. So, wie sich Lee auch für die Brown beworben hat, weil Rachel dort anfängt. Ich habe das nie irgendwem gegenüber erwähnt …«

»Moment mal – Lee weiß nichts davon?«

Etwas von dem Stolz in seinem Gesichtsausdruck verschwand. Gut, dachte ich. Ein wenig elterliche Enttäuschung war das Mindeste, das ich dafür verdiente, vor meinem besten Freund ein Geheimnis zu haben. Zuletzt war das der Fall, als ich anfing, Noah zu daten, und ich mir Sorgen gemacht hatte, dass Lee es rausfinden und schlecht aufnehmen würde. Und es war nicht gerade allzu gut gelaufen, als er es herausfand, auch wenn er es mir letztlich verzieh …

»Es ist nicht so, dass ich versucht habe, es vor ihm geheim zu halten«, bemühte ich mich, die Sache zu erklären. »Das war nicht wie … na, du weißt schon, als das mit Noah begann. Ich dachte nur nie, angenommen zu werden, also fand ich, war es nicht nötig, ihm Angst einzujagen. Ich ging nicht davon aus …« Ich seufzte. »Ich war zuerst auf der Warteliste. Das fand ich irgendwie cool, verstehst du? Aber die Leute auf der Warteliste werden eigentlich nicht in Harvard aufgenommen.«

»Anscheinend doch.«

»Yep«, murmelte ich.

Ein Grinsen huschte über Dads Gesicht, und er kam um den Tresen herum, um mich in den Arm zu nehmen. »Also, egal, was du entscheidest, ich bin so stolz auf dich, Elle. Harvard! Ich weiß, ich hatte meine Bedenken, dass du Noah datest, aber, hey, wenn das die Art von Einfluss ist, die er mittlerweile auf dich hat …«

»Ich habe mich nicht nur wegen Noah dort beworben. Ich meine – es ist schließlich Harvard. Wer will schon nicht nach Harvard?«

»Er ist bloß der Grund, warum du nicht eine andere Uni ausgewählt hast, sagen wir, Yale.«

»Ja«, gab ich zu. »Und ich habe mir vorgestellt … Ich meine, ich habe irgendwie sehen wollen, ob ich da angenommen werden könnte, weißt du?«

»Na ja, das hast du jedenfalls für dich behalten! Hast es nicht mal deinem alten Herrn erzählt!« Lachend setzte er sich wieder auf den Hocker mir gegenüber, doch dann bemerkte ich, wie er die Stirn runzelte und das Lächeln aus seinem Gesicht wich. Wieder tippte er auf den Umschlag. »Also, hm … du hast Lee nichts davon erzählt. Und vermutlich Noah auch nicht, oder?«

»Nein. Niemand weiß davon. Ich wollte Noah keine Hoffnungen machen, und ich wollte nicht, dass Lee denkt … Ich wollte ihn nicht verletzen. Nicht dass er denkt, ich wollte nicht nach Berkeley.«

»Hast du deinen Studienplatz dort schon bestätigt?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte es vor. War aber einfach noch nicht dazu gekommen.

Vielleicht, weil ich mir dann doch ein kleines, winziges Stückchen Hoffnung bewahrt hatte, dass ich noch von der Warteliste in Harvard nachrücken würde, aber …

Das war eigentlich nicht vorgesehen.

Noah hatte mal an irgendeinem Nachmittag am Telefon erwähnt, eher flapsig, dass ich mich vielleicht bewerben sollte – er hatte gemeint, es wäre schön, mich in der Nähe zu haben und mehr Zeit miteinander verbringen zu können, und dass er mich so sehr vermisste. Er war nicht davon ausgegangen, dass ich das ernst nehme, und das wusste ich, aber …

Es war in meinem Kopf hängen geblieben. Und ab da wollte ich ehrlich herausfinden, ob ich es schaffen könnte.

Harvard. Ich habe einen Platz in Harvard bekommen. Ich – Elle Evans!

Mein Mund war trocken, und mein Magen hatte sich verknotet.

»Irgendwelche Ideen, was du tun wirst?«

Ich starrte auf den Brief vom Zulassungsbüro und dachte an den in etwa gleichen oben in meiner Kommode mit dem Briefkopf von Berkeley.

Lee und ich hatten unsere Herzen an Berkeley gehängt, seit wir wussten, dass es nach der Highschool auf dem College weitergeht – seit einer gefühlten Ewigkeit. Berkeley befand sich in keinem anderen Staat, dort hatten sich unsere Moms kennengelernt und waren so gute Freundinnen geworden. Es fühlte sich besonders an.

Und selbst wenn man Noah und unsere Beziehung außer Acht ließ … tja, Harvard war eben Harvard. Die Art von Uni, von der man nur träumen konnte und auf die man die ganze Zeit hinarbeitet. (Aber okay, die Tatsache, dass Noah dort studierte, war schon ein ziemlich starker Anreiz, musste ich zugeben.)

Ich schaute von dem Brief zu meinem Dad, der so verdammt stolz auf mich wirkte, als würde er jeden Moment platzen.

»Bitte erzähl niemand davon«, sagte ich. »Vor allem nicht den Flynns. Ich muss … Ich muss darüber nachdenken.«

Ich könnte es nicht ertragen, wenn Dad in einem verrückten Stolzer-Vater-Augenblick gegenüber Lees und Noahs Eltern etwas durchsickern lassen würde und Lee oder Noah es auf diesem Weg herausfinden würden. Ich hatte noch nicht mal eine Ahnung, wie Noah darauf reagieren würde, dass ich in Harvard angenommen war, geschweige denn, was er sagen würde, wenn ich mich entscheiden sollte, den Platz dort anzunehmen – vielleicht würde er antworten, es wäre nur so dahergesagt gewesen, dass es nett wäre, mich dort zu haben, aber nichts, was er tatsächlich so gemeint hatte. Vielleicht würde er mich tatsächlich nicht wirklich dahaben wollen.

Und Lee …

Lee wäre dermaßen verletzt, wenn ich meine Meinung ändern und ihm sagen würde, dass ich trotz all unserer Versprechen (und auch wenn ich sehr verärgert war, als ich davon gehört hatte, dass er sich an der Brown beworben hatte) erneut das Gleiche hinter seinem Rücken gemacht hatte wie damals, als ich mit Noah zusammengekommen war.

»Du musst dich bald entscheiden«, entgegnete Dad. Er streckte den Arm aus und drückte meine Schulter. »Harvard wird nicht lange auf eine Antwort warten wollen.«

Bevor ich Noah und Lee davon erzählte, musste ich zuerst selbst herausfinden, was ich wollte. Und zwar schnell.

2

Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, mich für den Lunch mit den Flynns fertig zu machen. Lees Mom hatte für uns alle ein schickes Essen organisiert, um unseren Schulabschluss zu feiern. Normalerweise war ich nicht so fürs Hübschmachen, also hatte ich nacheinander ein paar Outfits ausprobiert und dann einen leicht verzweifelten Video-Call mit Rachel geführt, die bei dem Mittagessen auch dabei sein würde. Genug Ablenkung von den nun also zwei Zulassungsschreiben, die sich jetzt in meiner Kommode befanden. Und dann holte mich natürlich Noah ab, um zum Restaurant zu fahren, also hatte ich wirklich keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken …

»Also«, sagte Noah und legte den Arm um meine Schulter, als wir aus dem Auto stiegen. Intuitiv bewegte sich meine Hand, und meine Finger verschränkten sich mit seinen. »Ich habe nachgedacht.«

»Vorsicht. Du willst dir doch nicht selbst wehtun.«

Er verdrehte die Augen.

»Worüber?«, reagierte ich rasch, Scherz beiseite.

»Ich habe nachgedacht«, begann er noch mal, »vielleicht kannst du diesen Sommer mit mir nach Boston kommen. Du könntest dir ansehen, wo ich wohne. Ich kann dir dein Schubfach in der Kommode zeigen.«

»Du hast ein Fach in deiner Kommode für mich freigelassen? Aahhh«, gurrte ich ihn an und drehte ihm das Gesicht zu, um mit den Wimpern zu klimpern. Scherzhaft kniff ich ihn in die Wange. »Schaut euch nur meinen Boyfriend an, diesen einfühlsamen Kerl.«

Noah war solch ein einfühlsamer Kerl. Zumindest im Vergleich zu unserer Anfangszeit. Noah war damals der Bad Boy an unserer Schule und hatte den Ruf, tonnenweise Mädels abzuschleppen (später erzählte er mir, das meiste davon war gar nicht wahr). Er besaß sogar ein Motorrad und früher rauchte er, nur um seiner Rolle besser entsprechen zu können. Und jetzt saß er hier und sprach über das Fach in der Kommode, das er für mich reserviert hatte.

Ich liebte ihn so sehr.

»Es wäre toll, wenn du mit mir in Boston wärst. Auch wenn es nicht direkt Harvard ist. Wir könnten so viel mehr voneinander haben. Könnten sogar über den Sommer ein gemeinsames Apartment suchen oder so etwas.«

Abrupt blieb ich stehen, zog meine Hand aus seiner, bevor er bemerkte, wie feucht sie geworden war.

Auch Noah hielt an und drehte sich lachend zu mir um. Trotzdem war sein Gesichtsausdruck hölzern, und er konnte mir kaum in die Augen schauen, sondern blickte stattdessen auf den Parkplatz hinter mir. »Was? Zu einfühlsam? Ich dachte, du wolltest, dass ich mich mehr öffne, aufrichtiger bin, nicht total macho-macho und nie über Emotionales spreche.«

Ich machte den Mund auf, aber es kam kein Ton raus.

Noahs Wangen liefen pink an. »Ich meine, hm … du weißt schon. Elle.« Er räusperte sich und rieb sich den Nacken. »Ich hab’s nicht ernst gemeint.« Schluck. »Zusammenziehen ist schließlich ein großer Schritt, meine ich. Wir sind noch nicht so weit. Ich hab nur Spaß gemacht.«

An der Stelle hätte ich ihm sagen sollen, dass ich angenommen wurde. Zur Hölle, an der Stelle hätte ich ihm erzählen sollen, dass ich mich in erster Linie beworben hatte, um die unmögliche Chance zu erhalten, vielleicht am Ende wirklich mit ihm in Boston zu leben. Er hatte von alldem keine Ahnung, aber sprach davon, wie schön es wäre, mich bei sich zu haben, und dass wir zusammenleben könnten.

Die Vorstellung, dass Noah eine solch riesige Bindung eingehen und mit mir zusammenwohnen wollte, hätte mein Herz Saltos machen lassen sollen. Ich hätte vor Freude kreischen und meine Arme in die Luft werfen und rufen sollen: Überraschung! Das machen wir! Ich kann nach Boston ziehen!

Das war definitiv der Moment, an dem ich es ihm hätte sagen sollen.

Vor allem, weil er so gekränkt wirkte, da er fast lässig dahingesagt vorgeschlagen hatte, dass wir zusammenwohnen könnten, und nun dachte, ich würde die Vorstellung entsetzlich finden.

»Elle?«

Mist. Los, Elle, sag was. Sag’s ihm!

Ich blickte zu Noah, konzentrierte mich auf sein Gesicht, statt durch ihn durchzuschauen. Und dann sagte ich: »Ich glaube, ich habe meinen Lockenstab angelassen.«

Ich nahm nicht an, dass er mir das abkaufte, aber er sagte: »Schick deinem Dad eine Nachricht. Er kann für dich nachsehen.«

Schnell holte ich mein Handy raus und tat so, als würde ich Dad schreiben, ich tippte und löschte die Nachricht sofort, ohne sie abzuschicken.

»Komm, wir sind sowieso schon spät dran«, sagte Noah.

»Ja«, sagte ich und warf ihm einen finsteren Blick zu, aber dann machte sich doch ein Lächeln auf meinem Gesicht breit. »Und wessen Schuld ist das?«

»Was denn, ist es jetzt meine Schuld, dass du so verdammt gut ausgesehen hast?«

Wir liefen wieder nebeneinander, und er beugte sich herunter, um meinen Hals zu küssen. Ich lachte und schob ihn weg. »Wage es nicht! Das hat eben schon dazu geführt, dass wir jetzt zu spät sind.«

»Genau genommen wären wir gar nicht zu spät, wenn wir uns gar nicht blicken lassen …«

»Noah Flynn, denk nicht mal daran. Da drinnen wartet ein großer Eisbecher mit meinem Namen drauf auf mich, und selbst du und auch nicht dein süßer Hintern können sich dem in den Weg stellen.«

»Mein süßer Hintern, soso?«

Ich weiß nicht, wie er das machte, aber obwohl wir bereits über ein Jahr zusammen waren, konnte er immer noch dafür sorgen, dass ich rot wurde, wenn er so etwas sagte. Noah kicherte, legte den Arm um mich und führte mich ins Restaurant.

Mit den Flynns zusammen zu essen, war nicht ungewöhnlich, aber normalerweise waren auch Dad und mein Bruder dabei, wenn wir auswärts essen gingen. Mir kam es ein wenig seltsam vor, dass Lees und Noahs Mom June heute nur mich zum Lunch eingeladen hatte, aber vielleicht lag es daran, dass sie auch Rachel eingeladen hatte. Vielleicht ging es da weniger um »Elle« als um »Noahs Freundin«.

Selbst nach mehr als einem Jahr bedeutete die Tatsache, Noahs Freundin zu sein, immer noch eine neue Dynamik, an die wir uns alle nach wie vor gewöhnen mussten.

Das ausgesuchte Restaurant mit Dachterrasse war umwerfend. Ich kam mir in meinen Jeans underdressed vor und mein Blick wanderte zu einer Gruppe junger Frauen Anfang zwanzig, die miteinander lachten und Mimosas tranken. Ich war froh, dass mich Rachel überredet hatte, nicht meinen Hoodie anzuziehen, sondern mir stattdessen mit meiner Frisur ein bisschen Mühe zu geben.

Wir fanden die anderen schnell, und als June aufstand, um mich zur Begrüßung zu umarmen, sagte ich: »Es tut mir leid, dass wir zu spät kommen. Der Verkehr war übel und wir mussten auch noch tanken.«

»Schon gut«, sagte sie und lächelte warmherzig, während wir uns setzten.

Ich hörte Lee murmeln: »Verkehr? Echt? Damit will sie sich rausreden?«

Darauf folgte sofort ein »Autsch«, weil ihm Noah unter dem Tisch auf den Fuß trat.

Nachdem wir bestellt hatten, genoss ich den Ausblick auf die Skyline. »Was für ein toller Ort.«

»Wir wollten euch schließlich in ein besonderes Restaurant ausführen, um euren Schulabschluss ordentlich zu feiern«, sagte Matthew, Lees und Noahs Dad.

»Ich gebe Elle recht«, schwärmte Rachel. »Es ist so toll hier. Danke, dass ihr mich eingeladen habt.«

»Unglaublich, dass wir tatsächlich mit der Schule fertig sind«, sagte Lee kopfschüttelnd. »Die Vorstellung, im Herbst nicht mehr in die Schule zurückzukehren, ist echt merkwürdig. Das war’s. Und jetzt haben wir noch den ganzen Sommer vor uns …«

»Der wird schnell vorbei sein«, erklärte Noah. »Glaubt mir.«

»Ja, ihr Kids macht am besten richtig was daraus«, sagte Matthew. »Irgendwelche großen Pläne für den Sommer?«

»Du meinst über das Strandhaus hinaus?« Lee lachte. »Tatsächlich haben wir darüber gesprochen, gleich am Wochenende hinzufahren, wenn das für euch cool ist.«

Erwartungsvoll lächelnd schaute ich zu June und Matthew und rechnete damit, dass sie nickten und »Natürlich!« antworteten. Denn warum sollten sie nicht? Lee und ich hatten schon seit ein paar Wochen ein verlängertes Wochenende im Strandhaus der Familie geplant. Ich verbrachte dort jeden Sommer mit allen Flynns, aber Lee und ich hatten überlegt, jetzt, da uns der Schulabschluss nicht mehr im Wege stand, wäre es cool, wenn nur wir beide hinfahren, genüsslich ein paar Bier trinken und nach dem verrückten und heftigen letzten Schuljahr etwas Dampf ablassen würden.

Doch statt zurückzulächeln und zu sagen, dass wir hinfahren dürften, gar kein Problem, blickten sich Matthew und June nur an. June spitzte die Lippen und wirkte besorgt. Ich sah, wie ihr Mann ihr zunickte, und ich bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch.

Ich war nicht die Einzige, der etwas aufgefallen war.

»Was hat dieser Blick zu bedeuten?«, fragte Noah. »Ist alles okay?«

»Alles gut«, antwortete June gezwungen lebhaft und mit einem starren, viel zu breiten Lächeln, während sie in die Runde schaute. Oh-oh, dachte ich. Das war kein Mom-Lächeln. Eher die Art von Lächeln, das sie aufsetzte, wenn sie einen Anruf aus dem Büro annahm. Sie holte tief Luft. »Tatsächlich haben wir Neuigkeiten …«

Ein schreckliches Gefühl kroch kribbelnd über meine Haut.

»Wir haben entschieden, das Strandhaus zu verkaufen.«

Unmöglich.

Das war jetzt nicht wahr.

Der heutige Tag war sowieso schon eine totale Achterbahnfahrt der Gefühle, aber das hier war bislang der übelste Teil davon – und es war noch nicht mal ein Uhr.

»Was? Warum?«, platzte Noah heraus, während Lee schreiend aufsprang. »Moment mal! Was? Wieso das?«

»Lee, bitte, setz dich hin«, sagte sein Dad nachdrücklich.

Lee setzte sich wieder, gaffte aber seine Eltern an. »Wartet mal kurz – sollte dieses ganze Essen bloß den Schlag ins Gesicht abmildern und uns Honig ums Maul schmieren, bevor ihr die Bombe platzen lasst?«

»Nein!« June setzte sich aufrechter und spielte nervös mit ihrer Serviette herum. »Nicht … wirklich … Na ja, so ähnlich. Hat es funktioniert?«

»Köstliches Essen und gute Getränke zu benutzen, um schlechte Nachrichten zu verbreiten, ist falsch, Mom, einfach falsch. Ich dachte, wir hätten euch besser erzogen.«

Noah stieß ihn mit dem Ellenbogen an, damit er aufhörte, Witze zu reißen. »Meint ihr das ernst? Ihr wollt tatsächlich das Strandhaus verkaufen? Es gehört uns seit Ewigkeiten!«

»Wir haben schon eine ganze Weile darüber gesprochen«, antwortete June. »Es ist einfach nicht sinnvoll, es noch zu behalten, wenn ihr Kids aufs College geht. Du hast es ja selbst vergangenes Jahr gesagt, Noah. Ihr werdet bald Jobs haben, Sommer-Praktika, und fürs College im Land herumziehen, oder um Freunde zu treffen … Eine Menge Dinge ändern sich, also scheint es das Vernünftigste zu sein.«

»Und da können wir euch den Rest ebenso gut gleich erzählen, weil ihr es sowieso bald herausfinden werdet«, sagte Matthew schniefend. »Das gesamte Gebiet wird neu gestaltet. Wenn wir jetzt verkaufen, bekommen wir vier- oder fünfmal mehr, als das Ganze wert ist.«

»Ihr klingt wie Makler«, motzte Lee und rutschte tiefer auf seinem Stuhl.

»Liebling«, sagte June. »Ich bin Maklerin. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Es gibt eine Menge interessierte Käufer, und das Grundstück ist zu wertvoll, um es zu behalten.«

»Das Grundstück?«, wiederholte Noah. Stirnrunzelnd lehnte er sich über den Tisch. »Das Haus wird aber nicht abgerissen, oder?«

Matthew zuckte mit den Achseln. »Ziemlich wahrscheinlich schon. Wir hätten dich nicht für so sentimental gehalten, Noah.«

Schmollend ließ Noah die Schultern sinken. Das ließ ihn jünger wirken und war ein komplett Noah-untypischer Anblick. Vielmehr sah er in diesem Moment eindeutig wie Lee aus. »Wir haben viel Zeit in dem Haus verbracht. Es ist – es ist einfach seltsam, sich vorzustellen, nie wieder dort zu sein«, entgegnete er unbeholfen.

»Wo sollen wir denn jetzt das Feuerwerk zum Vierten Juli anschauen? Gemeinsam im Strandhaus zu sein, ist Tradition. Wir haben uns geschworen, jeden Sommer dort zu sein! Genauso gut könntest du Weihnachten streichen, Mom.«

»Lee …«

»Mit dem Geld aus dem Verkauf können wir ein anderes Haus kaufen«, schlug Matthew vor, als wäre das auch nur annähernd der Punkt. »Eines, bei dem nicht die Farbe von der Wand blättert und jedes Jahr der Filter im Pool ausgetauscht werden muss.«

»Nein!«, rief Lee. »Ich stelle mich da quer. Ihr dürft es nicht verkaufen.«

»Yeah«, stimmte Noah ein, rutschte auf seinem Platz herum und verschränkte wie Lee die Arme vor der Brust. Die beiden waren immer so unterschiedlich gewesen, aber jetzt war ganz offensichtlich, dass sie Brüder waren. Sie bildeten eine geschlossene Front. »Diesmal muss ich Lee völlig recht geben. Das Haus gehört zur Familie seit – was, achtzig Jahren? Es war das Haus deiner Grandma, Dad! Du kannst es nicht einfach austauschen. Du darfst es nicht verkaufen!«

»Falls wir hier abstimmen, bin ich auch eindeutig dagegen«, sagte ich und hob die Hand. Es kam mir vor, als würde das Strandhaus genauso mir gehören wie den Flynns. Und Lee hatte recht. Es ging um Tradition.

Ich warf Rachel schnell einen Blick zu, auch wenn sie im letzten Jahr nur ein paar Tage im Strandhaus verbracht hatte, und daraufhin winkte sie verlegen mit der Hand. »Ich auch.«

June seufzte. »Tut mir leid, Leute. Die Sache ist bereits entschieden.«

In exakt diesem Moment tauchte die Kellnerin mit unseren Tellern auf.

»Zur Hölle mit entschieden«, nuschelte Lee zu sich selbst, aber ich hörte es. Er fing meinen Blick auf und ich glaubte, ihn noch nie dermaßen entschlossen gesehen zu haben.

Wenn seine Eltern meinten, wir würden das Strandhaus ohne Widerstand hergeben, hatten sie sich geirrt.

3

Ich hatte eigentlich gedacht, die Berkeley-oder-­Harvard-­Sache war schon schlimm genug, aber jetzt das?

Lee schmollte während des gesamten Hauptgangs vor sich hin – und zu meiner Verblüffung Noah auch. Die beiden verzogen das Gesicht und blickten finster vor sich hin und grollten leise flüsternd, stocherten in ihrem Essen und schauten von Zeit zu Zeit ihre Eltern böse an.

Lee und Noah sahen sich in dem Moment so ähnlich, dass es fast lustig war.

Fast.

Was Rachel anging, versuchte sie, die Stimmung zu heben. Sie sprach mehrmals Lee an, und als das nicht funktionierte, sprach sie derart begeistert mit seinen Eltern, dass es schon an Manie grenzte, während sie alles gab, um das bleischwere Schweigen zu brechen.

Ich versuchte immer noch, mir einen Überblick über alles zu verschaffen.

Das Strandhaus verkaufen? Ich hätte nie gedacht, dass das überhaupt eine Möglichkeit war. Denn es war das Strandhaus. Dort hatten wir so ziemlich jeden Sommer unseres Lebens verbracht. Einige meiner besten Erinnerungen hingen daran. Dort waren Lee und ich zum ersten Mal ohne Schwimmflügel geschwommen! Dort war ich mit neun Jahren von einer Qualle erwischt worden und hatte Noah dazu gebracht, mich den ganzen Weg zurück zum Haus Huckepack zu tragen. Dort hatte Lee seinen ersten Kuss bekommen von einer Latina-Rettungsschwimmerin, die aus dem Norden stammte und an deren Namen sich mittlerweile niemand von uns mehr erinnern konnte.

Ich warf Noah, der mit angespanntem Kiefer dasaß, einen Blick zu. Als wir größer wurden und Noah plötzlich zu cool geworden war, um noch mit uns abzuhängen, war das Strandhaus der einzige Ort gewesen, an dem sich alles so anfühlte wie früher, als wir noch Kinder waren und er gern mit uns zusammen gewesen war.

Dort hatten wir zum ersten Mal Bier getrunken, das wir uns am Vierten Juli, als wir dreizehn waren, heimlich aus einer Kühlbox geholt hatten – als Noah in der Schule anfing, ein cooler Typ zu werden, der alle Regeln brach, aber nicht so cool, uns nicht in seinen kleinen Raubzug einzubeziehen. (Obwohl für ihn damals schon die Grenze da verlief, wo er uns auf irgendwelche Partys, auf die er in dem Sommer ging, hätte mitschleppen sollen.)

Sie durften das Haus einfach nicht verkaufen. So lief das nicht. Nicht bei einem Ort wie dem Strandhaus.

Es war so viel mehr als nur ein Stück Land, ein kleines Haus, von dem die Farbe abblätterte, und mit einem unzuverlässigen Poolfilter.

Mein Handy läutete. Blitzartig durchzuckte mich ein schlechtes Gewissen, weil ich es nicht auf lautlos gestellt hatte, aber statt mich zu entschuldigen und das Telefon wieder in meine Handtasche zu stecken, nahm ich das Läuten zum Anlass, den Tisch zu verlassen. »Ich muss da kurz ran. Bin gleich wieder da.«

Ich versuchte, nicht vor der bitteren Stimmung wegzulaufen, die über unserem Tisch hing.

Eine unbekannte Nummer, aber ich nahm den Anruf trotzdem an. »Hallo?«

»Hi. Spreche ich mit Miss Evans?«, fragte eine Frauenstimme höflich.

»Äh, ja. Ja, am Apparat.«

»Miss Evans, hier ist Donna Washington vom Büro für Studienanfänger in Berkeley.«

Oh, Mist. Shit, Shit, Shit!

»Äh …«

Ich biss die Zähne zusammen und hob auch die zweite Hand, um mein Handy festzuhalten. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Immer noch saßen alle saßen am Tisch, deutlich außer Hörweite …

»In den vergangenen Wochen habe ich mehrmals versucht, Sie zu erreichen.«

Mein Magen krümmte sich. Ich fragte mich, ob ich kurz davor war, das überteuerte, schicke Essen an die Wand vor mir zu kotzen. Ich schluckte und antwortete: »Tut mir leid, ich habe …. Ich war bloß wahnsinnig beschäftigt … Mit der Abschlussfeier und … und so …«

Wow, Elle, tolle Antwort. Ganz leicht zu erkennen, wie du mit solchen Ausreden an Unis wie Berkeley und Harvard gelangt bist.

»Sicher ist Ihnen bereits bekannt, wenn Sie meine Sprachnachrichten und unsere E-Mails erhalten haben, dass dieser Anruf Ihre Entscheidung bezüglich Ihres Studienanfangs in Berkeley im Herbst betrifft.«

»Na ja, ich … Ich habe mich gefragt, ob es vielleicht – vielleicht ist es möglich, einen kleinen Aufschub zu bekommen …«

Donna Washington klang, als hätte sie auf meinen unbedeutenden, unentschlossenen Bullshit heute keine Lust. Ihr ohnehin schon gereizter Ton wurde noch schnippischer. »Wir haben Ihnen bereits eine Verlängerung über die übliche Bedenkzeit hinaus gewährt, Miss Evans.«

Meine Hände begannen zu schwitzen. »Ich … ich weiß, und ich bin Ihnen dafür dankbar, aber – bitte – ich bin bloß … Ich bin gerade heute woanders von der Warteliste nachgerutscht, und ich brauche noch ein klitzekleines bisschen mehr Zeit. Bitte?«

»Miss Evans«, unterbrach mich Donna Washington und jagte mir für eine Sekunde einen Riesenschrecken ein, »ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie bis Montag Zeit haben, den angebotenen Platz anzunehmen. Wenn wir bis dahin nichts von Ihnen hören, haben wir keine andere Wahl, als Ihren Platz jemandem anzubieten, der bei uns auf der Warteliste steht.«

Sie wartete auf meine Reaktion. Ich war ein wenig überrascht, denn ich hatte fast damit gerechnet, dass sie nach dem letzten Satz einfach auflegt.

»Verstehe«, antwortete ich leise. »Danke.«

Nach dem Gespräch blieb ich noch eine Minute an der Wand stehen. Meine Atmung war unregelmäßig und meine Handflächen schwitzten immer noch. Ich wischte sie mir an der Jeans ab.

Bis Montag also. Nur drei Tage, einschließlich heute.

Bloß ein paar Tage, um eine möglicherweise lebensverändernde Entscheidung zu treffen. Und das Ganze Lee und Noah zu beichten. Völlig in Ordnung. Damit konnte ich klarkommen.

Vielleicht sollte ich eine Münze werfen?

Zurück am Tisch sah ich, dass unsere Desserts gekommen waren. Lee fuchtelte mit einem Löffel voller Eiscreme herum, redete aufgeregt auf seine Eltern ein – zweifellos stritten sie wieder über das Strandhaus. Noah neben ihm nickte und sagte gelegentlich etwas, um seinem kleinen Bruder den Rücken zu stärken.

Ich schob das Handy zurück in meine Hosentasche und kehrte zu den anderen zurück.

»Hilf mir mal, Elle«, sagte Lee und brach mitten im Satz ab, um mich in das Gespräch miteinzubeziehen. »Berkeley ist nicht mal so weit vom Strandhaus entfernt. Nicht mal in einem anderen Staat! Selbst wenn wir Sommer-Praktika machen, oder was auch immer, wären sie wahrscheinlich irgendwo hier in der Nähe. Wir könnten es also durchaus wie immer zum Strandhaus schaffen. Stimmt’s, Elle?«

»St-stimmt.«

Tief in meinem Bauch zerrten Gewissensbisse an mir.

Der Schmerz ließ etwas nach, als ich bemerkte, dass vor Lee zwei Eisbecher standen, an denen er sich gleichermaßen bediente. Er schob den mit den Erdbeeren weiter zu mir.

»Wer war das am Telefon?«, fragte mich June, statt Lee zu antworten.

»Oh, äh, nur Dad. Du weißt schon, das Übliche. Braucht mich als Babysitter für Brad.«

»Mom, du darfst nicht …«

»Lee, bitte.« Matthew seufzte und massierte sich mit einem Fingerknöchel die Stelle zwischen den Augen. »Das steht nicht zur Diskussion. Ihr habt gesagt, darüber nachgedacht zu haben, am Wochenende zum Strandhaus zu fahren, richtig? Wie wäre es, wenn wir alle hinfahren und anfangen, ein paar Dinge auszusortieren? Wir müssen alles aufräumen, das ganze Haus entrümpeln … Und wir sollten lieber früher als spät damit anfangen, hm? Rachel, Elle, wir könnten natürlich auch eure Hilfe gebrauchen.«

Ich sträubte mich etwas, mit Rachel in einen Topf geworfen zu werden. Als ob ich nur Noahs Freundin wäre. Und nicht ein Teil dieser Familie und als hätte ich nicht einen Haufen Sommer im Strandhaus verbracht. Als hätten sie nicht tausendmal zu mir gesagt: »Das ist genauso dein Zuhause wie unseres, Elle!« Und als hätte ich es nicht auch mein ganzes Leben lang genauso empfunden.

»Ich helfe gern«, quiekte Rachel und klang dabei, als hätte sie keine große Wahl.

»Oh, ich werde da sein«, hörte ich mich selbst blaffen. June legte ganz kurz eine Hand auf meine.

»Na schön«, bellte Noah.

»Aber ihr solltet wissen«, erklärte Lee, »wir sind nicht glücklich darüber.«

Ich senkte den Kopf und schaute auf das, was er von meinem Dessert übrig gelassen hatte. Ja, das ist nicht alles, worüber wir nicht glücklich sind.

Mein Handy brannte mir ein Loch in die Tasche. Vergesst doch mal das das Strandhaus, hätte ich am liebsten gesagt. Was zur Hölle soll ich jetzt mit dem College machen?

Mein Blick wanderte zwischen den Flynn-Brüdern hin und her: Lee, der mit düsterer Miene Rachel etwas zuknurrte, aber eher verletzt wirkte als alles andere, und Noah, der mir in die Augen schaute und mir ein schiefes Lächeln schenkte.

Lee und Berkeley oder Harvard und Noah?

Ich hatte nur drei Tage, um mich zu entscheiden.