Thomas Hübl
Julie Jordan Avritt
Kollektives Trauma heilen
Persönliche und globale Krisen verstehen
und als Chance nutzen
Aus dem amerikanischen Englisch
übersetzt von Jochen Lehner
© 2020 Thomas Hübl. This Translation published by exclusive license from Sounds True, Inc. and by the agency of Agence Schweiger.
Vorwort © 2020 William Ury
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Healing Collective Trauma«.
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© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Irisiana Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Projektleitung: Sven Beier
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
Umschlagmotiv: © Dasha Gaian
ISBN: 978-3-641-27716-1
V001
Wir verneigen uns
vor dem Offenbarwerden unserer Zukunft,
die uns ruft …
Vorwort
Vorwort der deutschen Ausgabe
Dank
Einleitung
1. Mystische Prinzipien der Heilung
2. Materielle Traumawissenschaft
3. Die innere Wissenschaft von Trauma
4. Die Architektur des kollektiven Traumas
5. Die Weisheit des kollektiven Traumas
6. Ein Gruppen-Integrationsprozess
7. Die Aufgaben der Prozessbegleiter, Therapeuten und Heiler
8. Bilder einer traumatisierten Welt
9. Vision einer wieder ganz werdenden Welt
Nachwort
Anhang
Das Pocket-Projekt
Anmerkungen
Die Autoren der zusätzlichen Beiträge
Über den Autor
Über die Co-Autorin
Mit großer Freude lege ich Ihnen dieses erkenntnisreiche, kluge und wirklich wichtige Buch zur Heilung kollektiver Traumata ans Herz, das mein Freund und Kollege Thomas Hübl geschrieben hat.
Die letzten vierzig Jahre konnte ich als neutraler Verhandlungsberater bei Kriegen und Konflikten überall auf der Welt – zuletzt im kolumbianischen Bürgerkrieg, beim koreanischen Kernwaffenstreit und in der Konfliktzone des Nahen Ostens – immer wieder verfolgen, wie tief die Auswirkungen kollektiver Traumata reichen. Ich habe erlebt, wie schwierig und frustrierend es sein kann, das Blutvergießen zu beenden, wie viele Unwägbarkeiten dabei zu berücksichtigen sind.
Eine große Frage stellte sich mir dabei immer wieder: Was ist am Frieden so schwierig, wenn er doch eigentlich für alle von so großem Nutzen ist, zumal wenn man bedenkt, welche gewaltigen Verluste der Krieg für alle direkt Beteiligten und ihre Bevölkerung zwangsläufig mit sich bringt?
Es gibt viele Gründe, aber einer der wichtigsten besteht in tieferliegenden kollektiven Traumata, die nicht angesprochen werden. Im Koreakrieg sind Millionen Menschen gestorben, und Millionen andere wurden vertrieben. Im kolumbianischen Bürgerkrieg sind über zweihunderttausend Menschen umgekommen und über sieben Millionen verloren ihre Heimat. Auch wenn dann wieder so etwas wie Normalität einkehrt, bleiben Narben zurück. Nicht verheilte Wunden bilden offenbar eine Art Antrieb zur Wiederholung des gleichen Konfliktmusters. Waffenstillstände und Friedensvereinbarungen sind oft schwer durchzuhalten.
Eine geradezu historische Neuerung beim kolumbianischen Friedensprozess bestand darin, dass man Angehörige der Zivilbevölkerung, also die eigentlichen Leidtragenden, an den Verhandlungen beteiligte. Zahlreiche Delegationen von Kriegsopfern wurden nach Havanna eingeladen, um gegenüber den Unterhändlern beider Seiten Aussagen über ihre Erlebnisse zu machen, die auch von den Medien und von der kolumbianischen Gesellschaft aufgenommen wurden. Bei der Auswahl dieser Personen durch die UN sowie durch nationale Universitäten wurde darauf geachtet, dass sie alle Konfliktparteien repräsentierten. Es waren viele, vielleicht sogar mehrheitlich Frauen. Zur Überraschung vieler Beobachter, die ein Aufbrechen alter Wunden und die Behinderung des Friedensprozesses aufgrund dieses Experiments befürchteten, forderten die allermeisten Opfer keine Strafen, sondern sprachen sich für die Beendigung des grausamen Konflikts aus und zeigten sich offen, ihren Feinden zu vergeben und sich mit ihnen auszusöhnen.
So bekamen die Opfer des Kriegs eine Stimme und fanden Gehör und öffentliche Aufmerksamkeit für das Trauma, das hier vorlag. Dadurch besannen sich die Unterhändler auf das, worum es ging, und die kolumbianische Gesellschaft bekam die Gelegenheit, dem langwierigen Prozess der Heilung alter Wunden endlich seinen Lauf zu lassen.
Wenn Frieden in der Welt und das Wohlergehen aller Wirklichkeit werden sollen, müssen wir gut über kollektives Trauma und die Möglichkeiten der Heilung Bescheid wissen. Genau das macht dieses bahnbrechende Buch von Thomas Hübl so wertvoll. Es lässt uns die Dimension der für alle Missstände dieser Welt verantwortlichen kollektiven Traumatisierung erfassen und führt uns die Möglichkeiten der individuellen und gemeinschaftlichen Heilung vor Augen.
Das komplexe und entsprechend schwer durchschaubare Thema des kollektiven Traumas profitiert von der breit gefächerten Herangehensweise des Autors. Sie werden hier eine ganz untypische Verbindung von materieller und mystischer Betrachtungsweise antreffen, lebhaftes psychologisches und wissenschaftliches Interesse ebenso wie tiefe spirituelle Durchdringung. Das ergibt zusammen eine Tiefe der Erkenntnis, von der wir alle profitieren.
Thomas hat mir unter anderem bewusst gemacht, dass unsere Reaktion auf ein Trauma eigentlich sehr sinnvoll ist. Statt uns dafür zu brandmarken, dass wir bei überwältigendem Stress erstarren, folgen wir besser Thomas in seiner verständnisvollen Auslegung dieser Reaktion als Zeugnis jener natürlichen Intelligenz, die wir benötigen, um wieder heil und ganz zu werden.
Am meisten beeindruckt mich aber, dass Thomas beim Eintauchen in die kollektive innere Finsternis nie die Hoffnung für die Menschheit verliert. Selbst auf der Suche nach klaren Begriffen und tiefem Verständnis, konzentriert er sich darauf, was angesichts der vor uns liegenden großen Aufgabe praktisch und nützlich ist. Er zeigt uns, wie wir unseren Geist und unser Herz öffnen können – und damit auf persönlicher und kollektiver Ebene bereit für den Frieden werden. Da jeder von uns auf seine oder ihre ganz eigene Weise von kollektiver Traumatisierung betroffen ist, kann es für uns alle nur nützlich sein, den Weg der Heilung zu kennen.
Ich bin dankbar für alles, was ich von Thomas über kollektives Trauma gelernt habe. Und ich hoffe wirklich, dass auch Sie als Leser großen Nutzen aus diesem Werk ziehen, das die Welt wirklich braucht.
William Ury
Boulder, Colorado
4. Mai 2020
Und gerade an diesem Punkt der Geschichte, an dem Zusammenarbeit für uns so entscheidend wichtig wird, sind weltweit erste Anzeichen eines gemeinsamen Bewusstseins zu erkennen.
Roger D. Nelson
Connected
Mein Freund und Kollege William Ury hat mir unlängst mit eindringlichen Worten das gesellschaftliche Dilemma vor Augen geführt, das uns in diesem Jahr 2020 alle beschäftigt. Er sagte: »Covid-19 ist wie ein ganz aktuelles Zwischenzeugnis, das uns über alle ›Fächer‹ Auskunft gibt: die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, die Qualität unserer politischen Führer, den Zustand der Kultur, den Grad der politischen Polarisierung. Das kannst du drehen, wie du willst, das Virus hört nicht einmal zu. Es ist ganz unpersönlich, es möchte sich einfach nur ausbreiten und schätzt dafür unseren Lebensraum. Es liebt Polarisierung.«
Wahrhaftig, die Polarisierung hat ein Ausmaß erreicht, das es uns schwer macht, angesichts der Krisen unserer Zeit eine gemeinsame Linie zu finden, und Covid-19 ist ja nur eine der vielen gewaltigen Herausforderungen, die uns ins Haus stehen oder bereits akut sind.
Die Corona-Pandemie ist auf diese oder jene Art mit vielen anderen gesellschaftlichen Dauerproblemen verknüpft, sei es institutioneller Rassismus, seien es Polizeiübergriffe oder auch die sich beschleunigende Klimakrise. Während ich dies schreibe, fegen Waldbrände nie da gewesenen Ausmaßes über den Westen der USA und andere Landesteile hinweg, hinterlassen auf weit über 16.000 Quadratkilometern nichts als Asche, zerstören Tausende Wohn- und Geschäftshäuser, bedrohen Mensch und Tier und machen Massenevakuierungen notwendig. Rekordverdächtig viele Tropenstürme haben sich dieses Jahr bereits über den Ozeanen zusammengebraut und sorgen für unvorstellbare Überflutungen und Schäden. Anschließend hängen vielerorts dichte Mückenschwärme über dem durchweichten Land, töten Wild- und Nutztiere und schaffen neue Gesundheitsbedrohungen für den Menschen.
2020 – wie zukunftsträchtig und vielversprechend das einmal klang! – zanken sich mächtige Länder um Ressourcen wie Öl-, Gas- und Wasservorkommen, sie feilschen um Abwehrsysteme und Waffentechnologie, und die Gefahr des Atomkriegs steht wieder einmal im Raum. In den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Israel, Libanon, Russland, Belarus, Brasilien, Chile, Philippinen, Hongkong und anderswo kommt es zu Massenprotesten, die zwar meist gewaltfrei bleiben, aber wenn sich neben normalen Bürgern auch Leute einschalten, die einen Kulturkrieg schüren wollen, sind gewalttätige Zusammenstöße zwischen den empörten und aufgebrachten Fraktionen vorprogrammiert. Online und auf der Straße wird massenhaft zum Widerstand gegen die Lockdown-Bestimmungen aufgerufen, anderswo belagern bewaffnete Bürger die Regierung selbst. In vielen Ländern versammeln sich die Menschen zu Massenprotesten – hier gegen brutale Übergriffe der Polizei, dort gegen die Missachtung der Rechte von Frauen und Mädchen. Überall müssen sich verwundbare Demokratien gegen neue oder wiedererstarkte digitale, gesellschaftliche und politische Angriffsstrategien von innen und außen wehren.
Viele fürchten um ihr Leben und ihre Zukunft.
All das und manches andere belegt klar und unbestreitbar, dass der kollektive Körper-Geist – also das an uns, was auf rätselhafte Art mit allen verbunden ist – an einem Trauma leidet und dadurch voller Brüche ist: entfremdet, getrennt, polarisiert. Warum ist das so? Nun, aus mystischer Sicht entspringen alle mit dem System verhafteten und unlösbar erscheinenden gesellschaftlichen Probleme überall auf der Welt der gleichen Quelle: dem bodenlosen Sumpf der in alles hineinwirkenden ungelösten und nicht geheilten Vergangenheit. Die Ereignisse des Jahres 2020 bestätigen und unterstreichen diese Wahrheit. Sie gehen von den Schichten der seit Generationen in uns abgelagerten historischen Traumata aus – und an die müssen wir uns jetzt heranwagen, wir müssen sie bewusst zur Kenntnis nehmen und fühlen, wir müssen sie verarbeiten und integrieren.
Ein kollektives Trauma ist so etwas wie die »dunkle Materie« des Gesellschafts-Kosmos: nicht direkt zu sehen, nur an ihren Wirkungen (Symptomen) zu erkennen. Und dafür brauchen wir mehr als nur unsere Augen. Ein Trauma zersplittert uns, und zwar besonders dann, wenn es lange anhält oder sich wiederholt. Es beschädigt unsere Kohärenz innen wie außen. Es verzerrt die Wahrnehmung und unterbricht den Strom der Lebenskraft im Körper des Menschen und dem der Erde. Trauma beschädigt unsere Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und uns aufeinander einzulassen. Wir können auch sagen: Trauma erzeugt die Illusion der Trennung.
Wo zeigen sich der gestörte Zusammenhalt und die Fragmentierung? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir uns nur zu vergegenwärtigen, in welchem Maße uns die Phänomene von Hyperarousal (zum Beispiel soziale Ängste, innere Anspannung, Misstrauen, Unruhe, Furcht, Aggression) oder Hypoarousal (Abstumpfung, Apathie, Lethargie, Beziehungslosigkeit, Überdruss, Pessimismus) begegnen. Wir können uns diese Formen der sehr hohen beziehungsweise sehr niedrigen Erregung als eine Art gesellschaftliche »Motorkontrollleuchte« vorstellen. Wo es Fragmentierung gibt, herrscht Beziehungslosigkeit: Die Fähigkeit, sich anderen Menschen verbunden zu fühlen, schwindet. So entsteht eine negative Rückkopplungsschleife, die von der Fragmentierung zur Beziehungslosigkeit zur Polarisierung zur Auflösung der Ordnung und schließlich ins Chaos führt.
Die ungelöst versteinerte Vergangenheit untergräbt unsere Fähigkeit, die Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen. Die Atmosphäre der Angst, des Misstrauens und der Trennung kommt uns auf einmal dichter vor, als sie unserer Erinnerung nach in der jüngeren Vergangenheit war. Dennoch, die Symptome, die uns als Einzelne und als Kollektiv plagen, sind eigentlich Hinweisschilder, die uns darauf aufmerksam machen wollen, dass wir uns – jeder für sich und alle miteinander – in Richtung Ganzheit bewegen müssen.
Überlegen Sie mal: Die Evolution hat das Immunsystem so eingerichtet, dass es die meisten eindringenden Krankheitskeime und viele Giftstoffe unschädlich machen kann. Wird die pathogene Last zu groß, kann die natürliche Immunantwort so überschießend werden, dass sie sich gegen den Körper selbst richtet (anhaltendes Hyperarousal oder Übererregung des autonomen Nervensystems), oder sie fällt ganz aus, sodass die Anfälligkeit für pathogene Einflüsse größer wird (anhaltendes Hypoarousal). Ausschlaggebend sind dann der grundsätzliche Gesundheitszustand und die Resilienz oder Widerstandskraft.
Ohne Zweifel können traumatische Ereignisse einen Menschen oder eine Gemeinschaft anfälliger für die schädlichen Einflüsse durch Stress und andere Widrigkeiten in der Zukunft machen. Außerdem gilt, dass ein gewisses Maß an Herausforderungen als Abhärtung notwendig ist und die Widerstandskraft gegen Stress und traumatische Einflüsse erhöht. Dadurch entsteht eine positive Rückkopplungsschleife: Wenn das System über ausreichende Widerstandskraft verfügt, werden die Nervenbahnen, die für Stresslinderung und Resilienz zuständig sind, weiter verstärkt.
Natürlich gibt es noch eine Reihe anderer Faktoren, die für die Stärkung der Widerstandskraft wichtig sind, zum Beispiel ein sicheres Heim, eine ausreichende Gesundheitsversorgung, wirtschaftliche Stabilität, sowie Rückhalt in der Familie und Gemeinde (durch Verbundenheit, Kommunikation, Mitgefühl und Harmonie). Wo diese und ähnliche Voraussetzungen fehlen, sind der einzelne Mensch und ganze Gesellschaften stressanfälliger und knicken unter erschwerten Bedingungen leichter ein, was sich negativ auf die Gesundheit und den Zusammenhalt auswirkt und schließlich die Aussichten auf Wachstum und Wohlergehen mindert.
Trotz Covid-19, trotz weltweiter Unruhen, trotz wirtschaftlicher Instabilität und mitten im Klimachaos bieten sich uns doch viele Möglichkeiten, zusammenzukommen und unsere Widerstandskraft zu mobilisieren und zu steigern – und dazu werden ständig neue Methoden entdeckt. Im Zentrum dieses Buchs steht eine Praxis, die eben diesem Zweck dient. Ich habe sie mir im Laufe vieler Jahre durch die Leitung von Gruppenprozessen in mehreren Ländern angeeignet, und sie hat sich als zutiefst wirksam erwiesen. Eines wird dabei ganz besonders deutlich: Wir alle tragen Jahrtausende historischer Traumatisierung und die Schmerzen und Leiden früherer Generationen in uns, aber dass wir heute leben, beweist, dass all unsere genetischen Vorfahren auch unter schwierigsten Bedingungen lange genug überlebten, um resiliente Kinder hervorzubringen. Und bei all deren Nachkommen war es ebenso.
Wir existieren überhaupt nur aufgrund dieser Resilienz, die zu unserer Grundausstattung gehört. Alles, was unsere Urahnen und Eltern überlebt haben, damit es uns jetzt geben kann, lebt in uns weiter – und nicht nur ihre Kämpfe und ihr Leiden, sondern auch ihre Begabungen, ihr Können, ihre Zähigkeit, ihr Durchhaltevermögen, ihr Genie. Die Energie und das gesammelte Wissen unzähliger Generationen ist in unseren heutigen Knochen, Gewebe, Nerven und dem Gehirn präsent wie das weit verzweigte Wurzelwerk eines mächtigen Baums. Darüber hinaus haben sich Menschen über die Jahrtausende hinweg Kenntnisse und Methoden angeeignet, die uns befähigen, uns selbst und andere zu heilen, und dieses ganze Wissen ist ebenfalls hier in unseren Zellen präsent.
Die Frage lautet jetzt: Werden wir angesichts zunehmender sozialer Brüche und Widersprüche weiterhin blind gegen alles angehen, was uns irgendwie nicht behagt oder unserem einseitigen Weltbild widerspricht? Oder werden wir einander besser zuhören und jede andere Perspektive erst einmal gelten lassen und dabei lernen, uns mit den Umständen unseres Lebens auseinanderzusetzen, statt sie einfach nur abzuwehren?
Trauma zerfasert unser menschliches Licht so sehr, dass es im Schatten unterzugehen droht. Aber wenn engagierte einzelne Menschen in der Lage sind, Heilung zu suchen und sich von den Folgen früherer Traumata zu befreien, muss es auch für Familien, Organisationen, Lebensgemeinschaften und ganze Gesellschaften möglich sein. Meine Arbeit beweist mir diese große Wahrheit immer wieder eindrucksvoll: Wenn wir uns gemeinsam auf das Werk der Heilung einlassen, setzen wir große Mengen blockierter, zweckentfremdeter, abgespaltener und verborgener Energie frei, fehlinvestierte Lebenskraft und Intelligenz, die lange nicht fließen konnten und praktisch unsichtbar waren. Werden diese gewaltigen Energiereserven freigesetzt, können wir sie wieder für uns und unsere Welt nutzen, und nicht nur zur Heilung, sondern für großartige und notwendige Veränderungen. Für persönliches Wachstum! Wir haben es hier vielleicht mit der größten bisher ungenutzten Ressource überhaupt zu tun.
Die Klimakrise ist für uns alle existenzbedrohend – und sie ist hausgemacht. Sie zeigt, dass wir uns der Vergangenheit noch nicht gestellt und sie nicht geheilt haben. Trauma ist Karma ist Schicksal. Die Umweltkrise erzwingt unsere Aufmerksamkeit, aber sie eröffnet auch die Möglichkeit der kollektiven Heilung. Wir können die ungenutzt in uns schlummernden Energien und Potenziale freisetzen und so für eine bessere Zukunft sorgen. Gerade in dieser Zeit weltweiter Brüche und Umbrüche können wir unsere Resilienz als Einzelne und als Gesellschaft aufbauen und uns für die Herausforderungen dieser Zeit wappnen. Wir können unsere Verunsicherung und Ängste genauso gelten lassen wie unsere angeborene Stärke, Entschlusskraft und Wandlungsfähigkeit. Wir können uns die von unseren fernen Vorfahren geerbte Resilienz neu erschließen und uns zugleich mit all jenen verbinden, die uns nachfolgen werden. Wir können uns die unbewältigte Vergangenheit bewusst machen, um besser für die Zukunft gerüstet zu sein. Hand in Hand und einander Rückhalt gebend können wir unser Bewusstsein als Einzelne und als Gemeinschaft erweitern, zu neuen Höhen der kollektiven Intelligenz aufsteigen und eine neue Vision unserer Welt kreieren. Indem wir uns gemeinsam ins Zeug legen und aufeinander hören, machen wir den Weg frei für neue Möglichkeiten, höhere Erkenntnisse und neue Formen der Verbundenheit. Wir machen uns die höheren Dimensionen des Menschengeists zunutze und schöpfen mehr und mehr unser wahres Potenzial aus.
Wir sind alle wie T-Zellen im Immunsystem der Menschheit. Wir sind das Problem und die Heilung. Wir tragen alles, was zur Heilung unserer selbst, der Gesellschaft und der Erde nötig ist, bereits in uns. Nutzen wir es, die Zeit drängt.
Die zentralen Erkenntnisse dieses Buchs entspringen einem »Presencing« genannten Gruppenprozess zur Integration und Heilung kollektiver Traumata, und sie hätten sich ohne die Tausende mutiger und inspirierender Menschen, die im Laufe der Jahre an meinen Workshops und Retreats teilgenommen haben, nicht herausschälen können. Euch allen, auch im Gedenken an eure Vorfahren, gilt mein herzlicher Dank. Danke für alles, was ich durch euch lernen konnte. Danke auch, dass ihr mir zugetraut habt, ein bergendes Umfeld zum Presencing und Bewusstmachen, zur Heilung und gemeinsamen Integration eurer Erfahrungen zu schaffen.
Was an kreativem Zusammenwirken und schierer Arbeit für so ein Buch nötig ist, wäre ohne die vielen Menschen, die mich unterstützt haben, gar nicht denkbar. Julie Jordan Avritt danke ich für ihre wunderbare Arbeit, ihre Poesie, ihre intellektuelle Finesse. Unsere Zusammenarbeit verdankt sehr viel ihrer stetigen Bereitschaft, sich tief auf diese komplexe und weitverzweigte Thematik einzulassen. Danken möchte ich auch dem Team beim Verlag Sounds True, vor allem Jennifer Yvette Brown für ihren Glauben an dieses Buchprojekt, für ihr Engagement und für ihre stete Bereitschaft, mit Rat und Tat zu helfen. Meiner Lektorin Gretel Hakanson danke ich für ihren scharfen Blick und ihre große Sorgfalt.
Die kenntnisreichen Beiträge etlicher ausgewiesener Spezialisten auf den Gebieten Trauma, Therapie, menschliche Entwicklung, internationale Friedensbemühungen, kollektives Presencing und integrale Philosophie haben dieses Buch, meine Arbeit und mein Leben so sehr bereichert. Dafür danke ich Christina Bethell, Patrick Dougherty, Gabor Maté, Scilla Elworthy, Otto Scharmer und meinem lieben Freund Ken Wilber. Kens Leben und Arbeit haben mich bereits seit meinem Medizinstudium zutiefst inspiriert und mich auf meinem Weg begleitet.
Für immer dankbar bin ich Terry Patten, dessen Freundschaft, Zuspruch und gezielte Unterstützung wesentlichen Anteil an der Verbreitung meiner Arbeit in den Vereinigten Staaten hatte. Zu danken habe ich ebenso meinem Freund und inspirierenden Weggefährten William Ury, dessen Vorwort dem Buch einen erhebenden Auftakt gibt. Für ihre Zeit, Worte und Weisheit danke ich Gregor Steinmaurer, Laura Calderón de la Barca und Markus Hirzig – alle drei Angehörige meines Kern-Teams sowie Assistenten beim Collective Trauma Integration Process. Dank auch an Claire Lanyado, Stacey Marvel, Ute Kostanjevec, Heike Barra, Anne Vollborn, Bar Edri und alle, die bei Inner Science LLC und Sharing the Presence GmbH mit mir zusammenarbeiten. Euer Können und Engagement sind von unschätzbarem Wert. Einen ganz großen Dank spreche ich allen Mitgliedern des Pocket-Projekts für euren Mut und das beständige Engagement aus, mit dem ihr zur Erforschung des kollektiven Traumas und zu seiner Heilung überall auf der Welt beitragt.
Besonderer Dank gilt meinem guten Freund und spirituellen Mentor David Ifergan, der mir ein lebendiges Vorbild für ergebene Treue zu den uralten Wurzeln des Mystischen ist.
Den größten Dank schulde ich natürlich meiner großartigen und wunderschönen Frau Yehudit Sasportas. Du hast mich mit der Tiefe der Kunst und der Künstler vertraut gemacht und mir die mystische Dimension des Judentums und den ganzen Reichtum der jüdischen Glaubensgemeinschaft neu erschlossen. Vor allem aber danke für das heilige Geschenk deiner Liebe. Voller Dank bin ich auch für unsere Tochter Eliya, deren Geist ich als den denkbar größten Segen empfinde. Ich danke dir für das Geschenk, dein Vater zu sein, und für die unergründlichen und doch auch magisch alltäglichen Wahrheiten über Wachstum, Entwicklung, Beziehung und Liebe, die du mir jeden Tag näherbringst.
Und schließlich danke, Gott, für all das – und für das auf den Prozess des göttlichen Entfaltens/Einhüllens herabfließende Licht der Entwicklung.
Und Gott sprach: »Es werde Licht!« Und es ward Licht.
1. Buch Mose (Genesis) 1,3
Die Medizin ist in Schmerz und Leid bereits vorhanden. Sieh nur still und tief hin. Dann geht dir auf, dass sie dort immer schon war.
Spruchweisheit der nordamerikanischen Ureinwohner
Es ist gut vierzig Jahre her, dass Helen Epstein, damals als junge Journalistik-Professorin an der New York State University tätig, ein wegweisendes Buch veröffentlichte, das der psychologischen Traumaforschung im Westen eine neue Richtung gab und vieles von dem bestätigte, was bei indigenen Völkern und östlichen Denkern seit Jahrhunderten bekannt ist. Children of the Holocaust (Die Kinder des Holocaust, 1987) ist ein ethnografisches Werk und verarbeitet zugleich mündliche Überlieferung und persönliche Erinnerungen; die erste nichtakademische Veröffentlichung, die sich intensiv mit der sogenannten zweiten Generation (2G) der Söhne und Töchter von Holocaust-Überlebenden auseinandersetzte. Das Werk ließ bestürzende neue Fragen laut werden: War das unsagbare Grauen der Nazizeit irgendwie auf die Nachkommen derer übergegangen, die das alles erlebt hatten? Und wenn es diese Trauma-Vererbung gab, was würde das für andere traumatisierte Bevölkerungsgruppen und deren Kinder bedeuten?
Helen Epsteins Buch war der Einstieg in die Erforschung der Trauma-Übertragung zwischen den Generationen, es gab im Laufe der folgenden Jahrzehnte Anstöße zu manchmal schwierigen, aber auch aufschlussreichen weiteren Untersuchungen in Israel, den Vereinigten Staaten, der Schweiz und anderswo. Es muss auf diesem Gebiet noch mehr geforscht werden, aber schon jetzt können wir dem, was sich bisher abzeichnet, eine Menge entnehmen.
Der jüdische Gelehrte, Kunstkritiker, Theologe und Verleger Arthur A. Cohen schrieb 1981 über diese zweite Generation: »Es ist die Generation der nicht direkt Verletzten, die aber die Narben tragen; die Erinnerung bleibt ihnen, ohne dass sie selbst etwas erlebt hätten.«1 In einem 2006 veröffentlichten Buch mit dem Titel Healing the Soul Wound vertritt Eduardo Duran die Auffassung, aus der gesamten Forschungen zur Frage historischer Traumata und ihrer Weitergabe lasse sich mit guten Gründen ableiten, dass ein Trauma »nicht nur intergenerational übertragen wird, sondern dabei auch noch zunimmt«. Und weiter: Was an Traumabewältigung nicht in einer Generation geleistet werde, bleibe den nachfolgenden Generationen überlassen. Und Traumata, die ungelöst weitergegeben würden, könnten in den Folgegenerationen »schlimmer« werden.2
Ziemlich zu Beginn seiner Laufbahn war Duran im Zuge seiner Arbeit bei indigenen Lebensgemeinschaften in Kalifornien aufgefallen, dass diese Menschen die Auswirkungen, Folgen und Symptome der Traumata, denen sie unmittelbar ausgesetzt waren – Armut, Krankheit, Alkoholismus, getrennte Familien, körperliche und seelische Belastungen und manches andere – ganz anders wahrnahmen und beschrieben als die übrige Gesellschaft. Das westliche Denken wurde von klinischen und pathologischen Begriffen für alle Arten emotionaler und zwischenmenschlicher Nöte beherrscht, aber in diesen indigenen Gemeinschaften benutzte sie niemand. Vielmehr bezeichneten die Menschen die Leiden, die mit der Kolonisierung durch die Europäer über sie gekommen waren und sie seither Generation für Generation begleiteten, als »versehrten Geist, Krankheit der Seele, Seelenwunde und Ahnen-Schmerz«.3
Meine Arbeit hat mir deutlich gemacht, dass ein Trauma nie ausschließlich den Einzelnen betrifft. Mag es noch so privat und persönlich sein, es beschränkt sich trotzdem nie einfach auf eine Familie oder deren vielfältig verzweigten Stammbaum. Traumafolgen – letztlich die zunehmenden Auswirkungen persönlicher, familiärer und historischer Traumata – erfassen ganze Lebensgemeinschaften, Gebiete, Landstriche und Staaten. Die Last, die ein Einzelner oder eine Familie oder Gemeinschaft zu tragen haben, wirkt sich ausnahmslos und unweigerlich auf die gesamte Gesellschaft aus und erfasst auch alle, die sich nicht aufgrund einer gemeinsamen Identität oder Lebensform zugehörig fühlen. Die Wirkung menschengemachter Traumata beschränkt sich nicht auf die ursprünglich Betroffenen oder die unterjochte Gruppe, sondern die Hinterlassenschaft eines Traumas formt und prägt unsere gesamte Welt: wie wir in ihr leben, wie wir sie sehen, wie wir einander wahrnehmen und verstehen.
Viele wissen, wie ein nicht geheiltes Trauma beim Einzelnen zu anhaltenden persönlichen Leiden und Fehlentwicklungen führen kann. Weniger ausgeprägt ist das Verständnis dafür, dass ein kollektives Trauma, wenn es nicht heilen kann, die Gesundheit ganzer Gesellschaften und ihrer Kultur belastet, ja unseren Heimatplaneten gefährdet. Offenbar schlagen sich die Symptome eines kollektiven Traumas im Zustand kollektiver Gebilde jeglicher Art nieder – in Kommunen, Schulen, Organisationen, Institutionen, Regierungen und Lebenswelten –, um dort aufzuzeigen, wo die Verletzungen und Brüche liegen, wo das Gleichgewicht gestört ist. Nach meiner Überzeugung verzögern ungelöste systemische und Generationen übergreifende Traumata sogar die Entwicklung der Menschheit, fügen der Natur Schaden zu und hemmen die Evolution des Menschen.
Mir ist noch lebhaft gegenwärtig, wie ich als kleiner Junge bei meinem Opa saß und atemlos seinen Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg lauschte. Er hatte als Rekrut im österreichischen Bundesheer gedient, als das Land von Nazideutschland annektiert wurde, und das bedeutete für ihn und seine Kameraden, dass sie zwangsweise in den Dienst des Dritten Reichs gestellt wurden.
Unter anderem erzählte Opa von direkten Begegnungen mit einzelnen feindlichen Soldaten, bei denen beide einfach kehrtmachten und es nicht zum Kampf auf Leben und Tod kommen ließen. Oft sprach er von der Herzensgüte und dem Heldenmut ganz normaler Männer, die gezwungen wurden zu kämpfen, aber nicht an die Sache glaubten. Mein Großvater, damals noch ein junger Mann, wurde von einer explodierenden Granate schwer verletzt. Da ein Bein so sehr in Mitleidenschaft gezogen war, dass er am Kampfgeschehen nicht mehr teilnehmen konnte, schickte man ihn nach Hause.
Vor dem Krieg war mein Großvater ein passionierter Fußballspieler gewesen, voller Elan und Sportsgeist. Nach dem Krieg hatten Leidenschaft und Gewandtheit deutlich abgenommen. Obgleich er so manches sein Leben lang unter Verschluss hielt, war er doch durch die traumatischen Kriegserlebnisse von einem großen nicht zu heilenden Kummer gezeichnet. Für den Rest seiner Jahre konnte Opa die düstere Last der von der Vergangenheit hinterlassenen Schwermut nicht mehr ablegen, sie war stets um ihn. Manchmal lag etwas Fernes und Entrücktes in seinen gütigen Augen.
Als Junge fühlte ich zwar vieles davon, aber ich verstand es nicht. Ich war meinem Großvater sehr nah und mit den Jahren spürte ich mehr und mehr von diesen Dingen. Manche konnte ich nicht benennen, sie entsprangen verborgenen Schichten der Seele und waren Folgen der durch den Krieg entstandenen Narben. Andere waren etwas greifbarer. Die Beziehung zwischen Opa und Oma beispielsweise hatte mitunter etwas Explosives. (Oma hatte mit vierzehn ihre Mutter verloren und musste sich von da an selbst durchs Leben schlagen.) Eine tiefe Traumatisierung zog sich durch das Leben meiner Großeltern, wie es ja bei allen vom Krieg gezeichneten Menschen war. Still und heimlich begann all dies persönliche und kollektive Leid, das im Österreich meiner Jugend allenthalben deutlich zu spüren war, mein Leben und meine Zukunft zu prägen. Und etwas weckte in mir den Wunsch, so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen.
Noch auf der höheren Schule fing ich an, mich für die Notfallmedizin zu begeistern, und fasste den Entschluss, Sanitäter zu werden und ehrenamtlich fürs Rote Kreuz zu arbeiten. Nach der langen Ausbildungszeit war mein Ziel schließlich erreicht, und ich stürzte mich in die Arbeit, die mir so sehr am Herzen lag. Ich arbeitete und eignete mir medizinische Kenntnisse an, und nebenher bildete ich neue Sanitäter aus. Mir lag diese temporeiche, totale Präsenz fordernde Arbeit sehr. Man musste da schnell denken und handeln können, brauchte ein gutes Urteilsvermögen und durfte sich von menschlichem Leid nicht aus der Balance bringen lassen. Schlag auf Schlag kamen die Krisen, bei denen ich zu assistieren hatte, und das eröffnete mir tiefe Einblicke in menschliche Existenzen jeder nur erdenklichen Art. Ich erlebte Reiche und Arme in ihren intimsten Augenblicken der Angst und des Schmerzes und beobachtete bei Menschen aller Altersgruppen und Bekenntnisse, wie sie in der größten Traumasituation ihres Lebens ums Überleben kämpften.
Viele Male war ich in den letzten Augenblicken eines Menschenlebens zugegen.
Mit der Zeit fiel mir auf, dass die Erlebnisse unserer Patienten nicht für sich standen, nicht die Verletzten oder Sterbenden und ihre Angehörigen allein betrafen. Als Ersthelfer waren wir einer ganzen Kaskade menschlichen Leids ausgesetzt, und das hinterließ Spuren. Rettungssanitäter waren damals noch nicht im Umgang mit den psychischen Folgen eines Traumas für den Patienten oder auch für sich selbst geschult. Dennoch wuchs mein Wunsch, das menschliche Leid zu verstehen, um dann womöglich sogar in therapeutischer Funktion noch mehr Hilfe leisten zu können. So fasste ich den Entschluss, Notarzt zu werden.
Mit neunzehn hatte ich eine regelmäßige Meditationspraxis aufgenommen und setzte mich neben meinen Kursen und medizinischen Studien mit vielen Weisheitstraditionen der Welt auseinander. Das behielt ich bei, als ich mich zum Medizinstudium an der Universität Wien einschrieb, wo ich tagsüber im Schichtdienst arbeitete und mich nachts intensiv in meine Studien vertiefte. Mir lag das, es war eine großartige Zeit, ich sah mich in den Dienst am Leben selbst gestellt. In dieser Zeit spürte ich auch zum ersten Mal, dass unter der Oberfläche meines Landes irgendetwas im Gange war. Wenn ich ins Ausland reiste, was ich sehr gern tat, empfand ich da etwas seltsam Befreiendes, als könnte ich irgendwie leichter atmen. Kaum kehrte ich zurück, war wieder dieser dumpfe Widerstand da, dieses Beengende. Das gab mir Rätsel auf, und ich empfand es schließlich als einen Ruf, mich um ein tieferes Verständnis zu bemühen. So arbeitete und studierte ich weiter, bis ich mit sechsundzwanzig den starken Impuls verspürte, alles stehen und liegen zu lassen und mich für einige Zeit in Stille und Meditation zurückzuziehen.
Alle, die mich kannten, runzelten die Stirn. Wie kam ich dazu, alles in den Wind zu blasen, um »herumzusitzen«? Mir war jedoch klar, dass ich es tun musste. Ich musste zu den Wurzeln des Ich Bin vordringen, um die Antworten auf meine Fragen zu finden.
Die Suche führte mich zunächst nach Indien, danach zog ich mich mit Lenka, meiner damaligen Frau, ins ländliche Tschechien zurück, wo ich jeden Tag viele Stunden meditierend zubrachte und alles daransetzte, tiefere Bewusstseinsschichten zu erkunden. Seit ich zwanzig war, hatten mich weise Menschen und Philosophen wie Sri Aurobindo und Ramana Maharshi inspiriert, und dazu kamen die Schriften des amerikanischen Philosophen Ken Wilber. Ich wollte das, worauf sie mit Worten hindeuteten, selbst erfahren, ich wollte meine bewusste Wahrnehmung vertiefen und das weite Land der Innenwelt erkunden. Dieses Vorhaben zog sich über vier intensive Jahre hin. Es änderte den Lauf meines Lebens, ließ mich wachsen und hat mich zutiefst verändert.
Das Medizinstudium habe ich nicht wieder aufgenommen.
In Wien lebte und arbeitete ich von da an bewusster und mit tieferem persönlichem Verständnis. Darüber hinaus brachte ich ein feines Gespür für die kollektive Psyche meines Landes mit, für die subtilen und doch so starken energetischen Schichten seiner Geschichte.
Ein Jahr darauf machte mich ein Freund mit einem Lehrer bekannt, der gerade in Europa unterwegs war, ein weißhaariger weiser Mann, der offenbar wie ich darauf brannte, das Wesen des menschlichen Bewusstseins zu ergründen. Fast augenblicklich sagte er mir ein paar Dinge ins Gesicht, die niemand wissen konnte, dem ich zum ersten Mal begegnete. Ich fühlte mich zutiefst erkannt, und das beruhigte und tröstete meine Seele. Bald nach dieser Begegnung eröffneten sich mir erste Möglichkeiten, selbst als Lehrer zu wirken. Es kamen erste Einladungen, an allen möglichen Orten Lehrveranstaltungen und Workshops zu leiten.
Was für ein anderes Leben das war! Vier Jahre hatte ich überwiegend schweigend verbracht, und jetzt war ich als Redner und Lehrer international unterwegs. Ich leitete Workshops und Retreats für Tausende Menschen und erfuhr immer mehr über das menschliche Bewusstsein. Alles, was mir in den Jahren der Zurückgezogenheit gezeigt worden war, erwachte jetzt zum Leben. Bei meinem ersten Aufenthalt in Berlin wurde mir die schwere Energie der Stadt bewusst, diese Hinterlassenschaft einer kollektiven Wunde. Deren Schorfe blieben unsichtbar, aber den Menschen dort war anzumerken, dass sie juckten. Die Verletzung selbst rührte von einem der größten Gräuel der Geschichte her, eine schwärende Wunde, die über ein halbes Jahrhundert später noch nicht abgeheilt war. Das Holocaust-Mahnmal ehrt jetzt die Verfolgten und Ermordeten und überall in Deutschland bemüht man sich um offenen Dialog, aber ich spürte, dass vieles noch tief im kollektiven Schatten verborgen war. Mein Aufenthalt in Berlin machte mir deutlich, dass es eine ähnliche psychische Wunde auch bei den Menschen in meinem Heimatland Österreich gab, gewaltige Schrunden, die nicht abgeheilt waren.
Bei allen meinen Lehrveranstaltungen in Deutschland war es im Grunde so, dass ich etwas lernte. Ein tiefes Muster begann sich für mich abzuzeichnen, das bei Gruppierungen jeder Art und Größe immer wieder durchschlug. Im Kern bestand es darin, dass mit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängende energetisch aufgeladene Inhalte sich wie Ausbrüche entluden. Nach drei oder vier Tagen der Zusammenarbeit mit einer Gruppe drängten diese Dinge als Wellen von Gefühlen, Körperempfindungen und Erinnerungen an die Oberfläche, und es kam immer wieder zum Phänomen der Massenerinnerung, das während einer Sitzung viele Teilnehmer erfassen konnte. Dabei konnte es sein, dass ein Großteil der Teilnehmer gleichzeitig in Tränen ausbrach, weil ihnen Eindrücke vom Krieg so lebhaft vor Augen standen, als handelte es sich um persönliche Erinnerungen. Wir brauchten dann immer ein, zwei Tage, um alles, was da hochkam, zu verarbeiten und zu integrieren.
Ich staunte über die Beständigkeit, mit der dieses Muster auftrat, und über die tiefen Veränderungen, die der Gruppenprozess ermöglichte. Ich nahm mir vor, den kollektiven Schatten tiefer zu erforschen.
Überall in den größeren Städten Deutschlands schälte sich der gleiche Ablauf heraus, mochten die Gruppen der teilnehmenden Menschen noch so unterschiedlich sein. Ich erkannte, dass dieser Prozess nur einsetzte, wenn die Teilnehmer ein gewisses Maß an Verbundenheit und Vertrautheit untereinander und mit mir erreicht hatten und sich sicher fühlten. Außerdem mussten die Präsenz und die Kohärenz der Gruppe stark genug sein. Was sich dann ergab, war in vielen Fällen von großer Heilkraft. Das Leben hatte mich auf ein Vorgehen aufmerksam gemacht, mit dem sich kollektive Traumata integrieren lassen, und mir war klar, dass man das genauer erforschen musste. Von da an war es mein Ziel, alles zu erfassen, was ich darüber in Erfahrung bringen konnte. Durch die Arbeit mit diesem Prozess war ich immer besser in der Lage, die Teilnehmer durch die unglaublichen gruppenenergetischen Wellen zu begleiten und bei der Ausbildung einer tieferen Selbstregulation zu unterstützen.
Die Zeit der Kontemplation und Bewusstseinserforschung hatte mich zu meiner wahren Berufung geführt, zu der Lebensaufgabe und Mission, der ich mich seitdem mit ganzer Leidenschaft widme.
Während dieser Jahre meiner Lehrtätigkeit in Deutschland lernte ich meine wunderbare Frau Yehudit Sasportas kennen, eine in Israel geborene internationale Künstlerin, und wieder nahm mein Leben eine neue Wendung. Ihre Arbeit dreht sich wie meine ganz direkt um die Thematik individueller und kollektiver Traumata.
Nach Jahren des Umherziehens bezogen wir in Berlin eine gemeinsame Wohnung. Yehudit führte mich in die faszinierende Welt der Kunst ein, von der ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Der künstlerische Umgang meiner Frau mit der Trauma-Thematik war für mich zutiefst inspirierend, und meine eigene Auseinandersetzung mit dem Judentum ließ meine Forschungen zur Frage des kollektiven Traumas noch einmal in einem neuen Licht erscheinen. Yehudit machte mich auch mit Israel vertraut, wohin wir später umzogen, damit sie ihre Lehrtätigkeit als außerordentliche Professorin für bildende Kunst an der Bezel’el-Akademie für Kunst und Design fortsetzen konnte. Das Land wurde schnell mein neuer Lehrer, es vertiefte mein Fragen nach den Folgen von Krieg und anhaltenden Konfliktsituationen – historische, kulturelle und intergenerationale Traumata – für ein ganzes Volk.
Bei dieser Arbeit schälte sich ein klar umrissener Prozess der Verarbeitung und Integration kollektiver Traumata heraus. Ich habe ihm den Namen Collective Trauma Integration Process gegeben, kurz CTIP. Ich biete inzwischen CTIP-Events in Deutschland und Israel und an vielen anderen Orten der Welt an, erst kürzlich gab es eine Veranstaltung mit 150 Teilnehmern aus neununddreißig Ländern. CTIP lässt sich mit Gruppen von praktisch jeder Größe durchführen, bis zu 1.000 Teilnehmer sind kein Problem.
Heute vertiefen wir das bei dieser Arbeit Gelernte im Rahmen einer von Yehudit und mir gegründeten internationalen Nonprofit-Organisation, die wir Pocket-Projekt genannt haben. Hier arbeiten wir Hand in Hand mit hervorragenden Wissenschaftlern und vielen anderen in aller Welt zusammen, die sich alle ein und derselben Sache verschrieben haben: zur Heilung kollektiver und intergenerationaler Traumata beizutragen und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf das kulturelle Klima unserer Welt abzumildern.
Die Welt ist derzeit voller Krisengebiete, und an vielen Orten ist Krieg Realität – als Bedrohung oder tatsächliches Kampfgeschehen. Auch da, wo scheinbar Frieden herrscht, spürt man die verheerenden Auswirkungen einer nicht gar so fernen Vergangenheit. Jede Region besitzt ihre ganz eigene Trauma-Signatur, und sie ist überall wie der sprichwörtliche Elefant im Wohnzimmer: unübersehbar, aber nur von wenigen wirklich zur Kenntnis genommen. Wir alle unterliegen jedoch seinem Einfluss. Alles in unserer Gesellschaft, von Weltpolitik und Wirtschaft über Klima, Technologie und Gesundheitswesen bis hin zur Unterhaltungsbranche und zu Prominenten ist von diesem Elefanten geprägt, vom Nachhall unserer kollektiven Traumatisierung. Und der Elefant wächst auch noch, solange wir ihn nicht bewusst wahrnehmen und uns in angemessener Weise um ihn kümmern.
Dieses Buch versteht sich als einen Schritt hin zur bewussten Auseinandersetzung mit der zunehmenden Krise der kollektiven Traumatisierung. Es wirft Licht auf die Symptome kollektiven Traumas und beschreibt die von ihm ausgehenden Gewohnheiten und unbewussten gesellschaftlichen Übereinkünfte. Die Saat des Traumas keimt im dunklen, zerklüfteten Untergrund der menschlichen Psyche wie Schimmelsporen und findet allenthalben ihren Niederschlag als um sich greifende Vereinsamung und Depression, als starke Spaltungstendenz, als systemimmanente Ungerechtigkeit und auf viele andere Arten, nicht zuletzt als die über allem dräuende Klimakrise. Aber dieses Buch, auch wenn die Sache dringlich ist, schildert keine apokalyptische Vision. Es zeigt vielmehr auf, wie wir Licht ins Dunkel bringen und auf eine revolutionär neue Art zusammenfinden können, um uns mit unseren Generationen und Kulturen übergreifenden Traumata auseinanderzusetzen, damit wir uns selbst und unsere Welt heilen können.
Als moderner Mystiker und ehemaliger Medizinstudent arbeite ich an einem Brückenschlag zwischen den spirituellen Traditionen der Welt und dem, was uns die Wissenschaft heute an Verständnis erschließt. Ich glaube, wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters, das Wissenschaft und Spiritualität, Seele und Forschung in Einklang bringen möchte. Es ist, als würde uns die Evolution selbst dazu auffordern.
Die kollektive Psyche ist ein Hologramm: Wir sind viele und zugleich eins, einzigartig und vereint, Individuum und Ganzheit. Wir tragen Verantwortung für den anderen und für unsere Vorfahren und Nachkommen, aber auch für die Erde, unsere Heimat. Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam die »Seelenwunde«, von der wir alle gezeichnet sind, heilen können und müssen. Dadurch werden wir die strahlenden Möglichkeiten und das tiefgehende Potenzial unserer wahren und gemeinsamen Natur als Menschheit erkennen, eine gemeinschaftliche Gattung von Lebewesen innerhalb der großen kosmischen Ordnung.
Auf dass wir bald integriert und geeint ins Licht einer blühenden Zukunft treten können, besser denn je gerüstet, miteinander Welten zu erschaffen!
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Mystische Prinzipien der Heilung
Wir müssen das Abenteuer nicht einmal allein wagen, denn die Helden aller Zeiten sind uns vorausgegangen. Das Labyrinth ist bestens bekannt. Wir müssen nur dem Weg des Heldenpfades folgen, und wo wir gemeint hatten, Gräuel zu finden, werden wir einen Gott finden. Und wo wir gemeint hatten, einen anderen zu erschlagen, werden wir uns selbst erschlagen. Wo wir gemeint hatten, nach außen zu gehen, werden wir in das Zentrum unseres eigenen Daseins gelangen. Und wo wir gemeint hatten, allein zu sein, werden wir mit der ganzen Welt sein.
Joseph Campbell
Der Heros in tausend Gestalten